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Das Versetzungszeugnis aus dem ersten in den zweiten Ring sah so aus: Religion – lobenswert; Schwedisch, Deutsch und Englisch – vorzüglich; Latein, Mathematik und Physik – ausgezeichnet.

»Der Junge gehört ins humanistische Gymnasium,« sagte Onkel Jan.

»Ach wo! Er hätte lieber gleich in die Realschule kommen sollen,« sagte Karl-Bertils Vater. »Wenn er Offizier werden soll wie sein Vater und sein Großvater, hat er, hol mich der und jener, nicht mehr Nutzen vom Griechischen als von Dogmatik.«

Onkel Jan war Rentier und lebte für Büchersammlungen und Bucheinbände. Er lebte, wie man so sagt, ein bißchen abseits, war mager und schnupfte mit einem Löffelchen wie ein Revisor in einer Weihnachtsgeschichte.

»Was!« sagte er. »Offizier? Offizier, Offizier! Und das Turnen?«

Die Stirn von Karl-Bertils Vater umwölkte sich, und er legte Karl-Bertils Zeugnis mit einer ungeduldigen Gebärde weg.

»Ja, mit dem Turnen ist das eine verflixte Geschichte. Hol mich der Teufel, wenn ich verstehe, was der Junge hat. Als ich in seinem Alter war …«

»Du, ja, aber ich denke an mich. Ich war ebenso zart wie Karl-Bertil.«

»Du!« Major Karl-Emil legte eine unwillkürliche Aufrichtigkeit in seine Betonung und in den Blick, den er seinem jüngeren Bruder zuwarf. »Der Junge ist gar nicht zart. Ich glaube, die Sache ist nur die, daß das Turnen ihn nicht interessiert.«

»Aber dafür das Latein,« kehrte Onkel Jan triumphierend zum Ausgangspunkt zurück. »Vorgestern sehe ich ihn, so wahr ich hier sitze, mit der Nase in meinem Horaz. Horaz, Karl-Emil! Meine ungekürzte Ausgabe, zwei Jahre, bevor er sie nach dem Schulschema lesen sollte. Ich verstehe gar nicht, daß du ihn nicht ins humanistische Gymnasium schicken willst.«

»Deine ungekürzte Ausgabe,« knurrte der Major und schenkte sein Punschglas voll. »Da sind wohl ›Bildeln‹ drin? Ich kenne deine Ausgaben schon! Der Junge soll, hol mich der Teufel, Offizier werden, wenn die leiseste Möglichkeit dazu vorhanden ist.«

»Aber bei einer solchen Vorliebe für das Latein – es sind keine ›Bildeln‹ in diesem Buch, das versichere ich dir – und mit einer schlechten Note gerade in …«

»Genug, mein Lieber. Ich bin mir schon im klaren darüber, was in der Sache zu tun ist. Mit Oberst Benckes Jungen in der Unterseptima oder im dritten Ring oder wie das heutzutage heißt, ist Gott sei Dank nichts im Wege, das ist ein Sportjunge von der rechten Sorte …«

»Ein unbegabter Schlingel,« murmelte Onkel Jan.

»... und Bencke hat mir versprochen, Karl-Bertil für den Sommer auf ihr Landgut in Schwansee zu nehmen.«

»Beim Sanatorium?«

»Unterhalb des Sanatoriums. Da ist frische Luft und Berge zum Klettern und ein See zum Baden. Und Benckes Junge hat die Weisung, darauf zu achten, daß Karl-Bertil die Beine rührt.«

»Das wird er schon besorgen,« brummte Onkel Jan, »und am liebsten so, daß er seine eigenen nicht zu rühren braucht. Das ist ein fauler Lümmel, das ist meine Meinung.«

»Er ist der Beste in der Klasse, im Fußball wie auch in den militärischen Uebungen,« sagte Major Karl-Emil mit erhobener Stimme und unterstrich diese Tatsache mit einem gewaltigen Schluck aus seinem Punschglas. »Ueberdies haben Benckes den Sommer über Verwandte aus Amerika da, und man weiß ja, wie die Amerikaner einen Jungen zu tummeln verstehen. Und nun genug darüber geschwätzt, Jan. Morgen fährt Karl-Bertil hin, und wenn er wiederkommt, wirst du sehen, daß ein ganz anderer Junge aus ihm geworden ist.«

Onkel Jan trank sein bescheiden eingeschenktes Glas aus – er zog es vor, Falerner Pokale mit Horaz zu leeren, anstatt aus richtigen Gläsern Punsch zu trinken – und schwieg, untergeduckt wie der Junggesell so leicht durch die väterliche Autorität. Er wußte, daß er ein alter unpraktischer Bücherwurm war. Aber er wußte auch, was er selbst dachte, und er war überzeugt, daß Karl-Bertil etwas Aehnliches denken würde.

*

Scharfsinnige Forscher haben zu ergründen und im Bilde darzustellen versucht, wie sich die Dinge für eine Fliege ausnehmen, in der löblichen Absicht, dadurch den Unterschied zwischen der Weltauffassung des Menschen und der Fliege zu veranschaulichen. Da es den Fliegen an der Möglichkeit gebricht, sich über den Gegenstand auszusprechen, ist es unentschieden, inwieweit diese Versuche als geglückt anzusehen sind. Andere, ebenso scharfsinnige Forscher haben versucht, zu ergründen und in Worten zu schildern, wie sich die Welt für einen Jungen ausnimmt. Und da Jungen im großen gesehen ebensowenig Möglichkeit haben, sich über das, was sie betrifft, auszusprechen, wie die Fliegen, haben diese Schilderungen, die untereinander verschiedener sind als Schwarz und Weiß, sämtlich Autorität erlangt und ihre Urheber große Berühmtheit. Nur eines geht mit Sicherheit aus ihnen hervor: Es ist vollkommen unmöglich für einen Erwachsenen, einen Jungen wirklich zu begreifen. Nachdem dies festgestellt und sohin sowohl unserer Schilderung wie allen Beurteilungen derselben der Boden unter den Füßen weggezogen ist, gehen wir zu Karl-Bertil von Bircks Ferien im Schwanseehof über.

Karl-Bertil war im vorigen Semester in den ersten Ring gekommen, nachdem er bei einem Hofmeister gelernt hatte. Er war damals erst dreizehn Jahre und also seinem Alter etwas voraus. Es ist zumeist recht schwer für einen Jungen, der nicht von Anfang an mit dabei gewesen ist, so recht in den Ton einer Klasse hineinzukommen, die aus lauter alten Bekannten besteht – Buben, die von der ersten Klasse an beisammen waren und sich als Brüder betrachten würden, wenn sie sich nicht als viel mehr betrachteten, nämlich als Klassenkameraden. Denn nur selten kommen Brüder in den Knabenjahren gut miteinander aus. Karl-Bertils Klasse gehörte vom Lehrerstandpunkte aus zu den besseren der Schule; natürlich war da die übliche Anzahl schlechter Lerner und der unvermeidliche ganz und gar hoffnungslose Schüler – in diesem Falle Lütjens, der Sohn eines Schneiders in der inneren Stadt, also von doppelter Lächerlichkeit umschwebt; aber im ganzen genommen war das Niveau der Klasse ungewöhnlich gut. Da es recht bald entdeckt wurde, daß Karl-Bertil gut beschlagen war, ohne ein Büffler zu sein, wurde er durch seinen Klassennachbar in dessen Kreis aufgenommen, der die Akademie der Wissenschaften der Klasse repräsentierte: drei Jungen, die von der ersten an zusammengehalten und regelmäßig die drei besten Zeugnisse in der Klasse errungen hatten – Elander, Sjögren und Hagelberg. Das war der Anfang zu vielen Diskussionen über alles zwischen Himmel und Erde, von den religiösen Fragen bis zu dem letzten Klatsch über die Lehrer, gar nicht von den Stunden zu sprechen, wo die drei, den Jahren nach reifer als Karl-Bertil, die sexuelle Frage, vom Standpunkt des ersten Rings und des »Sohns einer Magd« gesehen, erörterten, während Karl-Bertil stumm und mit brennenden Wangen dasaß und zuhörte … Wir wollen hinzufügen, daß diese Debatten rasch vergessen wurden und nur zu einem gesteigerten Respekt vor den Erkenntnissen der Drei führten. Seine Bewunderung für sie brachte jedoch eben jenes Resultat mit sich, das seinen Vater, den Major, mit Sorge erfüllte: er las, las Kraut und Rüben, alles was ihm nur in die Hände fiel, wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Bücher, theologische Broschüren (die wenigen, die sich daheim vorfanden), Detektivromane, er fraß Bücher und vernachlässigte darüber vollständig seine physische Entwicklung. Das wäre nicht notwendig gewesen; er hätte sich ohne besondere Anstrengung an der Tete der Klasse halten können. Aber er wollte alle überglänzen, sogar die Drei … Er erreichte es, als Neuankömmling, der er war, das drittbeste Zeugnis der Klasse zu erringen und Hagelberg zu überflügeln, der die Situation mit Ruhe nahm, da er gerade anfing, sich lyrischen Interessen zuzuwenden; aber die Folge der schlechten Note im Turnen war, daß er am Donnerstag nach Schulschluß eingepfercht in der Eisenbahn saß, die ihn nach Schwansee führen sollte, zu einer Persönlichkeit, der er sehr geteilte Gefühle entgegenbrachte, Johann Bencke im dritten Ring.

»Er hat mir aber heuer im Winter einen Schneeball mitten ins Auge geschmissen, Papa!« hatte Karl-Bertil protestiert, als Major von Birck seinen Entschluß kundgab.

»Das war aus Versehen.«

»Nein, er war nicht weiter von mir, als ich jetzt von dir, Papa, und nachher hat er noch gelacht. Weißt du nicht mehr, Papa, daß ich wegen des Auges zum Doktor gehen mußte?«

»Was du zusammenredest, Junge. Johann ist ein bißchen ungestüm in seinen Bewegungen – das kann schon sein, das kann schon sein, aber er ist auch groß und stark, und so wollen wir dich haben, verstehst du? Bücher dürfen in den Schwanseehof nicht mitkommen, verstanden? – Nur die Ferienarbeiten, die ihr habt.«

»Aber Papa –«

»Kein Aber. Du bist ein braver Junge, aber man kann auch zu brav sein. Was hast du denn für einen Brustkasten? Du siehst ja aus wie ein altes Weib.«

Karl-Bertil verstummte; das war sein wunder Punkt, und er mußte dem Vater recht geben, wenn auch mit Bitterkeit im Herzen; er hätte es ja nicht so geradeheraus sagen müssen. Natürlich wäre es ganz gut, wenn er breiter über der Brust werden könnte. Aber Johann Bencke … und keine Bücher …

»Darf ich mir den Alund mitnehmen, Papa?«

»Was für einen Alund?«

»Über die Elektrizität.«

Jules Verne hatte vor mehreren Jahren dieses Interesse in ihm entfacht, und der magere Physikunterricht hatte nicht hingereicht, es zu befriedigen.

»Du hörst, was ich sage: keine Bücher außer deiner Ferienarbeit. Habt ihr ihn als Ferienarbeit?«

»Nein … aber ich habe ihn als Prämie bekommen …«

»Hm. Na, so nimm ihn mit. Ich werde Johann schon schreiben, er soll aufpassen, daß du nicht zuviel darin liest.«

»Ach nein, Papa! – Johann …«

»Still!«

Infolgedessen stieg Karl-Bertil mit recht schwerem Herzen in der Station Schwansee aus. Der Brief an Johann Bencke lag in seiner Tasche und schien ihm schwerer als der dicke Band Alund, den er in der Hand trug. Johann Bencke war da, um ihn zu empfangen, und begrüßte ihn, ohne bei seinem Anblick allzu großen Enthusiasmus zu bekunden.

»Na, da bist du. So, du wirst heuer im Sommer bei uns wohnen? Weiß der Teufel, was das wieder für eine Kateridee vom Alten ist, dich als Einquartierung zu nehmen! Was ist denn das für ein Schmöker? Hast du sonst noch was mit?«

»Ich habe ein Köfferchen.«

Karl-Bertil versuchte, sich und den Alund in der Richtung des Güterwagens zu retten, von dem er gerade seinen Koffer herausschleudern sah. Aber Johann war rascher und packte den Alund mit Falkengriff.

»Die Elektrizität und ihre Wunder! Karl-Bertil von Birck bei der Schlußprüfung 1915 für guten Fortgang, sittliches Betragen und Fleiß. Da hört sich aber alles auf. Eine Prämie hast du bekommen! Wen habt ihr denn in eurer Klasse?«

Karl-Bertils Seele war in drei gleiche Teile geteilt, berechtigten Stolz auf seine wissenschaftlichen Verdienste, den Wunsch, den Alund baldmöglichst wiederzubekommen und seinen Respekt vor Johann. Er haschte nach dem Buch, während er, sowenig herausfordernd er konnte, über alles Auskunft gab:

»Ich hatte das drittbeste Zeugnis in der Klasse. Wenn Papa nicht Major wäre, hätte ich ein Stipendium bekommen.«

»Na so was! Da legst dich nieder! Die Elektrizität und ihre Wunder. G'horsamster Diener! Nimm ihn nur, deinen dicken Wälzer, glaubst du vielleicht, ich werd ihn dir tragen?«

Den Alund wieder an sein Herz gepreßt, nahm Karl-Bertil seinen Koffer in Empfang und trug ihn mit einiger Mühe durch den Wartesaal; die Haushälterin daheim – seine Mutter war seit vier Jahren tot – hatte getrachtet, dafür zu sorgen, daß er im Schwanseehof nach seinem Rang gekleidet auftrat. Draußen hielt Johann mit einem Zweispänner.

»Das ist aber nur heute, verstehst du, weil du den Koffer hast. Von morgen an wirst du gefälligst selber kraxeln. Hühott, Whisky und Soda!«

Er schnalzte den Pferden, die durch das Stationsdörfchen den bewaldeten Höhen darüber zustrebten.

»Wie hast du sie genannt?« fragte Karl-Bertil schüchtern.

»Whisky und Soda. Du weißt natürlich wieder nicht, was das ist! Sie passen geradeso zusammen, verstehst? Das rechte ist Whisky und das linke ist Soda.«

»Heißen sie so?« fragte Karl-Bertil.

»Heißen! Ich nenne sie so, und da heißen sie so. Aber du kapierst natürlich den Witz nicht. Von Rechts wegen solltest du Sie zu mir sagen.«

Karl-Bertil saß da und dachte an den Brief seines Vaters. Sollte er wagen, zu vergessen, ihn zu übergeben? Er wußte genau, wie es gehen würde, wenn er ihn übergab. Aber falls nun der Major schrieb und Johann fragte …

Er wartete, bis sie im Schwanseehof angelangt waren und Johann die Pferde eingestellt hatte.

»Johann,« sagte er zögernd, »ich habe einen Brief an dich, von Papa.«

»Einen Brief von deinem Alten! Ist der auch so verdreht wie du? Was, zum Geier, hat er mir zu schreiben?«

Karl-Bertil reichte stumm den Uriasbrief hin. Johann las ihn mit gerunzelten Augenbrauen – er war rothaarig, und seine Augenbrauen, die weiß waren, waren sogar bei Sonnenlicht kaum sichtbar – und schlug ein helles Gelächter auf.

»Haha! Ich soll schauen, daß du nicht zu viel in der Elektrizität und ihren Wundern liest. Was dein Alter für komische Sorgen hat, aber da kann er sich schon auf mich verlassen. Her mit dem Schmöker, das werden wir gleich haben!«

»Du – du darfst ihn nicht ruinieren,« murmelte Karl-Bertil mit heiserer Stimme. Und wenn es auch Schläge setzen sollte, so …

»Nein, sei ganz beruhigt über deinen Schatz, mein Zuckerbubi, ich werde ihn nur an einem sicheren Ort einsperren!«

Karl-Bertil folgte ihm in das Mansardenzimmer, das Johann für den Sommer als das seine erklärte, dank Oberst Benckes zunehmendem Wahnwitz und seniler Demenz. Johann selbst hatte das Zimmer daneben. Karl-Bertil schlich zum Schlüsselloch und sah mit zusammengebissenen Zähnen, wie der Alund in einer Schreibtischlade verschwand, die Johann versperrte, worauf er den Schlüssel zu sich steckte.

*

Gleich darauf ertönte der Gong zum Nachmittagskaffee, und Karl-Bertil ging in Johanns Gesellschaft in den Garten hinunter. Der Kaffeetisch war unter einer der Ulmen gedeckt. Johann stellte ihn einer Menge Personen mit der lakonischen Äußerung vor:

»Da ist er!«

Dann schenkte er sich ohne weiteres Kaffee ein und überließ Karl-Bertil seinem Schicksal. Eine rundliche Dame von etwa vierzig Jahren mit großen leeren blauen Augen kam Karl-Bertil entgegen. Das war offenbar Johanns Mama. Sie sagte Willkommen, und Karl-Bertil verbeugte sich so tief und verlegen, als wollte er unter ihren Röcken vor den anderen Schutz suchen. Frau Bencke streichelte ihm den Kopf – natürlich war das freundlich von ihr, aber er war ja doch schon im zweiten Ring – und winkte einem Jungen, der Karl-Bertil mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet hatte.

»Komm her, Lal,« sagte sie, »hier hast du einen Spielkameraden.«

Spielkameraden! Als ob sie in den Kindergarten gingen! Aber Karl-Bertil vergaß sein Staunen über Frau Benckes Wortwahl beim Anblick des anderen Buben. Das war der schönste Junge, den er noch gesehen hatte – nicht daß er sonst daran dachte, wie andere Jungen aussahen, aber diesmal tat er es. Ein blauäugiger, schwarzlockiger Knabe von zehn Jahren mit dem freimütigsten, strahlendsten Gesicht, das man sich nur denken konnte. Nun kam er heran und schüttelte Karl-Bertil die Hand, in einer eigentümlich frischen Weise, die Karl-Bertil ganz neu war.

» How do you do?« sagte er. »Ich spreche auch Schwedisch. Meine Mutter ist eine Schwedin, you see

Mit einem Male erinnerte sich Karl-Bertil, was sein Vater gesagt hatte, daß bei Benckes amerikanische Verwandte zu Besuch waren. Richtig, da saß eine Dame, die sicherlich einmal sehr schön gewesen war, aber jetzt hauptsächlich nervös aussah, das war wohl Lals Mama, und auf dem Sessel neben ihr saß ein blasser Herr von fünfunddreißig Jahren – Lals Mutter schien fünfunddreißig oder sechsunddreißig zu sein. Er war glattrasiert und hatte ausdruckslose, rotgeränderte Augen unter ein Paar gestielten Brillen mit gewaltigen kreisrunden Gläsern.

»Ist das dein – dein …« begann Karl-Bertil und brach plötzlich ab, unsicher, was dieser blasse Herr wohl überhaupt sein konnte. Doch nicht der Vater des schönen Knaben? Lal fing zu lachen an.

»Das ist mein Gouverneur – wie sagt ihr hier? Hofmeister? Das ist meine Mutter – Mrs. Everard. Sie ist eine Schwedin. Mein Vater war Mr. Everard, er war Amerikaner. Er ist tot. Sammelst du?«

»Was denn?« fragte Karl-Bertil, verwirrt durch dieses Konglomerat von Tatsachen und Fragen, die ihm plötzlich an den Kopf geworfen wurden.

»Oh, das ist egal, Pflanzen, Eier, Schmetterlinge! Ich sammle alles. Willst du meine Sammlungen sehen?«

»Gerne,« sagte Karl-Bertil und begann sich mit einem Male heimisch zu fühlen. »Wo hast du sie?«

Sie wollten schon davonlaufen, als Frau Bencke ihnen zuvorkam.

»Karl-Bertil muß doch zuerst seinen Kaffee bekommen.«

Johann, der seinen Kaffee schon getrunken hatte, betrachtete Karl-Bertil mit Sklavenhalterblicken und dekretierte:

»Und dann muß er mit mir hinaus, Holz sägen! Ich habe seinem Papa versprochen, auf seine körperliche Ausbildung zu schauen!«

Er legte ein wollüstiges Tongewicht auf diese letzten Worte. Lal Everard starrte Karl-Bertil mit der Verwunderung des freien kleinen Amerikaners an, und Karl-Bertil murmelte etwas, wovon es ein Glück war, daß Frau Bencke es nicht hörte.

Er bekam Lals Sammlungen diesen Abend nicht zu sehen, aber er hatte Lal als Zuschauer bei seiner körperlichen Ausbildung im Holzsägen.

Der Schwanseehof, den Karl-Bertil in den nächsten Tagen Gelegenheit fand zu erforschen, war ein großes zweistöckiges Gebäude im schwedischen Herrenhofstil. Im Erdgeschoß lagen die Wohnräume, und im Flügel links vom Vorzimmer die Schlafzimmer Frau Benckes und ihrer Kusine; Lal schlief in einem kleinen Zimmer neben dem seiner Mutter. Im oberen Stockwerk lagen der große Salon und ein paar kleine Räume, von denen Mr. Smith einen bewohnte. Oben in der großen luftigen Mansarde hatten schließlich Johann und Karl-Bertil ihre Residenz. Zu dem Hof gehörte auch etwas Landwirtschaft, aber die war verpachtet, und die einzigen Haustiere im Stall waren die zwei Pferde mit dem alkoholischen Doppelnamen. Die Dienerschaft bestand nur aus einem Mädchen namens Axeline, auf die wir später bei Gelegenheit noch zurückkommen.

Hoch über den Schwanseehof erheben sich die Bunnberger Höhen, über die der Bunnbach wie ein weißschäumendes Band durch die dunklen grünen Wälder strömt. Hoch oben auf dem Bergplateau liegt das Bunnberg-Sanatorium für Asthmatische und Nervöse, und auf halber Höhe des Bergrückens, gerade dort, wo der Bunnbach seinen größten Fall hat, liegt die große Turbinenstation, die die nächste Umgegend und drei benachbarte Städte mit elektrischer Kraft versorgt. Von ihr schlängeln sich die Hochspannungsleitungen auf ihren rotgestrichenen Masten durch die Wälder hinab. Jeder Mast ist mit seinem: Vorsicht! Lebensgefährlich! versehen – aber die Leitung geht fast die ganze Zeit durch unwegsamen Wald; nur einmal bei der Rackarschlucht passiert sie den Weg, der zum Sanatorium hinaufführt, und zwar unten in der Schlucht tief unter der Brücke des Fahrweges. Gleich unterhalb des Schwanseehofes stürzt sich der Bunnbach in den Schwansee.

Karl-Bertil erwarb sich im Schwanseehof einen Freund und zwei Feinde. Der Freund war Lal Everard, der ihn mit doppelter Macht fesselte, einerseits der, die das Neue und Abenteuerliche ausübt, anderseits der, die von seinem ganzen Wesen ausging. Von Frau Bencke erfuhr er, daß Lals Vater ein sehr reicher Mann in Amerika gewesen war und daß Lal all sein Geld geerbt hatte, nicht ohne Proteste und Prozesse von seiten der Verwandten seines Vaters; Mrs. Everard, die Frau Benckes Kusine war, war nach Europa gekommen, um sich nach all diesen Unannehmlichkeiten auszuruhen. Lal selbst war zehn Jahre alt und machte Karl-Bertil (der selbst ein bißchen altklug war) den Eindruck eines seltsamen Jungen. Er konnte lärmend und kindisch sein wie ein Fünfjähriger und im nächsten Augenblick seine Mama und Frau Bencke wie ein gleichaltriger Kavalier, ja ein Beschützer behandeln. Für Karl-Bertil hatte er vom ersten Augenblick an eine Vorliebe gefaßt und sah zu ihm und seinem Wissen mit etwas von demselben Respekt auf, den Karl-Bertil selbst Elander, Sjögren und Hagelberg entgegenbrachte (das heißt Hagelberg jetzt weniger, nachdem er ihn in der Klasse überflügelt hatte). Karl-Bertil erwiderte seine Gefühle voll und ganz, beinahe mit einem Anflug von Schwärmerei, wie das nicht selten in den Knabenjahren der Fall ist, und sie kamen um so bester überein, als sie eine gemeinsame Antipathie gegen Johann hatten.

Johann, das war ein Lümmel, ein Flegel, ein Grobian (Karl-Bertil); Johann, das war a silly rotter, a cad (Lal).

Es bedurfte keines Lexikons, um diese Worte aus der einen Sprache in die andere zu übertragen. Tatsächlich war Johann nichts von all dem; er war nur ein starker, etwas unerzogener Bursche im ärgsten Uebergangsalter. Johann trieb sie um sieben Uhr morgens (wenn er selbst so früh auf war) in den See; Johann zwang Karl-Bertil nach einem modifizierten Lingschen System (P. Ling-J. Bencke) zu turnen; Johann wurde von einer unüberwindlichen Sehnsucht nach Holzsägen gepackt, wenn Karl-Bertil und Lal gerade mit dem neuen Schmetterlingsfänger, den Lal von seinem Hofmeister bekommen hatte, Schmetterlinge fangen wollten; Johann rasierte sich! Im geheimen! Der Affe! Und den Alund behielt er – aber Karl-Bertil hatte den Alund beinahe vergessen. Doch Johanns unvorteilhafte Charakterzüge wurden nach Karl-Bertils Meinung (nicht nach der Lals) von denen Mr. Smiths beinahe in den Schatten gestellt.

Mr. Smith, Lals Hofmeister seit ein paar Monaten, war, wie Frau Bencke Bertil anvertraute, ein sehr gelehrter Mann von einer der amerikanischen Universitäten. Und gelehrt mußte er offenbar sein, da er sogar Schwedisch sprach. Frau Everard hatte nach jemand annonciert, der dies konnte, und hatte erwartet, daß sie sich mit einem Schwedisch-Amerikaner oder einem ausgewanderten Schweden würde begnügen müssen; aber zu ihrer freudigen Ueberraschung hatte sie Mr. Smith gefunden, der Vollblutamerikaner war, aber an seiner Universität skandinavische Sprachen studiert hatte und leidlich Schwedisch – oder richtiger Skandinavisch – sprach. Aber er konnte noch vieles, vieles andere – überhaupt alles, und Frau Everard (die selbst nicht so übertrieben viel konnte) war sehr, sehr froh, daß die Vorsehung ihr Mr. Smith gesandt hatte. Karl-Bertil teilte diese Freude nicht. Man sollte doch wirklich glauben, es wäre genug gewesen, Johann den ganzen Sommer als Tyrannen über seinen Körper zu haben, aber dazu noch Mr. Smith als Tyrannen über seine Seele, das war unverdient. Mr. Smith, der Karl-Bertils Typus augenblicklich erkannt zu haben schien, fand ein grausames Vergnügen daran, ihn bei allen erdenklichen Gelegenheiten mit heimtückischen Fragen über Dinge zu quälen, von denen er es als selbstverständlich annahm, daß ein Junge wie Karl-Bertil sie wissen müßte. Ein paarmal hatte Karl-Bertil geantwortet, indem er Mr. Smiths Skandinavisch nachahmte, aber das hatte ihm nur einen scharfen Verweis von Frau Bencke und Mrs. Everard eingetragen. Nun biß er die Zähne zusammen, wenn Mr. Smith anfing: »Nu–un, Ka–l-Bur–til …« Manchmal, wenn er seiner Sache sicher war, antwortete er – aber die Antworten wurden von Mr. Smith immer mit einem Lachen und einer vernichtenden Kritik aufgenommen. Und trotzdem, hieß es nicht homo homini lupus? Ja, weiß Gott, und dennoch hatte Mr. Smith hohngelacht und gesagt, es hieße homine. Wußte Kal-Burtil das nicht? Wußte Mr. Johann das nicht? – Mr. Johann! schnaubte Karl-Bertil. Was weiß dieses Rindvieh? Nichts! – Mr. Johann hielt unbedingt zu Mr. Smith.

Was Karl-Bertil verwunderte (und schmerzte), war das freundschaftliche Verhältnis zwischen Lal und Mr. Smith.

Mr. Smith nahm Lal zu allen Tageszeiten auf Fußtouren mit; er war aufmerksam und höflich gegen Lal; er half ihm bei seinen Sammlungen, sowohl beim Sammeln wie beim Ordnen. Lal hatte sich anfangs hauptsächlich für Eiersammeln interessiert, aber Mr. Smith hatte die Schmetterlingsjagd für viel vornehmer erklärt und Lal auf seine Seite hinübergezogen. Eines schönen Tages schenkte er Lal ein neues Schmetterlingsnetz, das er selbst konstruiert hatte. Lal war im siebenten Himmel und vollführte ein Getöse wie ein Sechsjähriger.

Warum war Mr. Smith so freundlich gegen Lal? Natürlich waren alle freundlich gegen Lal, aber Mr. Smith! War es, weil Lal so reich werden sollte? Aha – eine neue, durch die englischen Detektivromane erzeugte Auffassung von Mr. Smiths Charakter wurde plötzlich in Karl-Bertils Innerem geboren …

Karl-Bertil suchte Lal diese neue Auffassung auf dem ersten Ausflug, den sie auf eigene Faust unternahmen, vorsichtig einzuimpfen. Lal verhielt sich durchaus skeptisch, wenn man einen solchen Ausdruck auf ihn anwenden konnte; er begriff kein Wort von dem, was Karl-Bertil meinte, als er von seinem Gelde und von Mr. Smiths falschem Charakter sprach.

»Aber hast du denn nicht den unterschobenen Lord gelesen?« fragte Karl-Bertil.

»Nein. Wer war das?«

»Er war unterschoben – sie hatten einen anderen an seine Stelle gesetzt, weil er ein großes Gut erben sollte und …«

»Aber ich bin doch nicht unterschoben, und ich soll kein großes Gut erben, don't be a nut, Karl-Bertil!«

»Nein, aber du sollst eine ganze Menge Geld erben, sagt die Tante, und der Mann im unterschobenen Lord war ganz wie Mr. Smith.«

»Wie Mr. Smith? Gerade so? War er ein Amerikaner? Hat er Schmetterlinge gesammelt?«

»Nein, aber …«

» Don't be an ass – sei nicht so dumm, Karl-Bertil. Siehst du, dort oben in der Eiche ist ein Eichhörnchennest!«

Nach ein paar Versuchen gab Karl-Bertil es auf, Lal die Augen über den wirklichen Mr. Smith zu öffnen. Ueberdies bedrängte ihn Johann, und Mr. Smith verfügte mehr und mehr auf eigene Hand über Lal. Johann wartete, bis sie sich so weit entfernt hatten, daß Karl-Bertil sie nicht finden konnte, um ihm dann mit den Worten Urlaub zu geben: »Jetzt kannst du dich meinethalben zu allen Teufeln scheren, ich gehe auf den Heuboden hinauf und rauche eine Pfeife!« Karl-Bertil begann sich einsam zu fühlen. Die Einsamkeit gebiert dunkle Gedanken; und eines schönen Nachmittags verübte Karl-Bertil einen Einbruch in Johanns Zimmer und eroberte den Alund zurück. Die Wissenschaft ist treuer als die Freunde. Johann merkte nichts von dem Verlust, denn er hatte den Alund schon längst vergessen.

Am selben Abend kam Lal mit glühenden Wangen und einer Sammlung von dreizehn neuen Schmetterlingen heim. Er war den ganzen Nachmittag mit Mr. Smith fort gewesen, und sie waren von fabelhaftem Glück begünstigt gewesen, nicht zum mindesten dank dem neuen Schmetterlingsfänger, den er von Mr. Smith bekommen hatte. Dreizehn neue Schmetterlinge. Er zählte Karl-Bertil die Namen auf, der düster ausgestreckt in seinem Bette auf dem Bauch lag und den Alund studierte, der weit weniger interessant war, als er nach seiner Jules-Verne-Lektüre erwartet hatte. Karl-Bertil schob den Alund unter das Kopfkissen und nahm den neuen Schmetterlingsfänger, um ihn sich anzusehen.

»Der hat aber einen mächtigen Stiel,« sagte er.

»Er läßt sich noch herausschieben, verstehst du, das ist riesig praktisch, denn da kann man sie von weitem fangen, ohne sie zu erschrecken.«

»Hat Mr. Smith ihn selbst gemacht?«

»Ja. Es ist der feinste Schmetterlingsfänger in ganz Schweden,« sagte Mr. Smith.

Karl-Bertil befühlte den Schmetterlingsfänger, er schob ihn aus und ein und studierte die Zusammensetzung. Das Netz war sehr weit und tief, von einer Form wie die Kopfbedeckung eines russischen Popen.

»Aber der ist ja aus Aluminium!« rief Karl-Bertil plötzlich.

»Ja, und das Netz ist aus dem feinsten Aluminiumdraht, den Mr. Smith auftreiben konnte, fast ebenso fein wie Seide und viel besser, weißt du, man kann …«

»Aber schlägt man sie denn mit dem Aluminiumdraht nicht tot?«

»Nicht viele, manchmal schon – aber du, übermorgen gehen wir weiter hinauf in den Wald, zur Rackarschlucht, dort, sagt Mr. Smith, können wir sicher einen Totenkopfschmetterling fangen!«

»So …« Karl-Bertil fühlte keinerlei Enthusiasmus für den Totenkopfschmetterling. Er sah mit prophetischer Klarheit voraus, daß Johann ihn im Schach halten würde, bis Lal und Mr. Smith eine halbe Stunde weit weg waren. Fiel der Totenkopfschmetterling Mr. Smiths Schmetterlingsfänger zum Opfer, so würde das auf jeden Fall ohne Karl-Bertil als Zeugen geschehen.

»Jetzt läutet es zum Abendessen,« sagte er zu Lal, der noch immer in Bewunderung vor den dreizehn neuen Schmetterlingen versunken war, die den Aethertod erlitten hatten und in ihrem Glasmausoleum auf Nadeln aufgespießt standen.

Uebermorgen kam – und es sah aus, als müßte Lals Schmetterlingsjagd unterbleiben, denn ein feiner, aber hartnäckiger Juniregen strömte über die Spitze des Bunnberges; das Sanatorium war in einem Nebel verschwunden. Karl-Bertil hoffte schon auf Gesellschaft für den Nachmittag; aber gegen ein Uhr klärte es sich plötzlich auf, und die Sonne brach durch. Karl-Bertil stieß einen Seufzer aus, er wußte, wie es kommen würde. Ganz richtig. Kaum war das Mittagessen vorüber, als Mr. Smith – der im Verlauf desselben Karl-Bertil wieder tüchtig zugesetzt hatte – zum Himmel aufsah und sagte:

»Nu–un, Lal, sollen wir uns nicht aufmachen und uns nach ein paar Schmetterlingen umsehen?«

»Ist es nicht zu feucht?« wagte Karl-Bertil einzuwenden.

»Hullo, der junge Kal-Burtil! Und was versteht Kal-Burtil vom Schmetterlingsfang?«

»Viel nicht,« sagte Karl-Bertil wahrheitsgemäß und bitter. »Ich habe kein einziges Mal mitkommen dürfen.«

»So, so …«

»Karl-Bertil und ich werden Holz sägen,« entschied Johann diktatorisch. »Wir haben schon fast gar keins mehr liegen, und ich habe seinem Papa versprochen, auf seine körperliche Ausbildung zu sehen!«

Karl-Bertil warf ihm einen Blick zu, der von Haß bebte. Er wußte, nach zwanzig Minuten oder einer halben Stunde würde Johann mit dem Holzsägen aufhören und auf den Heuboden mit seiner Pfeife verschwinden, die er jetzt schon einigermaßen zu behandeln wußte.

»Wir haben Holz genug,« begann er.

»Das ist nicht wahr. Ueberhaupt muß ich daran denken, was ich deinem Vater versprochen habe.«

»Ja – aber …«

»Sch!« sagte Mrs. Everard müde. Sie konnte es nicht vertragen, wenn Kinder bei Tische sprachen.

Einige Minuten später sah Karl-Bertil den glücklichen Lal und Mr. Smith den Berg hinaufwandern. Lal winkte ihm fröhlich zu; er empfand es beinahe als eine Beleidigung, wie er da hinter Johann drein zum Holzplatz trabte. Ganz richtig, wie er es sich gedacht hatte! Kaum war eine Viertelstunde vergangen, als Johann die Säge hinschmiß und sagte:

»Nein, jetzt kannst du dich von mir aus zu allen Teufeln scheren. Ich gehe auf den Heuboden hinauf und rauche. Paß nur auf, daß du deine körperliche Ausbildung nicht vernachlässigst.«

Er verschwand, gefolgt von einem warmen Blick Karl-Bertils. Karl-Bertil starrte müde um sich. Quid faciamus, patres? Pfui Teufel, war das ein Leben! Was blieb anderes übrig als der Alund? – Er wußte nicht warum, aber der Alund machte ihm keinen Spaß mehr – er ekelte ihn beinahe an. Der einzige Reiz, den er noch hatte, war der der gestohlenen Freude …

Karl-Bertil lag auf dem Bauch in seinem Bett, den Alund vor sich aufgeschlagen, beim Kapitel über »Experimente mit Leitern und Nichtleitern«. Er hatte einen (aus dem Speisezimmerbüfett stibitzten) Schokoladenkuchen zwischen den Fingern und versuchte sich mit seiner Lage zufrieden zu fühlen. Aber seine Augen irrten vom Buch zum Fenster hinaus, zu den Wäldern des Bunnberges. Dort ging der Weg zum Sanatorium hinauf, und dort kam der Bunnbach herabgestürzt. Und da, das wußte er, obwohl er es nicht sehen konnte, ging die elektrische Leitung von der Turbinenstation. Die Elektrizität war wohl vom seligen Jules Verne ein bißchen überschätzt worden: … wenigstens so, wie der Alund sie darstellte. Alle Metalle ohne Ausnahme sind gute Leiter … Das wußte er doch ohnehin aus dem Kapitän Nemo … Dort oben lag die Rackarschlucht, wo Lal und Mr. Smith Pläne für den Untergang des Totenkopfschmetterlings schmiedeten. Warum war Mr. Smith so freundlich gegen Lal? War es nur, weil Lal so reich werden sollte? Sich die Mühe zu nehmen, ihm einen ganzen Schmetterlingsfänger zu verfertigen, das Netz aus so feinem Aluminiumdraht, das war keine Kleinigkeit … Er sah Lal und Mr. Smith ganz deutlich vor sich, dort oben in der Rackarschlucht, auf der Jagd nach dem Totenkopfschmetterling. Dort flog er von einem Busch auf, über die Schlucht, da schlug Lal mit seinem Netz nach ihm und nun – – –

Man denke, man denke, wenn Lals Schmetterlingsfänger mit der elektrischen Leitung in Berührung käme!

Karl-Bertil wußte nicht recht, was in den nächsten zehn Minuten passierte. Er war ein kleines verbüffeltes, phantastisches Bürschchen, und einen Entschluß zu fassen, fiel ihm in der Regel schwer. Was er tat, tat er auch nicht mit klarem Kopf, als ihm plötzlich dort oben in seinem Zimmer wie in einer Halluzination dieser Gedanke kam. Nein, ihm war, als schlügen ihm alle möglichen Vorstellungen über dem Kopf zusammen und raubten ihm die Fähigkeit, klar zu denken oder überhaupt zu denken. Er stürzte die Treppe hinunter, vergaß den Alund in seinem Bett, bekam irgendwie Lals Rad aus dem Vorzimmer – natürlich hatte Lal ein Rad – und flog durch das Gittertor des Schwanseehofes hinaus. Erst viele Minuten später kam er zu sich und fand sich auf Tod und Leben den ansteigenden Sanatoriumweg hinaufradelnd. Der Boden war vom Regen feucht, und er kam nur langsam vorwärts, aber daraus machte er sich nichts. Hie und da sprang er ab und lief lange Strecken, das Rad an der Hand führend, bis er so außer Atem geriet, daß er stehenbleiben und sich ausruhen mußte … Die Luft brannte ihm in der Nase … Aber die Halluzination, die er oben im Zimmer gehabt hatte, wollte nicht von ihm weichen – Lal hatte doch gesagt, daß sie gerade dort oben den Totenkopfschmetterling fangen wollten – er mußte zur Zeit kommen und sehen, daß Lal nicht zu Schaden kam … Es ging aufwärts und aufwärts, immer langsamer und langsamer, und bald schnappte er bei jedem Schritt, den er machte, nach Luft. Er war so müde, daß er sich am liebsten in den Straßengraben geworfen hätte, und zum erstenmal bereute er bitterlich, daß er kein Sportsmann war wie Johann. Aber Johann lag auf dem Heuboden und rauchte seine Pfeife – und den Alund hatte Karl-Bertil draußen liegengelassen, das fiel ihm jetzt ein. Fand ihn Johann, dann adieu Alund. Mehrere Minuten lang konnte er gar nichts anderes denken, obwohl ihm eigentlich alles vollständig gleichgültig war, so hämmerte das Blut in seinen Schläfen. Und nun lichtete sich der Wald plötzlich zu beiden Seiten des Weges, und er war in der Rackarschlucht. Wo waren sie?

Er brauchte nicht lange zu suchen, um sie zu finden. Dort, über das Brückengeländer gebeugt stand Lal, das schöne Gesichtchen ganz Spannung, und den Arm mit dem Schmetterlingsfänger über die Schlucht ausgestreckt, wo ein weißer Schmetterling flatterte. Nicht weit von ihm kam ein Bauer, der mit lauten Zurufen einen Ochsen über die Brücke trieb, und Lal warf ihm eben einen zornigen Blick zu, um anzudeuten, daß er den Schmetterling verscheuche und Lals Chancen, ihn zu fangen, vernichte. Mr. Smith war nirgends zu sehen … All das faßte Karl-Bertil blitzartig auf. Er hatte keine Ahnung, wie er das Rad von sich werfen und Kraft genug in seinen todmüden Beinen aufbringen konnte, um Lal zu erreichen, der nichts hörte und nichts sah. Erst als er vor Lal stand, lösten sich die Ereignisse (zusammen dauerten sie vielleicht zwei Sekunden) vor seinen überanstrengten Augen auf, wie auf einer Filmrolle, und er sah jeden Moment deutlich auf seiner Netzhaut photographiert: Jetzt hob er die Hand – – – jetzt schlug er nach dem Schmetterlingsfänger – – – jetzt fiel der Schmetterlingsfänger dem Brückengeländer entlang, während Lal einen Schrei ausstieß – – – und jetzt kam ein Zischen und ein Brüllen – – – der Stiel des Fängers war dem Brückengeländer entlanggeglitten, das aus Stein war, und hatte plötzlich den nichts Böses ahnenden Ochsen, der über die Brücke trampelte, getroffen, während das untere Ende des Schmetterlingsfängers die Leitung darunter streifte … Das nächste, was Karl-Bertil sah, war, daß der Ochse wie vom Blitz getroffen umstürzte – und dann sah er sich selbst fallen, ja, sah, sah ganz deutlich – und dann wurde es schwarz.

*

Er kam erst wieder so recht zum Bewußtsein, als er zu Hause in seinem Bett im Schwanseehof lag, wo Frau Bencke sich bekümmert über ihn beugte und Lal auf der anderen Seite des Bettes stand.

»Aber lieber Karl-Bertil, wie kannst du, der du doch nicht so sehr stark bist, nur auf die Idee verfallen, auf diesen durchweichten Wegen den Berg hinaufzuradeln? Hättest du nicht bis zu einem anderen Tag warten können?«

Karl-Bertil schloß die Augen, ohne zu antworten. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Und er dachte nur darüber nach, wie er sich gegen Mr. Smith verhalten sollte.

»Mr. Smith hat dich in einem Wagen nach Hause gebracht. Er war in den Wald hineingegangen, während Lal auf eigene Faust Schmetterlinge fing. Und denke dir nur, Lal war an die Leitung gekommen, und auf ein Haar hätte das größte Unglück geschehen können. Mrs. Everard, die arme, liegt vor Aufregung zu Bett. Jetzt war es nur ein Ochse, der – aber da wird auch eine schöne Rechnung zu bezahlen sein.«

Karl-Bertil antwortete noch immer nicht, und Frau Bencke ging mit beleidigtem Gesichtsausdruck hinaus. Karl-Bertil faßte linkisch Lals Hand, und im selben Augenblick kam Johann herein. Er trug den Alund als Anklagedokument in der Hand.

»Du bist bei mir drinnen gewesen und hast das geschnipst, mein Zuckerbubi,« sagte er. »Das werde ich deinem Alten schreiben, damit wir doch die Korrespondenz aufrechterhalten. Und dann hast du Lals Rad stibitzt!«

Aber Karl-Bertil war zu müde, um ihm zu antworten.


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