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V
Herr Collin wird Straßenbesitzer

Herrgott, wie einförmig ist doch das Leben, seufzte Herr Philipp Collin, als er eines Tages im Januar 1909 in der Halle des Hotel Atlantic bis über die Ohren in einen Klubsessel versunken saß. Das Hotel Atlantic liegt bekanntlich in Hamburg, und Herr Collin, der in besagter Stadt auf Geschäftsbesuch gewesen war, hatte eben einen späten Lunch bei Pfordte eingenommen. Vor ihm prasselte eine Flamme im offenen Kamin der Halle; über seinem Kopfe kräuselten sich die Ringe einer Bock, die er zwischen zwei Fingern hielt, und rings um ihn vibrierten die Töne einer unsichtbaren Kapelle.

Aber sein Inneres war trotz dieses äußeren Wohlbehagens von einem großen Weltschmerz erfüllt, der vielleicht zurückzuführen war auf den reichlichen Lunch, vielleicht auf den Erfolg in seinen Geschäften. Viele kleine Erfolge, sagt Hafiz, erschlaffen die Sinne und flößen sogar dem Kalifen Lebensüberdruß ein. Es bedarf, fügt der Philosoph Volpitius, der seine Worte kommentiert, hinzu, einer drohenden Gefahr, einer großen Anstrengung oder eines riesenhaften Abenteuers, um dies zu verhüten. Herr Collin, dem sämtliche dieser Reizmittel fehlten, war für den Augenblick tief pessimistisch und fand die Bahn des Abenteurers überschätzt, was den Charme betrifft.

Draußen war es trostlos. Die Boulevardbäume schüttelten ihre nackten Zweige im Winterwind; es goß vom Himmel, und durch die Eingangstür schimmerte die Alster in einem grauen Schleier strömenden Regens. Die Gäste, die hereinkamen, ließen Pfützen von Regenwasser zurück. Alles war trostlos.

Tief niedergeschlagen, denn er war verurteilt, noch mindestens sechs Stunden in diesem Elend zu verbringen, begann Herr Collin in dem Stoß Zeitungen zu wühlen, der neben ihm lag, um vielleicht darin Zerstreuung zu finden. Aber es war vergeblich. Eine Notiz nach der andern konnte ihm nur ein hohnvolles Knurren entlocken; der Reichstag war zusammengetreten, darauf pfeife ich; Bülow hat eine Rede gehalten, hol' der Teufel die offiziellen Reden; ein neuer Dampfer ist von der Vulkanwerft vom Stapel gegangen – was geht das mich an? Großfürst Michael Nikolajewitsch ist in Ungnade gefallen, munkelt man in Petersburg – der hat doch wenigstens Schneid, wenn es sich um tolle Streiche handelt, dachte Philipp Collin. Warum kann der nicht herkommen und irgend etwas ganz Extrascheußliches anstellen?

Brr! Das Leben ist zu trist und einförmig.

Er ließ die Zeitung auf die Knie sinken und starrte voll Pessimismus die Anzeigen der letzten Seite an. Öffentliche Vergnügungen, las er und durchflog schlaff die Ankündigungen, sie erschienen ihm ebenso flau wie der Rest der Zeitung.

Ich weiß, was schuld ist; man hat es zu gut. Wenn man hier gestrandet wäre, ganz blank, ohne Pfennig, gezwungen, sich aus eigener Vernunft oder Kraft durchzuschlagen – dann hätte die Sache ein anderes Gesicht. Obzwar auch das auf die Länge banal werden kann. Eine neue Idee – das wäre ein Rettungsanker. Und gerade, als er dies dachte, fiel sein Blick auf eine Anzeige in der Nähe seines linken Daumens. Diskretion! begann sie, und in der Vermutung, daß es die Bekanntgabe eines Privatwucherers sein würde, begann er, sie zerstreut durchzulesen, um noch eine Gelegenheit zu finden, das Dasein zu schmähen.

Aber es war etwas ganz anderes: »Diskretion! Starter eines neuen Luxusetablissements (Nachtcafé) sucht Damen und Herren (wirkliche Gentlemen), um an den ersten Abenden gegen freien Verzehr (eventuell auch Entschädigung) dem Lokal Glanz zu verleihen und zur Unterhaltung beizutragen. Nur Personen von Distinktion mögen sich bemühen. Man wende sich an Rudolf Mosse.« So lautete die Anzeige, und plötzlich erfüllt von dem Gedanken an die Möglichkeit, die sie eröffnete, sprang Herr Collin mit einem Aufleuchten im Blick aus seinem Klubsessel auf. Ein paar Augenblicke starrte er nachdenklich auf die Alster hinaus, dann klopfte er auf den Tisch und bezahlte den Kellner.

»Haben Sie eine Ahnung, was das sein kann?« fragte Philipp und reichte ihm die Zeitung.

Der Kellner las die Anzeige durch und überlegte einen Moment. Dann sagte er:

»Das muß Le Papillon de Nuit sein, das neue Nachtcafé beim Hauptbahnhof. Man sagt, etwas ganz Extrafeines. Soll ich telephonieren und einen Tisch für den Herrn Baron bestellen?«

»Danke«, sagte Philipp und fügte unvorsichtigerweise hinzu:

»Ich gehe selbst hin, diese Anzeige interessiert mich.«

Damit ging er auf die Garderobe zu, während der Kellner ihm mit einem Blick voll Verachtung folgte.

»Ein Gast des Atlantic«, murmelte er, »der im Papillon eine Stelle als Dekorateur sucht! Schöne Zeiten! Ruiniert natürlich. Na, der wird hier nicht alt werden.«

So sprach der kluge alte Kellner von Herrn Philipp Collin, der sich, ohne es zu ahnen, in ein Abenteuer aus Tausendundeiner Nacht stürzte. Und am allerwenigsten ahnte er, daß er dabei einen Corner in Staatspapieren machen würde.

Fünf Minuten Musterung des ›Papillon de Nuit‹ genügten, um Philipp zu zeigen, daß er noch nie ein ähnliches Nachtcafé gesehen hatte. Und doch kannte er Paris, Berlin, Budapest und die Riviera. Aber weder Monico noch Maxim, Hungaria oder Carlton (in Monte Carlo) konnten sich mit diesem Hamburger Lokal messen, geschweige denn eines der Nachtcafés Berlins.

In Rudolf Mosses Kontor war er nämlich an Direktor Breitmann vom ›Papillon de Nuit‹ gewiesen und sofort angestellt worden; und mit einer blauweißen Karte versehen, hatte er gegen 11 Uhr seinen Eintritt im Café vollzogen, um seine Abendarbeit zu beginnen.

Das Café war durch seinen Bau in zwei Abteilungen geteilt, eine links zunächst dem Eingang, eine geradezu. Die erstere war im gewöhnlichen Kaffeehausstil gehalten, mit Unmassen von Blattpflanzen und japanischen Schirmen; die innere hingegen war höchst ungewöhnlich ausgestattet. Sie war in maurischem Stil gehalten, mit Hufeisenbogen, schlanken Säulen und Mosaikboden; Lampen in gehämmerter Metallarbeit ragten von den Wänden; dicke Teppiche bedeckten den ganzen Boden mit Ausnahme der Mitte, wo das Mosaik frei war, und anstelle von Sesseln waren lange Diwane rings um den Saal gruppiert. Im Hintergrund fiedelte eine rotbefrackte Zigeunerkapelle, Philipp erkannte den Kapellmeister aus ›Le Rat mort‹ und nickte ihm zu; und an ein paar Tischen saßen (garantiert echte) Nubierinnen mit wunderlichen Musikinstrumenten, in dünne Schleier gehüllt, durch die ihre braunen Glieder schimmerten. Hie und da, wenn die Zigeunerkapelle eine Pause machte, zupften sie an ihren Musikinstrumenten und begannen irgendeinen atemlosen, wirbelnden Tanz.

Philipp war sich über seine Rolle nicht ganz im klaren, aber führte sie so durch, wie es ihm gerade einfiel. Tanzte mit den Damen, die da waren, trank Champagner und suchte den Saal so sehr als möglich zu schmücken. Gegen halb 12 Uhr begannen die Gäste aus Theatern und Varietés zuzuströmen, elegant, aber nicht allzu zahlreich, und Philipp fragte sich, wie ein solches Lokal sich rentieren könne. Wenn er die Deutschen richtig kannte, so eigneten sie sich nicht sehr zum Stammpublikum eines solchen Etablissements. Man fischte also nach den Fremden, amerikanischen Millionären und russischen Großfürsten. Soll mich freuen, zu sehen, ob sie kommen, dachte Philipp.

Trotz seiner Befürchtungen war doch gegen halb 1 Uhr ›Le Papillon de Nuit‹ so gut wie gefüllt von einem ganz untadeligen Publikum, Herren in Frack und Lackschuhen wie er selbst, Damen in eleganten, vielleicht zu eleganten Toiletten. Der Champagner schäumte auf allen Tischen, und an den meisten soupierte man nach der schwindelnd teuren Speisekarte des Etablissements. Die Stimmung hatte sich eingestellt, ohne die ein Nachtcafé trister ist als eine Gebetkapelle; die Lichter funkelten, die Nubierinnen wirbelten auf dem Mosaik herum, und hie und da stiegen aus dem allgemeinen Gemurmel Lachkaskaden auf. Philipp wollte eben für Herrn Breitmanns Rechnung eine zweite halbe Mumm bestellen, als ein Auftritt beim Eingang seine Aufmerksamkeit erregte.

In eine lebhafte Unterhaltung mit dem dort postierten Neger begriffen, sah er ein Individuum, das am ehesten an einen Schuster am Sonntag erinnerte. Seine schlotterige Gestalt stak in einem schlechtsitzenden grauen Anzug mit weiten Hosen, die über den Knien große Falten warfen. Die Schuhe, die gelb waren und vermutlich die Füße ihres Eigentümers nicht beengten, trugen deutliche Spuren, daß er ohne Zuhilfenahme einer Droschke hierher gelangt war. Elegant in den Nacken zurückgeschoben saß ein runder Melonenhut, der anmutig von dem kantigen Gesicht mit den hervorstehenden Backenknochen abstach. Der hervorragendste Zug darin war die Nase, deren Größe und Farbe bezeugte, daß ihr Besitzer keinem Abstinentenverein als Mitglied angehörte; unter dieser Nase hing ein gewaltiger schwarzer Schnurrbart über den Mund, und in diesem Schnurrbart steckte eine brennende Zigarette. Aber das Wunderbarste an der ganzen Erscheinung war die Krawatte des Mannes, die mit dem Flächeninhalt eines kleineren deutschen Fürstentums das Kolorit einer brennenden Stallmauer vereinigte.

»Ja, aber ein Bier!« hörte Philipp den Mann mit halb weinerlicher, halb gereizter Stimme rufen. »Hörst du nicht, du schwarzer Teufel, ich will nur ein Bier haben!«

Die Antwort des Negers war unhörbar, aber aus seinen Gesten ging deutlich hervor, daß er dem Schuster das gewünschte Bier nicht zu bewilligen gedachte. Er war schon im Begriff, ihn ohne weiteres hinauszubefördern, als Philipp sah, wie der Geschäftsführer herbeieilte und ihm einige Worte zuflüsterte. Wie durch einen Zauberschlag sanken die Arme des Negers an den Seiten herunter; der Schuhmacher richtete sich erleichtert auf und streckte die Hand aus, um seinem Befreier zu danken. Dieser richtete offenbar eine Frage an ihn, denn er begann das Lokal zu mustern, wo man mit erstaunten Blicken den Vorgang verfolgt hatte. Endlich erhob er einen langen, gelben Zeigefinger und richtete ihn auf Philipps Tisch. Zu seinem unbeschreiblichen Staunen sah Philipp, wie sich der Geschäftsführer verbeugte und den Graugekleideten ehrfurchtsvoll über den Mosaikboden geleitete. Als sie Philipps Tisch erreicht hatten, der der einzige relativ freie im inneren Café war, blieb der Geschäftsführer stehen, während sein Schützling vorsichtig den Diwan abstaubte und sich auf die äußerste Kante setzte. Der Geschäftsführer fragte untertänigst, was er bestellen dürfe.

»Na, ein Bier will ich haben«, sagte der Graugekleidete in lautem, bestimmtem Ton, offenbar fest entschlossen, sogleich im Lokal zu imponieren.

»Pilsner oder Lager?«

Der Mann wühlte ein paar Minuten in seiner Westentasche, offenbar war er nicht ganz sicher, ob die Kasse reichte, und sagte dann mit demselben resoluten Tonfall:

»Pilsner!«

Das ist doch höchst wunderbar, dachte Philipp. Bin ich betrunken oder träume ich? Hier sitze ich in Nordeuropas sicherlich feinstem Nachtcafé, rings um mich habe ich ein tadelloses, elegantes Publikum, das Champagner trinkt und zu fünfzig Mark per Person soupiert; vor mir habe ich einen kostbaren Mosaikboden, wo nubische Sklavinnen mäßig sittliche Tänze vollführen. Und in dieses Kaffeehaus, unter dieses champagnertrinkende Publikum kommt ein graugekleideter, etwas angesäuselter Schuster am Sonntag, läßt Spuren der deutschen Erde auf dem Mosaikboden zurück und bestellt ein Bier. Nicht genug damit: er wird vom Geschäftsführer mit Verbeugungen empfangen. Nicht genug, daß er ein Bier bestellt; er bekommt es auch, ebenfalls unter Verbeugungen. Ist das ein Trick der Direktion, oder ist das die neueste Ausgabe amerikanischer Millionäre?

Er betrachtete verstohlen den Graugekleideten. Nachdem er anfangs auf zwei Zentimetern der Kante des Diwans gesessen war, hatte er sich mit wachsender Zuversicht weiter und weiter hinaufgeschoben, bis er die Rückenlehne erreichte. Als dies glücklich bewerkstelligt war, spuckte er energisch seinen Zigarettenstummel auf den Mosaikboden, fuhr suchend in seine Taschen und holte endlich ein Zeitungspapier heraus, dem er einen andern halbgerauchten Zigarettenstummel entnahm. Er zündete ihn mit einem qualmenden Schwefelholz an, das er am Hosenbein anrieb, und begann hierauf, das Publikum zu mustern. Offenbar war es nicht nach seinem Geschmack, denn er rümpfte hohnvoll seine große Nase, zog ein blaurotes großes Taschentuch in Handtuchformat heraus und schneuzte sich mit demonstrativer Verachtung. Im selben Augenblick kam sein Bier.

Der Graugekleidete beeilte sich, das Gesicht in dem Seidel zu begraben, aber kam wieder an die Oberfläche, als der Kellner Miene machte, sich zu entfernen.

»Hallo, Sie«, schrie er. »Es soll doch auch bezahlt werden!«

Offenbar verkehrte er in Lokalen, wo die Gäste wenig Kredit genießen.

»Was kostet's«, fügte er resolut hinzu.

»Zwanzig Mark, Euer Gnaden.«

Zu Philipps unaussprechlichem Staunen zog der Graugekleidete eine blanke Goldmünze aus der Tasche und übergab sie nebst einem Nickelstück von zehn Pfennig dem Kellner. »Für die Mühe!« sagte er mit einem Ton, als wollte er sich alle Danksagungen verbitten. Der Kellner verschwand mit einer Verbeugung, und Philipp starrte den graugekleideten Schuster verblüfft an. Zwanzig Mark für ein Bier! Das war selbst hier niedlich! Der Mann, der Philipps Blicke offenbar gemerkt hatte, wandte sich ihm nun mit einem Aufleuchten im Auge zu und sagte:

»Prosit, lieber Herr!«

»Prosit«, sagte Philipp und betrachtete seinen Nachbarn näher, während er trank. Seine Augen waren intelligent, es lag ein Funkeln darin, das Philipp zusagte. Ein Schuster – lächerlich! War es ein Schauspieler, der sich damit amüsierte, das Publikum irrezuführen? Die Züge kamen Philipp bekannt vor – so, als hätte er sie irgendwo abgebildet gesehen; aber sein Gehirn weigerte sich, das Urbild zu dieser Photographie auszuliefern. Nachdem sie die Gläser niedergestellt hatten, beugte Philipp sich vor und sagte:

»Mir scheint, wir sind Kollegen?«

»Versteh den Herrn nicht.«

»Ja so – ich meinte nur, ich bin von der Direktion gemietet, hier zu sitzen, und Sie?«

»Was sagte der Herr da? Ich – nein, ich bin der Schuster Woerz aus Altona und will einmal ein bißchen bummeln, mein lieber Herr.«

»Ist das möglich, Herr Woerz! So spät noch auf Abenteuer aus! Na, seien Sie nur ruhig, ich werde Frau Woerz nichts sagen, wenn wir uns treffen.«

Herrn Woerz' Gesicht wurde von einem Grinsen, riesenhaft wie sein Schnurrbart, gespalten.

»Prost, lieber Herr«, schrie er. »Der Herr ist ein lustiger Bandit. Ein Bier gefällig?«

»Danke, Herr Woerz«, sagte Philipp ernsthaft. »Ich trinke gerne ein Bier.«

Herr Woerz klopfte auf den Tisch und bestellte mit derselben resoluten Stimme zwei neue Biere, offenbar fest entschlossen, das Lokal wissen zu lassen, daß Schuhmacher Woerz sich einmal amüsieren wollte und den Teufel nach den Kosten fragte. Das Bier kam augenblicklich, und vierzig Mark verließen Herrn Woerz' Tasche in Gesellschaft von zwanzig Pfennigen, über die er das Personal bat, nach Gutdünken zu verfügen. Dann wandte er sich Philipp zu und sagte:

»Und der Herr braucht wirklich nur auf dem Hintern zu sitzen, um sein Brot zu verdienen? Ist das wahr?«

»Ja, so ziemlich. Das heißt, ich muß auch tanzen und singen.«

»Das ist aber fein«, sagte Herr Woerz bewundernd, »nein, wirklich fein! Ich sitze auf der Schusterbank und muß mich den lieben langen Tag rackern und plagen. Das ist was andres, mein lieber Herr.«

»Ja, aber wissen Sie, Herr Woerz, es ist auch nicht immer angenehm, singen und tanzen zu müssen, wenn der Magen knurrt und die Kehle trocken ist.«

»Das ist verflucht wahr«, sagte Herr Woerz teilnahmsvoll und verschwand wieder in seinem Bierglas. Eine Stunde verging, während der Philipp, den sein wunderlicher Nachbar immer mehr und mehr irritierte, die Fragen des Lebens mit ihm erörterte, teils aus dem Gesichtspunkt des Schuhflickers, teils aus dem des Nachtcafédekorateurs. Dem Bier wurde fleißig zugesprochen, während Herrn Woerz' Zigaretten giftig stinkende Rauchwolken aussandten. Schließlich sagte Herr Woerz mit einem Gähnen:

»Pfui Teufel! Hier ist es aber langweilig, mein lieber Herr. Hat der Herr für heute abend noch nicht genug gesessen? Wollen wir nicht lieber ordentlich bummeln gehen?«

»Aber gerne«, sagte Philipp. »Obwohl ich eigentlich nicht vor drei Uhr frei bin.«

Herr Woerz klopfte und wünschte zu bezahlen. Die letzten Male hatte er vergessen, es sofort zu tun.

»Acht Bier, 160 Mark«, sagte der Kellner.

Herr Woerz zog aus der Brusttasche eine überaus abgeschabte Brieftasche, zählte 160 Mark auf den Tisch und überreichte 80 Pfennige als Trinkgeld.

Verflucht, dachte Philipp, ist Herrn Woerz' Durst noch nicht gelöscht, dann muß er in einer Stunde blank sein. Übrigens scheint die Schuhmacherei ein lohnendes Gewerbe zu sein. 20 Mark das Seidel, das kann man schon einen fürstlichen Preis für Bier nennen, wenn auch 10 Pfennige Trinkgeld nicht gerade fürstl... Ehe er noch seinen Gedankengang beendet hatte, fuhr er mit einem innerlichen Pfiff in die Höhe. Aha! Nun wußte er es! Endlich! Er wußte, warum Herrn Woerz' Züge ihm bekannt vorkamen, was für eine Photographie er gesehen hatte und was darunter gestanden hatte. Fürstliches Trinkgeld! Ja freilich! Wenn der ›Papillon de Nuit‹ nach Millionären und Großfürsten fischte, so waren sie gekommen, wenn auch nicht im Frack. In seinem Innern sah er mit absoluter Deutlichkeit eine Nummer der ›Woche‹, die zwar ausnahmsweise nicht das Bild des deutschen Kaisers enthielt, dafür aber das seines jetzigen Tischgenossen. Aber darunter stand nicht: Herr Woerz aus Altona, sondern: Michael Nikolajewitsch, Großfürst von Rußland. Der verrückte Großfürst! In aller Eile suchte er sich zu entsinnen, was er von ihm wußte. Ganz Europa hatte von Fürst Michaels Tollheiten reden gehört, aber auch von seinen Reichtümern. Er besaß gewaltige Güter und Bergwerke in Rußland, und von seinem Papa hatte er ganze Wohnviertel in London geerbt. Aber London war eine Stadt, die er verabscheute, hieß es; hingegen liebte er Berlin, und Hamburg war sein spezielles Mekka. Jedes Jahr pflegte er es auf der Durchreise zu seinen hohen Verwandten in Kopenhagen zu besuchen, und auch sonst, sooft sich die Gelegenheit ergab. Bei Hofe stand er gewöhnlich in Ungnade, und erst kürzlich hatte in den Zeitungen verlautet, daß er nach Jekaterinoslaw verbannt worden war. Offenbar war er von dort durchgegangen und genoß jetzt in Hamburg unerlaubte Ferien. Der Mann, der zunächst die Verantwortung für die Sicherheit des Großfürsten trug, war wahrlich nicht beneidenswert, er ging in beständiger Erwartung der Seidenschnur herum. Seine Aufgabe war um so schwerer, als der Großfürst ein vortrefflicher Schauspieler war und die Verbrecherviertel Berlins und Hamburgs mindestens ebenso gut kennen sollte wie die Polizei. Der Geschäftsführer im ›Papillon‹ hatte Seine Hoheit offenbar schon in Verkleidung getroffen.

Während Philipp hastig diese Erinnerungen zusammensuchte, hatten er und Herr Woerz das Nachtcafé schon verlassen, nach einem raschen Wortwechsel mit dem Geschäftsführer, der erklärte, daß Philipp seinen Posten verlieren würde, wenn er vor drei Uhr fortginge. Im Hinblick darauf gab Herr Woerz Philipp einen guten Rat, der mehr wohlgemeint als druckbar war, worauf er eine Droschke anrief. Als der Kutscher das wunderliche Paar sah – Philipp in Frack und Lackschuhen, Herr Woerz in seinem wunderbaren Anzug – hielt er offenbar den letzteren für einen Detektiv, der Philipp verhaftet hatte, denn seine ersten Worte waren:

»Aha! Jetzt geht's ins Loch! Nur geschwind herein, man will auch nicht in Mißkredit kommen, weil man solches Lumpenpack fährt.«

Herr Woerz blieb ihm die Antwort nicht schuldig.

»Lumpenpack!« schrie er. »Wir sind Lumpenpack! Von allen dickschädligen Biestern von Kutschern in Hamburg ...«

Herr Woerz ging im besten Hamburger Dialekt zu einer ausführlichen Beschreibung des Kutschers über, die von seinen Kollegen mit Interesse angehört wurde, worauf er in die Droschke stieg, Philipp zu sich hineinzog und rief:

»Seilerstraße, aber etwas plötzlich!«

Brummend und fluchend setzte der Kutscher die Pferde in Trab, und es ging nach St. Pauli; zehn Minuten nachdem sie die Lombardbrücke passiert hatten, war Philipp so gut wie verirrt. Herr Woerz schwadronierte weiter an seiner Seite. Plötzlich bekam Philipp Lust zu rauchen; er steckte die Hand in die Tasche und zog sein Zigarettenetui hervor; dabei kam die blauweiße Karte mit, die er von Direktor Breitmann bekommen hatte, und wurde einen Augenblick von dem Licht einer Bogenlampe beschienen. Er zündete die Zigarette an und steckte die Sachen wieder ein, aber kaum hatte er einige Züge gemacht, als Herr Woerz die Droschke stoppte, indem er aus Leibeskräften an die Decke trommelte. Er öffnete Philipp artig die Türe, und dieser sprang heraus. Draußen hatte es aufgehört zu regnen, aber es war dafür ziemlich kalt geworden. Philipp stampfte mit den Füßen auf den Boden und drehte sich dann um, um zu sehen, ob Herr Woerz nicht auch ausstieg.

Aber nicht seine freundliche Physiognomie begegnete ihm, sondern ein wild grimassierendes Gesicht von ganz unverkennbar tatarischem Typus und vor diesem Gesicht in der Höhe von Philipps Kopf eine gelbe, sehnige Hand, die sich um einen Revolver schloß. Philipp machte unwillkürlich einen Sprung zurück. Er war nichts weniger als körperlich feige, aber als Schießscheibe für einen verrückten russischen Großfürsten dazustehen, für den ein Menschenleben vermutlich weniger als Null bedeutete, machte ihm wenig Spaß. Ein donnerndes »Hände hoch!« vom Großfürsten ließ ihn innehalten. Herrn Woerz' Stimme war verschwunden, und ein krächzendes Organ überschüttete Philipp in wunderlichem Russisch-Deutsch mit einer Sturzflut von Flüchen und Fragen.

»So, so, Monsieur! So, so! Pfui Teufel! Man ist ein Spitzel, man ließ mich im ›Papillon‹ in die Falle gehen – schlau, schlau, verfluchtes Gesindel, aber dann darf man nicht seine Karte zeigen – hätte ich die jetzt nicht gesehen – Sie glauben wohl, Sie hätten mich schon in der Falle – es würde wieder nach Jekaterinoslaw gehen – oh, zur Hölle, mein Junge! Vorher will ich Ihnen einen Denkzettel geben – wer zum Teufel sind Sie überhaupt einer von Vivitz' Leuten, oder irgendein Neuer – ein Neuer, glaube ich ...!«

Die Worte strömten weiter aus seinem Munde, bisweilen halb unverständlich, aber Philipp war ein Licht aufgegangen, und eine augenblickliche Pause benützend, rief er:

»Aber Herr Woerz! Herr Woerz! Was reden Sie da von meiner Karte – das ist meine Arbeitskarte aus dem Café.«

»Mich kriegen Sie nicht mit solchen Kniffen!« brüllte Herr Woerz und schwang drohend den Revolver, fügte aber hinzu:

»Kommen Sie her, lassen Sie mich sehen!«

Philipp näherte sich vorsichtig der kaltfunkelnden Revolvermündung, der Großfürst streckte eine lange, sehnige Hand aus, die geschickt seine Brusttasche leerte, und las rasch die blauweiße Karte durch. Nach einem Augenblick senkte sich der Revolver, der Großfürst starrte Philipp unschlüssig an, worauf er in seiner früheren Art wieder anfing:

»Ja, da hat sich der Woerz aber schön blamiert, mein lieber Herr. Der Herr muß schon entschuldigen – diese Kerle haben mich schon einmal beim Schlafittchen gehabt, und ich hab geglaubt, der Herr ist ein Spitzel! Ist der Herr bös auf mich? Oder kommt er weiter mit dem Woerz?«

Mehr und mehr belustigt von dem Abenteuer, erklärte Philipp sich hierzu bereit und bestieg wieder die Droschke.

»Jetzt geht's aber doch ins Loch«, sagte der Kutscher, der den Auftritt voll Interesse verfolgt hatte.

»Ins Loch, du dicke Kutschersau«, schrie Herr Woerz und ergriff wieder in seinem besten Hamburgerdeutsch das Wort. Nachdem er dem Kutscher ein schlechtes Ende auf Grund der Eigenschaften, die auch Gustav IV. Adolf gestürzt hatten – Dummheit und eselhafter Eigensinn –, prophezeit hatte, befahl er ihm, zu Schiemanns Bierhalle zu fahren. Der Kutscher weigerte sich laut und bestimmt, zu Schiemanns Bierhalle zu fahren.

»So fahren Sie zur Brunnengasse, wir gehen das letzte Stück!«

Zehn Minuten später hielt der Kutscher bei der Mündung einer dunklen unwirtlichen Gasse, wo gelbe Laternen schimmerten und Johlen ertönte. Herr Woerz nahm Philipp unter den Arm, und mit dem Gefühl, ein neuer Djafar zu sein, der an der Seite des Kalifen in diesem modernen Bagdad auf Abenteuer auszog, bog Herr Collin in seiner Gesellschaft in das Gäßchen ein. Bei der ersten Straßenlaterne blieb Herr Woerz stehen, betrachtete Philipp kritisch und sagte: »Der Herr muß geändert werden, Stutzer kann man nachts hier nicht brauchen.«

Ein leeres Treppenhaus wurde zur Garderobe erkoren, und einige Minuten später hatte Herr Woerz mit ein paar Handgriffen, etwas Saft seiner schauerlichen Zigarette und ein wenig Straßenschmutz den cand. jur. Philipp Collin in das schönste Exemplar eines Hafenstrolches verwandelt, das man sich nur wünschen konnte. Philipp hatte Herrn Woerz' großkarierten Ulster übernommen, der ihm bis zu den Fußknöcheln reichte, sowie seinen Melonenhut, während dieser sich mit Philipps Zylinder geschmückt hatte, nachdem derselbe entsprechend eingetrieben worden war. Dann setzten sie ihre Wanderung fort, bis Herr Woerz in einem zwei Meter breiten Gäßchen vor einem roten Ziegelhaus, dessen Fenster erleuchtet waren, stehenblieb. Von drinnen hörte man singen und schreien. Plötzlich sprang die Türe auf, und ein Mann kam kopfüber auf die Straße geflogen, mit einer Geschwindigkeit, die ihm offenbar von jemand aufgezwungen war. Ehe sich die Türe noch schließen konnte, stand Herr Woerz mit Philipp an der Hand davor.

»Abend!« hörte Philipp ihn flüstern. »Woerz, zum Teufel ... Woerz! – Kein Schwindel« – eine Münze klirrte sachte, und Philipp wurde von Herrn Woerz in ein dunkles Treppenhaus gezogen. In der nächsten Minute ging eine Türe auf, und sein Begleiter schob ihn in ein Zimmer, dessen Temperatur und Luft ihm jäh den Atem benahm wie ein Hauch aus dem Vesuv. Seine Augen begannen zu rinnen, und erst nachdem er ein paar Minuten nach Luft geschnappt hatte, gelang es ihm, sich so weit zu sammeln, daß er seine Umgebung betrachten konnte.

Er fand sich in einem ziemlich großen Lokal, mit Eichentischen und langen Bänken möbliert; grelle Plakate schimmerten undeutlich von den Wänden, und sechs Gaslampen keuchten asthmatisch in der furchtbaren Atmosphäre. Der Rauch war so dick, daß er in breiten Strömen hinter den Kellnern herfloß, die im Saal hin und her liefen. Er erhob sich stoßweise aus Dutzenden von Pfeifen rings an den Tischen; Philipp mußte an Photographien von vulkanischen Gegenden in Island denken, wo die Schwefelgase aus den Löchern des Bodens strömen. Er wandte sich von dem Publikum ab, das durch diesen Rauchschleier nur undeutlich sichtbar war und hauptsächlich aus Seeleuten zu bestehen schien, und erblickte rechts von sich einen großen Schanktisch und einen Mann, der dahinter arbeitete.

Philipp hatte noch selten einen ähnlichen Kerl gesehen. Grob wie ein Schwergewichtsringer, hatte er einen ganz kahlen Schädel, der unter der Gasflamme über dem Schanktisch blutrot funkelte; ein Walroßschnurrbart hing über seinen Mund, der unaufhörlich nach Luft schnappte, und seine blauen Augen waren in dicke Fettpolster eingebettet. Seine Arme waren bis zum Ellbogen nackt, und seine ungeheuren, rotgeschwollenen Hände befanden sich in ständiger Bewegung. Leere Biergläser wurden von den Kellnern auf den Schanktisch geworfen, sie beschrieben eine rasche Kreisbewegung in seiner Hand, hinunter in ein Gefäß mit rotbraunem Wasser, und wurden in der nächsten Sekunde unter einem der strömenden Hähne gefüllt, um sofort von den Kellnern wieder fortgerissen zu werden. Wenn er einen Augenblick unbeschäftigt war, hielt er seine Hände unter die tropfenden Bierhähne.

Herr Woerz, der grinsend Philipps Staunen beobachtet hatte, zog ihn zum Schanktisch hin. Sie wurden von dem rotgedunsenen Mann mit einem schrillen Pfiff begrüßt.

»Na, guten Tag, Herr Woerz! Verdammt lange hat sich der Herr Woerz nicht sehen lassen. Auf Reisen gewesen?« fragte er mit einer halb servilen, halb unverschämten Verbeugung. »Und dieser Herr? Der Herr ist neu hier, das sieht man gleich. Womit kann man so feinen Herren dienen? Etwas Starkes, nicht wahr?«

»Gin, Schiemann«, sagte Herr Woerz. »Aber von der richtigen Sorte!« Das war also Schiemann, dachte Philipp; er war des Lokals würdig, und dieses seiner! Herr Woerz zog ihn auf einen Stuhl neben dem Schanktisch nieder, und drei Gläser Gin wurden eingeschenkt.

»Na also, was sagt der Herr zu Schiemanns Bierhalle?« fragte Herr Woerz. »Das ist was anderes als Ihre Papilotte, was? Prost, mein lieber Herr!«

Philipp trank einen Schluck von seinem blauweißen Gin, der ihm den Hals ärger als Feuer verbrannte. Er bekam einen heftigen Hustenanfall, worüber Herr Woerz und Schiemann vor Lachen schier platzen wollten. Herr Woerz, der gänzlich unberührt ein ganzes Glas des unheimlichen Gebräus hinabschüttete, sagte:

»Wird's dem Herrn hier zu schwül?« Er beugte sich vor und flüsterte:

»Wollen wir in die andere Abteilung gehen? He? Will der Herr spielen?«

»Spielen?« wiederholte Philipp verständnislos.

»Na ja, Roulette, zum Teufel!«

Roulette, hier, dachte Philipp. Immer schöner und schöner! Ich bekomme wirklich Respekt vor Schiemanns Bierhalle.

»Roulette!« sagte er laut. »Gefährliche Sachen, Herr Woerz, gefährliche Sachen!«

»Warten Sie«, sagte Herr Woerz. »Schiemann – Herr Schiemann, kommen Sie her! Prost!« Der rotgedunsene Wirt näherte sich, nahm sein Ginglas und schleuderte mit unglaublicher Sicherheit dessen ganzen Inhalt in seinen schnappenden Mund, worauf er es mehr auf den Tisch fallen ließ, als daß er es niederstellte. »Was ist denn los?« sagte er.

»Ja, hören Sie, Herr Schiemann!« sagte Schuster Woerz und zog ihn am Hemdärmel zu sich heran. Eine Unterhaltung im Flüsterton wurde geführt, eine gelbe Münze fand rasch den Weg aus Herrn Woerz' Tasche in die Herrn Schiemanns; und einem der Kellner – einem untersetzten, hinkenden Kerl mit Stiernacken und Stieraugen – zurufend, sich um die Bedienung zu kümmern, zog Herr Schiemann Philipp und den Schuster durch das Lokal. Am anderen Ende entdeckte Philipp plötzlich einen alten Mann im Frack, der im Takt zu einem Pianola Violine spielte, der Lärm und der Rauch hatte ihn bis dahin ganz verborgen; neben dem Klavier befand sich eine verriegelte Türe, die Schiemann öffnete. Dahinter gähnte ein schwarzer Korridor, und an seinem anderen Ende standen sie vor einer neuen Türe, die sich nach einer Serie Morseklopfen von Herrn Schiemann öffnete. Dieser schob Philipp und Herrn Woerz hinein und verschwand mit einem bösartigen Grinsen.

»Jetzt ist der Herr Mitglied von Schiemanns Hilfskasse«, sagte Herr Woerz. »Die hält ihre Zusammenkünfte hier ab. Immer bei Nacht, mein lieber Herr, denn die Mitglieder sind so sehr schüchtern.«

Philipp sah sich um. Der Raum war größer als das Schankzimmer, ein Teppich lag auf dem Boden, und es fanden sich Spuren von Ventilation vor. Aber obzwar die Luft im Vergleich mit der in der Bierhalle paradiesisch zu nennen war, stank es noch unheimlich nach Alkohol und Tabak. Um einen langen Spieltisch in der Mitte des Saales hielt Schiemanns Hilfskasse ihre Zusammenkunft; und im Hintergrund war eine Bar, an der die Mitglieder sich erfrischen konnten. Viele der Spieler an dem langen Tisch hatten Gläser in der Hand.

»Jetzt wird der Herr sehen, was die für eine Wut kriegen, wenn man gewinnt«, sagte Herr Woerz. »Trinkt der Herr Whisky? Dann bitte schön, holen Sie uns inzwischen zwei Vierfache an der Bar, und ich fange derweil an. Hier ist Moos zum Bezahlen.«

Philipp ging an die Bar, um Whisky zu holen; während er darauf wartete, musterte er das Publikum. Es war offenbar gewählt, denn es bestand zum größten Teil aus Ausländern, Seekapitänen, Steuermännern und Matrosen, die nicht so leicht aus der Schule plappern konnten. Aber daß allerlei überaus zweifelhafte Elemente darunter waren, sah Philipp auf den ersten Blick; einen Moment empfand er ein Unbehagen, aber beruhigte sich dann mit dem Gedanken an Herrn Woerz' Revolver und seine Bekanntschaft mit Schiemann. Dann nahm er die beiden Gläser Whisky und suchte sich durch die Menge der Spieler am Tisch durchzudrängen.

Das erwies sich als schwer; irgend etwas schien sich ereignet zu haben, aber endlich gelang es Philipp unter den Flüchen der Spieler, zu Herrn Woerz vorzudringen, wo er die Ursache der Erregung sah. Herrn Woerz gegenüber saß der Croupier, ein chinesisch gelbes, eingetrocknetes Männchen mit schwarzen Reptilaugen, und hinter diesem stand ein Mann, der niemand anderer sein konnte als Schiemanns Bruder; derselbe Riesenkörper, derselbe Schnurrbart, dieselben Augen, dieselben ungeheuren, rotgeschwollenen Hände. Er war elegant gekleidet, Gehrock, Blume im Knopfloch, und für den Augenblick wurden er sowie der Croupier von Herrn Woerz aus Altona mit Beschimpfungen überschüttet. Dieser hatte nämlich gewonnen, und der Croupier hatte ihm ausbezahlt, aber dem Schuhmacher zwei falsche Zwanzigmarkstücke eingeschmuggelt.

»Ehrliche Ware, du gelber Teufel«, schrie Herr Woerz einmal ums andere. »Hier wird nicht mit Marken gespielt!«

Einige der Spieler lachten über ihn, aber die meisten fluchten, weil das Spiel verzögert wurde. Endlich hatte Herr Woerz neues Geld bekommen, das ihn befriedigte, und der Croupier wollte eben die Kugel auswerfen, als Herr Woerz ihn unterbrach, mit dem Finger auf Schiemanns Bruder deutete und fragte:

»Schiemann, was ist Maximum?«

Der rotgedunsene Spielchef betrachtete ihn hohnvoll und sagte in überlegenem Tone:

»Soviel Sie setzen wollen.«

»500 per Nummer?« fragte Herr Woerz.

Herr Schiemann zögerte einen Augenblick, warf einen Blick auf den Croupier, der ihn mit einem unmerklichen Nicken beantwortete, und sagte dann kurz:

»Bitte sehr.«

»Fein«, sagte Herr Woerz, »nur los, ich werde schon setzen.«

Inzwischen hatte Philipp den Spieltisch betrachtet und gesehen, daß man nicht Roulette spielte, sondern Boule, ein ähnliches Spiel mit nur neun Nummern anstatt der sechsunddreißig des Roulettes; in der Mitte des Tisches war die Schale, in der die Kugel lief. Kaum hatte der Croupier sie ausgeworfen, als Herr Woerz, der mit Philipps eingetriebenem Hut in der Hand dastand, Geld daraus hervorholte und es ohne Zögern auf Nummer 8 setzte. Dann nahm er sein Whiskyglas aus Philipps Hand.

»Wie können Sie so hoch setzen«, fragte Philipp, »Sie können doch sicher sein, daß die hier ihre Tricks haben.«

»Das will ich ja eben beweisen«, flüsterte Herr Woerz. »Kann ich das, so lynchen sie den Schiemann, und das ist immer 'ne schöne Sache. Prost!«

Er leerte, ohne zu blinzeln, die Hälfte des höllischen schwarzbraunen Whiskys in dem Glase; im selben Augenblick begann die Kugel ihren Lauf zu verlangsamen, und ein paar Sekunden später verkündete der Croupier: 3!

3! Herr Woerz hatte verloren. Mit einem häßlichen Grinsen zog der Croupier seine Goldmünzen ein, während Schiemann befriedigt über seine eigene Schulter spuckte. Wer am unberührtesten schien, war Herr Woerz, der unter dem Lachen der anderen Spieler noch 500 Mark auf Nummer 8 zu setzen begann. Der Croupier, der rasch die wenigen kleinen Gewinste ausgezahlt hatte, ließ die Kugel wieder davonschnurren. Ohne einen Blick von der Kugel zu wenden, nippte Herr Woerz an seinem Whisky, und er war schon fast ausgetrunken, als der Croupier zum zweitenmal seine Niederlage verkündete. Es war Nummer 7 gekommen. Herrn Woerz' 500 wurden abermals eingezogen, und Schiemanns Bruder fragte in unverschämtem Ton:

»Wird noch mehr gesetzt?«

»Nur ruhig, mein lieber Herr«, sagte Herr Woerz, trank das letzte Schlückchen aus seinem Glas und gab es Philipp, worauf er weitere 500 Mark aus seiner Tasche zog und sie gleichgültig auf die Nummer 8 setzte. Zum drittenmal flog die Kugel davon, während die anderen Spieler, die rasch ihre Einsätze gemacht hatten, atemlos vor Spannung Herrn Woerz betrachteten. 1500 Mark – hier eine riesenhafte Summe! Philipp sah scharfe Blicke verschiedener verdächtiger Individuen, die ihn und seinen Genossen fixierten. Es ist tollkühn, in einem solchen Lokal Geld zu zeigen, dachte er. Kommen wir glücklich davon, will ich der Heiligen Jungfrau eine Wachskerze opfern.

Unterdessen war die Kugel langsamer geworden, und die Spieler diskutierten laut, wo sie stehenbleiben würde. Sie geht noch mal rum – i wo! – 5 kommt – nein, sie geht vorbei – na, dann 6 ... Tod und Teufel, 8! – er gewinnt! Und wahrhaftig, es sah aus, als sollte der Schuster gewinnen, die Kugel taumelt förmlich zwischen den Löchern, schlängelt sich an 5 und 6 vorbei, schwankt an der Kante von 7 und fällt endlich, mit einem schweren Aufplumpsen, in 8 nieder. Da, wie durch ein Wunder, scheint sie neue Kräfte zu bekommen, erhebt sich aus dem Loch und rollt weiter, an Nummer 9 vorbei, zu Nummer 1, wo sie hinfällt und liegenbleibt. Im selben Augenblick, als Philipp ein bedauerndes Wort zu Herrn Woerz sagen will, fliegen dessen Arme nach rückwärts, seine Hände greifen in die Tasche, und im nächsten Augenblick ist sein Revolver draußen und mit gespanntem Hahn quer über den Tisch gerichtet.

»Stopp, Schiemann, und du, verfluchter Chinese!« brüllte Herr Woerz. »Ruhig, keine Flosse gerührt, oder ich drücke los! Und Ruhe im Saal! Wer will, soll herkommen, dann wird er sehen, wie bei Schiemanns der Boden der Löcher aussieht. Findet ihr nichts darin, könnt ihr mich am nächsten Laternenpfahl aufknüpfen.«

Ein unbeschreiblicher Lärm entstand rings um Philipp und den unerschrockenen Schuster. Der Croupier und Schiemann schienen allerdings von Angst vor dem Revolver gelähmt. Aber verschiedene der zweifelhaften Elemente, die nicht davon bedroht wurden, suchten sich vorzudrängen, um Herrn Woerz rückwärts anzugreifen. Mit geballten Händen mußte sich Philipp gegen sie werfen, bis einige Ruhe entstand und es ihm gelang, drei Männer – dem Aussehen nach deutsche Seekapitäne – auszusuchen, um die von Herrn Woerz gewünschte Untersuchung vorzunehmen. »Ein Messer, nehmt ein Federmesser«, rief er ihnen zu, »ich will Gift drauf nehmen, daß es ein Gummifaden ist, vielleicht eine Feder.« Man tat, wie er gesagt hatte; rings um Philipp reckten sich die Spieler den Hals aus, um das Resultat sehen zu können, und plötzlich brach ein Orkan von verschiedensprachigen Flüchen und Schreien los. Denn über der Messerklinge, mit der der eine von Philipps Helfern den Grund des Loches von Nummer 8 erforscht hatte, hob er einen dünnen, schwarzen Gummifaden; eine rasche Untersuchung zeigte, daß alle Löcher mit einem solchen versehen waren – standen für Herrn Schiemann zu hohe Einsätze auf dem Spiel: ein Ruck und der Ball verließ das für ihn ungünstige Loch!

Was zunächst auf die Entdeckung folgte, zog wie in einem Traum an Philipp vorbei. Ein Revolverschuß knallte – vermutlich unfreiwillig – aus Herrn Woerz' Sechsläufigem; eine der Gaslampen wurde mit einem Krach zerschmettert, und das Gas begann zischend aus dem Rohr zu strömen. Plötzlich fühlte sich Philipp von einem Arm erfaßt und blitzschnell zur Eingangstüre hinausgezogen. Die Wache war von dort verschwunden. »Rasch, rasch, wie der Teufel«, rief Herr Woerz ihm ins Ohr, »Schiemann – der andere Schiemann – gefährlicher Kerl.« Im Laufmarsch flogen sie durch den Korridor, zu einer Türe hinaus, die außen keine Klinke hatte, und durch eine enge, stinkende Gasse. Im Laufmarsch bogen sie um eine Ecke nach der anderen, bis sie auf einer breiteren Straße schwer atmend den Schritt verlangsamten.

»Sie haben sich drinnen fein gehalten«, keuchte Herr Woerz, »ich wäre verraten und verkauft gewesen, wenn Sie mir nicht zu Hilfe gekommen wären.« Philipp nickte stumm, und sie trabten weiter. Endlich blieben sie in einer dunklen Straße stehen, deren Namen Philipp erst später kennenlernte, sie hieß Truthahngasse. Der Wintermorgen war kalt und schwarz; es wehte, und in Philipps Adern pochte das Blut. Was würde der nächste Akt dieses Abenteuers aus Tausendundeiner Nacht bringen? dachte er; denn daß der Vorhang schon jetzt fallen sollte, war unmöglich, es war kaum fünf Uhr, und in Tausendundeiner Nacht muß das Abenteuer doch die ganze Nacht dauern!

Der Großfürst hatte sich umgedreht und gehorcht, ob sie verfolgt würden; aber es war nichts zu hören, und indem er sich an Philipp wendete, zog er aus seiner Brusttasche eine Buddel von niedlichen Proportionen und servierte sich einen Schnaps, den er mit Wohlbehagen hinuntergoß. Dann forderte er Philipp auf, sich zu erfrischen, aber dieser schüttelte lächelnd den Kopf; Herrn Schiemanns teuflischer Whisky brannte ihm noch im Magen. Philipp fragte, ob sie nicht weitergehen sollten.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Herr Woerz, »ich muß erst meine Strümpfe in Ordnung bringen.« Wirklich waren seine Strümpfe beim Laufmarsch herabgerutscht, er stellte das Bein auf einen Eckstein und begann sie hinaufzuziehen; zu seinem Staunen merkte Philipp, daß er keine Unterhosen trug. Herr Woerz ist konsequent in seiner Verkleidung, dachte er und machte ein paar Schritte die Straße hinunter. Dann wendete er sich um, um zu sehen, ob der Schuster noch nicht fertig war.

Er fand ihn ausgestreckt, dem Anschein nach leblos, auf dem Trottoir liegen.

Ein paar Sekunden stand Philipp wie gelähmt vor Staunen da, während verblüffte Fragen in seinem Kopfe wirbelten. Hatte Herrn Woerz der Schlag getroffen? Hatte Herrn Schiemanns Whisky andere Dinge enthalten als Fusel? Gewiß hatte Herr Woerz stark davon getrunken, aber als sie eben miteinander sprachen, war er zweifellos nüchtern gewesen. Endlich gelang es ihm, sich zu sammeln, und er eilte auf den Schuster zu. Dieser war schräg vornüber gefallen, und so plötzlich, daß er nicht einmal Zeit gehabt hatte, den Stoß mit dem Arm zu mildern, der schlaff eingebogen unter ihm lag. Philipp richtete seine schlotterige Figur zu sitzender Stellung gegen die Hausmauer auf, sie sah wunderlich grotesk aus, mit dem hängenden Kopfe, aus dessen Mund es auf die rote Krawatte tropfte. Er riß ihm den Kragen auf und wollte eben seine Wiederbelebungsversuche beginnen, als er zufällig aufsah. Das nächste, was er tat, war, blitzschnell die Hände in Herrn Woerz' rückwärtige Tasche zu stecken und mit einiger Mühe seinen Revolver herauszuziehen. Denn sich vorsichtig an der Hausmauer entlangdrückend, kamen zwei verdächtige Gestalten heran, die er sofort aus Schiemanns Bierhalle erkannte; auf ihren Gesichtern lag ein bedeutungsvolles Grinsen, und in ihren Händen nicht weniger bedeutungsvolle Totschläger. Aha, das war also des Rätsels Lösung! Er untersuchte noch rasch Herrn Woerz' Schläfe unter dem verwilderten schwarzen Haar – richtig, ein daumenlanges blaues Zeichen nach einem Bleiknopf –, bevor er den Revolver hob und auf die beiden Apachen losstürzte.

Sein Kampf mit ihnen war nicht langwierig. Schon als sie ihn auf sich zustürzen sahen, blieben sie, anstatt zu fliehen, verblüfft stehen; im nächsten Augenblick knallte ein Schuß aus Philipps Revolver – er hätte nachher um nichts in der Welt sagen können, ob mit Absicht oder nicht –, und einer der beiden Gentlemen griff sich mit einem Aufheulen des Schmerzes an die linke Schulter. Im nächsten Augenblick hatte Philipp das Vergnügen, sie von rückwärts in wilder Flucht das Gäßchen entlang laufen zu sehen, und kehrte zu Herrn Woerz zurück, der noch immer an die Mauer gelehnt dasaß und seine Krawatte bekleckerte.

Was sollte er tun? Trotz dem Revolverschuß zeigte sich keine Spur von Leben in dem Gäßchen, es schien ganz ausgestorben zu sein. Allein konnte er Herrn Woerz nicht weiterschleppen, und etwas mußte geschehen. Es wäre sicherlich das beste, wenn er eine Droschke finden und den Abenteurer in ein Hotel bringen könnte. Irgendwo vor ihnen lag der Gänsemarkt, wenn er sich nicht irrte, und da mußte es doch Droschken geben.

Nachdem er Herrn Woerz von seiner Brieftasche befreit hatte – denn die Apachen konnten ja noch zurückkommen –, empfahl ihn Philipp dem Schutz der russischen Heiligen und trabte durch die morgendlich einsamen Straßen. Über den Häusern wurde es schon heller. Die Wolken jagten sich graublau über den spitzigen Dächern, und der Wind pfiff um die Ecken. Die Straßen verschlangen sich miteinander wie die Linien auf einer Zeichnung von Beardsley. Plötzlich bog Philipp um eine Ecke wie ein Dutzend anderer und stand auf dem Gänsemarkt, der im Morgenlicht grauschwarz vor ihm lag. Vor einem frühgeöffneten Gasthaus stand eine Droschke, und mit einem Seufzer der Erleichterung sprang Philipp hinein und gab dem Kutscher die Adresse Truthahngasse. Nachdem dieser Philipps Aufzug unschlüssig angestarrt und einen Vorschuß auf die Bezahlung verlangt hatte, fuhr er davon.

Philipp zündete sich eine Zigarette an – die letzte – und sank in die Kissen zurück, den Kopf erfüllt von den Ereignissen der Nacht. Kaum waren zwei Minuten vergangen, so begannen sie jeden Zusammenhang für ihn zu verlieren, sein erfindungsreiches Haupt sank zurück, und der Zigarettenrauch schlängelte sich ungenützt zwischen seinen Fingern durch. Plötzlich fuhr er auf, der Kutscher hatte mit der Peitsche an die Türe geschlagen und gerufen:

»Truthahngasse! Da wollte der Herr doch hin!«

Truthahngasse? Wo zum Geier ist die Truthahngasse? dachte Philipp schlaftrunken und suchte vergebens seine Erinnerungen zu einem Bilde zusammenzufügen, in das das Wort Truthahngasse hineinpaßte. Ja, richtig, zum Teufel, dämmerte es ihm plötzlich auf, da sollte ich doch Herrn Woerz holen, der eigentlich Michael Nikolajewitsch heißt und Großfürst von Rußland ist ... Aber wo zum Teufel ist Herr Woerz? Die Antwort auf diese Frage kam in höchst unerwarteter Form, und zwar von der Person, von der Philipp sie zuletzt erwartet hätte, nämlich von Herrn Woerz selbst.

Die Hosen noch immer über seinen behaarten Beinen aufgekrempelt, aber den Hut über die Augen gezogen und die Krawatte wild im Nacken flatternd, schwankte dieser wie ein Baum im Winterwind in den Armen zweier derber deutscher Schutzleute. Offenbar war der Schlag auf die Schläfe nicht so gefährlich gewesen, aber es war klar, daß Herr Woerz, als er davon erwachte und sich in dieser Gesellschaft fand, in überaus schlechte Laune gekommen war. Sein Sehvermögen war durch den Hut verdunkelt, aber sein Mund war frei, und ihm entströmten in einer Sturmflut die schrecklichsten Schimpfworte und Flüche, die Philipp je gehört hatte. »Halt's Maul«, rief der eine der Schutzleute einmal übers andere. »Schuster! Und sich ärger besaufen als ein Schwein – pfui Teufel – halt's Maul, sage ich ...!«

»Halt selbst das Maul«, brüllte Herr Woerz mit gereizter Stimme, »einen armen Schuster hoppnehmen, das könnt ihr, ihr verdammten Blutsauger, aber ...«

Seine Stimme wurde plötzlich dadurch erstickt, daß der eine der Schutzleute ihm mit seiner Riesenhand den Mund verschloß. »Hol die Karre«, hörte Philipp ihn seinem Kollegen zurufen, der daraufhin im Laufmarsch verschwand. Blaurot im Gesicht vor erstickter Empörung, suchte Herr Woerz vergeblich dem Schutzmann zum Ausdruck zu bringen, was er über diese Behandlung von Arrestanten dachte, aber trotz all seinen Anstrengungen gelang es nicht. Plötzlich kamen der Schlag des Bleiknopfs und der Alkohol, den er konsumiert hatte, zu ihrem Recht, er sank widerstandslos an den Busen des Schutzmanns, und als die Karre anlangte, schlief er friedvoll in den Armen des Feindes. Lachend sah Philipp, wie sie ihn wie ein totes Kollo in das Polizeigefährt verfrachteten, das dann davongerollt wurde, während Herrn Woerz' entblößte Beine im Morgenwinde schwankten und die Schutzleute laut und vernehmlich ihre Ansichten über ihn austauschten. »Besoffen wie ein Schwein und halb nackt, pfui Teufel, sag ich«, knurrte der eine. Einen Augenblick gedachte Philipp einzuschreiten, aber ein Blick auf seinen Aufzug überzeugte ihn von der Aussichtslosigkeit eines solchen Beginnens, er sah beinahe noch ärger aus als Herr Woerz. Er begnügte sich infolgedessen damit, dem Kutscher Order zu geben, dem Polizeikarren zu folgen.

Eine halbe Stunde später, nachdem er sich von Herrn Woerz' neuer Adresse überzeugt hatte, welche das Polizeirevier am Gänsemarkt war, klingelte Philipp unter den Beifallsrufen des Kutschers im Hotel Atlantic an; es war klar, daß dieser das Ganze für einen besonders gelungenen Witz ansah. Im Hotelbüro mußte er sich einem regelrechten Verhör unterziehen, bis man glauben wollte, daß er der war, der er war und auf Nr. 127 wohnte. Als er sich eben entfernen wollte, fiel sein Blick auf die Fremdentafel, und er las auf der untersten Reihe: Casimir Vivitz, Kammerherr bei Sr. Königl. Hoheit, Michael Nikolajewitsch, Jekaterinoslaw. Dies rief die Erinnerung an irgend etwas wach, das Herr Woerz bei dem Auftritt auf der Straße gerufen hatte, als er Philipp für einen Polizeispion hielt: Sind Sie einer von Vivitz' Leuten? Oder irgendein Neuer – ein Neuer scheint mir ... Eine Idee durchkreuzte sein Hirn, und nachdem er erfahren hatte, wann Herr Vivitz geweckt werden sollte, verlangte er, gleichzeitig geweckt zu werden, und ging zu Bett, als die Uhr eben sechs schlug. Der erste Teil des Abenteuers war vorbei, aber es sah aus, als trüge der morgige Tag eine Fortsetzung in seinem Schoße.

Um halb zehn Uhr am nächsten Morgen sandte Philipp, frisch gebadet, frisch rasiert, seine Karte zu Herrn Kammerherrn Vivitz. Nach ein paar Minuten kam der Bescheid, Se. Exzellenz frühstücke eben bei Pfordte und wünsche, nicht gestört zu werden.

Philipp nahm eine neue Karte und schrieb: Interessieren sich Ew. Exzellenz für Neuigkeiten über Ihren hohen Arbeitgeber? und ließ diese hinübertragen. Eine halbe Minute später bat Kammerherr Vivitz um die Ehre, mit Professor Pelotard frühstücken zu dürfen. Den Spuren des Kellners folgend, ging Philipp in das Restaurant, innerlich einen kurzen Kriegsplan skizzierend. Was war der Wert seiner Mitteilungen? Sicherlich hatte er Trümpfe in der Hand, aber wie gut waren sie? Ehe er sich noch für den Preis entschieden hatte, sah er sich einem glattrasierten, älteren Russen mit champagnergelber Hautfarbe und zolldicken, in unaufhörlicher Bewegung befindlichen Augenbrauen gegenüber.

»Professor Pelotard?«

»Zu dienen, Kammerherr Vivitz.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

Man setzte sich. Der Kellner begann geräuschlos den Frühstückstisch zu ordnen.

»Sie haben also Neuigkeiten über meinen hohen Herrn?« begann Kammerherr Vivitz unmittelbar die Attacke.

»Vielleicht«, erwiderte Philipp vorsichtig.

»So? Sie sind Ihrer Sache also nicht ganz sicher?«

»Doch – es erübrigt nur zu sehen, ob Exzellenz der Ihren sicher sind?«

»Hm, ich verstehe – Seine Hoheit ist also in Hamburg?« Nicht einmal soweit ist er unterrichtet, dachte Philipp.

»Soviel, dachte ich, wüßten Exzellenz«, fügte er laut hinzu. »Ja, Seine Hoheit ist in Hamburg.«

»Vortrefflich«, sagte der Kammerherr kalt.

»Aber die Hauptsache für Ew. Exzellenz dürfte sein, wann er es verläßt«, fuhr Philipp mit einem Lächeln fort.

»Wenn ich nur erst weiß, daß Seine Hoheit in Hamburg ist, werde ich ihn schon zu finden wissen«, erwiderte der Kammerherr noch kälter.

»Hamburg ist groß, Exzellenz.«

»Hamburg ist klein, Herr Professor. Wenigstens der Teil, wo ich den Großfürsten zu suchen habe.«

Philipp lächelte leise. Kammerherr Vivitz hatte wirklich recht. Der Teil, wo er den Großfürsten zu suchen hatte, war unbestreitbar klein, sintemalen Seine Hoheit jetzt im engen Loch saß.

Inzwischen hatte der Kellner die Frühstücksspeisen aufgetragen und zog sich auf einen Wink von Herrn Vivitz zurück. Mit einem artigen Lächeln wendete sich dieser Philipp zu und bat ihn, sich zu bedienen. Es war Geflügelragout da, Omeletten, grillierte Niere, Schinken mit Ei und allerlei andere Leckereien.

»Darf ich fragen, ob Sie vielleicht einen Wodka nehmen, Herr Professor? Zum Essen, auf russische Art?«

»Danke, gerne«, erwiderte Philipp. »Auf russische Art oder auf schwedische.«

»So, Sie kennen Schweden?«

»Ja, ich habe mich ziemlich lange dort aufgehalten.«

Man trank einander zu, und Philipp fuhr fort:

»Ihr Wodka ist vortrefflich, Exzellenz. Lassen Sie uns hoffen, daß Sie ihn bald in Rußland trinken können!«

»Nach meiner Berechnung übermorgen.«

»Das dürfte weiter keine Schwierigkeiten machen«, erwiderte Philipp mit einem Lächeln. »Es hängt nur von Ihnen selbst ab.«

»Sie scheinen zu meinen, von Ihnen? Warum nicht von der Polizei?«

»Nein, denn die Polizei kann Ihnen in diesem Fall nicht helfen.«

»Der Großfürst ist also tot?«

»Im Gegenteil, der Großfürst lebt.«

»Dann verstehe ich nicht, warum die Polizei mir nicht helfen kann.«

»Es ist aber doch so. Ich will noch weitergehen und sagen, daß die Polizei Ihnen in diesem Fall sogar hinderlich sein dürfte.«

»Sie scherzen, Herr Professor.«

»Ich scherze nie in ernsten Fragen, Exzellenz.«

»Dies ist also eine ernste Frage, Herr Professor?«

»Für mich ja – und für Ew. Exzellenz.«

»Business, Herr Professor?«

»Business, Exzellenz.«

»Darf ich fragen, bei welcher Ziffer eine Sache für Sie Business wird?«

»Bei der fünften, Exzellenz.«

Der Kammerherr runzelte die Brauen so tief, daß sie die Augen fast verdeckten, und fügte dann hinzu:

»Und Sie rechnen deutsch?«

»Ich bin naturalisierter Engländer«, sagte Philipp, selbst erstaunt über seine Kaltblütigkeit.

Der Ton des Kammerherrn war eisig, als er erwiderte:

»Das englische Münzsystem ist überaus veraltet.«

»Es paßt mir aber vortrefflich«, sagte Philipp noch kälter. »In England rechnet man nämlich nach Pfund.«

»Ich weiß es«, sagte der Kammerherr trocken und schenkte sich eine große Tasse Kaffee ein. Nach einer Minute begann er wieder:

»Herr Professor, Ihre Gesellschaft ist mir besonders angenehm, aber ich muß Sie leider für den Augenblick verlassen.«

»Bitte sehr«, sagte Philipp verbindlich. »Ihre Zeit ist natürlich sehr in Anspruch genommen.«

»Gewiß – namentlich, da ich mit dem Abendzug über Berlin zurückreise.«

»Hm, das dürfte von einem Umstand abhängen.«

»Wovon denn?«

»Ob Sie mich noch vorher zum Londoner Zug begleiten können.«

»Sie glauben also, daß ich Ihre Hilfe notwendig brauche?«

»Nein, Exzellenz, ich weiß es.«

Anscheinend ohne Philipps Replik zu beachten, erhob sich der Kammerherr und sagte:

»Also adieu, Herr Professor! Wir können uns heute abend treffen. Aber jetzt muß ich gehen. Meine Zeit ist kostbar.«

»Ich möchte Ew. Exzellenz nur auf eines aufmerksam machen.«

»Und das wäre?«

»Daß meine Zeit noch kostbarer ist als die Ew. Exzellenz.«

»Wir wollen heute abend darüber sprechen.«

»Gerne, wenn Exzellenz dann noch in der Lage dazu sind.«

Der Kammerherr lächelte, ob belustigt oder gereizt, war schwer zu entscheiden. Im Begriffe zu gehen, drehte er sich noch einmal um und sagte:

»Apropos, wo kann man Sie treffen?«

»Um fünf Uhr spiele ich im Salon um die Ecke Billard.«

»So, Sie sind Billardspieler? Famos, dann können wir ja eine Partie versuchen – spielen Sie gut, Herr Professor?«

»Soso – und Exzellenz?«

»Leidlich.«

Der Kammerherr ging, und Philipp versank bei seiner Zigarre in Grübeleien. Aber sie waren nicht von derselben Art wie am Tag vorher in der Hotelhalle. Das Leben war wieder interessant, noch waren die Abenteuer nicht ausgestorben, und das Duell mit dem Kammerherrn Vivitz machte ihm ungeheuren Spaß. Natürlich war seine Sicherheit diesem gegenüber nur ein Bluff – aber wer weiß? Manchmal kann man durch einen Bluff einen großen Coup machen, und in jedem Fall unterhält man sich dabei.

Um fünf Uhr stand Philipp in dem besprochenen Billardzimmer und suchte nach einem erträglichen Queue, als die Tür sich öffnete und Kammerherr Vivitz eintrat. Sein Gesicht war noch gelber als am Morgen, unter seinen Augen waren zwei tiefe Falten, und die dicken schwarzen Augenbrauen waren dicht zusammengezogen. Er hat ihn nicht gefunden, dachte Philipp mit einem innerlichen Aufjauchzen und grüßte artig.

»Exzellenz sind pünktlich wie Phileas Fogg«, sagte er. »Wollen wir, während wir plaudern, eine kleine Partie Karambol spielen?«

»Mit Vergnügen«, sagte der Kammerherr und begann auf dem Queuegestell zu suchen.

»Ich habe schon gefürchtet, daß Exzellenz nicht Zeit haben würden«, fügte Philipp dazu.

»Wieso?«

»Sie könnten vielleicht den Berliner Zug versäumen.«

Ohne etwas zu erwidern, wählte der Kammerherr sorgsam sein Queue aus und wendete sich dann Philipp zu.

»Sie spielen gut, Herr Professor?«

»Wie ich schon sagte, leidlich.«

»Und hoch?«

»Hie und da.«

»Um fünfstellige Beträge?«

Philipp fuhr zusammen. Eine Partie um zehntausend! By Jove, ein schönes Spiel! Aber natürlich – so mußte es sein, in Tausendundeiner Nacht.

»Eine fünfstellige Summe? Wie Sie wollen, Exzellenz«, sagte er. »Aber eine englische!«

»Gut, aber die niedrigste.«

»Meinetwegen, da es eine englische ist. Ich setze also meine Kenntnis des Aufenthalts des Großfürsten, Sie zehntausend Pfund. Gewinne ich, habe ich zehntausend und keine weiteren Verpflichtungen, verliere ich, muß ich Ihnen sofort die Adresse Seiner Hoheit geben.«

Der Kammerherr nickte gleichgültig, und Philipp fragte: »Gehen wir auf hundert Points?«

»Fünfzig, wenn Sie nichts dagegen haben?«

»Bitte sehr«, sagte Philipp mit einem innerlichen Kitzeln in der Magengegend. Fünfzig Points Karambol, wenn der Einsatz zehntausend Pfund ist! Die Hand könnte einem um Geringeres zittern.

Das Los entschied, wer ausspielte, und Philipp begann. Er machte das erste Karambol mit einem schönen Nackenstoß, hatte Position und fuhr fort. Zu Hause in seiner Wohnung in London hatte er zwei Billards, ein englisches und ein französisches. Auf dem ersteren spielte er vortrefflich, auf dem letzteren – dem Karambolbillard – war er ein Meister. Und obgleich er jetzt, bei dieser eigentümlichen Partie, den Gedanken an die zehntausend Pfund nicht loswerden konnte, spielte er doch äußerlich unberührt weiter, mit untadeligen, wohlberechneten Stößen; er passierte die zehn und die zwanzig, ging an dreißig und fünfunddreißig vorbei. Endlich, als er seinen sechsunddreißigsten Point machen sollte, glitt das Queue ab, und sein Spielball bewegte sich kaum um einen Zentimeter.

»Bitte, stoßen Sie noch einmal, Herr Professor«, sagte der Kammerherr artig. »Sie spielen ausgezeichnet.«

»Danke, aber ich stoße nie ein zweites Mal. Im übrigen gewinne ich bestimmt. Ich fühle mich heute in Form.«

»Das freut mich zu hören«, sagte der Kammerherr und kreidete sein Queue. »Um so größer wird mein Sieg sein.«

Darauf begann Herr Vivitz, während der Marqueur, starr vor Staunen, diese beiden Spieler betrachtete. Und er hatte allen Grund zur Verwunderung, denn, wenn Philipp gut gespielt hatte – von dem letzten Stoß abgesehen sogar sehr gut –, so spielte der Kammerherr wie ein Pariser Billardprofessor. Die dicken, schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie einer Stirnbinde glichen, die gelben Hände warfen sich nervös auf das Tuch, und ein kurzer, kräftiger Stoß erfolgte. Dem Anschein nach war er so unüberlegt wie nur möglich, aber mit mathematischer Sicherheit flog der weiße Spielball davon, traf die beiden anderen Bälle und placierte sich in Position. Die Zehner, Zwanziger und Dreißiger ließ Herr Vivitz hinter sich, während die Stimme des Marqueurs immer ehrfurchtsvoller wurde, vierzig, einundvierzig, sechsundvierzig, siebenundvierzig, achtundvierzig, neunundvierzig. Herr Vivitz richtete sich vom Billard auf, während er sein Queue zum fünfzigstenmal kreidete, wandte er sich an Philipp und sagte: »Wir haben leider vergessen, es vorher auszumachen! Gestatten Sie Ausgang mit dem ersten Stoß?«

»Natürlich«, sagte Philipp mit einer Verbeugung. »Übrigens scheint mir die Lage verzwickt.«

Der Kammerherr erwiderte nichts. Nachdem er das Queue zu seiner Zufriedenheit gekreidet hatte, betrachtete er einen Augenblick das Billardtuch, runzelte die Augenbrauen und beugte sich rasch hinab, ein kurzer, heftiger Tiefstoß, und der Spielball, der den einen der anderen Bälle getroffen hatte, wirbelte zurück, prallte an alle drei Banden und traf dann mit mathematischer Genauigkeit den anderen Ball gerade im Mittelpunkt.

»Fünfzig«, flüsterte der Marqueur.

Der Kammerherr richtete sich auf. »Sie haben verloren, Herr Professor«, sagte er.

»Mit Ehren«, sagte Philipp. »So spielt man in Venedig! Sie haben es verdient zu gewinnen, und wie vereinbart werde ich Ihnen also jetzt die Adresse des Großfürsten Michael geben. Es ist übrigens höchste Zeit, denn Seine Hoheit wird sicherlich ihres jetzigen Aufenthaltsortes schon recht müde sein.«

»Und wo«, sagte der Kammerherr, während er sein Queue fortstellte, »können wir Seine Hoheit finden?«

»Auf der Wache am Gänsemarkt«, antwortete Philipp ruhig.

Zum erstenmal kam Leben in Herrn Vivitz' gelbe Züge. »Was meinen Sie?« schrie er. »Soll das ein Witz sein, Herr Professor, so möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es ein höchst unpassender ist.«

»Ich versichere Ihnen«, sagte Philipp, »es ist der lauterste Ernst. Aber ich will hinzufügen, daß wir nicht nach Seiner Hoheit Großfürsten Michael von Rußland fragen dürfen.«

»Nach wem denn?« fragte Vivitz drohend.

»Nach Schuhmacher Woerz aus Altona, arretiert wegen Volltrunkenheit, Radau, tätlichen Widerstandes gegen die Polizei und unflätiger Beschimpfung der Ordnungsmacht«, erwiderte Philipp mit einem unwillkürlichen Lächeln.

Herr Vivitz betrachtete ihn ein paar Minuten gedankenvoll und zog dann seinen Überrock an.

»Ein Prinz von Geblüt – ein Romanoff – auf der Wache«, murmelte er. »Wenn das ein Scherz ist, so wird er Ihnen teuer zu stehen kommen, Professor.«

»Ich verstehe Ihre Verwunderung nicht, Exzellenz«, wendete Philipp ein. »Bei den Gewohnheiten, die der Großfürst hat, war doch ein solches Ereignis früher oder später unvermeidlich. Was mich wundert, ist nur, daß man Seine Hoheit nach der Anzeige Ew. Exzellenz bei der Polizei nicht erkannt hat. Aber après tout, er hat seine Rolle zu gut gespielt. Die Schutzleute, die ihn verhafteten, schworen darauf, daß sie in den vierzehn Jahren ihres Dienstes noch keine solche Schnauze gehört haben.«

»Auf der Wache, auf der Wache!« wiederholte Herr Vivitz, von dem Schlage noch ganz niedergeschmettert. »Warum haben Sie das nicht früher gesagt? Das kann Ihnen teuer zu stehen kommen, mein lieber Professor!«

Philipp empfand ein vorübergehendes Unbehagen. Er erinnerte sich aus seiner Kindheitslektüre an grausige Schilderungen der Dritten Abteilung und ihres gefürchteten Chefs, Baron Friedrich. Sollte er jetzt noch die russische Polizei hinter sich her haben, war es nicht genug an der schwedischen und dänischen? Pah, dachte er gleich darauf, wird auch nicht schlimmer sein.

Eine Stunde später verließen Philipp und der Kammerherr das Polizeikommissariat am Gänsemarkt in Gesellschaft eines langhaarigen, wildblickenden Herrn in grauem Anzug. Vor dem Kommissar hatte Philipp die Ereignisse der Nacht erzählt, der Kammerherr hatte die erforderlichen Papiere vorgewiesen und die Identität des Großfürsten eidlich beschworen, worauf ihnen allerdings nichts weniger als gnädig gestattet wurde, sich mit diesem zu entfernen. Beim Ausgang folgten Seiner Hoheit die sehnsüchtigen Blicke zweier Schutzleute. Philipp, der sie von dem Morgenabenteuer in der Truthahngasse wiedererkannte, mußte ihre Gefühle billigen.

Nachdem der Großfürst in einigen tiefen Atemzügen die kühle Abendluft eingeatmet hatte, fand er endlich die Sprache wieder – während des ganzen Verhörs beim Kommissar war er stumm wie ein Fisch gewesen – und mit heiserer Stimme sprach er das Wort:

»Bier!«

Man ging in das nächste Wirtshaus, und am Schanktisch stehend erfrischte sich Seine Hoheit mit Faßbier ad libitum, während Philipp und der Kammerherr ihn ehrfürchtig beobachteten. Endlich schob der Großfürst das Seidel fort – das fünfte – und sagte:

»Ah, ich war schon halbtot von dieser gottverdammten Wasserkost!«

»Warum haben Hoheit Ihre Identität nicht bekanntgegeben?« wagte der Kammerherr einzuwenden.

»Und Sie glauben, man hätte mir geglaubt! Vivitz, verzeihen Sie mir, Sie sind ein Esel! Übrigens dachte ich, daß ich unter meinem Schusternamen freikommen würde. Aber warum haben Sie so lange dazu gebraucht, mich zu finden?«

»Hoheit!« protestierte der Kammerherr. »Ich wußte doch kaum, ob Hoheit in Deutschland seien, schon gar nicht, ob in Hamburg. Ich habe alles getan, was ich konnte. Der Hafen ist mit Dreggankern abgesucht worden, man hat die Leichenhalle durchforscht, die minderen Schenken in St. Pauli ...«

»Vivitz, Sie sind zu liebenswürdig ...«

»Und die anderen in Betracht kommenden Lokale«, fuhr der Kammerherr unerschütterlich fort. »Alles war vergebens. Und dabei gab es die ganze Zeit einen, der wußte, wo Hoheit sich befanden.« Er wies auf Philipp, dem es etwas flau zumute wurde. Der Großfürst betrachtete ihn lächelnd und sagte dann:

»Der dort, ja. Feine Nummer! Dolles Fest bei Schiemann, was? Wo haben wir uns doch getrennt?«

»Recht doll«, sagte Philipp. »Wir trennten uns in der Truthahngasse, wo Hoheit Ihre Strümpfe ordneten. Gestatten mir Hoheit übrigens, Ihnen zu einer ausgezeichneten Gesundheit zu gratulieren.«

»Was meinen Sie? Mir geht es wie den drei Männern in dem brennenden Ofen.«

»Ich meine, da Hoheit zur Winterszeit ohne Unterhosen gehen zu können glauben. Das rief bei den Schutzleuten, die Hoheit festnahmen, großes Staunen hervor. Genug, als Hoheit leblos von dem Schlage des Apachen dalagen, wußte ich mir keinen anderen Rat, als eine Droschke zu suchen, um Hoheit heimzubefördern, bevor es hell wurde. Als ich jedoch darin zurückkam, hatten Hoheit sich aber schon ermuntert und traktierten eben die Schutzleute mit einer Kollektion der schönsten Schimpfworte, die ich je gehört habe. Ich beabsichtigte zuerst, Hoheit zu retten, aber meine Kostümierung verhinderte dies, sie machte sich fein bei Schiemann, aber im übrigen Hamburg weniger gut. Ich mußte mich folglich damit begnügen, zu sehen, wo Hoheit einquartiert wurden. Apropos, hier ist Ihr Revolver, Hoheit, und die Brieftasche, ich fand es am besten, sie einstweilen in Verwahrung zu nehmen. Es fehlt ein Schuß im Revolver, ich mußte ihn einem der Apachen aufpfeffern.«

»Tod und Teufel«, sagte der Großfürst, der lachend und voll kindlichen Stolzes die Geschichte seiner Taten angehört hatte.

»Aber der Rest der Erzählung ist weniger amüsant«, fügte Kammerherr Vivitz hinzu. »Beim Frühstück fand sich der Professor bei mir ein und erbot sich, Hoheits Adresse gegen zehntausend Pfund bekanntzugeben. Ich weigerte mich natürlich ...«

»Vivitz, Sie sind ein Geizkragen. Mein Morgendurst war den vielfachen Betrag wert.«

»... und nahm meine Untersuchungen vor. Wie Hoheit wissen, erfolglos. Und am Nachmittag war ich bereit, den Betrag zu bezahlen ...«

»Das war wahrhaftig nicht zu früh! Vor Abend wäre ich tot gewesen, wenn ich kein Bier bekommen hätte!«

»Unterdessen ordneten wir die Sache mit einer Partie Billard. Ich setzte zehntausend Pfund, der Professor Hoheits Adresse. Ich gewann.«

»Das war ja eine feine Partie«, sagte der Großfürst. »Nun, und was werden Sie jetzt mit mir anfangen, Vivitz?«

»Ich dachte, Hoheit hätten Lust, nach Hause zu reisen?«

»Nach Jekaterinoslaw? Nie im Leben. Da sitze ich noch lieber jede Nacht auf der Wache.«

»Nach Petersburg, Hoheit! Der Zar hat seinen Befehl zurückgenommen. Die Nachricht kam drei Stunden nach Hoheits ... Abreise.«

»Und jetzt weiß die ganze Welt davon, und ...«

»Niemand weiß es noch. Hoheit sind offiziell auf der Jagd. Soll ich also Fahrkarten für heute abend bestellen?«

»Jawohl, Vivitz! Aber zuerst habe ich noch eine Angelegenheit mit diesem Herrn zu ordnen.«

»Ganz richtig«, sagte der Kammerherr. »Er verdient eine gründliche Strafe. Wenn er in Rußland wohnte ...«

»Vivitz, er ist schon gestraft, er wohnt in England«, sagte der Großfürst und wandte sich an Philipp: »Wie sind die Wohnungsverhältnisse in England?«

»Soso, Hoheit. Verschieden.«

»Ich meine, Ihre eigenen?«

»Ah – nun, leidlich ... das ist doch nicht möglich? Dürfte ich auf die Freude hoffen, Hoheit in England bei mir zu sehen? ...«

»Ich? Nach England fahren! Sind Sie verrückt?« rief der Großfürst mit einem Schauer. »Dort werden ja alle Gasthäuser um zwölf Uhr geschlossen. Also, Sie wohnen leidlich? Gehört das Haus Ihnen?«

»Nein, Hoheit.«

»Das ist dumm, aber das wollen wir ändern. Vivitz, ich bin doch irgendwo in England Hausbesitzer ... wie heißt das doch? Chester ...«

»Chesterfield Place, Hoheit.«

»Ganz richtig, Chesterfield Place. Sorgen Sie dafür, daß ein Schenkungsbrief auf Chesterfield Place für diesen Herrn, Professor ...«

»Pelotard, Hoheit. Aber ...« stammelte Philipp.

»Kein Aber. Sie wohnen in England. Ich komme nie hin. Es ist also nur recht und billig. Außerdem haben Sie mir heute nacht ein paarmal das Leben gerettet. Und im übrigen, Sie haben ja meine Adresse auf zehntausend Pfund geschätzt, ich will nicht unhöflicher sein. Ihre neue Adresse wird, hol' mich der und jener, eine Kleinigkeit wertvoller sein.«

Philipp verbeugte sich, überwältigt von dieser orientalischen Freigebigkeit. Daß es ernst war, daran zweifelte er keinen Augenblick. Alles ist möglich in Tausendundeiner Nacht.

Herr Vivitz, der nach dem Beispiel seines Herrn jetzt die Liebenswürdigkeit selbst war, wurde zu einem Advokaten gesandt, um die Sache mit dem Schenkungsbrief zu ordnen. Am Abend dinierten die drei Herren bei Pfordte, wo Fürst Michael berechtigtes Aufsehen erregte, und gegen zehn Uhr begleitete Philipp die beiden anderen zum Abendzug, wo ein Wagen reserviert war.

Auf dem Perron überreichte ihm der Kammerherr ein Dokument, das er uneröffnet in der Hand hielt, während er Abschied nahm.

»Wenn ich also in einer zukünftigen Unseligkeit nach England landesverwiesen werden sollte«, sagte der Großfürst, »so weiß ich, wo ich Sie finden kann.«

»Gewiß, Hoheit. Aber da wir gerade davon reden, Verzeihung, wo liegt eigentlich Chesterfield Place?«

»Ich weiß nicht. In London, glaube ich, oder wie, Vivitz?«

»Ganz recht, Hoheit, in London.«

Von einer Ahnung befallen, riß Philipp das Dokument auf und durchflog es, während der Großfürst und Herr Vivitz einstiegen.

»Aber«, rief er, »Chesterfield Place in London kenne ich doch! Das ist ja kein Haus – das ist ja eine Straße. Und man hat vergessen, die Nummer einzufügen.«

Der Zug begann fortzurollen. Der Großfürst steckte den Kopf zum Waggonfenster heraus. Zum letztenmal sah Philipp sein absurdes Gesicht im Lichte der Bogenlampen und hörte ihn rufen:

»Es braucht keine Nummer eingefügt zu werden! Sie kriegen die ganze Straße!«


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