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III
Mr. Isaacs' betrübliche Geschichte

Mr. Isaacs war Mitglied der Londoner Börse. Sein Wahlspruch in Geschäften lautete: Tue den Menschen immer das, was du nicht willst, daß sie dir tun, und sein Ziel im Leben war, von Edward VII. geadelt zu werden.

An Mr. Isaacs' Wiege dürfte wohl niemand geahnt haben, daß er einmal auch nur davon träumen würde; und wenn es jemand geahnt hatte, so ist es unbekannt geblieben, da man nicht weiß, wo Mr. Isaacs' Wiege gestanden hat. Wir können weitergehen und sagen, daß es ungewiß ist, ob Mr. Isaacs überhaupt eine Wiege gehabt hat, ja ob er auch nur ein geborener Isaacs war. Mit Ausnahme dessen, daß er irgendwann zu Anfang der siebziger Jahre irgendwo in Polen geboren war, ist alles über Mr. Isaacs' Leben bis zum Alter von zehn Jahren lose Spekulation von der Art, daß nicht einmal er selbst ein Geschäft darauf bauen möchte.

Im besagten Alter finden wir ihn jedoch auf einem Emigrantendampfer, mit der Bestimmung von Hamburg nach New York; ob Mr. Isaacs, der damals ein zartes Knäblein mit krummer Nase und demütigen schwarzen Augen war, ebenfalls die Bestimmung New York hatte, blieb eine ungelöste Frage für ihn, denn er hatte keine Fahrkarte. In Southampton wurde diese Frage in einfacher Weise vom Kapitän gelöst, indem er Mr. Isaacs ganz brutal ans Land setzte, ohne sich um sein weiteres Schicksal zu bekümmern. Wie dies sich zunächst gestaltete, ist unbekannt. Aber zu Beginn der neunziger Jahre finden wir ihn im Kontor seines Stammesgenossen Mr. (späterhin Sir) Adolfus Löwenstein, und damit wissen wir, daß er in einer guten Schule war, einer guten, aber einer harten. Denn kaum ein Chinese hätte von dem Lohn leben können, den Mr. Löwenstein gab, und dabei die Arbeit leisten, die er verlangte; aber Mr. Isaacs brachte beides zuwege, bis er kurz vor dem Burenkriege auf eigene Faust zu spekulieren begann. Der Burenkrieg machte Sir Adolfus zum Milliardär und Mr. Isaacs, der gleich dem Schakal in den Spuren dieses großen Raublöwen schlich, zum Millionär. Schon 1902 galt er allgemein als ein gemachter Mann.

Die Jahre 1902-1906 brachten dem jungen Börsenmann erhöhte Einkünfte; unterdessen starb Sir Adolfus als Mitglied des Parlamentes, und Mr. Isaacs' ehrgeizige Träume reiften zur Tat. Schon lange hatte er erkannt, daß Titel und Ehrenposten am leichtesten dem Mann der Öffentlichkeit zufallen; und als im Jahre 1906 die Vorbereitungen zu den Parlamentswahlen begannen, fühlte Mr. Isaacs in seiner Brust eine Stimme, die ihn mahnte, für seine politische Überzeugung einzustehen und die englischen Wählerscharen zu vertreten. Da er bereit war, hierfür große Summen zu opfern – das erste Opfer hatte er schon vor langer Zeit gebracht, indem er sich mit kaltem Wasser taufen ließ –, stieß er nur auf eine Schwierigkeit, aber von ernster Art: welches war diese politische Überzeugung, und an welche Wählerscharen sollte er sich wenden? Liberaler Kandidat – konservativer Kandidat? fragte Mr. Isaacs wohl zwanzigmal im Tag die kleinen Margeriten auf seinem Schreibtisch. Die Stimmung auf der Börse fing an, sich gegen die Konservativen zu kehren; und einen Augenblick empfand Mr. Isaacs die feste innere Überzeugung, daß er liberal bis ins Herz hinein war und nichts anderes als liberal. Aber im letzten Augenblick drangen Gerüchte zu ihm, daß die Liberalen höheren Ortes nicht wohlangesehen waren. Beaconsfields Schatten erhob sich warnend und vielversprechend, und die magische Formel Benjamin Disraëli – Lord Beaconsfield mit der nicht weniger bedeutungsvollen Ernest Isaacs – Lord Horseham (sein neu erworbenes Landgut) supplierend, beeilte sich Mr. Isaacs, sich den Wahlbüros der Konservativen zur Verfügung zu stellen.

Dort war die Freude über diesen reichen Kandidaten, der bereit war, alle Summen zu opfern und alle Versprechungen abzugeben, groß; und mit Pauken und Trompeten wurde Mr. Isaacs als konservativer Kandidat für Shorewich auf der politischen Rennbahn lanciert. Shorewich war eine Stadt an der Westküste, die in den letzten Jahren einen beinahe amerikanischen Aufschwung genommen hatte und darauf unglaublich stolz war. Einige Wochen vergingen, in denen Mr. Isaacs unablässig damit beschäftigt war, Reden zu halten, Versprechungen abzugeben und Fühlung zu gewinnen, der liberale Kandidat, Mr. Walsh, desgleichen; und endlich brach der Morgen des großen Wahltages an. Fahnen wehten, Wagen rollten herum, die Stadt war blumengeschmückt; endlich gegen 9 Uhr abends gaben die Transparente der Zeitungen und Wahlbüros das Resultat kund: Mr. Isaacs, konservativ, 9001; Mr. Walsh, liberal, 13 276; liberale Majorität 4275. Die Stimme des Volkes hatte gesprochen; für Mr. Isaacs klang sie wie ein schneidendes Hohngelächter, und er ging in sein Kämmerlein, um seine Pläne zu revidieren.

Ein rascher Überschlag zeigte ihm, daß ihn die Wahlkampagne mit den Schecks für die Parteikasse an 10 000 Pfund gekostet hatte. 10 000 Pfund hatte er hinausgeworfen! Fortgeschmissen ohne Sinn und Zweck! An eine unfähige Partei und eine Gesellschaft idiotischer Wahlmänner. Er, der viele Jahre hindurch für ein Pfund die Woche gearbeitet hatte, er, der den größten Teil seines Lebens nicht in der Lage gewesen war, mehr als eine Mahlzeit im Tage einzunehmen, und der nie andere Gratisvergnügen gekannt hatte als die christlichen Kirchen, er hatte zur Belustigung dieser 10 000 Pfund hinausgeworfen! Quos ego ... sagte Mr. Isaacs nicht, denn nicht einmal mit gelehrten Männern sprach er Latein, aber so waren seine Gefühle. Und fest entschlossen, nach guter alter Sitte den Gegner die Kriegskosten tragen zu lassen, startete er eine Woche später die britische Digammagesellschaft, mit dem Sitz in Shorewich.

Die Wahlkampagne hatte ihm den verwundbaren Punkt der Stadt enthüllt, ihr amerikanisches Selbstvertrauen und ihren Hochmut. Daß er dies nicht vergeblich erkennen gelernt hatte, zeigt der Prospekt der Digammagesellschaft, der sich in extenso im »Shorewich Guardian« wiederfand. »Shorewich«, hieß es darin, »genießt, abgesehen von anderen Vorteilen, den einer Lage an der Küste des Atlantischen Ozeans. Jahrtausende hindurch sind seine Wogen an unsern Strand gerollt, bald liebkosend, bald verheerend, immer nutzlos. Denn was ist das Resultat all dieser mächtigen Unruhe, dieses Kampfes? Nichts; so ist es seit Anbeginn gewesen, und so wäre es geblieben, wenn es nicht in diesen Tagen einem jungen Manne gelungen wäre, das Problem zu lösen, diese gigantische ungenützte Energie zu verwerten.« Es folgte eine beredte Beschreibung des jungen Erfinders. Mr. Geoffrey Maxwell (ein blutarmer Ingenieur, der, unbekannt, Mr. Isaacs' Wege gekreuzt hatte. Hatte er sich von diesem Finanzgenie Geld ausborgen wollen? Man weiß es nicht); und nach einer kürzeren Darlegung der Theorie – Digammatheorie –, nach der er sein großes Problem lösen wollte, fährt der Zeitungsprospekt fort:

»Unsere Stadt ist mit Recht stolz auf ihren ›amerikanischen‹ Aufschwung in den letzten Jahrzehnten; durch diese Unternehmung wird sie erhöhten Grund zum Stolz haben. Die Wellen zu unterjochen, die ungeheuren Kraftressourcen zu verwerten, die in ihnen gebunden liegen, das ist ein Unternehmen, würdig der großen Republik auf der andern Seite des Ozeans, den Mr. Maxwell bezwingen will, ein Unternehmen, das zeigt, daß nicht alle Tatkraft und Energie auf jener Seite des Weltmeers zu finden ist.«

Der Prospekt ist von den bekanntesten Männern in Shorewich und Umgebung unterzeichnet, deren Bekanntschaft Mr. Isaacs bei der Wahlkampagne gemacht hat, unter andern auch von Mr. Walsh, M. P. Für sich selbst hatte der diskrete Börsenmann einen Platz in der linken unteren Ecke gut genug befunden. Die Aktien wurden zu einem Preis von zwei Pfund per Stück ausgegeben, die Begeisterung in der Stadt war allgemein, und binnen zwei Tagen war das Aktienkapital – 30 000 Pfund – gezeichnet. Mr. Isaacs selbst war mit 1000 Aktien engagiert. Geht es, dachte er – einige Autoritäten hielten es für möglich –, so ist es gut, im andern Falle bleiben einem alten Börsenfuchs noch viele Fluchtwege aus seiner Höhle.

Während Mr. Maxwells Vorarbeiten ihren Anfang nahmen und während Mr. Isaacs' Agenten auf eine Hausse in den Aktien der neuen Gesellschaft hinarbeiteten, machte dieser seine Rechnung mit der Konservativen Partei. Was zwischen ihm und ihr vorging, ist von beiden Seiten streng geheimgehalten worden; aber zwei Wochen nachdem sein Name auf sein eigenes Verlangen aus den konservativen Klubs gestrichen worden war, verließ Mr. Isaacs England. Anstatt in den konservativen Listen fand man seinen Namen in den liberalen; ein einleitender Scheck war der liberalen Kasse übergeben worden, und mit einem Sekretär mit garantierten Kenntnissen über Englands Kolonien versehen, reiste Mr. Isaacs nach Afrika ab. Sein Plan war ein doppelter, Vergessenheit über die unglückliche Kampagne in Shorewich zu breiten und sich langsam eine Stellung in der Liberalen Partei zu machen. Zu diesem Zweck wurde eben der Sekretär Mr. Bath mitgenommen, dessen Artikel über »die Kolonien vom liberalen Gesichtspunkt betrachtet« die Sache machen sollten. Diese Artikel waren nämlich Ernest Isaacs signiert.

Lange Monate hindurch wurde Mr. Isaacs von verschiedenen Beförderungsmitteln von Afrikas einem Ende zum andern gewiegt. Die pesttriefenden Sümpfe und Urwälder Westafrikas wurden von südafrikanischen Kopjes abgelöst, von vorüberrollenden Ebenen und unendlichen Horizonten, denen neue Waldgürtel und Jagdgründe folgten, »Rhodesia«, verkündete Mr. Bath – bis sich Mr. Isaacs endlich mit einem Seufzer der Erleichterung daheim in jenem Ägypten wiederfand, das seine Vorväter vor einigen tausend Jahren so töricht verlassen hatten. Nach Studienfahrten den Nil entlang landete er schließlich im August in dem ausgestorbenen Kairo; und in Shepheards Hotel ereilte ihn sein Schicksal in Gestalt einer jungen englischen Schauspielerin, Mrs. Daisy Bell, die dort hängengeblieben war.

Welche Mächte Mrs. Bell bewogen, Mr. Isaacs' Flehen Gehör zu schenken, wissen nur sie selbst und das Kontor von Parrs Bank in Kairo, was für Mächte es hingegen waren, die Mr. Isaacs zu ihr zogen, ist leicht entschieden. Er hatte die ganze Sehnsucht des Orientalen nach blauen Augen, blondem Haar und weißer Haut, und in Mrs. Bell fand er all dies – alles, wonach er unter demütig gesenkten Augenlidern in englischen Ballsälen ausgelugt hatte. Allerdings war Mrs. Bell ein bißchen frei und ihre Rede alles eher als ja, ja, nein, nein, aber in Mr. Isaacs' Augen war sie ohne Makel. Einige selige Tage wurden in Kairo verbracht; dann fand Mrs. Bell die Stadt zu gräßlich unheimlich, ein Lloyddampfer ging gerade zu gelegener Zeit von Alexandria ab, und Mitte September finden wir das Paar im Hotel de Paris in Monte Carlo, wo sie sich ganz getrost eingemietet hatten, da die Stadt ausgestorben war. Mr. Bath war nach England vorausgeschickt worden.

Einige Tage vergingen, während deren Mr. Isaacs, der nun ein ganzes Jahr lang das Börsenspiel entbehrt hatte, sich auf die Trente- und Quarantetische stürzte, während Mrs. Bell das Geld, das er ihr gab, beim Roulette verspielte. Doch eines schönen Tages bekam Mr. Isaacs beim Lunch einen Brief von seinem Kontorchef, der für einen Augenblick sein Glück trübte.

Am Tage vorher, schrieb der Kontorchef, hatten die ersten Experimente mit Mr. Maxwells Apparaten stattgefunden und waren, wie er mitteilen konnte, nichts weniger als günstig ausgefallen. Zur Kenntnis des Publikums hatte man dies nicht dringen lassen, aber trotz nicht erfolgter Publikation, oder vielleicht gerade infolgedessen, hatte die Börse sofort reagiert. Die Aktien, die man zu 6 Pfund 8 Shilling hinaufgetrieben hatte, waren auf 6 gesunken. Beruhigende Artikel waren sofort vom »Financial Leader«, Mr. Isaacs' speziellem Organ, veröffentlicht worden. Was sei mit den 500 Aktien zu tun, die Mr. Isaacs noch innehatte?

Was damit zu tun sei? fluchte Mr. Isaacs – er hatte sich höchst christliche Flüche beigelegt –, verkaufen, verkaufen, verkaufen! Und wenn ganz England erführe, daß er verkaufte! Obgleich, hm ... Das englische Publikum war so pedantisch, wer weiß, auf was für Gedanken es kommen könnte, wenn es erführe, daß Mr. Isaacs öffentlich die schwere Tracht der Digammaaktien abwarf, nachdem er zuerst die Gesellschaft gestartet hatte – das mußte bedacht werden. Diese Erwägung verursachte Mr. Isaacs einen Augenblick der Unruhe; und seine Entschlossenheit wurde von des Gedankens Blässe angekränkelt. Aber wer weiß? Vielleicht konnte noch irgend etwas eintreffen! Mr. Isaacs beschloß, die Sache einmal dem Zufall zu überlassen. Was war im Notfall ein Verlust von 1000 Pfund? Mr. Isaacs blies eine bedeutungsvolle Rauchwolke in die Luft. Am Nachmittag machte er die Bekanntschaft Herrn Philipp Collins.

Herr Collin hatte Frühling und Sommer in England verbracht, mit verschiedenen kleineren Unternehmungen beschäftigt, die mehr oder weniger fein gegangen waren. Im Herbst hatte ihn plötzlich die Wanderlust gepackt; und die Unruhe, die früher zu tollen Studenteneskapaden nach Kopenhagen und Berlin geführt hatte, trieb ihn jetzt auf eine Zigeunertour durch den Kontinent, mit einem Spazierstock als einzigem Gepäck. Unter dem verschleiert blauen oder klartiefen Herbsthimmel war er einige Tage durch die Normandie geirrt, hatte sich dann von der P.-L.-M.-Gesellschaft bis in die Bourgogne hinunterschleudern lassen, und wieder eine Woche später wandelte er in der alten Provence an den Gestaden des Mittelmeers unter Oliven- und Pinienkronen durch kleine gelbe Städtchen. Endlich war er so wie Mr. Isaacs in dem septemberlich leeren Monte Carlo im Hotel de Paris gelandet.

Am besagten Nachmittag stand Herr Collin mit der Hand in der Hosentasche in neugierige Betrachtung eines Haufens Louisdor versunken, den er bei einem Trente-Quarante-Tisch auf Schwarz gesetzt hatte, als er plötzlich eine weiche Hand auf seiner Schulter fühlte und hörte, wie eine flehende Stimme in der Nähe seines linken Ohrs flüsterte:

»Darling, gib mir doch ein bißchen Geld! Ich habe so gräßliches Pech gehabt!«

»Rouge perd et couleur«, sagte der Croupier.

Philipp heimste seinen Gewinn ein und drehte sich um, um zu sehen, wer da so rührend schön um Geld bat. Ihm begegnete ein erstaunter Ausruf, zwei aufgerissene blaue Augen – enfin – Mrs. Daisy Bell.

»Pa ... pardon«, stammelte sie, »ach Verzeihung ... ich habe mich geirrt! Was werden Sie von mir denken? Ich habe Sie für jemand andern gehalten, Sie sehen ihm so riesig ähnlich – von rückwärts meine ich – ich ... aber da kommt er!« unterbrach sie sich und eilte auf Mr. Isaacs zu, der eben aus dem Roulettesaal hereinkam. »Ernie, kannst du dir denken, ich habe dich mit diesem Herrn verwechselt, und ich habe ihn um Geld gebeten!«

Philipp, der sogleich zu seiner nicht geringen Überraschung Mr. Isaacs aus den illustrierten Zeitungen erkannt hatte, beeilte sich, ein paar artige Phrasen zu sagen; und während Mrs. Bell an Mr. Isaacs' Seite fortflatterte, warf er ihr einen langen Blick nach, denn sie war wirklich sehr schön. Aber was zum Teufel tat Mr. Isaacs in Monte Carlo – in dieser Gesellschaft?

Er hatte die ganze Episode beinahe vergessen, als er am Abend plötzlich wieder mit dem großen Finanzmann in der Halle des Hotel de Paris zusammenstieß.

»Sie sind also wieder daheim in Europa, Mr. Isaacs?« sagte Philipp im Vorübergehen mit einem artigen Lächeln.

»Pst! Keinen Namen«, flüsterte Mr. Isaacs. »Sie sind ein Mann von Welt ... Sie verstehen.«

»Ich verstehe«, sagte Philipp mit einem unterdrückten Lächeln.

Mr. Isaacs schien noch nicht beruhigt. Vielleicht war es besser, diesem Herrn, der ihn kannte, etwas nachdrücklich den Mund zu schließen – die englischen Wahlmänner sind so überaus moralisch.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »sind Sie allein? Wollen Sie mit mir ... mit uns dinieren? Es wäre mir ... uns ein großes Vergnügen.«

»Danke«, sagte Philipp. »Sie sind zu liebenswürdig, aber ich bin sicher, daß ich nur stören würde.«

»Aber nein, gewiß nicht. Sie sind herzlich willkommen. Hier kommt Mrs. Bell, Daisy, darf ich dir meinen Freund vorstellen ...«

»Professor Pelotard«, sagte Philipp mit einer Verbeugung, und sie gingen in den Speisesaal.

Das Essen war vortrefflich, die Weine nicht minder, und die Stimmung war bald die beste. Philipp erzählte den letzten Klatsch aus London, seine Reiseabenteuer und Geschichten aus seiner ›Praxis‹, wie er sich ausdrückte. Mrs. Bell sprach ihre Bewunderung für die Wissenschaft aus, und man redete eine Weile von Marconi, den Mr. Isaacs kannte.

»Apropos, Wissenschaft«, sagte Philipp, »es ist doch wunderbar, was für Fortschritte die Technik heutzutage macht. Nach dem, was ich heute morgen in den Zeitungen las, scheint ja ein neues Problem definitiv gelöst zu sein – die Frage, die Kraft der Meereswellen auszunützen. Da ist ein junger Ingenieur Maxwell, der hat eben irgendwo an der Westküste seine Apparate fertigbekommen. Nach der ›Daily Mail‹ scheinen seine Versuche über Erwarten gut ausgefallen zu sein. Die ›Daily Mail‹ hatte ihre Notiz allerdings aus dem ›Financial Leader‹ ausgeschnitten, so daß sie ausschließlich aus dem Börsengesichtspunkt abgefaßt war; aber man bekam doch auf jeden Fall ein ganz klares Bild der Sache. Ein großartiges Unternehmen, Mr. Isaacs!«

Mr. Isaacs beeilte sich, innerlich eine Danksagung über die Presse zum Himmel zu senden.

»Ein großartiges Unternehmen, Professor«, sagte er und fügte mit Betonung hinzu: »auch ökonomisch!«

»Das kann ich mir denken«, sagte Philipp. »Wissen Sie etwas Näheres über die Gesellschaft?«

Mr. Isaacs blinzelte erstaunt. Also wußte der Professor nichts von seinem Verhältnis zu der Gesellschaft! Man denke, wenn sich da etwas tun ließ! Mit einem freudigen Aufleuchten in seinen hochgewölbten Augen beugte er sich über den Tisch zu Philipp vor, der eben dabei war, einen Pfirsich zu schälen, und sagte mit seiner besten Geschäftsstimme:

»Ich kenne die Gesellschaft gut, Professor, und wenn Sie meine Ansicht darüber wissen wollen, kann ich Ihnen nur sagen, daß diese Aktien als Spekulationspapier etwas Einziges sind. Sie haben den Artikel in der Zeitung gelesen; schön, ich sehe, wie Sie wissen, hinter die Kulissen, und ich kann Ihnen sagen, der Artikel war viel zu vorsichtig gehalten. Wenn das große Publikum die Resultate von Maxwells Versuchen erfährt, dann wird es einen Run auf die Börse geben; ein solches Spekulationspapier wie die Digammaaktien werden Sie einfach auf der Börse nicht finden!«

Philipp betrachtete ihn forschend; nicht eine Miene in Mr. Isaacs' Gesicht verriet die Zweideutigkeit seiner Worte; alles hatte den Ton der Aufrichtigkeit eines klugen und erfahrenen Mannes, der seine innerste Meinung ausgesprochen hat.

»Da geben Sie mir ja einen glänzenden Tip«, sagte Philipp. »Ich spekuliere selbst ein bißchen ...«

»So, Sie spekulieren, Professor?« Mr. Isaacs sah auf seine Traube hinab, um den befriedigten Glanz zu verbergen, der bei Philipps Worten in seinen Augen aufleuchtete.

»Ja, was ist dabei zu verwundern? Man muß heutzutage praktisch sein, der zerstreute Professor taugt nicht mehr –« Philipp lächelte bei dem Gedanken, wie gut die Zerstreutheit sich für einen Professor, den er kannte, gelohnt hatte. »Enfin, ich habe Lust, Ihre Worte über die Digammagesellschaft zu beherzigen, Mr. Isaacs!«

Mr. Isaacs legte das Obstmesser mit einem innerlichen Segensspruch über den Zufall oder die christliche Vorsehung hin, die ihn mit diesem gläubigen Gelehrten zusammengeführt hatte.

»Hören Sie zu, Professor!« sagte er und begann zu sprechen, während Philipp aufmerksam lauschte und nur hier und da einen Blick auf Mrs. Bells entzückenden Hals warf.

Drei Tage später, einen Tag vor Mr. Isaacs, fuhr Philipp heim nach England, als Besitzer von 500 Aktien der britischen Digammagesellschaft. Mr. Isaacs war sein Coup über Erwarten geglückt. In gewöhnlichen Fällen hätte Philipp sich nie in ein Geschäft eingelassen, von dem er wenig oder nichts wußte; aber wie er da an dem lauen Sommerabend als Gast am Tische des Finanzmatadors saß, wäre es ihm als eine Heiligenschändung erschienen, den glänzenden, uneigennützigen Tip nicht zu benützen, den dieser ihm gab. Vielleicht hatte er sich auch von Mrs. Bell beeinflussen lassen und ihrer sichtbaren Bewunderung für einen Mann, der Geschäfte von 3000 Pfund beim Abendessen erledigt. Genug, beim Kaffee hatte Mr. Isaacs an sein Kontor telegraphiert, die Aktien der Digammagesellschaft, die er ›für einen Freund‹ innehatte, Professor Pelotard zu dem Kurse von sechs Pfund per Stück zu überlassen; und gleichzeitig hatte der Professor seine Bankiers telegraphisch angewiesen, den Betrag auf Mr. Isaacs' Order hin auszubezahlen.

Beim Abschied war Philipp für einen Augenblick von Mrs. Bell beiseite gerufen worden.

»Sie müssen mich einmal besuchen«, hatte sie gesagt. »Ich wohne so hübsch. In Sutherland Avenue 26. Aber bitte, kommen Sie vorsichtig, Ernie ist so furchtbar eifersüchtig, und er will jeden Tag um 5 Uhr bei mir den Tee nehmen.«

Philipp hatte bereitwillig versprochen, zu kommen.

Einen Tag nach seiner Ankunft in London erschien Mr. Isaacs offiziell aus Ägypten und wurde von der liberalen Presse mit großem Waffengeklirr empfangen. Am nächsten Tage wurde er offiziell zum freisinnigen Kandidaten für South Watford proklamiert, wo nach dem Tode des früheren Kandidaten eine Ergänzungswahl notwendig geworden war.

Drei Tage später begann Philipp den ersten Begriff von Mr. Isaacs Geschäftsmethoden zu bekommen. Es war ein regnerischer, windiger Septembermorgen, und Philipp hatte kaum seine Morgenzeitung aufgeschlagen, als sein Blick auf einen Artikel fiel mit der Überschrift: Ehrliches Spiel oder nicht? Und die Untertitel waren: Wie ist die Lage der britischen Digammagesellschaft? Wir wünschen Klarheit.

Philipp verschlang den Artikel mit aufgerissenen Augen und ließ die Zeitung mit einem erstaunten Fluch sinken. Der lange Artikel ließ sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: er war geprellt worden, und das so gründlich, wie er nur wünschen konnte! Die Digammagesellschaft war von Mr. Isaacs begründet; höchst verdächtig in diesem Fall, daß er ihre Aktien ›für einen Freund‹ verkaufte! Über die Versuche der vorigen Woche war nichts veröffentlicht worden, doch von Mund zu Mund flüsterte man sich zu, daß sie geradezu den Ruin der Gesellschaft bedeuteten. Neue Versuche waren nicht gemacht worden, und die Leitung der Gesellschaft schwieg hartnäckig. – Ist das ehrliches Spiel? fragte die Zeitung. Oder sind die Mitglieder der Direktion rücksichtslos genug, den privaten Vorteil dem allgemeinen Wohl vorangehen zu lassen – verkaufen sie insgeheim? Wie dem auch sein mochte, am gestrigen Tag hatten die Aktien einen Kursfall erlitten, der als katastrophal bezeichnet werden mußte: von 6 Pfund auf 3 Pfund 10. Die Leitung der Gesellschaft müsse sprechen, schloß die Zeitung. Wir wünschen Klarheit.

Fünf Minuten später flog Philipp in seinem Auto zur City und hielt vor dem Kontor seiner Bankiers Messrs. Charles und George Robinson. Er verlangte vorgelassen zu werden und wurde zu Mr. George, dem Jüngeren, geführt.

»Was ist Ihre Ansicht über die Digammagesellschaft, Mr. Robinson?« fragte Philipp, ohne Platz zu nehmen.

»Meine Ansicht über die Digammagesellschaft?« lachte der Bankier. »Die wollen Sie hören? Da kann ich Ihnen – bis auf weiteres privat – nur sagen: der reine, aufgelegte Schwindel.«

Philipp erbleichte. 3000 Pfund waren der fünfte Teil seines Barvermögens, und die hatte er in dieses Unternehmen gesteckt dank Mr. Isaacs!

»Sie sehen so ängstlich aus«, sagte Mr. Robinson. »Sind Sie bei der Gesellschaft engagiert? Wir haben wenigstens nichts für Sie placiert.«

»Ja, doch, ich bin bei der Gesellschaft engagiert«, sagte Philipp. »Ein wenig. Habe privat gekauft.«

»Das betrübt mich«, sagte Mr. Robinson und runzelte die Augenbrauen. »Welchen Kurs haben Sie bezahlt?«

»Sechs.«

»Ah, Sie haben also erst kürzlich ...«

»Ja, und Sie meinen also, daß die Gesellschaft Pleite machen muß?«

»Absolut – das heißt, vielleicht kann die Direktion das Publikum noch eine Zeitlang durch Zeitungsartikel hinhalten. Oder ...«

»Ja?«

»Oder kann der Zusammenbruch dadurch vermieden werden, daß irgendeine bekannte Persönlichkeit in die Bresche tritt?«

Philipp pfiff leise vor sich hin. »Zum Beispiel Mr. Ernest Isaacs?« sagte er.

Der Bankier lachte. »Wer?« sagte er. »Isaacs! Er hatte wohl ursprünglich 1000 oder 500 Aktien der Gesellschaft, aber da können Sie Gift darauf nehmen, der hat sie schon rechtzeitig irgendeinem leichtgläubigen Esel angehängt.«

»Hm – ja – kann schon sein. Ja, ich danke Ihnen für Ihre Aufklärungen, Mr. Robinson«, sagte Philipp und ging.

»Und um Gottes Willen«, rief ihm der Bankier noch nach, »verkaufen – verkaufen – verkaufen!«

Philipp blieb auf dem Trottoir stehen, mitten in Londons Vormittagsgewühl in Gedanken versunken. Verkaufen! Ja, das war leicht gesagt, aber ein Vergnügen war es wahrlich nicht, so um 1500 Pfund zu kommen, das war übrigens das Geringste, was er nach dem Kurssturz verlieren mußte. Und verkaufen! Wer zum Geier wollte ein solches Papier kaufen? Seine 3000 waren sicherlich rettungslos beim Teufel. Sein Geld war fort, dank Mr. Isaacs, und das all der vielen kleinen Aktienbesitzer auch, über die die Zeitung so schön geschrieben hatte! Alle verloren sie dank Mr. Isaacs. Und die Gesellschaft könnte gerettet werden, wenn Mr. Isaacs in die Bresche trat. Aber Mr. Isaacs wollte nicht. Wollte bestimmt nicht. Konnte man ihn dazu bringen? Höchst unwahrscheinlich! Ihn zwingen? Ausgeschlossen! Also war das Geld futsch, da es keine anderen Mittel gab als Überredung oder Zwang ...

Aber wenn ... ja wenn ... unmöglich? Nein, doch nicht. Wenn ... und wenn ... das wäre wirklich mit Zinseszinsen heimgezahlt! Mit einem schallenden Gelächter, das Mr. George Robinson erstaunt ans Fenster lockte, sprang Philipp mit einem Indianersatz in sein Auto, rief Lescot zwischen zwei Lachsalven eine Adresse zu und verschwand in dunklen Missionen im Gewühl Londons, wie an jenem Tage, wo er seine Rache gegen Mr. Bateson vorbereitete.

Denn er hatte einen Plan. Einen feinen Plan. Einen genialen Plan! Gewagt, aber was riskierte er? Einen Mißerfolg? Nein, und tausendmal nein! Gefängnis? Pah, das riskierte er nun schon seit sechs Jahren.

Gegen 1 Uhr steckte er wieder mit einem jubelnden Lachen ein paar gestempelte Papiere in seine Tasche – die erste Frucht seines Rachewerkes. Und doch hätte ein Außenstehender die Freude kaum begriffen, die er über ihren Besitz an den Tag legte. Denn was war es? Die Order, Mr. Isaacs wegen verbrecherischen Vergehens zu verhaften? Eine Vollmacht, ihn mit polizeilicher Gewalt zu zwingen, seine Opfer zu entschädigen? Nein: Die Erlaubnis, am selben Nachmittag Kinobilder in einer näher bezeichneten Straße aufzunehmen.

Gegen Nachmittag wurde das Wetter schöner. Es war windig, die Wolken flatterten über den Himmel, wie Gardinen aus einem Fenster flattern, der Sonnenschein spielte in den Wasserpfützen, und tausend blaue Rauchwölkchen wirbelten zum Herbsthimmel hinauf.

Sutherland Avenue ist eine Quergasse von Maida Vale im nördlichen London, hauptsächlich von Operetten- und Varietédamen bewohnt; mit Recht erfreut sie sich eines zweifelhaften Rufs. Das Haus Nummer 26 ist eine rote Ziegelvilla vom selben Typus wie die übrigen Häuser der Straße; und in seiner Erdgeschoßwohnung wohnte im Jahre 1907 Mrs. Daisy Bell.

Um halb fünf Uhr besagten Nachmittags bog ein einfach gekleideter, ältlicher, dicker Mann von gutmütigem Aussehen um die Ecke von Maida Vale. Unter dem einen Arm trug er ein zusammengelegtes Stativ und in der Hand ein schwarzes Kästchen, das wie eine Kamera aussah. Vor dem Hause Nummer 26 angelangt, blieb er stehen, stellte sein Stativ auf dem Trottoir auf und placierte sorgsam die Kamera auf. Dann spuckte er seinen Zigarettenstummel aus und zündete mit Wohlbehagen eine neue giftig stinkende Zigarette an.

Drei kleine Jungens aus irgendeinem der umliegenden Slums beeilten sich, einen Kreis um den interessanten Mann und seinen Apparat zu bilden, und ein Polizeikonstabler, der in Maida Vale patrouillierte, machte einen Abstecher nach Sutherland Avenue und blieb mit den Händen auf dem Rücken vor ihm stehen.

»Kinograph?« fragte er lakonisch.

»Freilich«, sagte der Dicke.

»Urban?« fragte der Konstabler.

»Pelotard«, erwiderte der Dicke, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen.

»Kenne die Firma nicht. Papiere in Ordnung?«

Der dicke Mann zog ein paar Papiere aus der Tasche und reichte sie gleichgültig dem Konstabler, der sie genau durchlas.

»Mrs. Bell?« sagte er beim Anblick eines Namens in dem Dokument. »Ist das die, die da drinnen wohnt?«

»Wird sie schon sein.«

»Hm, höchste Zeit, daß sie auch wieder mal was tut. Schönes Stück?«

»Und ob!« Der Ton des Dicken wurde eifriger, während er sprach. »›Aus den Armen der Geliebten‹ oder ›Entführt von den Banditen‹, das ist der Titel. Wir haben eine ganz neue Art, die Bilder aufzunehmen, wissen Sie. Die Schauspieler müssen so viel schreien und rufen, wie sie nur können. Es wird dann so natürlich. Und feine Spieler haben wir! Mrs. Bell ist ja auch ganz gut, aber unser Hauptspieler – der! Da werden Sie staunen, wenn Sie sehen, wie natürlich der spielt. Eine Stimme, sage ich Ihnen, die kann man von hier bis Paddington hören.«

»Na, na, machen Sie's nur nicht gar zu lebhaft«, sagte der Konstabler.

Aber der dicke Mann hörte nicht mehr auf seine Worte; ein Automobil war auf breiten Gummireifen um die Ecke von Maida Vale gebogen und vor Nummer 26 stehengeblieben. Das Gesicht des dicken Mannes drückte die größte Spannung aus, und er kurbelte auf Leben und Tod. Ein eleganter, nicht mehr ganz junger Herr von semitischem Typus, in Überrock und Zylinder, stieg aus dem Auto, gab dem Chauffeur rasch eine Weisung, worauf dieser mit einem unterdrückten Grinsen fortfuhr, und ging dann den kurzen Gartengang zu Nummer 26 hinauf. Bevor er noch am Tor angelangt war, wurde dieses aufgerissen, und eine blonde, blauäugige Dame in einem bezaubernden Tea-Gown wurde sichtbar. Sie breitete die Arme aus, warf dem eleganten Herrn eine Kußhand zu und rief: »Ach Ernie, du hast mich aber lange warten lassen! Komm jetzt rasch herein, wir wollen Tee trinken!« Der elegante Herr nahm verbindlich den Zylinder ab und küßte ihr die Hand; dann verschwanden sie durch die Tür zu Nummer 26. Der Dicke hörte auf zu kurbeln und wandte sich mit leuchtenden Augen dem Konstabler zu.

»Fein, was, wie natürlich die spielen?«

»Na ja«, sagte der Konstabler kritisch. »Aber verdammt langweiliges Stück.«

»Wird dann schon lebhaft, verflucht lebhaft. Können Sie die Leute ein bißchen fernhalten, wenn es notwendig sein sollte, Konstabler?«

»Darauf können Sie Gift nehmen«, erwiderte der Konstabler zuversichtlich und ging mit würdigen Schritten Sutherland Avenue hinunter.

Dann kam eine Pause. Draußen in Maida Vale brauste der Verkehr weiter, aber in Sutherland Avenue war es still geworden, die Dämmerung gab die ersten Zeichen ihres Herannahens, und sowohl die drei kleinen Gassenjungen wie auch der dicke Mann schienen ungeduldig auf die Fortsetzung des Dramas zu warten. Gerade als der letztere nach einem ängstlichen Blick zum Firmament murrte: »Teufel, wie lang die brauchen, jetzt muß Ernie doch schon im Zuge sein«, wurde endlich die Stille durch einen Laut gespalten. Ein neues Auto, ein geschlossener blaugrüner Daimler, flog um die Ecke, schwang die Straße hinauf und blieb vor Nummer 26 stehen. Ein mittelgroßer Herr mit theatralischem Aussehen und roter Perücke sprang heraus und winkte zwei andern von ähnlichem Typus, ihm zu folgen. Er lief zur Haustür von Nummer 26, riß sie weit auf, so daß man gerade in die Halle sah, und klingelte dann in der Parterrewohnung rechts, Mrs. Bells Wohnung.

»Lavertisse«, murmelte der Mann am Apparat, der wieder auf Tod und Leben zu kurbeln begonnen hatte. »Also konnte der Professor selbst nicht kommen!«

Das Tageslicht fiel gerade in die Halle von Nummer 26 und auf die wunderliche Szene, die sich jetzt dort abspielte, eine Szene, bei der der einzige von der Straße hörbare Schauspieler der theatralische M. Lavertisse war. Kurz nach seinem Klingeln öffnete sich die Tür zu Mrs. Bells Wohnung, und ein Dienstmädchen erschien.

»Kann ich Mr. Isaacs sprechen?« hörte man Lavertisses Stimme. Die Antwort des Mädchens war unhörbar, aber aus ihren Gesten ging hervor, daß sie M. Lavertisses Verlangen mit einem entschiedenen Nein abschlug. »Aber ich muß, ich muß«, kam wieder Lavertisses schrille Stimme aus der Halle. »Ich weiß, daß er hier ist und daß er nicht gestört werden will. Aber es ist notwendig. Sie müssen ihn stören. Sein Ruf, seine Ehre hängen davon ab, daß ich ihn spreche. Ja mehr, mein Kind, sein Parlamentsplatz.«

Das Gesicht des Mädchens drückte unverhohlene Verblüffung aus, und Lavertisse fuhr unter eifrigen Gesten fort, während er sie zur Tür hineinschob:

»Sie müssen ihn stören. Ich übernehme die Verantwortung. Gehen Sie nur hinein und sagen Sie: Ihr Ruf und Ihre Ehre hängt davon ab, daß Sie herauskommen, Sir, ja mehr, Ihr Parlamentsplatz in Watford.«

Offenbar ganz bestürzt verschwand das Mädchen, und eine Pause entstand, die M. Lavertisse mit verschiedentlichen wilden Gesten ausfüllte. Dann öffnete sich die Tür wieder, und ein Herr erschien auf der Schwelle. War das der elegante Herr, der vorhin im Auto gekommen war? Ja, aber nicht mehr in Rock und Zylinder, ein feuerroter Fes schmückte sein Haupt, und ein langer Schlafrock von derselben Farbe umhüllte seine Gestalt. Er schien etwas erhitzt, als er die Arme erhob und in flehendem Ton rief:

»Gott sei Dank, daß ich Sie treffe, Sir. Sie müssen mir unverzüglich folgen. Ihr Ruf, Ihre Ehre, ja mehr, Ihr Mandat steht auf dem Spiel. Man hat einen Anschlag gegen Sie vor. Aber seien Sie nur ruhig, wir werden Sie retten, England erwartet, daß jeder Mann seine Pflicht tut.«

Mr. Isaacs' Gesicht drückte die äußerste Bestürzung aus, als er diese Worte hörte. Er machte einen Schritt in den Vorsaal, legte M. Lavertisse die Hand auf die Schulter und sagte etwas. Wenn auch kein Laut auf die Straße drang, war doch sein Mienenspiel deutlich genug, um seine Äußerung erraten zu lassen, und dieses Mienenspiel sagte:

Hören Sie, mein lieber Freund, Sie sind offenbar geistesgestört. Das ist betrübend für Sie. Aber sehen Sie jetzt nur zu, daß Sie rasch wieder ins Irrenhaus kommen, dann will ich der Polizei nichts sagen. Aber fix muß es gehen.

Der dicke Mann am Stativ, der in der größten Erregung weitergekurbelt hatte, sah rasch auf und fand, daß sein Freund, der Polizeikonstabler, zurückgekehrt war und den Vorgang in der Halle betrachtete. »Feiner Spieler, Isaacs, einfach wunderbar«, flüsterte der Kinematograph hastig. »Kann man nicht förmlich hören, was er sagt? Und passen Sie nur auf Lavertisse auf.«

»Sir«, rief Lavertisse, »Sie mißtrauen mir, Sie sehen in mir einen gedungenen Bravo. Das ist falsch, ich schwöre, es ist falsch, und wenn Sie mir folgen, werden Sie Ihre Feinde im Britischen Museum versammelt finden.«

In Mr. Isaacs' Augen spiegelte sich jene Achtung, die viele Völkerschaften dem Schwachsinnigen zeigen, und er schien unschlüssig, was er tun sollte. Der Mann an der Kamera tanzte vor Entzücken auf den Zehenspitzen und fand noch Zeit, dem Konstabler zuzuflüstern: »Passen Sie auf, jetzt gehen sie richtig los«, bevor seine Worte sich buchstäblich bewahrheiteten. Denn mit einemmal, ehe Mr. Isaacs etwas ahnte, schnellten M. Lavertisses Arme in die Höhe und schlossen sich wie ein Schraubstock um seinen Körper, ein Pfiff ertönte, und die beiden Männer aus Lavertisses Auto, die bis dahin auf dem Trottoir gewartet hatten, stürzten pfeilschnell in die Halle. Rascher, als es sich beschreiben läßt, veränderte sich drinnen die Szene. Mr. Isaacs verschwand plötzlich, von der Straße gesehen, und an seiner Stelle sah man nur einen feuerroten, zappelnden Schlafrock in den Armen von drei teuflisch lachenden Banditen. Und wenn Mr. Isaacs' Spiel von der Straße gesehen stumm gewesen war, erhob es sich jetzt, wie die Zeitungen sagen, zu einer vokalen Leistung hervorragendster Art.

»Hilfe – zu Hilfe – zu H-i-l-f-e. Man raubt mich – man entführt mich – zu H-iiilfe«, ertönte es schrill aus dem roten Schlafrock. »Polizei – zu Hilfe, man raubt mich. Daisy – Polizei!«

Der Schlafrock flatterte unter einem heftigen Puff auf, und Mr. Isaacs' Stimme verstummte für einen Augenblick. Unter erstickten Schreien bewegte sich der rote Schlafrock in den Armen der drei Männer auf die Straße hinaus, und plötzlich tauchte Mr. Isaacs' bärtiges Haupt wieder aus seinen Tiefen auf. Ein wilder Notschrei ertönte, dann verschwand der Kopf, und das Fenster der Parterrewohnung in Nummer 26 wurde aufgerissen. Von Fensterpflanzen umrahmt, zeigte sich Mrs. Daisy Bell.

»Ernie, Ernie«, rief sie mit einer Stimme, die vor Schrecken vibrierte. »Ernie, wo bist du? Ich habe deine Stimme gehört. Ich habe ganz deutlich deine Stimme gehört!«

Wieder zappelte Mr. Isaacs heftig in den Armen seiner Unterdrücker, und wieder tauchte sein zerrauftes Gesicht aus dem Schlafrock empor, von Mordgier beseelt, ein Geheul entströmte seinen Lippen, und er verschwand abermals. Mrs. Bell flog zurück, warf die Hände empor und stieß einen Schrei aus, der die ganze Straße entlang neugierige Gesichter an die Fenster lockte.

»Ernie, Ernie«, rief sie schluchzend, »bist du es? Ah, was soll ich tun? Was soll ich tun? Man raubt meinen Ernie – was soll ich tun?«

Zum dritten- und letztenmal wurde Mr. Isaacs für eine Sekunde sichtbar, sein Gesicht war puterrot, und er schrie mit kaum verständlicher Stimme:

»Daisy – dumme Gans – Polizei – hol die Polizei – Polizei – Po – Pol –«

Seine Stimme ertrank, er wurde in das wartende Daimlerauto geschleudert, und während dieses sich in Bewegung setzte, verschwand Mrs. Bell vom Fenster. Eine Sekunde später stand sie draußen vor der Vortreppe. Ihre Augen flammten vor Empörung, und auf den Polizeikonstabler deutend, der ruhig den Verlauf des Dramas verfolgt hatte, rief sie:

»Polizei! Da steht ja ein Polizist! Schurke! Elender! Da stehen Sie und lassen meinen Ernie rauben! Ah, das ist schändlich, unglaublich ... Lump, feiger, Lump.«

Die Gassenjungen, die in dichten Horden herbeigeströmt waren, brüllten vor Entzücken, der Kinomann beeilte sich kichernd, seine Sachen zusammenzupacken, und, rot vor Zorn, machte der Konstabler einen Schritt auf Mrs. Bell zu.

»Nehmen Sie sich in acht«, rief er mit donnernder Stimme. »Machen Sie es nicht zu natürlich. Wir haben schon lange ein Auge auf diese Straße. Nehmen Sie sich in acht, sage ich, und Sie dort«, – an den Kinematographen gewendet – »schauen Sie, daß Sie weiterkommen!«

Und während Mrs. Bell und der Kinomann mit höchst verschiedenen Gefühlen dem Gebot des Konstablers Folge leisteten, verschwand das blaugrüne Daimlerauto durch die Straßen. Und aus seinem Innern erhob sich, immer wieder durch Drohungen erstickt, die Stimme, die Shorewichs Wählerscharen bezaubert hatte und auf der Börse stets mit Achtung gehört wurde, Mr. Ernest Isaacs' Stimme.

Mr. Isaacs' Gedanken und Betrachtungen in den nächsten zwanzig Stunden hätten drei Bände in jedweder Bibliothek füllen können, nicht nur in einer für junge Mädchen bestimmten. Staunen und Wut kämpften in seiner Seele, und beide fanden Ablauf in den saftigsten Flüchen. Das Passierte war so rasch passiert, daß er kaum etwas gemerkt hatte, bevor er übermannt und in das Auto geschleudert war. Fünf Minuten später, schien es ihm, obgleich es in Wirklichkeit etwas länger gedauert hatte, wurde er aus dem geschlossenen Auto gerissen, über einen Kiesgang und durch ein Tor geschleift, auf dessen Messingschild er gerade noch das Wort Professor ... entziffern konnte, bevor es wieder zugeschmettert wurde. Und ein paar Augenblicke später fand er sich in einem Zimmer einquartiert, mit verschlossenen Fenstern, reichlichen Möbeln und einer ewig brennenden elektrischen Lampe.

Wie hatte sich das am hellichten Nachmittag in einer großen Londoner Straße abspielen können? Ja, wie zum Teufel! Und wer konnte so frech gewesen sein, einen solchen Coup zu wagen? Ja, wer zum Teufel! Und warum, warum zum Geier? Was war die Absicht, der Sinn des Ganzen? Drei Fragen, die Mr. Isaacs' Gehirn unaufhörlich wiederkäute und die alle in der zweiten enthalten waren: Wer, wer steckte dahinter? Er hatte versucht, die Männer im Auto zu bedrohen und zu bestechen, keine Antwort. War es ein Gegner auf der Börse, der ihn aus dem Wege räumen wollte? In London! Eine Räuberbande? Das Wahrscheinlichste – aber wie hatte es gelingen können? Steckte Daisy dahinter? Dann sollte sie der Teufel holen. Professor ... hatte er auf dem Türschild gelesen, was zum Kuckuck hatte ein Professor mit ihm zu schaffen? Er kannte doch keinen Professor. Vielleicht – grausiger Gedanke – war es ein Vivisektor, der seine teuflischen Künste an ihm ausüben wollte, ein Antisemit? Mr. Isaacs zitterte vor Entsetzen, und sein lockiges Haar sträubte sich auf seinem Kopfe.

Seine Gefangenschaft in dem fremden Raume wurde durch regelmäßige Ausbrüche der Raserei markiert, in denen er heulte und sich gegen die Tür warf. Gegen halb acht Uhr hatte er sogar die Scheiben des einen Fensters eingeschlagen – ob es auf die Straße oder den Hof ging, wußte er nicht, so völlig verwirrt war er. Die einzige Folge davon war, daß das elektrische Licht erlosch, worauf Mr. Isaacs dreiviertel Stunden in abgrundtiefer Finsternis verbringen mußte. Auf seine lautgerufenen Beteuerungen, sich zu bessern, flammte das Licht wieder auf, und Mr. Isaacs, der plötzlich rasenden Hunger verspürte, stürzte sich auf einen gedeckten Mittagstisch, der im Zimmer stand, und speiste vortrefflich. Bei der Zigarre – eine Kiste Henry Clay stand da – verbrachte er ein paar Stunden in dumpfen Grübelein, die um Mitternacht von einem letzten Wutanfall abgelöst wurden.

»Bringt ihn nur her, euren verdammten Professor«, brüllte Mr. Isaacs, »ich will ihn schon lehren, Respekt vor einem Christenmenschen zu haben! Kommt her, ihr feigen Schurken! Kommt her, wenn ihr euch traut!«

Die einzige Folge war, daß das elektrische Licht zweimal vielsagend zuckte. Mr. Isaacs, der überaus ängstlich war, verstummte augenblicklich und schlummerte kurz darauf auf einem Sofa ein.

Am nächsten Morgen fand er, daß Wasser, Toiletteartikel und ein delikates Frühstückstablett hereingestellt worden waren, aber von den Verbrechern war keine Spur zu sehen, und nachdem er sein Frühstück verzehrt hatte, nahm er seine Grübeleien wieder auf, indes er unablässig im Zimmer auf und ab ging. Wie? Wer? Warum? wiederkäute Mr. Isaacs' Hirn, Professor ... Was für ein Professor, ich kenne keinen Professor, bis Mr. Isaacs gegen zwölf Uhr plötzlich bei einem Gedanken in die Höhe fuhr: Doch, ich kenne ja einen Professor! Wie hieß doch dieses Individuum in Monte Carlo? Der, dem ich die Aktien der Digammagesellschaft verkaufte? – Professor Pelotard. Kann er es sein? – Kann er es sein? fragte sich Mr. Isaacs' Gehirn so lange, bis es sich selbst die Frage beantwortete: Zum Teufel, natürlich ist er es. Wer sollte es sonst sein? Und beinahe im selben Augenblick, in dem Mr. Isaacs diese Gewißheit erlangt hatte, hörte man Schritte draußen, die Türe öffnete sich und ein Mann trat ein, der Mr. Isaacs ganz unvorsichtig den Rücken zukehrte, während er wieder zuriegelte. Als er sich umdrehte, stieß Mr. Isaacs einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank in einen Klubsessel.

Vor sich sah er nämlich sich selbst.

Aber im nächsten Augenblick sprang Mr. Isaacs in einem neuen Wutanfall wieder auf und stürzte auf den Neuankömmling los.

»Wer zum Teufel sind Sie?« rief er. »Sind Sie Professor Pelotard?«

Der Fremde betrachtete ihn überrascht und sagte:

»Was meinen Sie? Ich bin Mr. Ernest Isaacs, Mitglied der Londoner Börse.«

»Sie? Blödsinn!« heulte Mr. Isaacs. »In diesem Maskeradenkostüm, das nicht einmal gut genug ist, einen Straßenkehrer zu täuschen!«

»Was?« sagte der Fremde mit dem Ausdruck der größten Verwunderung. »Nicht gut genug, einen Straßenkehrer dranzukriegen? Und war doch auf jeden Fall gut genug, die ganze Börse dranzukriegen!«

»Die Börse«, wiederholte Mr. Isaacs erbleichend. »Was haben Sie in diesem Aufzug auf der Börse gemacht, Sie elender Schwindler?«

»Nichts Großartiges, Mr. Isaacs, aber auf jeden Fall etwas, was Sie ganz gewiß billigen werden.«

»Heraus mit der Sprache!« schrie Mr. Isaacs. »Was haben Sie getan?«

Der Fremde wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als er erwiderte:

»Ich habe alle Aktien der Digammagesellschaft gekauft.«

Mit geballten Fäusten stürzte Mr. Isaacs auf ihn zu und brüllte:

»Er redet irre! Er ist wahnsinnig! Ich bin mit einem Verrückten eingesperrt! Alle Aktien der Digammagesellschaft gekauft – die Gesellschaft hat fünfzehntausend Aktien!«

»Ich habe sie alle gekauft«, sagte der Fremde ruhig. Und wie von einem Keulenschlag getroffen, sank Mr. Isaacs wieder in seinen Sessel. »Und für einen guten Kurs«, fügte er gedankenvoll hinzu, »sechs Pfund das Stück.«

Große Tränen kollerten über Mr. Isaacs' Wangen. Der Mann war verrückt! Fünfzehntausend mal sechs – sein Hirn taumelte, als er die Zahl zu fassen suchte.

»Lassen Sie uns miteinander plaudern, Mr. Isaacs«, sagte sein Quälgeist und setzte sich auch auf einen Sessel. »Lassen Sie uns miteinander ins klare kommen, dann werden Sie sehen, daß Sie meine Handlungsweise billigen.«

Und während Mr. Isaacs ihn mit funkelnden Augen betrachtete, zündete er sich eine Zigarette an und fuhr fort:

»Da Sie es schon erraten haben, will ich vor allem einmal zugestehen, daß ich Professor Pelotard bin, Ihr gehorsamster Diener, Mr. Isaacs. Wie Sie sich vielleicht entsinnen werden, trafen wir uns in Monte Carlo, wo Sie so freundlich waren, mich zum Diner einzuladen. Dabei rühmten Sie mir die Aktien der Digammagesellschaft, und da ich an Ihrem Tische saß und an Ihre Aufrichtigkeit glaubte, kaufte ich Ihre fünfhundert Aktien. Als ich wieder nach England kam, hörte ich nicht darauf, was die Leute über Ihre Gesellschaft sagten, denn ich war vollkommen überzeugt, daß Sie, Mr. Isaacs, so wie Brutus ein ehrenwerter Mann seien. Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich gestern morgen aus den Zeitungen ersah, daß die Digammagesellschaft, für die Sie so große Hoffnungen hegten, am Rande des Ruins stehe – böse Zungen behaupten, es sei der reine Schwindel. Ich fragte meinen Agenten, was ich glauben sollte. Er bestätigte mir, daß die Lage der Gesellschaft leider eine verzweifelte sei und daß sie nur gerettet werden könnte, wenn irgendeine bekannte Persönlichkeit in die Bresche träte. Sofort dachte ich an Sie, Mr. Isaacs! Mr. Isaacs, sagte ich mir selbst, ist der rechte Mann, denn er glaubt an die Gesellschaft, und er hat sie mitgegründet. Aber, was soll ich tun? Gehe ich zu Mr. Isaacs und wünsche ihn zu sprechen, so ist er gewiß beschäftigt, werde ich vorgelassen, so sagt er: Mon Dieu, Professor, ich habe keine Zeit, daran zu denken, ich habe viele Eisen im Feuer. Und doch wußte ich in meinem Inneren, daß Sie eingreifen und die Gesellschaft retten würden, wenn Sie nur Ruhe und Frieden hätten, über die Sache nachzudenken. Ruhe und Frieden, sagte ich mir, das ist es, was Mr. Isaacs braucht, und darum ließ ich Sie gestern in so unzeremoniöser Weise in diesen stillen Winkel führen, wo ich hoffe, daß Sie es einigermaßen gehabt haben?

Eh bien, Mr. Isaacs, nachdem ich Ihnen also unter meinem Dache eine Freistatt für die Nacht gegeben hatte, hielt ich mich für berechtigt, mir dieselbe Freiheit unter dem Ihren zu nehmen, und begab mich folglich zu Ihnen, wo ich mit größter Zuvorkommenheit empfangen wurde. Wie Sie sich erinnern werden, fand sogar Ihre Freundin, Mrs. Bell, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns, und mit ein bißchen Kunst, nicht wahr ... Alles fiel zu meiner Zufriedenheit aus, und Ihr Wein ist ausgezeichnet, namentlich Ihr Lafite, apropos, wie fanden Sie meinen Clos Vougeot? Seltene Marke, wenn ich das selbst sagen darf. – Aber genug, heute morgen verließ ich Ihre Wohnung und fuhr zur Börse, wo ich mit derselben auserlesenen Höflichkeit empfangen wurde wie zu Hause bei Ihnen. Denn wer kennt Mr. Isaacs nicht? Alle kennen Mr. Isaacs. Ich fand zu meiner Betrübnis, daß die Stellung der Digammagesellschaft sich noch verschlechtert hatte, denn neue Gerüchte über Mr. Maxwells Experimente waren in Umlauf gekommen, und die Aktien der Gesellschaft standen nicht einmal mehr auf Pari. Gleich nach Beginn der Verhandlungen ergriff ich das Wort und sagte:

›Gentlemen, Sie kennen mich alle, Sie wissen, daß ich es war, der die Britische Digammagesellschaft gestartet hat. Ich tat es in bester Absicht, ich wollte der Allgemeinheit ein gutes Spekulationspapier schaffen, das allen erreichbar war; ich wollte der Stadt Shorewich, die ich persönlich schätzen gelernt habe, Arbeit schaffen, die Wissenschaft ermuntern, mit einem Wort, unserem gemeinsamen Vaterlande England Ehre machen. Ich sehe, daß meine Handlungsweise mißdeutet worden ist, daß böse Zungen die Solidität der Digammagesellschaft anzweifeln, daß die Lage der Gesellschaft für den Augenblick heikel erscheint. Nach reiflicher Überlegung, meine Herren, habe ich daher den Entschluß gefaßt, den ich Ihnen jetzt mitteilen will. Da ich derjenige bin, der die Gesellschaft gegründet hat, will ich auch in ihre vorübergehenden Schwierigkeiten eingreifen und mache mich hiermit erbötig, die Aktien aller jener Personen aufzukaufen, die es wünschen, entweder hier oder noch besser morgen in meinem Kontor.‹

Während ich sprach, Mr. Isaacs, herrschte Totenstille, außer im Anfang, wo ich meine – Ihre Absichten bei der Gründung der Gesellschaft auseinandersetzte. Aber nachdem ich meine Mitteilung gemacht hatte, brach ein Sturm von Ausrufen und Gelächter los, man bot mir von allen Seiten Aktien an, zu zwei Pfund, zu ein Pfund zehn, zu ein Pfund. Aber ich bat um Ruhe und sagte: ›Gentlemen, ich will hinzufügen, daß ich das bezahle, was ich für einen guten Kurs ansehe, sechs Pfund per Aktie.‹ Mr. Isaacs! Sie hätten da sein sollen! Eine solche Sturmflut der Freude, wie sie mir da entgegenströmte, habe ich noch nie gesehen, Freude, Dankbarkeit, Sympathie. Der Jude ist toll, rief man von allen Seiten, und überall sah ich sonniges Lächeln. Ah, Mr. Isaacs, es ist schön, glückliche Menschen um sich zu sehen, und das wurde mir heute zuteil, dank Ihnen. Aber seien Sie ruhig, Sie werden selbst Freude daran haben, wenn Sie das nächste Mal auf die Börse kommen. Sie können sicher sein, daß niemand es bis dahin vergessen haben wird.«

Philipp Collin verstummte, und Mr. Isaacs, der ihn mit brennenden Augen betrachtet hatte, zischte:

»Sie Teufel. Das nächste Mal ... Sie wollen mich also loslassen? Sie gedenken mich nicht zu ermorden, nachdem Sie mich entehrt und bestohlen haben?«

»Aber ich bitte Sie«, sagte Herr Collin liebenswürdig. »Es steht Ihnen frei, zu gehen, wann Sie wollen.«

»Das ist gewiß eine gottverfluchte Lüge«, schrie Mr. Isaacs und sprang aus dem Sessel auf. »Aber lassen Sie mich nur hinaus, dann schwöre ich, daß Sie in fünf Minuten mit Handschellen dasitzen werden.«

Philipp betrachtete ihn vorwurfsvoll. »Pfui, Mr. Isaacs, Rachsucht ist eines Christen unwürdig. Das ist ein Gefühl aus dem Alten Testament, das wir uns bemühen müssen abzulegen. Wenn ich Sie jetzt hinauslasse, will ich nicht, daß Sie irgendeine überschnelle Handlung begehen. Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Haben Sie die Details bemerkt, als Sie ... entführt wurden?«

Mr. Isaacs stieß ein Raubtierknurren aus, das Philipp veranlaßte, rasch hinzuzufügen:

»Ich meine, haben Sie zufällig auf dem Trottoir vis-à-vis der Wohnung Ihrer entzückenden Freundin einen Mann mit einem Stativ und einer Kamera gesehen, der eine kleine Kurbel drehte? Mit einem Worte einen Kinematographen? Sie wissen, einen solchen, der Bilder für Kinotheater aufnimmt, in die die Leute so gern gehen? Ah, es gehen so viele Leute hin, und alle wollen sie aufregende Sachen sehen, je aufregender, desto besser. Einbruch, Mord, Brand, das geht alles glänzend – und warum nicht eine Entführung? Eine Entführung mit dem Titel ›Aus den Armen der Geliebten‹ oder ›Geraubt von den Banditen‹? Ich persönlich glaube, daß das sehr ziehen würde, wenn man sich nur einen guten Hauptdarsteller verschafft, Forbes Robertson, Henry Irving oder Lewis Waller zum Beispiel – ja, oder Sie, Mr. Isaacs?«

Philipp verstummte, wie in Grübeleien versunken. Mr. Isaacs heftete einen glühenden Blick auf ihn und sagte:

»Also so gelang es Ihnen, mich fortzubringen? War am Ende gar noch die Polizei dabei?«

»Allerdings, Mr. Isaacs. Ja, ein Polizist sah zu.«

Eine Pause entstand, und dann sagte Mr. Isaacs mit heiserer Stimme:

»Die Aufführung eines solchen Dramas würde die Polizei nie zulassen.«

»Nicht oft«, gab Philipp zu. »Aber zwei Vorstellungen würden ja genügen, zwei Vorstellungen mit gutbesetzten Häusern. Sagen wir mal eine in London, in Albert Hall, mit Gratisentree, und eine in Watford, beispielsweise mit dem Titel: Warum die Wahlmänner vergeblich auf ihren Kandidaten warten mußten. Fabelhaft komisch! Natürlich habe ich mir schon die Bewilligung verschafft, mein kleines Drama aufzuführen. Hier ist sie.«

Er warf Mr. Isaacs ein Papier hin, der es durchlas und dann mit einem schadenfrohen Lächeln in tausend Stücke zerriß.

»Sie haben vermutlich nicht beachtet«, sagte Philipp, »daß die Bewilligung in drei Exemplaren ausgefertigt ist?«

»Eine Stunde nach der Vorstellung würde die Polizei hinter Ihnen her sein«, zischte Mr. Isaacs.

»Eine halbe Stunde nach der Vorstellung wäre ich in Sicherheit. Ich kann die Polizei mit Leichtigkeit vermeiden.«

»Ich vermute«, sagte Mr. Isaacs nach einer Pause, »daß es aussichtslos wäre, nach dem Preise der Karten für die Vorstellung zu fragen – aller Eintrittskarten?«

»Gewiß nicht. Der Preis ist die Bestätigung meiner heutigen Abmachungen.« Mr. Isaacs stieß ein Brüllen aus, und Philipp fuhr fort: »Allons, Mr. Isaacs, seien Sie vernünftig. Sie würden sich ja doch schwer aus dieser Sache herausziehen können – dazu ist sie zu gut geführt, ich könnte sagen, in einer Weise geführt, die sogar mich befriedigt. Und was verlieren Sie? Einige zehntausend, vielleicht nicht einmal so viel, denn eine Menge Aktienbesitzer werden ihre Papiere im Vertrauen auf Ihre Schlauheit behalten. Die haben sich den Schaden selbst zuzuschreiben. Aber was gewinnen Sie? Alles. Sie haben die Digammagesellschaft gerettet. Sie sind in aller Welt Mund. South Watford gehört mit fliegenden Fahnen Ihnen, und in einigen Jahren heißen Sie Sir Ernest. Und andererseits, wenn ich meine Bilder zeige, was ist das Resultat? Gelächter in ganz Watford. Ganz London. Ganz England. Kein Parlamentsplatz, keine Geliebte, kein Adel für Mr. Isaacs. Sehen Sie, Mr. Isaacs, Ihr Zaudern ist Ihrer unwürdig. Das ist Business, Business im großen.«

In dem Innern des großen Börsenmannes spielte sich ein deutlicher Kampf ab. Nach ein paar Minuten sagte Philipp: »Ist es also abgemacht, daß Sie meine Transaktion gutheißen?«

Mr. Isaacs erhob sich schwer aus seinem Fauteuil. »Es ist abgemacht«, sagte er.

»Vortrefflich«, sagte Philipp Collin. »Lassen Sie uns in mein Zimmer gehen und die Sache schriftlich machen.«

Mit Mr. Isaacs schriftlicher Anerkennung versehen, saß Philipp eine halbe Stunde später bei einem Whiskygrog in seiner Bibliothek, als es klopfte. Auf sein »Herein!« erschien in der Türe der dicke ältere Mann vom Vortage. Seine Züge drückten die tiefste Niedergeschlagenheit aus.

»Guten Tag, Graham«, sagte Philipp. »Sie haben sich gestern fein gehalten, Sie und überhaupt ihr alle. Setzen Sie sich und nehmen Sie einen Whisky.«

»Nein, danke, Professor, ich weiß nicht – ich habe Ihnen etwas verdammt Unangenehmes mitzuteilen ...«

»Ja, was denn, Graham?«

»Ja, wir sind eben mit der Entwicklung des Films fertiggeworden, kamen nicht früher dazu. Und er ist total unbrauchbar. Das Licht muß zu schwach gewesen sein. Ich ...«

»Na, Graham, setzen Sie sich nur nieder und nehmen Sie einen Whisky. Also, der Film ist ruiniert? Macht nichts! Die Vorstellung ist abgesagt.«


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