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Das Abenteuer mit dem Green-Bartlett-Rad

»Es war 426 auf dem Konzil in Chalcedon.«

»Es war 325 auf dem Konzil in Nicäa.«

»Das war es nicht.«

»Das war es schon.«

»Auf dem Konzil in Nicäa, du Trottel! Da haben sie den Arius verurteilt.«

»Sie haben auch den Augustinus verurteilt.«

»Das haben sie nicht.«

»Das haben sie schon.«

»Na – übrigens war es nicht in Chalcedon. Jetzt erinnere ich mich …«

»Hahaha!«

»Jetzt erinnere ich mich, es war 481 aus dem Konzil in Ephesus.«

»Hahaha! Du erinnerst dich! Was hast du in Religion gehabt?«

»Jedenfalls mehr als du, denn ich habe Ba gehabt.«

»Du! Ba! Da haben sie sich verschrieben für Bc!«

»Es war 481, das weiß ich, und das muß es gewesen sein, denn Augustinus ist 452 gestorben, und es muß nach ihm und Pelagius gewesen sein, und der starb …«

»Wann ist Semipelagius gestorben?«

»Du bist ein Trottel.«

»Das sieht euch kleinen Buben aus der L 2 ähnlich. Wenn ihr nicht beweisen könnt, was ihr behauptet, dann fangt ihr an zu schimpfen.«

» Du hast angefangen, und ich habe bewiesen, daß es 481 war. Augustinus ist 452 gestorben, hast du das auch vergessen?«

»Ich pfeife auf den Augustinus. Was der zusammengeredet hat! Nichts ist Gnade, alles ist Freiheit. Das sagt der Parapluie auch.«

»Der Parapluie! Na hörst du! Der Parapluie sagt das Gegenteil.«

»Das sagt er nicht.«

»Das sagt er schon. Alles ist Freiheit, und das – platsch – brrr – brrr – splt …«

Theologische Debatten haben sich zu allen Zeiten durch ihre Fähigkeit ausgezeichnet, die Gefühle in Wallung zu bringen. Johann Benckes auf die Autorität des Religionslehrers (Parapluie genannt) begründete Verteidigung der Freiheit des Willens war dadurch unterbrochen worden, daß Karl-Bertil ihn heimtückisch von der hohen Badebrücke herabgestoßen hatte, wo er gerade damit beschäftigt war, seine Zehen abzutrocknen. Dies tat er, indem er seine langen Beine gerade vor sich ausstreckte und mit einem Handtuch auf die Zehen losschlug, worin er dieselbe Fertigkeit erlangt hatte, wie die Eskimos, die mit ihren Peitschen jeden Hund des Gespanns, den sie wollen, auf viele Meter Entfernung treffen können. Das Wasser des Schwansees verschloß ihm viel sicherer den Mund als die niederschmetterndsten theologischen Argumente. Mit einem Enterhaken bewaffnet, zwang ihn Karl-Bertil, die Irrlehre des Pelagius abzuschwören und die Dogmen des Augustinus anzunehmen, auf denen (wie Karl-Bertil nachwies) unser Luthertum ruht, bis er wieder auf die Brücke hinaufkommen durfte. Lal, der auf dem Rand lag und sich sonnte, war das erste Opfer des Eifers des Neubekehrten. Ein Fußstoß befördere ihn in das Element, aus dem der Neubekehrte soeben entronnen war. Eine Sekunde darauf mußte Karl-Bertil trotz des Enterhakens dieselbe Reise antreten, worauf Johann sich auf die Badestiege setzte und ihnen mit dem Enterhaken als Zeigestab seinen dogmatischen Standpunkt demonstrierte.

Diese Art Leben hatte Karl-Bertils frühere Sklavenexistenz im Schwanseehof abgelöst. Sein Verhältnis zu Johann war nach der Formel des emanzipierten Freitag geordnet: Freitag erkannte Robinson als seinen Chef an, aber Robinson akzeptierte Freitag als weißen Mann. Diese Abmachung war nicht ohne das, was die Geschichtsbücher schwere innere Reibungen nennen, zustandegekommen; und an solchen hatte es auch sonst nicht gefehlt, bevor das Leben in seine normalen Geleise einlenkte. Lal dürfte das Nüchternheitsgelübde öfter abgelegt haben als selbst der schwankendste und irrendste Logenbruder. Johann mußte sich überzeugen, daß seine Mutter trotz des Phlegmas ihrer blauen Augen noch imstande war, die Zuchtrute zu führen, und zwar mit der Kraft und dem Nachdruck einer Christine von Holstein.

»Da siehst du, wie es geht, wenn man dem Alten rapportiert,« hatte Karl-Bertil bemerkt, als Johann zum Abendessen heruntergekommen war.

»Halt's Maul!« brüllte Johann mit halberstickter Stimme.

»Wirst du meinem Alten noch einmal über den Alund schreiben?«

»Wenn du nicht den Mund hältst, dann …«

»Sch!« sagte Mrs. Everard, »macht keinen solchen Lärm! Lal, du ißt ja gar nichts! Du wirst doch nicht wieder getrunken haben?«

»Aber Mama, kannst du nicht damit aufhören. Das tu ich doch nie mehr. Habe ich es dir vielleicht nicht versprochen?«

»Ja, Lal, aber ich weiß nicht, ob ich dir noch …«

»Ach, Mama!«

Frau Bencke puffte ihre Kusine unter dem Tisch, und die Debatte hörte auf.

Eine Debatte, die hingegen nie aufhörte, war die über Mr. Smith. Zahllos waren die Berichte, die Karl-Bertil darüber abgeben mußte, wie er dazu gekommen war, den amerikanischen Hofmeister zu entlarven. Jetzt, wo Mr. Smith fort war, stand er nicht länger an, von der innersten Ursache seiner Radtour zur Rackarschlucht zu erzählen. Auf diesem Punkte begegnete er jedoch bei allen ungeteiltem Mißtrauen: Sollte Mr. Smith Pläne geschmiedet haben, Lal zu ermorden! – Und auf eine solche Weise! – Das war ja Wahnwitz! – Warum hätte er das tun sollen? – Was in aller Welt hatte Lal ihm getan? – Auf die beiden letzten Fragen konnte Karl-Bertil keine befriedigende Antwort geben, aber er machte das Möglichste aus der Episode, wie Lal auf Mr. Smiths Aufforderung zu dem Vogelnest geklettert war und nur durch Johanns Einschreiten gerettet wurde, und bekam dadurch Johann in diesem Punkte auf seine Seite: Er fand es verdammt komisch von Mr. Smith, Lal da hinaufzuschicken, und zwar war er von Anfang an dieser Ansicht gewesen. Sein Einschreiten nahm sich ja gegen den schwarzen Hintergrund von Mr. Smiths Plänen um so vorteilhafter aus. Frau Bencke war und blieb skeptisch, obgleich sie zugab, daß Mr. Smiths Attentat auf Karl-Bertil unheimlich gewesen war; und Lals Mutter war zu entzückt von dem schwedisch-amerikanischen Hofmeister gewesen, um Karl-Bertils Schlußfolgerungen auch nur anhören zu wollen.

Und wenn Mr. Smith Lal ans Leben gewollt hätte – oh, wie gräßlich, nur daran zu denken! – warum hat er es denn nicht ohne weiteres getan? Er konnte doch nie sicher sein, daß das Schmetterlingsnetz und das andere Erfolg haben würde?

Karl-Bertil antwortete ohne zu zögern:

»Wenn er es ohne weiteres getan hätte, wäre er ja hopp genommen worden.«

»Ach!« sagte Frau Bencke, »hier in Schweden, wo sie ihn nicht einmal jetzt erwischen können! Und warum in aller Welt sollte er Lal nach dem Leben trachten?«

Bei diesem Punkte wurde die Debatte regelmäßig dadurch unterbrochen, daß Mrs. Everard in hysterisches Weinen ausbrach und Lal, der brennend vor Stolz zugehört hatte, an ihre Brust zog, worauf die Debatte ruhte, um nach einiger Zeit von Anfang an wieder aufgenommen zu werden, immer mit demselben Resultat.

Abwechselnd mit dieser Diskussion wurde eine andere geführt, die, während die Tage verstrichen, immer eifriger wurde: Was war aus Mr. Smith geworden?

Der Amtmann in Schwansee war ja sofort nach Mr. Smiths Verschwinden alarmiert worden: Das Signalement von Mr. Smith mit den runden Hornbrillen und dem grüngelben Sportanzug ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und abgesehen von allem anderen war Mr. Smith Ausländer und sprach einen Dialekt, den Karl-Bertil jetzt ganz ungeniert karikieren durfte. Und trotzdem verging ein Tag nach dem anderen, ohne die Nachricht zu bringen, daß er aufgespürt worden war. Mr. Smith samt Hornbrillen, Sportanzug und Dialekt war und blieb verschwunden. Mr. Smith mußte mit dem Gottseibeiuns im Bunde stehen.

Unterdessen begann sich das Leben im Schwanseehof in seinen neuen Formen zu konsolidieren. Lal bekam so allmählich freie Zügel; er und Karl-Bertil fanden sich wieder, und eine glückliche Zeit folgte, in der sie wie Kastor und Pollux die ganze Umgegend erforschten. Ihr Revier erstreckte sich dem linken Ufer des Schwansees entlang, es umfaßte Inseln und Halbinseln und alle Wälder mit ihren unerschöpflichen Möglichkeiten und ging bis hinauf zur Spitze des Uvberges, wo die Föhren uralt waren und zottig von Moosflechten wie alte Böcke. Da konnte man sich nur mühsam den Weg durch das Dickicht der Legföhren und die Haufen von Steinblöcken bahnen, manche so groß wie Häuser. Da wuchs das Moos fußhoch im Schatten; manchmal wisperte und zischte es geheimnisvoll unter ihren Füßen, wenn sie die Abhänge hinaufkletterten, und sie prallten zurück, in der Erwartung, eine plattköpfige Schlange aus ihrem Schlupfwinkel emporzüngeln zu sehen. Einmal sahen sie eine, der Karl-Bertil mit seinem Botanisierspaten den Kopf abschlug; auf diesen Exkursionen spielte er nämlich die Rolle des jungen Herbert in Die Geheimnisvolle Insel und gab Lal gar viel Aufklärungen über die Wunder der Natur, die teilweise mehr seiner Phantasie als seiner Naturkunde zur Ehre gereichten. Ja, sie hatten ein großes Revier, und wenn es nicht so reich an wilden Tieren war wie Mowglis Dschungel, so reichten die Tiere, die da waren, für Karl-Bertil und Lal doch völlig hin. Da waren Spechtnester hoch oben in irgendeinem kahlen und steilen Baumstamm zu untersuchen. Da war ein Dachsbau mit zwei Eingängen, der wunderlich roch, und den sie in Ermangelung eines Hundes nicht untersuchen konnten. Im tiefsten Walddickicht konnte man Auerhähne aufscheuchen, und im Schilf der Ufer wohnten Grasenten und Wildgänse, die ersteren erstrebenswert, die letzteren mit Recht wegen ihres nicht eßbaren Fleisches verachtet. Noch war die Jagdzeit nicht angebrochen, aber Karl-Bertil und Lal unternahmen als gute Forstleute ihre Inspektionstouren, um die Aussichten zu beurteilen. Sie hatten sich auf diesen Waldspaziergängen eine eigene Sprache beigebogen. Karl-Bertil war der Führer und Lal der Untergebene. Gab Karl-Bertil einen Befehl, so antwortete Lal: Aj, aj, Sir, wie die Seeleute in Marryats und H. av Trolles Büchern. Manchmal jagten sie in einiger Entfernung voneinander; ein schrilles »Wau hu« war dann das Signal, das den einen an die Seite des anderen rief. Hie und da ruhten sie auf irgendeinem Baum aus, Karl-Bertil teilte Lal von seinem Wissen mit oder rezitierte Gedichte, die er von Hagelberg gelernt hatte, mit begeisterter, eintönig singender Stimme. Da war eines, das Lal für riesig schneidig erklärte, und das begann:

Ich halte nicht Reden wie Danton, bin nicht Prophet wie Robespierre … und wo namentlich eine Strophe seine Bewunderung erregte, wenn Karl-Bertil sie mit seiner wildesten Miene deklamierte:

Was zaudert ihr bei der Kanone?
Laßt Danton schwätzen im Saal!
Meine Rede hat Donner im Tone,
Mein Sang ist ein Totensignal.

Freilich kamen da eine Menge Worte vor, über die keiner von ihnen Bescheid wußte, aber das schadete nichts. – Ein anderes Gedicht begann:

Ha, stehst du wieder an meiner Seite,
Du dunkles Mädchen, mein Dämon du …

Es handelte von einem jungen Mann, den ein leidenschaftliches dunkles Weib verfolgte, und wurde von Karl-Bertil mit einem fernblickenden Ausdruck in den Augen rezitiert. Es war da die Rede von heißen, seligen Tränen und dem Abendsturm der Wildnis, und wenn Karl-Bertil zu diesen Ausdrücken kam, zitterte ihm jedesmal die Stimme. Lal machte sich nicht viel daraus, aber gab zu, daß es kolossal fesch war. –

Eines Abends, nachdem sie den Nachmittag damit verbracht hatten, einen sonnenblinden Uhu von Baum zu Baum zu jagen, ohne ihn zu fangen, begegnete ihnen plötzlich das Glück in Gestalt einer Schar junger Entlein, die sich aufs Land verirrt hatten. Das war drüben auf der Wolfinsel, einer Halbinsel, die in den Schwansee hineinragte, durch eine Zunge, die zeitweilig unter Wasser stand, mit dem Lande verbunden. Da stießen sie auf die Enten, fünf Junge und eine Mutter, die vor Entsetzen aufkreischte.

»Lal! Wau! die müssen wir fangen!«

»Aj, aj, Sir!«

»Du rechts, ich links. Jetzt!«

»Aj, aj, Sir.«

Die Schreie der Mutter machten ihnen wenig Eindruck; mit einer umgehenden Bewegung trieben sie die Jungen in den Wald hinauf und fingen zwei von ihnen mit den Händen! Mowgli selbst oder Bagheera hätten auf einen erlegten Bock nicht stolzer sein können. Sie brachten ihre Beute im Triumph nach Hause. Ein improvisierter Käfig wurde beim Badehaus errichtet und nahm die beiden jungen Entlein auf. Karl-Bertil und Lal kamen zu spät zum Abendessen, so bezaubert waren sie von den Zukunftsaussichten, die sich ihnen eröffneten. Wer weiß – ohne Zweifel konnte man die Entenzucht systematisch betreiben? Nötig war nur Verständnis und Freundlichkeit; wenn man den Tieren die entgegenbrachte, würden sie sicherlich nicht zögern, sich fortzupflanzen. Aber wenn es nun zwei Männchen oder zwei Weibchen waren? Sie nahmen eine ergebnislose physiologische Untersuchung vor, um festzustellen, ob dies der Fall war. Nach dem Abendessen, als sie mit Frau Bencke und Mrs. Everard eine Dämmerungspromenade unternahmen, teilten sie Johann die Neuigkeiten mit. Frau Bencke und ihre Kusine gingen ein kleines Stückchen voraus; Johann war damit beschäftigt, seine Pfeife so zu rauchen, daß niemand es sah. Er war skeptisch.

»Die pflanzen sich nie fort, wenn sie gefangen sind!«

»O ja, das tun sie schon, ich weiß es.«

»Du weißt es? Woher weißt du es?«

»Ja, weil ich es in einem Buch gelesen habe. Uebrigens haben sie auch im Stadtpark gefangene Wildenten.«

»Haha. Das sind Enten. Na, was wollt ihr dann tun, wenn sie Junge kriegen?«

»Sie verkaufen.«

»Verkaufen! Na heuer kriegen sie schon einmal keine Jungen, das ist sicher!«

Karl-Bertil und Lal machten geheimnisvolle Gesichter. Während sie den Käfig bauten, hatten sie auch die Möglichkeit erwogen, die jungen Enten dazu zu bringen, schon heuer Junge zu kriegen. Bis zum nächsten Jahr war ja eine Ewigkeit. Wer weiß, ob nicht kräftige Verfütterung nebst freundlicher Behandlung auch in diesem Falle helfen konnte? Aber zu Johann davon zu sprechen, hatte natürlich keinen Sinn. Geheime Arbeit und desto größeren Triumph!

Leider erwies sich die ganze Debatte als unnötig, denn als sie am nächsten Morgen an den Strand hinunterkamen, war der Käfig zerrissen und leer. Einige blutige Flügelfedern, das war alles, was von ihren jungen Entlein übrig war. Es war, als hätte der Fuchs, der sie gefressen, Karl-Bertil die Flügelfedern hinterlassen, um damit eine Betrachtung über die Eitelkeit aller menschlichen Pläne niederzuschreiben. Aber Karl-Bertil und Lal standen stumm da, zu niedergeschmettert, um auch nur Worte zu finden. Das Hohnlachen des Extyrannen war der einzige Nachruf für die jungen Entlein.

Uebrigens war Johann selten auf ihren Ausflügen mit. Ab und zu begleitete er sie ein Stück in den Wald, dann legte er sich auf einem Stein oder einem bemoosten Hügelchen zur Ruhe und schmauchte, an das harte Kopfkissen des Kriegers gelehnt, seine Pfeife. Um sich die Zeit zu vertreiben, versuchte er Karl-Bertil in Debatten über verschiedene Gegenstände zu verwickeln. Da er Karl-Bertil nicht mehr körperlich tyrannisieren konnte, versuchte er es geistig zu tun.

Bei einem Tümpel, der voll Frösche war, hatten sie eines Abends eine Debatte über das ewig Weibliche. Lal hatte einen Stein in den Tümpel geworfen, und das Quaken der Frösche hatte aufgehört. Nach einer Weile kam ein vereinzeltes ko-ik; es wiederholte sich einige Male, und dann begann die Serenade wieder, ko-ak, ko-ak, ko-ak, ko-ik.

»Die ko-ik sagt, ist ein Weibchen,« bemerkte Lal, »hört ihr? Sie hat eine dünnere Stimme.«

»Sie hat angefangen,« sagte Karl-Bertil, »habt ihr gehört? Die anderen sind erst nachgekommen.«

Johann sog an seiner Pfeife und spuckte verachtungsvoll in den Tümpel.

»Gerade wie bei den Menschen,« sagte er mit zynisch heraufgezogenen Augenbrauen. »Immer fangen die Weibsen an.«

»Was meinst du damit?«

»Daß die Weibsen immer anfangen.«

»Hat vielleicht schon eine mit dir angefangen?«

»Was weißt denn du?«

»Hahaha! Mit dir!«

»Was lachst du so blöd? Man ist doch kein solches Wickelkind wie du.«

»Wer war's denn? Geh, sag's!«

»Das tu ich nicht.«

»Nein, weil's gar keine war.«

»Nein, weil ich ein Gentleman bin.«

Karl-Bertil und Lal schwiegen, im Augenblick beeindruckt. Johann sah über die Landschaft hin, die Hände in den Hosentaschen, offenbar von den Erinnerungen erfüllt, die auf ihn einstürmten.

»Die Weibsen sind komisch,« sagte er schließlich. »Zuerst fangen sie an, und dann meinen sie gar nichts. Ich könnte wetten, daß die Fröschin hier auch gar nichts gemeint hat. Sie sind alle miteinander gleich.«

»Schäm dich!« rief Lal, »du willst behaupten, daß die Frösche so gut wie Menschen sind?«

Karl-Bertil stand stumm da. Er erinnerte sich, ähnliche Aussprüche von Elander und Hagelberg gehört zu haben. Und sie hatten sie auch mit Zitaten aus Büchern bekräftigt. Aber dann erinnerte er sich an ein Mädchen aus einer der Schulen in der Stadt, mit einem blonden Zopf und veilchenblauen Augen. Sollte zwischen ihr und den Fröschen irgendeine Ähnlichkeit sein? Blödsinn! Elander und Hagelberg hatte er nicht zu opponieren gewagt, aber Johann! Das war eine andere Sache. Außerdem fiel ihm plötzlich ein, daß er seither noch andere Autoritäten hatte, auf die er sich stützen konnte.

»Johann redet einen Stiefel zusammen!« sagte er. »Das Weib ist das vollendetste Werk der Schöpfung, das steht in einem Buch, das ich heuer im Mai im Bücherschrank von meinem Alten gefunden habe.«

»Du mit deinen Büchern,« sagte Johann. »Was war das für ein Buch?«

»Amor und Hymen, oder die entschleierten Geheimnisse der Liebe und Ehe,« sagte Karl-Bertil stolz.

Johann sah zum erstenmal mit etwas wie Respekt zu ihm auf.

»Das hast du gelesen?« sagte er. »Ich habe davon gehört, aber ich habe es nie erwischen können.«

»Mein Alter ist über mich gekommen, wie ich es gelesen habe,« sagte Karl-Bertil, »und hat mich tüchtig durchgewichst. Es war aber ein ganz famoses Buch mit Bildern. Und darin steht, daß das Weib das vollendetste der Werke der Schöpfung ist, und ihre Liebe des Mannes süßester Lohn.«

Johann rauchte stumm und besiegt. Lal hatte wieder begonnen, Steine in den Froschtümpel zu werfen, ganz zufrieden damit, daß die Würde der Frau von Karl-Bertil vertreten wurde. Plötzlich kam Karl-Bertil eine Erinnerung vom Schulball im Januar.

»Du hast von der Kerstin Larson keinen Kuß bekommen!« schrie er Johann zu. »Darum redest du so daher!«

Johanns Gesicht wurde dunkelrot.

»Was meinst du, du blöder Kerl?« sagte er und steckte die Pfeife in die Tasche.

»Hahaha!« schrie Karl-Bertil und setzte mit einem Sprung über den Tümpel. »Er hat keinen Kuß von ihr gekriegt! Lache, Lal!«

»Aj – aj – Sir!« schrie Lal. »Hahaha! Er hat keinen Kuß von ihr gekriegt!«

»Werdet ihr den Mund halten, ihr Baumwanzen!« – und damit mündete die Debatte über das Weib in eine animierte Schlägerei über den Froschtümpel hinüber und herüber. Das Resultat der Meinungsverschiedenheit war für Karl-Bertil eine Ohrfeige, und für Johann, der zu kurz sprang und sich in den Tümpel, der der Ursprung des Kampfes gewesen war, setzte, ein Paar nasse Hosen.

Aber wenn Karl-Bertil und Lal so wie die Ritter früherer Zeiten gerne eine Lanze für das Weib einlegten, gab es auch ein weibliches Wesen, vor dessen Würde sie weniger Respekt hatten. Das war Axeline Abrahamson, das Dienstmädchen des Schwanseehofes. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, und ihr seit zwanzig Jahren ungelöschter Liebesdurst war Frau Benckes größter Kummer im Leben. In einem Anfall von philologisch-puristischem Eifer beschloß Karl-Bertil, sie als Axelina Abrahamäa anzusprechen, was sie bis zum hellen Wahnsinn reizte. Da seine Lektüre auch russische Nihilistenbücher umfaßt hatte, bereitete er sich und Axeline eine Abwechslung, indem er sie bisweilen auch Axelina Abrahamojewna titulierte. Axelines Wut belohnte ihn in beiden Fällen gleich reichlich.

»Ihr miserablen Lausbuben!« brüllte sie.

»Das sollen Sie nicht sagen, Axelina Abrahamojewna!«

»Ihr abscheulichen Mistfratzen! Ich werde es aber der gnädigen Frau sagen!«

»Tun Sie das nicht, Axelina Abrahamojewna, ach, tun Sie das nicht! Sonst gehen wir auch zur gnädigen Frau und sagen ihr was.«

»Was denn, ihr Lumpen?«

»Von Ihren Mannsbildern, Axelina Abrahamäa.«

»Schämen sollt ihr euch, ihr elenden Fratzen!«

»Das werden wir, Axelina Abrahamojewna. Jetzt fangen wir an. Schauen Sie nur zu!«

Karl-Bertil debütierte sogar als Lyriker, indem er ein Gedicht über Axelinens Liebesfülle schrieb, das unvollendet blieb, ohne daß die schwedische Lyrik dadurch einen erheblichen Verlust erlitt.

Im Laufe des Juli überraschte Johann Karl-Bertil mit der Bemerkung:

»Aha, du scherwenzelst vor den Frauenzimmern!«

»Ich? Was tu ich?«

»Vor meiner Mama und Lals Mama, stell dich nur nicht so! Ich habe schon gesehen. Du machst ihnen Besorgungen und stellst ihnen Stühle hin.«

Freitag betrachtete Robinson mit gerunzelten Augenbrauen, aber Robinson hielt seinem Blick stand.

»Willst du mir vielleicht einreden, daß du nicht weißt, daß Dienstag dein Geburtstag ist, haha!«

Karl-Bertil zuckte zusammen – eine Bewegung, die der abgesetzte Tyrann als Zugeständnis deutete, während sie tatsächlich von Ueberraschung herrührte. Sein Geburtstag! Das hatte er über den Ereignissen der letzten Zeit ganz vergessen. Woher wußte Johann es? Johann unterstrich mit einem schrillen Hahaha, daß er wußte, was er wußte – und als der Dienstag kam, verstand Karl-Bertil sein Betragen.

Da standen neben dem Frühstückstisch mehrere Geschenke und warteten auf ihn, aber sie verschwanden alle im Nebel beim Anblick eines funkelnagelneuen Fahrrades, das Mrs. Everards Angebinde für ihn war.

Er kam wieder zur Besinnung, als er vor Lals Mutter stand und sich mit seiner Hand in der ihren verbeugte und immer wieder verbeugte.

Mrs. Everard lächelte ihm nervös zu.

»Es ist Lals wegen, verstehst du,« sagte sie, »weil du gezeigt hast, daß nicht er die Marken genommen hat. Alles andere, was du von Mr. Smith behauptest, kann ich nicht glauben. Aber wenn ich hätte glauben müssen, daß Lal die Marken genommen hat, hätte ich ihn nie mehr liebhaben können.«

»Da–danke, Mrs. Everard,« hörte Karl-Bertil sich murmeln. »Das ist ja viel, viel zu viel …«

»Nana!« sagte Mrs. Everard und streichelte ihm den Kopf. »Ist es nicht Zeit zum Essen, Lal?«

Die nächsten Tage verflossen in jenem Rausch der Genüsse, die der erste Besitz eines eigenen Fahrrades schenkt. Karl-Bertils Rad war wunderbarer als alle anderen Räder; von der allerhöchsten Vollkommenheit; mit drei auswechselbaren Uebersetzungen und Freilauf versehen; rascher als der Wind, lautloser als die Schwalbe. Karl-Bertil polierte seinen schwarzen Lackmantel, bis er förmlich vor Glück strahlte, Karl-Bertil anzugehören; er goß Oel in alle vorhandenen Oeffnungen, bis sie sich weigerten, beim besten Willen mehr aufzunehmen; er putzte jeden Beschlag, sogar die Pedale wischte er nach jeder Fahrtour quecksilberblank. Lal sah mit jener skeptischen Ueberlegenheit zu, die zwei Jahre Priorität als Radbesitzer verleiht.

»Aber es ist ein feines Rad,« gab er zu. »In Amerika können sie Räder machen, you bet

Karl-Bertil putzte und bewunderte zum zehnten Male die Nickelmarke mit dem Namen der Fabrik, die unter der Lenkstange angebracht war. »Green-Bartlett Mfg. Co., Dayton, Ohio, U.S.A.« stand da. Zum mindestens zwanzigsten Male fragte er Lal nach der Lage von Dayton aus.

»Irgendwo draußen im Westen,« sagte Lal. »Weiß nicht recht. Amerika ist groß, you see. Komisch, daß sie ein solches Rad hier drüben haben.«

Der Besitz eines Fahrrades bringt Radtouren mit sich.

Karl-Bertil und Lal machten eine Forschungsreise nach der anderen durch die Gegend; aber es ging ihnen wie unseren nordischen Vorvätern auf ihren Wikingerzügen. So wie diese bald der Ostsee und Bjarmalands müde wurden, wurden die Knaben bald dieser Fahrten rings um den Schwansee müde. Der Plan einer größeren Tour begann zu reifen; und gerade um dieselbe Zeit entdeckte Mrs. Everard, daß der Landesverband für physische und sittliche Kultur seinen Sommerthing in Avalla abhielt und wurde von Begeisterung dafür ergriffen. Die hervorragendsten Jugendlehrer sollten sprechen, die besten Instinkte der Jugend geweckt, gepflegt und befeuert und ihr physisches Training in entsprechendem Grade gefördert werden.

» Das wäre doch etwas für euch Jungen!« sagte Mrs. Everard. »Habt ihr nicht Lust, hinzufahren? Wenn ich an eurer Stelle wäre, ich wäre außer mir vor Freude, mit dabei zu sein. Was sagst du, Johann?«

»Verflixte Duckmäuser,« sagte Johann beiseite, während Karl-Bertil und Lal schweigend dasaßen, nicht allzu begeistert für das Programm des Landesverbands. Johann murmelte als Antwort auf Mrs. Everards Frage etwas Unverständliches.

»Und du, Karl-Bertil?«

Da kam Karl-Bertil eine Idee.

»Ja, Tante. Es wäre riesig nett – und bildend für uns. (Johann fixierte ihn mit Verwunderung und kalter Verachtung.) Wir könnten hinradeln, Tante!«

»Radeln! Du bist wohl übergeschnappt!« rief Johann. »Das sind vierzehn Meilen. Da brauchst du eine Woche dazu.«

Karl-Bertil sah ihn mit der Herablassung an, zu der der Besitz eines Green-Bartlett-Rades berechtigt.

»Was sagst du, Tante? Könnten wir nicht hinradeln? Wäre das nicht sehr hübsch?«

»Warum könnt ihr denn nicht mit der Eisenbahn fahren?«

»Ja, aber Tante, wenn wir doch jetzt alle Räder haben … und es ist ja auch eine Ersparnis …«

»Ich werd schon aufpassen, daß sie nicht durchbrennen,« sagte der Extyrann, von plötzlichem Enthusiasmus für das Unternehmen gepackt. »Denen soll soviel physische und sittliche Kultur eingetrichtert werden, als nur in sie hineingeht. Haha! Dafür werd ich schon sorgen!«

»Keine Witze über solche Dinge, Johann,« sagte Mrs. Everard mit ihrer nervösen Stimme. »Nicht jeder Witz ist am Platze.«

»Ja, aber könnt ihr dann zur Zeit dort sein?« fragte Frau Bencke. Karl-Bertil stieß einen indignierten Ruf aus.

»Aber Tante! Wie kannst du nur so – so fragen. Es ist doch nicht mehr als vierzehn Meilen, und wir haben noch drei Tage vor uns, und mit meinem Rad …«

»Schon gut! Schon gut! So fahrt also in Gottes Namen, aber Johann muß aufpassen, daß ihr auch bestimmt hinkommt. Marsch, wir wollen hier drinnen Ruhe haben!«

Am Tage, nachdem die Radtour nach Avalla beschlossen war, hatte Karl-Bertil ein Erlebnis. Ueber den vielen Ereignissen der letzten Zeit hatte er beinahe Mr. Smith vergessen – wie übrigens auch der ganze Schwanseehof. Spät an diesem Abend, als er und Lal aus dem Garten hereinkamen, sah er Axeline draußen auf der Landstraße im Gespräch mit einem Mann stehen. Der Mann – es war kein Herr, das sah Karl-Bertil deutlich – drehte dem Schwanseehof den Rücken, so, als wollte er nicht gesehen werden. Aber merkwürdigerweise kam gerade dieser Rücken Karl-Bertil bekannt vor. Was nun? Nach einem Augenblick hatte er heraus, wessen Rücken er ähnlich sah. Mr. Smiths Rücken!

Zu Axelinens ausgesprochenem Aerger bekam sie plötzlich einen Dritten zu ihrem Flirt. Karl-Bertil kam durch die Gartentüre heraus und gerade auf sie und ihren Begleiter zu, der der angenehmste und fesselndste Herr war, mit dem Axeline sich seit langer Zeit unterhalten hatte. Karl-Bertil machte eine rasche Wendung um den fremden Herrn herum, starrte ihm eine gute Minute lang eindringlich ins Gesicht und zog sich dann mit enttäuschter Miene langsam zurück. Der fremde Herr – der, wie er Axeline anvertraut hatte, seines Zeichens ein wandernder Malergeselle war – beobachtete dieses unmanierliche Benehmen erstaunt und mit deutlichem Mißfallen. Axeline wendete sich zornig gegen Karl-Bertil.

»Was wollen Sie hier, Karl-Bertil? Was ist denn das, daß Sie da herausstürzen und sich so benehmen? Sie sollten sich schämen, daß Sie keine bessere Bildung gelernt haben.«

»Ich habe gemeint …« murmelte Karl-Bertil.

»Gemeint! Schämen sollten Sie sich!«

»Und Sie erst, Axelina Abrahamojewna,« sagte Karl-Bertil naseweis und verschwand.

Zeitig am nächsten Morgen radelten sie fort. Karl-Bertil, Lal und der Ex-Tyrann in der ebenerwähnten Marschordnung, denn der Besitz eines neuen Green-Bartlett-Rades bringt nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Zum hundertsten Male wunderte sich Karl-Bertil über die lautlose Geschmeidigkeit, mit der sein Rad den Berg hinunter zum Ufer des Schwansees flog. Wenn er die Uebersetzung auf den dritten Grad einstellte und auf den Pedalen stillstand und Lal, der ein Rad von beinahe derselben Konstruktion hatte, dasselbe tat, dann gewann Karl-Bertils Rad um zwanzig Meter auf hundert Meter. Und wenn sie auf ebenem Boden waren und um die Wette traten, war Karl-Bertil in fünf Minuten aus Lals Gesichtskreis verschwunden, während die erbosten Schreie des Extyrannen und das Knirschen seines verwahrlosten alten »Universal« in der Ferne verhallten.

Singe mir, Muse, die hundert Freuden einer Radtour über gute Landstraßen an strahlenden schwedischen Hochsommertagen, wenn man frisch und gesund ist und ein Junge, und so fahren darf, wie man will! Die Morgenwege, noch tauig von der Julinacht, braun und lecker in der Farbe wie frischgebackenes Brot, steigend und sinkend zwischen tauglitzernden Birkenhainen, durch rauschende Föhrenwälder, vorbei an roten Häuschen und schimmernden Seen! Die Mittagsruhe vor dem Dorfkrämerladen des einen oder andern kleinen Oertchens; die Butterbrote aus solidem schwedischen Roggenbrot, die mit dem allen Zwecken dienenden Taschenmesser aufgestrichen und in zahllosen Mengen mit Limonade herabgespült werden! Die mehr kontemplative abendliche Fahrt zur Schlußstation des Tages, wenn das Heu auf den Wiesen vom Abendtau zu duften beginnt und die Mücken in der sinkenden Sonne tanzen! Die Mücken, ja, mit ihrer wunderlichen Gewohnheit, den Radfahrern gerade in Mund und Nasenlöcher hineinzutanzen! – – Dann, nach den Mühen des Tages, die Endstation; ein Bad im See, gerade bevor die Sonne untergeht, das Abendessen mit einer neuen Hekatombe von Butterbroten, und der Schlaf des Gerechten auf einem duftenden Heuschober  … Nein, und hätte ich Engels- und Apostelzungen, ich könnte sie nicht malen, die reine ungetrübte Freude an all dem, wenn man ein Junge ist, sein eigener Herr auf der Fahrt ist und das unschätzbare Glück hat, das darin besteht, vierzehn Jahre alt und kerngesund zu sein.

Der Weg der Knaben ging vom Schwanseehof über Bomsryd und Björkhult nach der alten Schloßruine Avalla, wo der Sommerthing des Landesverbandes abgehalten werden sollte, alles in allem etwa fünfzehn Meilen, so daß sie, mit drei Tagen vor sich, gemächliche Tagestouren machen konnten. Das taten sie auch, nicht zum mindesten dank dem Extyrannen. Er hatte den größten Abscheu davor, sein altes »Universal« mehr als fünfzig Kilometer pro Tag zu treten, rastete gerne, wo immer eine Birke wuchs und Schatten gab, und konsequent überall, wo man eine Steigung genommen hatte. Karl-Bertil ermahnte ihn in warmen Worten, seinen alten Klapperkasten zu schmieren und durfte es infolgedessen am Abend des ersten Tages für ihn tun, ohne daß es für den nächsten Tag einen merkbaren Effekt erzielt hätte. Beinahe die ganze Zeit waren Karl-Bertil und Lal eine Viertelmeile voraus; hie und da blieben sie lange genug stehen, damit der Tyrann sie einholte und Zeit hatte, sie mit Flüchen zu überschütten, die sie auf das herzlichste belustigten. Einmal, am zweiten Tag, auf halbem Wege zwischen Bomsryd und Björkhult, warteten sie eine ganze Stunde, ohne daß er sich zeigte. Sie radelten zurück und fanden ihn mit geplatztem Hinterradreifen über die Straße wandern, mit Ausdrücken um sich werfend, die Mrs. Everard zu Tode erschreckt und ihn für immer von dem Sommerthing des Landesverbands für physische und sittliche Kultur ausgeschlossen hätten, wenn sie von seiner Leitung vernommen worden wären. Karl-Bertil mußte seinen Mantel abnehmen und den Schaden aus seiner Reparaturtasche reparieren, während der Tyrann im Schatten einer Birke ausruhte.

Am Abend, gerade bevor sie in Björkhult einkriechen wollten, hatte Karl-Bertil wieder ein kleines Erlebnis.

Es war ihnen erlaubt worden, bei einem der Bauern auf dem Heuboden zu liegen, nachdem sie ihre sämtlichen Zündhölzchen abgeliefert hatten. Johann hatte sich schon niedergelegt, und Lal und Karl-Bertil waren eben im Begriff, seinem Beispiel zu folgen, als Karl-Bertil in der unbestimmten Julidämmerung etwas sah und Lal beim Arm packte.

»Sieh nur, Lal! Der Kerl dort drüben, der dasteht und nach dem Hof hinübersieht! Ist das nicht Mr. Smith?«

»Mr. Smith? Du bist verrückt!«

Ohne Lal zu antworten stürzte Karl-Bertil auf den Menschen auf der Landstraße los. Als dieser ihn herankommen sah, begann er langsam fortzuschlendern, aber Karl-Bertil lief ihm nach. Lal sah Karl-Bertil an dem Fremden vorbeilaufen und ihm unverschämt ins Gesicht starren, so wie er es am Abend vor der Abreise mit Axelinens Anbeter gemacht hatte. So wie damals kam er eine Minute darauf mit enttäuschtem Gesicht zurück.

»Ich hab dir's ja gesagt,« sagte Lal, »du bist verrückt mit deinem Mr. Smith. Der ist schon längst nach Amerika zurück.«

Karl-Bertil antwortete nichts, und die Jungen kletterten auf den Heuboden, wo das Schnarchen des Tyrannen schon in die heuduftende Stille hinaustönte. Karl-Bertil rollte ihn mit einem Puff in ein Loch im Heu, bekam einige warmempfundene Worte zur Belohnung und schlummerte ein.

Am nächsten Tag, der letzten Tagestour, kam das Unglück, das auf ein Haar Karl-Bertil und Lal das Leben gekostet hätte.

Der Tag begann unter den besten Auspizien. Sogar der barsche Tyrann auf seinem quietschenden »Universal« sah ihm mit Befriedigung entgegen. Der Weg von Björkhult nach Avalla (nicht von Avalla nach Björkhult) ist der Idealweg für einen Radfahrer – er geht nämlich die ganze Zeit bergab. Ungefähr mitten zwischen Björkhult und Avalla kulminiert das Entgegenkommen dieses Weges: Hier liegt der große Gripsberg, über drei Kilometer lang, über den sich der Weg in S-Form zur Ebene Avalla hinabschlängelt. Das letzte Stück des Berges macht einen nahezu norwegischen Eindruck; auf der einen Seite des Weges erhebt sich die tannenbestandene Bergseite einige hundert Meter lotrecht in die Höhe, auf der anderen fällt sie steil gut hundert Meter zum Bett des Gripsflusses ab. Ein Holzgeländer faßt den Weg die ganze Zeit ein.

Der Tag begann also unter den besten Auspizien. Karl-Bertil, Lal und der Tyrann verzehrten ihren Morgenimbiß und fuhren in brillanter Laune ab. Karl-Bertil verabsäumte es sogar, sein Rad nachzusehen, wie er sonst pflegte, so einladend war die Aussicht, einen ganzen Tag bergab zu radeln. Daß Johann und Lal ihr Rad nicht nachsahen, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Mit Karl-Bertil an der Spitze fuhr der Trupp durch das Dorf Björkhult und bog aus den Weg nach Avalla ein.

Karl-Bertil trat, von einer rein physischen Freude erfüllt, seine Muskeln zu gebrauchen. Er hatte obendrein den Wind im Rücken und brillante Fahrt. Major Karl-Emils Pläne für die physische Erziehung des Sohnes waren schon insoweit verwirklicht, als er bereits ein ganz anderer Junge zu werden begann als der krummrückige Karl-Bertil vom Ende des Schuljahres. Roggenfelder, Bauernhäuschen und Gehölze tanzten vorbei, und Karl-Bertil trat und trat, ohne im geringsten müde zu werden. Hie und da drehte er sich um, um nach den anderen zu sehen. Der Tyrann war natürlich schon außer Sehweite, aber Lal schien von dem Ehrgeiz beseelt, mit Karl-Bertil Takt zu halten, denn er war kaum zwanzig Meter hinter ihm. Karl-Bertil winkte ihm mit einem Stückchen Segelgarn, um Bugsierhilfe anzubieten. Er hatte von Ingenieur Robur gelernt, daß Schiffer einander auf diese Weise zu verspotten pflegen. Dann beugte er sich wieder über die Lenkstange und trat.

So allmählich veränderte die Landschaft ihren Charakter. Es war fast eine Stunde her, seit Karl-Bertil eine Menschenbehausung gesehen hatte; die Felder hatten aufgehört, und der Birkenwald war von einem dunklen Tannenwald abgelöst worden. Rechts von Karl-Bertil türmten sich Berghöhen auf, während der Weg, der ideale Radfahrweg, sich langsam aber sicher zur Avallaebene herabsenkte. Der Wind war ein bißchen lebhafter geworden, und es rauschte schwer in den Tannen. Der Himmel, der, als sie von Björkhult wegfuhren, wolkenlos gewesen, war jetzt von grauen, treibenden Wolken bedeckt. Wenn es so weiter geht, kriegen wir Regen, dachte Karl-Bertil, da wird Johann schön schimpfen.

Plötzlich merkte er, daß er in der Nähe des berühmten Gripsberges sein mußte. Der Weg fiel rascher und rascher ab, und das Rad hatte gute Fahrt, ohne daß Karl-Bertil überhaupt zu treten brauchte. Karl-Bertil lenkte automatisch und genoß in vollen Zügen den Rausch, den die Geschwindigkeit hervorruft. Er sah nichts anderes als den guten braunen Weg, der sich wie ein unendliches Band unter ihm aufrollte. Ein solches Gefühl mußte es sein, zu fliegen … Wenn er groß war und Offizier wurde, wie sein Vater wollte, dann würde er Flieger werden … Jetzt krümmte sich der Weg wie eine Schlange; rechts von ihm erhoben sich die Felsen steiler und steiler, und links fielen sie einen oder zwei Meter vom Wegrand, der durch ein Holzgeländer geschützt wurde, jäh ab. Jetzt begann der Gripsberg wohl ernstlich. Karl-Bertil hörte das Brausen eines Flusses oder Stromes von dort unten … Er drehte das Green–Bartlett-Rad so nahe zum Wegrand, daß er hinuntersehen konnte. Gerade da kam ein Windstoß, der ihn fast über die Lenkstange geschleudert hätte. Er spannte die Beine an, um das Freilaufrad zu stoppen. Im selben Augenblick hörte er einen Knacks, spürte einen Ruck unter sich und sah automatisch herab, während es ihm ebenso automatisch gelang, die Balance wiederzuerlangen und das Rad vom Wegrand fortzubringen, wieder in die Mitte des Weges. Einen Augenblick starrte er, ohne seinen Augen zu trauen. Dann stieß er einen halberstickten Schrei aus; die Kette war gerissen und schleifte wie eine schwarze Ringelnatter unter ihm über den Boden. Die Bremse des Freilaufs funktionierte nicht mehr … das Rad flog vorwärts, und er hatte keine andere Macht darüber als die Lenkstange und die Handbremsen … er faßte krampfhaft mit den Fingern darnach, drückte zu und erwartete, daß das Rad stehenbleiben würde. Weit davon entfernt stehenzubleiben, flog es, automatisch von Karl-Bertil gelenkt, um eine Wegbiegung und weiter über einen Abhang, der in weiter, weiter Ferne in einen steilen Abgrund zu führen schien … Die Handbremsen funktionierten ebenfalls nicht, und Karl-Bertil war in der Gripsschlucht.

Karl-Bertils Kopf wurde von einem ganzen Meteorschwarm von Gedanken durchkreuzt, die er absolut gleichzeitig zu denken glaubte. Der Begriff Zeit hörte im selben Augenblick, in dem er die Situation erkannte, für ihn auf. Er mußte doch mit Mr. Smith recht gehabt haben, es mußte Mr. Smith gewesen sein … Mr. Smith mußte irgendwie Gelegenheit gefunden haben, an dem Rad zu manövrieren, während Karl-Bertil heute nacht geschlafen hatte … Auf natürliche Weise konnte es nicht zugehen, daß die Kette riß und gleichzeitig die Handbremsen aufhörten zu funktionieren  … wenn man sich überhaupt die Möglichkeit denken konnte, daß ein Green-Bartlett-Rad streikte … Mr. Smith hatte die Kette durchgefeilt, die Handbremsen untauglich gemacht und Karl-Bertil auf seinen Todesritt hinausgesandt … ah, der feige Schurke … Rechts der Berg, um daran zerschmettert zu werden, wenn er dorthin einbog, links die Schlucht, und am Ende des Weges der Abgrund … Aber wenn er Karl-Bertil in den Tod geschickt hatte, dann hatte er natürlich auch … Wo war Lal?

Karl-Bertils Rad flog nun fast mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Pfeiles dahin; Karl-Bertil spürte keinen Stoß, so weich und lautlos sauste er dem Abgrund am Ende des Berges zu. Es kostete ihm keinerlei Mühe, zu lenken; er konnte sich ohne Schwierigkeit umwenden und sich nach Lal umsehen. Was er sah, gab ihm zum ersten Male einen Begriff, was für ein Gefühl es ist, wenn das Blut in den Adern erstarrt.

Lal war kaum zehn Meter hinter ihm und stürzte mit derselben rasenden Geschwindigkeit weiter wie er. Aber seine Kette war nicht gerissen … er schien im Gegenteil heftig zu treten, um Karl-Bertil zu erreichen. Was nun? War er verrückt? Glaubte er, daß Karl-Bertil mit Absicht so fuhr? Und wollte er sich tüchtiger zeigen? Er mußte verrückt sein! In dem Augenblick, in dem er sich umdrehte, sah Karl-Bertil, wie Lals Lippen sich bewegten. Er mußte etwas gerufen haben, was Karl-Bertil nicht hören konnte. War es eine Herausforderung, wer rascher fahren konnte? Der Tollkopf! Sah er denn nicht den Abgrund dort unten? Glaubte er, daß er die Kehre mit einer solchen Geschwindigkeit nehmen konnte? Jetzt war es Lal wohl klar geworden, daß Karl-Bertil ihn nicht hören konnte. Er wies auf die Kette, die unter Karl-Bertils Rad hin und her geschleudert wurde. Karl-Bertil nickte mechanisch zur Antwort. Lal deutete auf die Handbremsen, und Karl-Bertil wiederholte sein Kopfschütteln ebenso automatisch. Ohne weitere Zeichensprache beugte sich Lal über die Lenkstange und trat aus Leibeskräften. Jetzt verstand Karl-Bertil. Lal wollte ihn einholen, um ihn vor dem Abgrund zu retten.

Karl-Bertil runzelte die Brauen und rief über die Schulter zurück:

»Das geht nicht! Das geht nicht! Du bringst dich ja um!«

Aber er flog jetzt mit solcher Geschwindigkeit dahin, daß er kaum seine eigene Stimme hören konnte, und Lal beachtete seinen Ruf und seine Gebärden gar nicht. Sollte er vielleicht doch zur Felswand abbiegen? Vielleicht wurde er nicht zerschellt. Und auf jeden Fall konnte Lal dann durchkommen … Es war, als hätte Lal seinen Gedanken geahnt, denn nun gelang es ihm mit Aufgebot aller seiner Kräfte, auf Karl-Bertils rechte Seite zu gelangen, so daß er zwischen ihn und die Felswand kam. Wie weit war es jetzt noch bis zum Abgrund? Karl-Bertil wandte den Blick von Lal ab und sah vorwärts. Sie waren vielleicht fünfhundert Meter davon entfernt. Mechanisch rechnete er sich aus, daß es dreißig oder fünfunddreißig Sekunden dauern würde, bis er dort war, und dann … Was für ein Gefühl war es zu sterben? … Ja, was denn? Was war denn das? Er sah wieder zur Seite. Lal war jetzt etwas vor ihm und hatte seine Lenkstange mit der linken Hand gepackt. Im Augenblick vergaß Karl-Bertil alle Grübeleien, ob das gelingen konnte oder nicht, und umklammerte Lals Lenkstange mit seiner rechten Hand. Sein Rad bog sich, als er dies tat, so heftig, daß er auf ein Haar die Balance verloren hätte, so daß sie beide in die Kluft links gestürzt wären, die durch ein Holzgeländer geschützt war. Dieses Holzgeländer hätten sie bei ihrem jetzigen Tempo wie ein Zündhölzchen zerknickt. Jetzt stemmte Lal sich mit seiner ganzen zehnjährigen Kraft an, das spürte Karl-Bertil. Seine schönen blauen Augen funkelten vor Erregung, und Karl-Bertil sah die Muskeln seiner rechten Hand schwellen. Sein Hinterrad stand still, aber sprang doch noch zischend und fegend über den Boden hin. Würde es ihm gelingen, sie beide aufzuhalten? Der Abgrund schien ihnen entgegenzustürzen … konnte Karl-Bertil denn nichts tun? Er packte Lals eine Handbremse mit den Fingern; erst jetzt merkte er, daß Lal die andere nicht hielt. Lals Handbremse war auch außer Funktion … Lals Freirad kreischte und knirschte. Es war unheimlich, wie rasch der Abgrund immer näher kam … Doch jetzt fuhren sie merklich langsamer. Herrgott, würde es am Ende doch gehen?

Es ging.

Drei Meter vor der Kehre mit dem Abgrund standen die Räder still, und zwei todmüde Buben fielen am Straßenrand in einem Haufen zusammen. Lals Brust arbeitete wie ein Blasebalg, und sein Herz hämmerte so, daß Karl-Bertil es hören konnte, so laut es auch in seinen eigenen Ohren sauste. Sie lagen noch keuchend da, als eine wohlbekannte Gestalt auf dem Rad sich oben auf dem Weg zeigte und der Extyrann ohne jede Schwierigkeit sein quietschendes Universal vor ihnen anhielt, absprang und rief:

»Ja, darauf hätte ich Gift nehmen können, daß ihr versuchen würdet, euch über diesen Berg die Seele aus dem Leib zu fahren. Nein, wie witzig und geistreich, immer von mir fortzusausen!«

»Du hast recht,« murmelte Karl-Bertil. »Es ist nicht mein Verdienst, daß ich mir nicht die Seele aus dem Leib gefahren habe. Lal ist der mutigste Junge auf der Welt und – du hast mir das Leben gerettet, Lal.«

Johann sah Karl-Bertil mit schlecht verhehltem Mißtrauen an.

»Vielleicht hat gar wieder Mr. Smith die Hand im Spiel gehabt, was?«

»Sieh dir gefälligst mein Rad an,« sagte Karl-Bertil, »und das Lals. Keine der Handbremsen wirkt – und Lals Kette ist so durchgefeilt, daß ich gar nicht begreife, daß sie gehalten hat.«

Johann stieß einen höhnischen Pfiff des Mißtrauens aus und lag im nächsten Augenblick zappelnd und fluchend auf der Landstraße. Karl-Bertils Nerven hatten ihr Recht verlangt und ihm die Kräfte eines David verliehen.

*

Die Versammlung des Landesverbandes für physische und sittliche Kultur verlief glänzend, aber zur großen Enttäuschung ihrer verschiedenen Angehörigen trugen weder Karl-Bertil noch Lal bei seinen Wettspielen irgendeinen Preis davon.


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