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Der syrakusanische Tyrann

Sommertage, Sonnentage … Weiße Wolken an dem blauen Himmel, rauschende, schwellende Bäume, glitzernder See, Birkenduft, Vogelgezwitsch … Draußen von der Landschaft steigen die Rauchsäulen gerade und silberhell zum Mittagshimmel empor; oder das Firmament ist von einer linden, leichten Wolkendecke überzogen, aus der weit drüben auf der anderen Seite des Sees die Sonne durchbricht und eine Waldlichtung oder ein rotes Gehöft beleuchtet … Von irgendeinem Werk läutet es zu Mittag. Hie und da hört man das schläfrige Knirschen eines Wagens, der mit ungeschmierten Achsen die Landstraße entlangrumpelt; ab und zu brüllt eine Kuh aus irgendeinem Hag, um ihre Billigung des Daseins zum Ausdruck zu bringen. Sommer, linder, sonnenscheindurchtränkter nordischer Sommer …

*

Niemand kann es so gottsjämmerlich haben wie ein Junge.

Seit der Radtour nach der Rackarschlucht schien sich alles gegen Karl-Bertil verschworen zu haben. Er hätte gar zu gerne Johann niedergeschmettert, indem er noch am selben Abend, an dem er sich hatte niederlegen müssen, wieder aufstand; und er machte auch einen energischen Versuch, der aber an Frau Benckes Protesten scheiterte. Ihre Muttergefühle, die Johann gegenüber nicht sehr freien Lauf hatten, brachen durch. Wäre es nach ihr gegangen, so hätte Karl-Bertil den Rest des Sommers zu Bett verbringen müssen. Immerhin dauerte seine unfreiwillige Ruhe einen ganzen Tag. Frau Bencke und Mrs. Everard leisteten ihm Gesellschaft und versuchten ihn auszufragen, warum in aller Welt er denn dort hinaufgeradelt war. Schließlich entdeckte Karl-Bertil, daß sie ihrer Wege gingen, wenn er die Augen schloß und sich schlafend stellte, und er nützte diesen Trick mit allen seinen Möglichkeiten aus. Er wollte nicht von der Idee erzählen, die ihm gekommen war, als er dalag und den Alund las; jetzt hinterher erschien sie ihm wie eine Alpdruckphantasie. Johann steckte ab und zu mit irgendeinem herben Manneswort den Kopf zur Türe herein. Er war im Städtchen gewesen und hatte sich die Haare mit der Maschine schneiden lassen. Mit seinem geschorenen Kopf und seinen großen Ohren sah er wie ein junges Kalb aus.

»Wie ein aufgelegter Trottel zur Rackarschlucht hinauffahren,« sagte er, »wenn man nicht einmal einen Korbvoll Holz spalten kann! Sag mir, warst du blödsinnig oder verrückt, he? Den Alund willst du? Wer zum Teufel ist der Alund? Ach, dein dicker Wälzer? Da kannst du Gift darauf nehmen, daß du den nicht kriegst. Wirst du den ganzen Sommer im Bett liegen, armes Bubi?«

Er zögerte einen Augenblick und fügte dann hinzu:

»Uebrigens hab ich deinem Alten geschrieben.«

Das letzte kam in überlegenem, aber offenbar befangenem Ton. Karl-Bertil starrte ihn mit weitgeöffneten Augen an, und Johann drehte sich auf dem Absatz herum und verließ das Zimmer mit den Worten:

»Ja, was zum Geier, wenn du mir nicht gehorchst, muß eben er dreinfahren!«

Karl-Bertil grübelte die Hälfte eines heißen Sommertages über den Abgrund von Niedertracht nach, den diese Handlungsweise in Johanns Seele aufdeckte. Seinem Vater schreiben! Klatschen! Was sagte doch die Dogmatik von der bestimmten Richtung des Willens auf das Böse? War das der Zustand der bewußten Lüge oder der teuflischen Sünde? Müde, wie er noch war, gewannen gegen Abend mildere Gefühle die Oberhand, er gab die dogmatischen Analysen auf und schenkte Johann seine reichlich zugemessene Verachtung. Lal sah er den ganzen Tag nicht; er war mit Mr. Smith und Johann fort, sagte Frau Bencke. Karl-Bertil atmete trotz alledem erleichtert auf, als er hörte, daß Johann mit war.

Früh am nächsten Morgen traf Major Karl-Emils Brief ein und wurde triumphierend von Johann verlesen:

 

Mein lieber Sohn!

Es schmerzt mich, von Johann zu hören, daß Du Dich nicht mit dem gebührenden Interesse den Körperübungen widmest, zu denen er Dich auf meinen Wunsch zu Deinem eigenen Besten anzuhalten sucht. Ich hoffe zuversichtlich, von weiteren derartigen Klagen verschont zu bleiben.

Was ein Buch betrifft, von dem Johann schreibt, sowie einen Ochsen, der durch dein Verschulden den Tod gefunden haben soll und für den Ersatz verlangt wird, ist Johanns Brief so unklar, daß ich mich erst nach näheren Aufklärungen darüber aussprechen will.

Dein Vater
Karl-Emil von Birck.

 

»Was sagst du dazu, was?« sagte Johann, »dein Alter kennt dich schon, was?«

»Du bist ein Klatschmaul,« sagte Karl-Bertil mit einer Stimme, die vor Verachtung zitterte. »Ein miserables Klatschmaul, daß du's nur weißt. Ich werde es mir schon merken, darauf kannst du dich verlassen.«

»Halt den Mund, du, das rate ich dir,« sagte Johann. »Bleibst du am Ende heute auch liegen?«

Karl-Bertil begann sich die Strümpfe anzuziehen, ohne ihn eines Wortes zu würdigen.

Sobald er nur konnte, zog er Lal mit hinaus in den Garten, um ihm einige Fragen zu stellen, die ihm schon die ganze Zeit, die er zu Bett gelegen war, auf der Zunge gebrannt hatten. Uebrigens war es gar nicht so leicht für ihn, Lal mit hinauszubekommen. Lal schien verändert. Seine blauen Augen nahmen einen gewissen mißtrauischen Ausdruck an, sowie Karl-Bertil ihm in die Nähe kam. Und ihm zuliebe hatte Karl-Bertil die Radpartie den Berg hinaufgemacht, und es war vielleicht Karl-Bertils Verdienst, wenn Lal heute derselbe schöne Junge war, und nicht eine tote Masse wie der Ochse dort droben in der Rackarschlucht … War er vielleicht ein ebensolcher Kerl wie Johann? Aber es war nicht Karl-Bertils Absicht, diese Sache jetzt zu debattieren. Sein Trachten ging tiefer. Er wollte etwas über Mr. Smith in Erfahrung bringen.

Er fand jedoch bald, daß die Diplomatie Knaben nicht liegt. Er verplemperte sich so gut wie sofort.

»Lal,« begann er, »wo habt ihr, du und deine Mutter, Mr. Smith kennengelernt?«

»Wir haben ihn doch nicht kennengelernt,« sagte Lal. »Mama hat ihn auf eine Annonce hin gekriegt. Er konnte Schwedisch und Englisch, und darum hat er den Posten bekommen. Das habe ich dir doch schon oft und oft gesagt.«

»Magst du ihn?« setzte Karl-Bertil sein vorsichtiges Vorrücken fort.

»Er ist allright. Er ist immer sehr nett zu mir. Was bist du doch für ein Esel, Karl-Bertil. Weil du ihn nicht magst, kann er doch ganz nett sein.«

»Seid ihr gleich darauf aus Amerika fortgereist?« versuchte Karl-Bertil sich weiterzupirschen.

»Ja, das war ein Hauptspaß! Great lark! Wir fuhren mit einem dänischen Schiff, wie hieß es doch, Olaf und noch irgendwie – ja, der heilige Olaf. Der Kapitän sagte selbst, wir hätten das ärgste Wetter, das er noch mitgemacht hat. Und trotzdem war ich nicht eine Minute seekrank. Der Mama war natürlich schlecht. Aber Mr. Smith und ich, wir gingen jeden Tag auf das Verdeck, und keinem von uns war im geringsten übel, obwohl es furchtbar stürmte. Alle sagten, ich wäre sehr tapfer, weil mir nicht schlecht wurde. Eines Abends stürmte es so, daß ich fast vom dritten Verdeck ins Meer gefallen wäre. Mr. Smith wollte mich halten, aber er glitt aus und stieß mich anstatt dessen. Wir waren ganz allein, aber da kam ein Matrose herbeigelaufen und packte mich. My, was die Mama für einen Schrecken hatte, als sie es erfuhr! Die ganze Zeit durfte ich nicht mehr …«

»Mr. Smith hat dich gestoßen?« rief Karl-Bertil, dessen Augen vor Interesse leuchteten. Lal brach plötzlich ab und sah ihn wieder mit jenem tief mißtrauischen Ausdruck im Blick an.

»Was bist du doch für ein Esel, Karl-Bertil!« sagte er schließlich mit Nachdruck. »Was redest du denn für einen Blödsinn über Mr. Smith zusammen! Ich habe ihm gestern erzählt, was du da dieser Tage zusammengeschwafelt hast, von dem gestohlenen Lord, oder was das war. Mr. Smith hat gesagt, ich soll mich vor dir in acht nehmen, denn du bist nicht recht bei Trost, und das glaube ich wirklich.«

Es gibt dem Vernehmen nach keinen bittereren Augenblick im Leben eines Mannes, als wenn die Frau, die er anbetet, ihn ins Gesicht verhöhnt. Buben beten einander nicht an, aber ihr kameradschaftliches Gefühl kann fast ebenso stark sein, wie die Liebe eines Erwachsenen. Als Lal diese letzten Worte sagte, so fehlte nicht viel, und Karl-Bertil hätte sich auf ihn gestürzt. Eine Sekunde hielt er sich für den verunrechtetsten Jungen aus Gottes Erdboden; er sah rot, er ballte die Fäuste und zielte nach Lal. Dann fiel ihm ein, daß Lal vier Jahre jünger war als er, er warf ihm einen Blick zu, zuckte die Achseln und ging seiner Wege mit den Worten:

»Du amerikanisches Baby!«

Lal flog ihm blitzschnell nach und streifte die Blusenärmel zurück.

»Baby! Na, warte nur, du Idiot! Du Idiot!« schrie er. »Glaubst du, ich kann nicht boxen? Come on! Idiot! Idiot!«

Karl-Bertil stand eine Sekunde da und biß sich auf die Lippen, unentschlossen, was er tun sollte; Lal löste das Problem für ihn. Pang, schlug seine Faust Karl-Bertil gerade unter das Kinn. Die Würfel waren gefallen. Karl-Bertil puffte ihn in die Rippen, da wo sie wie Gardinen herabgehen; aber es dauerte zwanzig Minuten, bis sein Sieg gesichert war. Lal balgte sich wie eine Wildkatze und zischte vor Wut, als er endlich auf dem Rücken lag, Karl-Bertils Knie auf seiner Brust und Karl-Bertils Hände um seine beiden Handgelenke. Im selben Augenblicke klingelte die Tischglocke. Karl-Bertil zuckte zusammen und sprang auf.

»Es läutet zum Frühstück,« murmelte er.

»Glaubst du, du hast mich jetzt untergekriegt, was?« schrie Lal mit blitzenden Augen, von denen das eine bedeutend blauer war als vor zwanzig Minuten. »Du, mich untergekriegt! Du!«

»Es läutet zum Frühstück,« wiederholte Karl-Bertil mit dicker Stimme. »Nimm dich in acht, sonst –«

»Nimm du dich in acht!« schrie Lal, und der Kampf war im Begriff, mit verdoppelter Hitze wieder aufzulodern, als die Unterbrechung in Gestalt von Mr. Smith kam. Der amerikanische Hofmeister trat von rückwärts aus einem Gebüsch hervor, den Anflug eines Lächelns um die Mundwinkel. Aber es verschwand im selben Augenblick, in dem die Jungen ihn erblickten.

»Ah, du bist wieder tapfer gewesen, Kal-Burtil? Es ist dir gelungen, Lal unterzukriegen, der vier Jahre jünger ist als du! Du zeigst wieder einmal, was an dir ist! Schön, schön. Ich werde mit Mrs. Everard und Mrs. Bencke schon sprechen.«

»Es war,« begann Lal zögernd, aber Mr. Smith unterbrach ihn:

»Ich kenne dich, Lal, du willst die Schuld auf dich nehmen. Nein, mein Junge, ich habe das Ganze gesehen. Nicht du hast angefangen – still jetzt. Es hat zum Frühstück geläutet, kommt mit, alle beide.«

Frau Bencke sah zuerst Karl-Bertil und schrie auf; aber Mrs. Everard erblickte zuerst Lal und wurde fast ohnmächtig.

»Karl-Bertil, was hast du denn schon wieder angefangen? Ich glaube, mit dem Jungen ist es nicht richtig. Kaum ist er aus dem Bett aufgestanden –«

»Lal, Lal, wer hat das getan? Hat sich Karl-Bertil so gegen dich benommen, Lal?«

Karl-Bertil sah hastig sich selbst und Lal an – unleugbar sahen sie beide etwas ruppig aus. Lal hatte ein blaues Auge, eine zersprungene Lippe und einen langen Riß im rechten Blusenärmel; er selbst war ganz zerkratzt im Gesicht von Lal, der noch leicht die Kampfmethoden der Erwachsenen vergaß, und hatte das Knie an seinem rechten Strumpf und obendrein die Haut ganz aufgeschunden.

Wie Nathan vor David hob Mr. Smith den Zeigefinger gegen Karl-Bertil.

»Du, Karl-Bertil! Bist das du? Den ersten Morgen, an dem du aufgestanden bist!«

»Lal, mein armer Lal, was hat er dir getan!«

Lal zuckte die Achseln und sah Karl-Bertil an, wie um ihn zu bitten, die Sache aufzuklären. Mr. Smith griff abermals ein.

»Ich habe das Ganze mitangesehen,« sagte er, »ich weiß alles. Es war Kal-Burtil. Aber wollen wir nicht später weitersprechen?«

Mrs. Everard warf ihm einen dankbaren Blick zu und zog Lal dicht an sich. Man ging zu Tisch, und die Appetit hatten, aßen schweigend; Karl-Bertil gehörte nicht dazu. Er war tief niedergeschlagen – nicht der Strafe wegen, die ihn erwartete, sondern wegen seines Mißerfolges in bezug auf Mr. Smith.

Die Stimmen der anderen drangen wie aus weiter Ferne zu ihm. Er saß da und formte sein Brot zu Kügelchen und die Kügelchen zu geographischen Reliefs, zuerst eines von Indien, dann eines der skandinavischen Halbinsel, hierauf vereinigte er sie beide zu einer Skizze von Nordamerika. Johann kam wie gewöhnlich zu spät zum Essen und wollte sich in ein sofortiges Polizeiverhör mit Karl-Bertil stürzen, wurde aber von Frau Bencke zurückgehalten. Aber Karl-Bertil wußte, daß aufgeschoben nicht aufgehoben war. Das Verhör kam sofort nach dem Frühstück und begann mit Mr. Smiths (ungern abgegebener) Zeugenaussage (er sei kein Freund davon, Buben nachzuspionieren, aber usw.); Lal versuchte einige Entschuldigungen für Karl-Bertils Betragen vorzubringen, aber wurde zum Schweigen gebracht; Mrs. Everard und Frau Bencke, als Jury, erklärten Karl-Bertil einstimmig unter erschwerenden Umständen für schuldig (Angriff auf einen Minderjährigen und grobe Undankbarkeit gegen Personen, die an ihm Mutterstelle vertraten); und Johann wurde zum Exekutor des Urteils ausersehen – schwere Strafarbeit, bis wirkliche Sinnesänderung an den Tag gelegt wurde.

Sommertage, Sonnentage … die Sonne steht weiß, blank und funkelnd am Himmel, den sie in ihrer Nähe in ein Feuermeer verwandelt. Der See funkelt, Birkenblätter und Erlenblätter funkeln, wenn sie den Sonnenschein zurückwerfen, der Kies am Wegrand strahlt lange Reflexe aus. Nur die Tannenwälder liegen dunkel da. Hoch oben schwebt ein Habicht wie ein Pünktchen in der strahlenden Unendlichkeit. Der Sommer liegt wie ein warmer Gottessegen über der glitzernden harzduftenden Landschaft.

Und in einem Küchengarten, der eigentlich nicht so groß ist, aber in seinen Augen unendlich wie eine Steppe, arbeitet ein vierzehnjähriger Junge notgedrungen daran, Voltaires » cultivons nos jardins« in die Tat umzusetzen. Niemand kann es so gottsjämmerlich haben wie ein Junge, wenn er von einem anderen Jungen tyrannisiert wird. Karl-Bertil mußte das an sich erfahren. Johann zeigte sich unerschöpflich in der Erfindung neuer Strafarbeiten – Heckenschneiden, Schaufeln, Wasserpumpen, allgemeine Gartenpflege. Hie und da, unvorbereitet wie der Bräutigam in der Bibel, kam er, um zu kontrollieren, ob die Arbeit vorwärts ging. Seine Kritik war hart und unbestechlich wie die Catos des Aelteren. Und Karl-Bertil arbeitete in der Einsamkeit. Lals Mutter hielt Lal außerhalb des Bereiches neuer Attentate von Karl-Bertils Seite. Lal selbst schien zwischen Groll und Mitleid mit Karl-Bertil zu schwanken, aber beide Gefühle machten eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen unmöglich. Ueberdies hatte Mrs. Everard eine Beschäftigung für Lal ausfindig gemacht, die bis auf weiteres ganz und gar auf ihn Beschlag legte, nämlich Markensammeln. Alle alten Briefsammlungen des Hauses wurden durchstöbert; Mr. Smith bestellte Marken aus Stockholm, und er und Lal waren stundenlang damit beschäftigt, sie zu ordnen. Karl-Bertil langweilte sich zum Vergehen – kein Mensch, mit dem er sprechen konnte, und kein Buch. Er grübelte hin und her, wie er aus diesem Elend loskommen sollte. Nach Hause schreiben? Er kannte seinen Vater zur Genüge. Durchbrennen? Wohin? Endlich schien ihm der Zufall zu lächeln. In einem der Gastzimmer, die unbenützt standen, entdeckte er drei Bände von etwas verschiedener Beschaffenheit: Flammarions »Bewohnte Welten« (das hatte er gelesen), »Die Abenteuer meines Freundes, des Privatdetektivs« (das konnte er auswendig), und den Cornelius Nepos … Wer konnte diese Bücher da vergessen haben? Karl-Bertil versuchte das nicht zu ergründen. Er packte sämtliche Bände ohne alle Gewissensbedenken und versteckte sie auf dem Heuboden. Ein gutes Buch ist ein guter Freund. Jetzt brauchte er doch nicht ganz allein zu sein.

Am selben Tage beim Abendessen ereignete sich eine Episode.

»Mama, denk dir nur,« rief Lal, der dagesessen und Karl-Bertil immerzu angesehen und nur in seinem Essen herumgestochert hatte, »heute wäre ich fast von einem Baum heruntergefallen und hätte mich erschlagen!«

Mrs. Everards nervöses Gesicht wurde leichenblaß, und sie schrie im höchsten Diskant auf.

»Lal! Aber Lal! Was sagst du da!«

»Ich war oben im Wipfel einer Ulme,« erklärte Lal, »um mir ein Vogelnest anzusehen. Mr. Smith hat geglaubt, daß Junge drinnen sind, und der Ast, auf dem das Nest war, war zu dünn, er brach ab, und ich blieb zwischen Himmel und Erde hängen.«

Mr. Smith war plötzlich ebenso blaß geworden wie Lals Mutter.

»Mrs. Everard,« stammelte er, »lassen Sie mich erklären. Ich habe nicht geglaubt, daß die geringste Gefahr sei, ich weiß ja, daß Lal wie ein Wilder klettert.«

»Johann kam in der letzten Minute und kraxelte hinauf und packte mich,« fuhr Lal fort, »das war gerade, als ich schon fast hinuntergepurzelt wäre.«

»Warum sind Sie nicht hinaufgeklettert, Mr. Smith,« flüsterte Mrs. Everard heiser.

»Ich klettere leider so schlecht, Mrs. Everard, und nun kam ja auch Johann und –«

»Wo war Johann denn gewesen?«

»Er war ein bißchen vorausgegangen, Mrs. Everard.«

Es entstand eine Pause, bis Mrs. Everard stammeln konnte:

»Du darfst nie, nie mehr auf einen Baum klettern, Lal, versprich mir das!«

»Ja, aber Mama –«

»Nein, Lal, nie! Denke nur, wenn du hinuntergefallen wärest und dich erschlagen hättest!«

Sie begann zu weinen. Lal lief auf sie zu und schlang die Arme um sie.

»Aber Mama – ich werde ja nicht mehr klettern!«

»Du hast doch deine Marken. Ordne sie doch lieber, sei brav. Ich werde morgen noch mehr für dich bestellen, Lal.«

»Danke, Mama …«

Diese Szene gab Karl-Bertil Stoff zu neuen Grübeleien über ein altes Thema. Und er hatte Zeit dazu, denn sein Leben als gartenbauender Eremit dauerte auch in den nächsten Tagen fort. Die einzige Veränderung war, daß Johann in seinem Eifer ein klein wenig erlahmte. Es vergingen längere und längere Zeiträume zwischen seinen Besuchen, und manchmal blieben sie ganz aus. Karl-Bertil holte seine teueren Bücher aus ihrem Schlupfwinkel, dem Heuboden, hervor und versuchte sie insgeheim zu lesen, während er die ihm auferlegten Aufgaben verrichtete. »Die Abenteuer meines Freundes, des Privatdetektivs« waren zu dick, um sie im Sporthemd zu haben (es war die alte Ausgabe) und leider auch die »Bewohnten Welten«. Hingegen war der Cornelius Nepos klein und von passendem Format, man konnte ihn leicht ins Hemd oder im Notfall in die Hosen verschwinden lassen … Aber der Cornelius Nepos, der war nun gerade keine Unterhaltungslektüre. Der Alund war dagegen ein Roman. Na, Not bricht Eisen, und schließlich genehmigte Karl-Bertil den Cornelius als Geheimlektüre – das Geheimnis gab ihm sogar ein wenig Bukett. Er beschloß, die Schicksale des Alcibiades zu studieren. Alcibiades, Cliniae filius, Atheniensis; in hoc natura quid efficere possit videtur experta …

Einige Tage später glaubte er eine eigentümliche Veränderung bei Lal wie bei Johann zu bemerken. Lal ging jetzt den ganzen Tag zu Hause herum; denn Mrs. Everard, deutete Johann an, war seit der Klettergeschichte total übergeschnappt und wagte ihn nicht mehr ausgehen zu lassen, außer in ihrer Gesellschaft. Mr. Smith war verschlossen und in sich gekehrt, er lag meist in einer Hängematte und rauchte und nahm sich nicht einmal die Mühe, Karl-Bertil zu reizen. Hingegen war Johann energischer denn je geworden, wenn es sich um Karl-Bertils moralische und physische Zucht und Dressur handelte; der einzige Lichtpunkt war, daß er (übrigens ebenso wie Mr. Smith) morgens erst spät aufstand; beim Frühstück sah er dann immer fahl aus. Daß das auch zuweilen bei Lal der Fall war, schrieb Karl-Bertil der sitzenden Lebensweise zu, die Lal führen mußte. Karl-Bertil, der in der Regel als erster von allen im Hause unten war, bemerkte, daß Mr. Smith verschiedene Telegramme und Briefe aus dem Ausland bekam.

Eines Nachts bekam Karl-Bertil die Erklärung für Johanns und Lals Morgenschläfrigkeit.

Johann war den ganzen Tag wie eine Kratzbürste gewesen, und Karl-Bertil, der jetzt den Alcibiades beendigt hatte und zu der Erzählung von Dion von Syrakus übergegangen war, war die Ähnlichkeit zwischen Johann und dem grausamen Tyrannen Dionys, der darin geschildert wird, aufgefallen. Es erregte bei ihm um so größeres Staunen, als er am Abend ein Klopfen an seiner Türe hörte und Lal und Johann draußen fand. Es war elf Uhr, und alle im Hause waren schon zu Bett gegangen.

»Willst du mit?« flüsterte Lal.

»Mit?« fragte Karl-Bertil.

»Nach Bronäs, zu den Ekbuben,« erklärte Lal.

»I wo, der traut sich gerade! Und was zum Teufel brauchen wir ihn denn? Marsch, vorwärts, Lal!«

Karl-Bertil riß die Augen vor Staunen auf. Nach Bronäs! Um diese Tageszeit! In Bronäs wohnte allerdings eine Familie, die Ek hieß, aber Frau Bencke betrachtete sie nicht als Verkehr; Herr Ek war vermögend, aber er hatte eine Pfandleihanstalt. Es gab zwei Buben Ek, einen von zwölf und einen von sechzehn Jahren, beide sehr frühreif. Pflegten Lal und Johann abends dorthin zu gehen?

»Habt ihr Erlaubnis?« fragte Karl-Bertil. Das war offenbar die dümmste Frage, die er hätte stellen können. Johann schnaubte vor Empörung wie ein Seehund.

»Erlaubnis! Du Kaschkind! Was zum Geier hast du auch hier oben zu suchen, Lal? Komm, von mir aus soll er sich aufhängen!«

»Er tut mir aber so leid,« sagte Lal, »er geht ja den ganzen Tag allein herum.«

»Ich habe gemeint, Erlaubnis von Mr. Smith,« versuchte Karl-Bertil seinen Fehlgriff lügnerisch zu verbessern. »Ich komme gerne mit,« beeilte er sich hinzuzufügen, als Johann den Mund aufriß, wie um ihn vor empörter Verachtung zu verschlingen.

Johann fauchte noch ein paarmal, und dann trabten sie ab.

Die Ekbuben rechtfertigten ihren Ruf. Sie waren beide rothaarig, sommersprossig, hatten ungeheure braungefleckte Hände und überschrien sich gegenseitig. Wovon sie sprachen, war der unerhörte Wohlstand ihres Vaters, der den Wohlstand anderer Personen hier in der Umgegend so übertraf, wie der Montblanc andere Berge übertrifft; ferner von den großen Genüssen, zu denen dieser Wohlstand ihnen die Möglichkeit bot. Sie bekamen, was sie wollten: Fahrräder, Salongewehre, richtige Flinten, Kanoes.

»Habt ihr Marken?« fragte Lal.

»Marken!« sagte der jüngere Ek. »Marken hast du gesagt?« sagte der ältere Ek. – »Laß dich nicht auslachen. Du willst von Marken reden?« sagte der jüngere Ek. »Da schau her.«

Aus einer Tischlade zog er ein Markenalbum, groß wie eine Familienbibel; und Lal versank hinein, ohne daß sein amerikanischer Charakter an den Prahlereien der Ekbuben besonderen Anstoß nahm.

Die Zusammenkunft fand in einem Gartenpavillon statt, über den die Jünglinge Ek frei verfügten, bis zu dem Augenblick, wo es ihnen belieben würde, einen größeren und geräumigeren von ihrem Vater zu verlangen. Der Pavillon war übrigens geräumig genug, mit einem großen Inventar von Sportsachen. Während Lal und der jüngere Ek sich den Marken widmeten, fochten Johann und der ältere Ek ein Duell in Lebenserfahrungen aus. Johann exzellierte in bacchischen Einsichten und feinen Bekanntschaften, aber Sigurd Ek zeigte sich in galanten Fertigkeiten weit überlegen. Schließlich hatte Johann das Gefühl, sich auf unsicherem Boden zu bewegen. Er schleuderte seine Zigarette fort (alle rauchten, auch Lal) und sagte mit einem Gähnen:

»Pfui Teufel, da wird einem aber die Kehle trocken.«

»Was willst du haben?« sagte Sigurd Ek. »Schieß los! Hier ist alles vorhanden, das weißt du.«

Er öffnete einen Schrank und zog eine Punschflasche heraus. Johann hob gleichgültig die Augenlider.

»Hast du denn auch heute abend keinen Kognak?«

»N–nein – das nicht.« Die Stimme des älteren Ek klang zum erstenmal geniert.

»Na also, so gib halt den Punsch her,« sagte Johann. » Du traust dich natürlich nicht?«

Das letztere war an Karl-Bertil gerichtet.

»Und ob, da kannst du Gift darauf nehmen, du blöder Kerl!« sagte Karl-Bertil, dem Feinde mutig mit seinen eigenen Waffen begegnend. Übrigens hatte er schon einmal Punsch getrunken bei Elander, ohne alle Folgen.

»Wieviel willst du, Lal?« fragte Johann, der die Rolle eines magister bibendi innehatte.

»Lal! Soll Lal trinken!«

Karl-Bertil hielt zu spät in seinem Ausruf inne. Ein vernichtendes Kreuzfeuer hohnvoller Ausrufe erhob sich von den Festgästen.

»Glaubst du, Lal traut sich nicht?«

»Glaubst du, er ist ein solcher Hasenfuß wie du?«

»Glaubst du, ich habe nicht schon öfter getrunken, was? Nicht wahr, Josef?«

Josef war der jüngere Ek, und er gab eine saftige Garantieversicherung ab, daß Lal schon öfter getrunken hatte und zwar ganz tüchtig, wie er selbst, Josef Ek. Karl-Bertil schwieg, sein Rücken begann zu kribbeln. Die Gläser wurden eingeschenkt und auf die Neige geleert – zuallererst das Karl-Bertils. Aber er konnte doch sehen, wie Lal zögernd zuerst das Glas, dann Johann ansah, bevor er trank, und wie seine Nasenflügel dabei zitterten.

Bald darauf brach man auf, begleitet von den Gastgebern, die zu einer neuen Festlichkeit einluden, wann immer es den geehrten Gästen passen würde. Die Flasche war leer, und man merkte es Johann an, daß das Verdienst daran zum großen Teil ihm zufiel. Lal war schläfrig und konnte kaum gehen; Karl-Bertil, der nicht mehr als zwei Gläser getrunken hatte, stützte ihn getreulich auf dem ganzen Heimweg.

Johann ließ sie von rückwärts herein. Während sie in der Küche die Schuhe ablegten, um die Treppen hinaufzuschleichen, erwachte Lal wieder zum Leben.

»Mordsspaß bei Eks, was?« flüsterte er Karl-Bertil zu.

»Das finde ich nicht,« sagte Karl-Bertil aufrichtig. »Ich finde nicht, daß du dorthin gehen solltest.«

»Ach geh, du bist fad. Wenn man ohnehin hier den ganzen Tag herumknotzt. Feine Marken hat er da gehabt! Die hätte ich gerne! Hast du die Schillingsmarken gesehen und die alten deutschen? Er will sie nicht verkaufen, hat er gesagt; übrigens könnte ich sie auch gar nicht bezahlen.«

»Ich finde, du solltest nicht,« begann Karl-Bertil, wurde aber von Johann unterbrochen.

»Du findest, und du findest. Den ganzen Abend bist du dagesessen und hast gebockt. Du kannst ganz ruhig sein, du kommst nicht noch einmal mit. Aber eines sage ich dir, wenn du klatschst, dann werde ich dich so durchwalken, daß du es im Leben nicht vergißt. Hast du dir's gemerkt? Schlüpf hinein, Lal!«

»Ja, untersteh dich nur zu klatschen,« flüsterte Lal in der Türe seines Zimmers.

Lal schlüpfte in sein Zimmer neben dem Mrs. Everards. Karl-Bertil und Johann schlichen die Treppe hinauf. Auf dem ersten Treppenabsatz lag Mr. Smiths Zimmer. Als sie an Mr. Smiths Türe vorübergingen, konnte Karl-Bertil sich nicht versagen zu flüstern:

»Weiß er davon?«

»Er weiß, daß Lal mit mir ausgeht, um sich Bewegung zu machen – Schluß!«

Karl-Bertil hätte gerne erfahren, ob die Festlichkeiten bei den Jünglingen Ek von Mr. Smith als Bewegung rubriziert wurden, und ob er davon wußte.

Glücklich im Bett, lag er lange wach, damit beschäftigt, die Parallele zwischen Johann und dem Tyrannen Dionysos von Syrakus auszubauen. Sie glichen einander aufs Haar an Grausamkeit und Herrschsucht; aber Dionysos hatte wenigstens eine Zeitlang Plato zum Ratgeber … Plötzlich fiel ihm ein, was von Dionysos' Betragen gegen seinen Bruderssohn erzählt wird: Er ließ ihn absichtlich so erziehen, daß er von den schändlichsten Lastern verdorben wurde … Der Knabe wurde durch Wein und Festmahlzeiten abgestumpft und durfte nie nüchtern sein … Lal war heute abend nicht nüchtern gewesen, und natürlich an anderen Abenden auch nicht, auf Veranlassung des Tyrannen Johann … Und er ließ lockere Weiber zu dem Knaben führen … Man denke, wenn Johann auch das wagen sollte … Erinnerungen an die Kommentare der Klassenkameraden Elander und Hagelberg zu dem Wort scortum und seinen Varianten tauchten plötzlich vor Karl-Bertils entsetztem Gemüt auf. Mußte er vielleicht doch klatschen?

Er tat es nicht, aber er ging nicht mehr zu Eks mit und wurde, die Wahrheit zu sagen, auch nicht dazu aufgefordert. Johann und Lal waren in den nächsten Tagen noch ein paarmal dort. Im übrigen ereignete sich nichts im Hause, außer daß Mr. Smith sich arg den Fuß verstauchte und in seinem Zimmer bleiben mußte. Er war schon ein paar Tage ans Haus gefesselt, als Lal und Johann ihren letzten Besuch in Bronäs machten; von diesem brachte Johann eine Flasche mit, aus der er sich und Lal (trotz dessen etwas stammelnden Protesten) erfrischte, bevor sie zu Bett gingen. Karl-Bertil, der wach gelegen war, bis sie kamen, und nun auf der Treppe stand und lauschte, hörte sie. Als Johann die Treppe hinaufkam, huschte Karl-Bertil wieder in sein Zimmer, aber es war ihm unmöglich, zu Bett zu gehen. Er stellte sich ans Fenster und starrte in den Garten hinunter und war sehr unglücklich. Eltern, Vormündern und Lehrern etwas zu klatschen, war ein unverzeihliches Verbrechen, aber … Er stand da fast eine Stunde in Grübeleien versunken; er begann in den Beinen zu frieren und wollte schon zu Bett gehen, als plötzlich etwas eintraf, das dazu bestimmt war, seinem moralischen Konflikt und Johanns syrakusanischen Tyrannengewohnheiten ein Ende zu bereiten.

Es war eine dunkle Nacht gewesen; nun glitt der Mond rot und verschwollen über die Baumwipfel und warf ein unsicheres Licht auf den Garten darunter. Es roch gut von den tauigen Grasmatten und auch von vier Heuschobern, die Karl-Bertil am selben Nachmittag eigenhändig unter der Oberaufsicht des harten Johann aufgeschichtet hatte. Plötzlich zuckte Karl-Bertil zusammen. Eine mystische Gestalt löste sich aus den Baumschatten und schlich rasch und vorsichtig dem Hause zu. Schon als Karl-Bertil gekommen war, hatte eine Leiter daran gelehnt; die mystische Gestalt hatte Tennisschuhe an, die von Tau durchnäßt waren. Karl-Bertil eben einen Alarmruf ausstoßen, als der geheimnisvolle Nachtwanderer plötzlich sein Gesicht zeigte.

Es war Mr. Smith.

Karl-Bertil war so paff, daß ihm der Atem ausging und er nicht einmal sah, wohin Mr. Smith verschwand. Mr. Smith! Mr. Smith, der einen verletzten Fuß hatte! Wie in aller Welt konnte Mr. Smith draußen sein? Dann kam ihm der Gedanke, wohin Mr. Smith verschwunden war. Er beugte sich zu seinem Dachfenster heraus und starrte. Saß Mr. Smith auf dem Dach? Nein. Aber wo war er dann? Die Leiter ging bis zum Dach und nirgend anders hin, und da war nur das Fenster, an dem Karl-Bertil stand, und das Fenster dahinter, das Johann gehörte. Durch keines dieser Fenster konnte Mr. Smith hereingekommen sein. Also? Karl-Bertil starrte noch immer durch seine Luke. Plötzlich zuckte er zusammen. Mr. Smiths eigenes Fenster lag gerade unter der Leiter, aber etwa zwei Meter davon entfernt … War es möglich, daß er gelenkig genug war, um …? Ja; Mr. Smith mußte sich ganz einfach direkt von der Leiter in sein Zimmer geschwungen haben!

Zum erstenmal empfand Karl-Bertil eine gewisse Achtung vor ihm. Mr. Smith mußte es getan haben, da er nicht mehr sichtbar war, und er mußte es blitzschnell getan haben, da Karl-Bertil es nicht gesehen hatte. Und er hatte zu Mrs. Everard gesagt, er könne nicht klettern, und war nun schon seit ein paar Tagen mit einem verstauchten Fuß in seinem Zimmer gelegen! Aber warum in aller Welt hatte er das getan?

Karl-Bertil grübelte nach, so daß sich alles in seinem Kopf drehte. Galt es jetzt wieder Lal? Aber wie konnte es Lal gelten? Plötzlich kam ihm ein praktischer Gedanke: Es war besser, hinunterzugehen und nachzusehen, ob Mr. Smith etwas tat, als dazustehen und darüber nachzudenken, was es sein konnte!

Rasch zog er Hosen und Strümpfe an, öffnete die Türe so leise er konnte, um Johann nicht aufzuwecken, der im Nebenzimmer auf seinem Tyrannenbett dumpf schnarchte, und kroch die schmale Treppe hinunter. Je näher er dem Treppenabsatz kam, wo Mr. Smiths Zimmer lag, desto leiser kroch er. Schließlich konnte er Mr. Smiths Türe sehen. Sie war verschlossen, schien es ihm zuerst; aber dann sah er, daß sie nur angelehnt war. Fast im selben Augenblick, in dem er dies konstatierte, öffnete sie sich, und Mr. Smith wurde auf der Schwelle sichtbar. Er hatte ein paar Bogen Papier, oder was es sein mochte, in der Hand. Gott sei Dank, daß die Treppe unter Karl-Bertil nicht knarrte, als er zurückflog, und daß sein Herzklopfen nicht zu hören war! Aber die Treppe knarrte nicht, und sein Herzklopfen wurde nicht gehört – wenigstens nicht von Mr. Smith. Leise wie Karl-Bertil selbst schlüpfte Mr. Smith die Treppe zum Erdgeschoß hinunter und verschwand aus dem Gesichtskreis; es vergingen einige Sekunden, während der Karl-Bertils Herz wie ein Eisenhammer pochte und die Gedanken ihm im Kopf umherwirbelten. Dann war sein Entschluß gefaßt, und er schlich eilends die Treppe hinunter, um zu sehen, was Mr. Smith vorhatte … war es vielleicht auf Lal abgesehen, wie damals mit dem Schmetterlingsnetz, dann würde er wenigstens … Wenn ich nicht mit ihm fertig werde, kann ich wenigstens das Haus aufwecken, dachte Karl-Bertil … Und gewiß galt es Lal. Die Türe zu Lals Zimmer stand halb offen; Karl-Bertil stürzte die Treppe hinunter, ohne mehr an Vorsicht zu denken, aber, wie es sich zeigte, ohne gehört zu werden. Auf der letzten Stufe angelangt, blieb er plötzlich stehen.

Bisher hatten ihm dunkle Gedanken an Mord oder Gewalt von seiten Mr. Smiths vorgeschwebt; jetzt konnte er Mr. Smith sehen; und was tat Mr. Smith? Er stand über ein dickes Buch gebeugt, das auf Lals Fensterbrett lag, und schien darin zu blättern. Drüben im Bett schnarchte Lal, sein schönes Gesicht war glühend rot, und sein Mund weit offen. Jetzt legte Mr. Smith das Buch zurück und machte eine Bewegung, wie um sich umzuwenden und zu gehen. Karl-Bertil flog die Treppe hinauf wie ein Pfeil. Oberhalb des Treppenabsatzes im ersten Stock wartete er, bis er Mr. Smith heranschleichen hörte. Dann kroch er so weit hinauf, daß er gerade noch die Aussicht auf Mr. Smiths Türe frei hatte. Der Amerikaner ging hinein und sperrte zu; Karl-Bertil schöpfte tief Atem und setzte sich auf die Treppe, das Kinn in die Hände gestützt.

Was war der Zweck des Ganzen?

Karl-Bertil war durchaus kein wunderbar scharfsinniger Detektivknabe; er war nur, wie schon gesagt, ein verbüffelter kleiner Junge mit recht viel Phantasie. Diese Phantasie, genährt durch seine bunte Lektüre, war durch die wunderlichen Ereignisse, die er in seinen Ferien miterlebt zu haben glaubte, noch mehr aufgestachelt worden. Und sie und nichts anderes trieb ihn gegen halb acht Uhr morgens – nachdem er vielleicht vier Stunden geschlafen hatte – aus dem Bett und ließ ihn mit einem Male die Bedeutung der Ereignisse der Nacht erkennen. Wenigstens die direkte Bedeutung, denn die tiefere verstand er nicht, soviel er auch nachdachte. Aber was sollte er nun tun?

Was ein Außenstehender Karl-Bertil tun gesehen hätte, wäre nicht viel gewesen; er hielt sich solange auf der Treppe vom ersten zum zweiten Stock auf, bis er Mr. Smith humpelnd sein Zimmer verlassen sah. Da war es gerade acht Uhr. Er hatte hin und her gedacht, was er tun sollte, wenn Mr. Smith sein Zimmer nicht verließ. Sobald Mr. Smith außer Sehweite war, eilte Karl-Bertil die Treppe hinunter und trat, nachdem er vorsichtig die Türe geöffnet hatte, in Lals Zimmer. Er war kaum eine Minute drinnen, da ihm schwere Atemzüge verrieten, daß Lal noch schlief; dann lief er wieder die Treppe hinauf in Mr. Smiths Zimmer. Er verweilte ebenso kurze Zeit in dem Zimmer des Hofmeisters wie in dem des Schülers; aber als er von dort herauskam, trug er wenigstens ein sichtbares Resultat in der Hand – ein Paar Schuhe.

Dann war wieder alles ruhig im Hause bis halb elf Uhr, wo das Frühstück sich seinem Ende zuneigte. Es wurde draußen im Hof unter den Ulmen eingenommen. Mrs. Everard machte eine Bemerkung über Lals blasses Gesicht und Frau Bencke über Johanns. Lal wurde rot und versicherte, er sei ganz wohl; und Johann erklärte kalt, Lal mache zu wenig Bewegung; als plötzlich zwei junge Herren erschienen, bei deren Anblick Johanns Gesicht sich mit derselben schönen Farbe bedeckte wie Lals. Es waren die beiden hoffnungsvollen Sprößlinge des Pfandleihers Ek.

»Können wir mit dir sprechen, Johann?« sagte der Aeltere, nachdem er sehr knapp die Mütze vor der Frühstücksgesellschaft gezogen hatte.

»Das sind die Ekbuben, Mama,« murmelte Johann zu Frau Bencke. »Du weißt, Sigurd und Josef, sie gehen auch in unsere Schule.«

Frau Bencke zeigte keinerlei Enthusiasmus bei dieser Mitteilung. Mrs. Everard starrte die beiden rothaarigen Jünglinge an. Mr. Smith sah einen Augenblick nach ihnen hin und rührte dann weiter seinen Kaffee um, ein Bild der Gleichgültigkeit.

»Können wir mit dir und Lal sprechen,« wiederholte Herr Sigurd Ek mit erhobener Stimme. »Wir sind hergekommen, um mit euch zu sprechen.«

Johann wollte aufstehen, aber Frau Bencke hielt ihn zurück.

»Hat das nicht Zeit, bis das Frühstück vorüber ist?« fragte sie den jungen Ek mit etwas von dem Tongewicht ihres Mannes, des Obersten, in der Stimme.

»Und woher kennt ihr denn Lal, wenn ich fragen darf?«

Das letztere war Mrs. Everard.

Die Jünglinge Ek starrten sie mit einem identischen Ausdruck der Verblüffung an.

»Lal? Wir werden doch Lal kennen!«

»Woher, wenn ich fragen darf?«

»Woher – na aber so was! Er und Johann waren doch erst heute nacht bei uns. Und darum haben wir eben mit Johann und ihm zu sprechen.«

»Heute nacht! Johann soll heute nacht bei euch gewesen sein!«

»Lal war heute nacht bei euch? Wie könnt ihr wagen, solche – solche Unwahrheiten zu sagen?«

Die Wangen der beiden Brüder bekamen auf einmal vier gleichgroße Flecke, und mit nicht ganz unberechtigter Erregung sagten sie zugleich wie zwei Polizeikonstabler:

»Das ist eine Unwahrheit, so? Das ist ebenso wahr, wie daß sie alle meine (meines Bruders) besten Marken gegrabscht haben, bevor sie fort sind.«

Der Effekt einer Zeugenaussage ist selten größer gewesen. Frau Benckes Kaffeetasse fiel mit einem Klirren auf den Tisch, Mrs. Everard brach in ein hysterisches Lachen aus, und Lal und Johann starrten die Brüder mit offenem Munde an. Mr. Smith drehte sich endlich auf seinem Sessel um, um sie zu fixieren. Karl-Bertil hatte plötzlich auch zwei rote Flecke auf den Wangen. Die beiden Brüder Ek fuhren mit derselben Präzision fort:

»Und das ist auch sicher, daß sie eine Flasche Punsch mitgenommen haben, die mir (meinem Bruder) gehört hat!«

Nun kam die Krise. Frau Bencke sprang mit flammenden Augen auf.

»Johann! Was ist das für ein widerwärtiges Geschwätz? Sage sofort, daß das nicht wahr ist. Bist du heute nacht bei denen da gewesen?«

Johanns Blick wanderte im Kreise herum wie eine unstete Kompaßnadel. So hatte er seine Mutter noch nie gesehen. Endlich stammelte er ein:

»M–ja.«

» Und du, Lal! Und ihr habt getrunken

Mrs. Everard hatte sich krampfhaft an die Tischkante geklammert. Lals Antwort kam rascher als die Johanns, wenn er auch seiner Mutter nicht gerade in die Augen sah.

»Ja, Mama.«

»Und was ist das für eine abscheuliche Geschichte von einer Flasche Punsch und von Marken, die ihr gestohlen habt?«

Johann wand sich.

»Es ist eine Flasche Punsch in einer Ecke gestanden, als wir fort sind, und da meinte ich, es macht weiter nichts, wenn ich …«

»Du hast sie genommen! Gott im Himmel! In meinem Leben – und die Marken?«

»Nein, das ist nicht wahr!«

Die Antwort kam gleichzeitig von Johann und Lal. Ihr folgte eine augenblickliche Riposte. Herr Josef Ek schlug einen dicken Band auf, den er unter dem Arm gehalten hatte, und mit derselben Präzision wie früher, aber mit noch schärferer Stimme kam es von ihm und dem Bruder:

»So, das ist eine Lüge, was? Wollen Sie sich vielleicht mein (meines Bruders) Album anschauen? Alle Seiten mit den Schillingsmarken und den alten Deutschen sind weg, und eine ganze Seite mit Thurn und Taxis auch. Gestern abend, als die zwei gekommen sind, waren sie noch da, und die zwei haben sie aus meinem (meines Bruders) Album gestibitzt!«

Lal starrte totenbleich das Album an, während Johann es anglotzte wie ein frischgefangener Barsch. Die Seiten, von denen die zwei Brüder gesprochen hatten, waren ausgerissen, und zwar recht schlecht, so, als ob es in größter Eile von jemand gemacht wäre, der nicht gesehen werden wollte. Frau Benckes und Mrs. Everards Augen begegneten sich voll Entsetzen. Endlich brach Mrs. Everard in Tränen aus.

»P–unsch – und – und stehlen – – – stehlen …«

Plötzlich kam ihr eine Idee. Mit glühenden Wangen wandte sie sich gegen Karl-Bertil:

»Da – da steckst gewiß du dahinter! Bist du mit ihnen dort gewesen? Antworte!«

Karl-Bertil stand auf.

»Ich war einmal mit,« begann er stammelnd, »aber …«

»Komm mir mit keinem Aber! Du hast die Marken gestohlen! Gestehe nur, daß du es warst.«

»Karl-Bertil!« rief Frau Bencke, »bist du denn wirklich ein so grundschlechter Junge?«

Auch Mr. Smith hatte jetzt seine apathische Gleichgültigkeit verloren. Er nickte Mrs. Everard und Frau Bencke bekräftigend zu:

»Da kann kein Zweifel sein,« sagte er, »Johann wäre nie auf eine solche Idee verfallen … Glauben Sie das, Frau Bencke? – Und Lal! Was sagen Sie, Mrs. Everard? – Wenn sie etwas getan haben, so hat Karl-Bertil sie verführt. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre … ich bin mir über Karl-Bertil schon klar, seit er ins Haus gekommen ist. Nur schade, daß ich die letzten Tage krank war und von all dem nichts sehen und ahnen konnte.«

Bisher hatte Karl-Bertil das Gefühl gehabt, daß sich alles um ihn im Kreise drehte. Bei Mr. Smiths letzten Worten war es, als fiele plötzlich ein Lichtstrahl in die Verwirrung; seine konfusen Gedanken ordneten sich, so wie der Sand sich bei einem Bogenstrich zu Klangfiguren ordnet. Er erlangte die Beherrschung über seine Stimme wieder, obwohl sie noch schrill war und zitterte, als er gegen Mr. Smith Front machte:

»Ja, so schade, daß Sie krank gelegen sind, Mr. Smith, wirklich schade! So daß Sie unmöglich etwas von dem wissen konnten! Denn das konnten Sie doch nicht?«

»Willst du gestehen, daß du die Marken gestohlen hast?« rief Mrs. Everard.

»Johann,« schrie Karl-Bertil hoch im Diskant, »antworte mir auf Ehre und Gewissen, war ich heute nacht bei Eks mit?«

Johann sah ihn verdrießlich an.

»Nein,« sagte er.

»Hören Sie, Mrs. Everard …«

»Und was besagt das?« unterbrach Mr. Smith, »du bist früher mitgewesen, das hast du selbst gestanden, und du hast die anderen Jungen verlockt, wenn sie etwas getan haben.«

»Johann!« schrie Karl-Bertil, und es klang wie ein Notschrei; er kämpfte jetzt um seine Ehre. »Antworte mir noch auf eines: Wußte Mr. Smith, daß ihr, du und Lal, fortgeht, nachdem die anderen sich niedergelegt haben?«

Es wurde für eine Sekunde still, sie schien Karl-Bertil eine Ewigkeit. Alles hing davon ab, ob der Tyrann die Wahrheit sprach; tat er es nicht, dann würde wohl niemand den Beweisen Glauben schenken, die Karl-Bertil selbst hatte. Endlich kam Johanns heiseres Knurren:

»Ja, das hat er gewußt.«

Mrs. Everard schöpfte tief Atem und starrte Mr. Smith an. Karl-Bertils Stimme wurde immer schriller, während er weitersprach:

»Ob er gewußt hat, was sie bei Eks getrieben haben, das weiß ich nicht. Ich habe gewußt, daß sie trinken, denn ich war einmal mit, aber ich wollte nicht klatschen …«

Mrs. Everard wollte etwas sagen, aber Karl-Bertil wünschte keine Unterbrechung. Er schrie:

»Ich weiß nicht, ob er das gewußt hat, aber dafür weiß ich etwas anderes. Wollen Sie es sagen, Mr. Smith, oder soll ich's?«

Mr. Smith starrte ihn durch seine kreisrunden Augengläser an, wie eine Kobra einen kleinen tollkühnen Mungo.

»So, Sie wollen nicht?« sagte Karl-Bertil. »Dann will ich. Weder ich noch Lal noch Johann haben den Eks die Marken genommen, sondern Sie

Es kam ein Keuchen von Mrs. Everard und Frau Bencke. Lal, Johann und die Brüder Ek standen mit offenem Munde da. Mr. Smith machte eine Bewegung, wie um sich auf Karl-Bertil zu stürzen und ihn durchzuprügeln, aber Karl-Bertil war vom heiligen Feuer erfüllt.

»Versuchen Sie nicht, mich anzurühren!« rief er. »Ich habe Sie heute nacht spät nach Hause kommen sehen, und ich habe gesehen, wie Sie in Lals Zimmer gekrochen sind und die Marken in sein Album gelegt haben. Damals habe ich nicht gewußt, was Sie beabsichtigen. Dann sind Sie hinaufgegangen und haben sich in Ihrem Zimmer niedergelegt, ohne daß Sie geglaubt haben, daß jemand es weiß, das habe ich auch gesehen …«

Es kam ein Schnauben von Mr. Smith.

»Der Junge ist wahnsinnig! Mrs. Everard …«

»Nein, ich bin nicht wahnsinnig, weil Sie es sagen! Ich war heute früh in Ihrem Zimmer und habe die Tennisschuhe mitgenommen, die Sie in der Nacht angehabt haben. Sie waren noch ganz naß vom Tau. Pflegen Menschen, die sich den Fuß verstaucht haben, nachts auszu …«

Das war für Karl-Bertil das Ende der Szene. Jemand, der Mr. Smith glich, stürzte sich auf ihn mit ausgespreizten Fingern und nadelscharfen grünblauen Pupillen unter den runden Augengläsern; er fühlte eine Menge Finger an seinem Hals, und alles drehte sich im Kreise.

Als er wieder zur Besinnung erwachte, war er in einer Umgebung, wie die des sterbenden Knaben in einer Sonntagsschulgeschichte. Er hatte den verwirrten Eindruck, daß alle auf einmal gut von ihm sprachen – Lal, Frau Bencke, Mrs. Everard, die Brüder Ek, ja sogar der syrakusanische Tyrann. Der Hals tat ihm furchtbar weh. Nachdem er versucht hatte, sich für das, was sie sagten, zu interessieren, murmelte er:

»Wo ist er?«

Frau Bencke antwortete:

»Er hat sich losgerissen und ist mit seinem Rad auf und davon, nachdem Johann und Sigurd Ek dich von ihm befreit hatten, du armer Karl-Bertil. Aber wir haben dem Amtmann telephoniert, und er wird gefaßt und ausgepeitscht werden, so daß er nie wieder – ja, das wird er, so wahr ich …«

*

Zwei Tage später – zwei Tage, die keinerlei Neuigkeiten über Mr. Smith gebracht hatten – langte Oberst Benckes Brief an seine Gattin ein, im Anschluß an ihren Rapport über das Vorgefallene. Der Oberst schrieb:

 

Meine liebe Emma!

Habe Deinen Brief erhalten und weiß nun, was Johann in meiner Abwesenheit angestellt hat. Willst Du ihn vorderhand vom Pächter oder einer anderen geeigneten Persönlichkeit so durchbleuen lassen, daß er wenigstens eine Woche nicht sitzen kann. Wenn ich selbst von den Manövern komme, werde ich schon nach dem Rechten sehen.

Der junge Lal hat ebenfalls eine Tracht Prügel redlich verdient.

Willst Du sehen, daß Johann keine Gelegenheit findet, Karl-Emils Jungen zu verderben, der wirklichen Schneid zu haben scheint.

In Eile Dein
Henning.


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