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Die bosnische Krisis

Die Entwicklung der Dinge auf dem Untergrunde dieser Gesamtlage erfuhr noch im Sommer des Jahres 1908 einen folgenschweren Antrieb in der türkischen Revolution.

Der Sturz des absolutistischen Regimes Abdul Hamids und die Errichtung der Herrschaft des jungtürkischen Komitees rollte plötzlich die türkische Frage wieder auf, die für den Weltfrieden stets besonders gefährlich gewesen war. Bedeutete die Revolution den Beginn der endgültigen Zersetzung oder eine Konsolidierung des Türkischen Reiches?

Alte Wünsche und Befürchtungen wurden neu geweckt.

Zunächst konnte die Entente mit Befriedigung registrieren, daß der innere Umschwung die Stellung Deutschlands in der Türkei schwer bedrohte. Deutschland als bisheriger Freund der Türkei galt als mit dem bisherigen Regime auf Gedeih und Verderb verknüpft. Die zur Macht gekommenen jungtürkischen Führer hatten bisher zum großen Teil als Verbannte in Paris und London gelebt und dort in ihren politischen Bestrebungen Förderung erfahren. Die Straßen Konstantinopels hallten jetzt wider von lauten Ovationen für den britischen, den französischen, ja sogar den russischen Botschafter, während der bisher als allmächtig geltende Vertreter Deutschlands, Freiherr von Marschall, plötzlich zur Einflußlosigkeit verdammt schien.

 

Die türkische Revolution und ihre Folgen

Die Lage wurde für uns noch bedeutend erschwert durch einen Schritt, den Österreich-Ungarn im Oktober 1908 unternahm. Der Leiter der österreichisch-ungarischen Politik, Baron Aehrenthal, glaubte sich genötigt, angesichts der durch den inneren Umsturz in der Türkei ins Ungewisse gestellten Verhältnisse und angesichts des mächtigen Antriebes, den – unter Förderung durch Rußland und England – die slawische Bewegung auf dem Balkan erhalten hatte, die Stellung Österreich-Ungarns in Bosnien und der Herzegowina zu klären. Im Berliner Vertrag hatte Österreich-Ungarn auf Wunsch der Großmächte die Besetzung und Verwaltung dieser Länder für unbestimmte Zeit übernommen und in den seither verflossenen dreißig Jahren ein großes Stück Kulturarbeit geleistet, das es jetzt durch den jungtürkischen Umsturz und seine balkanischen Folgeerscheinungen nicht in Frage stellen lassen wollte. Am 5. Oktober 1908 proklamierte Österreich-Ungarn die Erstreckung seiner Souveränität auf die beiden Länder. Gleichzeitig erklärte Bulgarien, das bisher formell türkischer Vasallenstaat gewesen war, seine Unabhängigkeit, wie man in der Türkei annahm, auf Grund einer Verständigung mit Österreich-Ungarn.

Die Erregung in der Türkei war ungeheuer. Obwohl de facto Bosnien und die Herzegowina seit dreißig Jahren von der Türkei losgetrennt waren und die Türkei seither niemals irgendwelche Souveränitätsrechte in diesen Ländern ausgeübt hatte, empfanden die Jungtürken die österreichisch-ungarische Proklamation als einen Faustschlag ins Gesicht, und von Seiten der den Mittelmächten nicht wohlgesinnten Mächte geschah natürlich alles, um Öl ins Feuer zu gießen. Deutschland als der Verbündete Österreich-Ungarns wurde für den der jungen Türkei zugefügten Affront mitverantwortlich gemacht. Der deutsche Botschafter Freiherr von Marschall, der von dem Schritt Aehrenthals genau so überrascht wurde wie die Türken, sah die durch den inneren Umschwung ohnedies bedrohten Früchte seiner langjährigen und erfolgreichen Arbeit in der Türkei durch das Vorgehen des Bundesgenossen, dessen Notwendigkeit er nicht anerkannte, ernstlich in Frage gestellt. Ich war damals von der Deutschen Bank nach Konstantinopel, meinem im Juli, kurz vor Ausbruch der Revolution, verlassenen früheren Wirkungskreis, gesandt worden, um unter den schwierig gewordenen Verhältnissen die Interessen des in der Türkei investierten deutschen Kapitals und der dort arbeitenden deutschen Unternehmungen wahrzunehmen. Herr von Marschall machte mir aus seinem Unmut und seiner abfälligen Beurteilung der Aehrenthalschen Politik kein Hehl und beauftragte mich, nach meiner Rückkehr nach Berlin dem Fürsten Bülow seine Befürchtungen eindringlich auseinanderzusetzen. Ich entledigte mich dieses Auftrages. Der Fürst hörte meine Darlegungen aufmerksam an und antwortete mir dann: »Sagen Sie dem Baron Marschall, wenn Sie wieder nach Konstantinopel kommen, daß es in der deutschen Geschichte keinen zweiten Basler Frieden geben darf, und daß ich jedenfalls einen Basler Frieden nicht machen werde.« Er setzte mir dann auseinander, daß Österreich-Ungarn die großserbische Bewegung als eine vitale Gefahr für die Monarchie ansehe und wohl auch ansehen müsse; daß wir keine Möglichkeit hätten, Österreich-Ungarn bei seinen Abwehrmaßnahmen gegen diese Gefahr in den Arm zu fallen, daß uns vielmehr die politische Gesamtkonstellation nötige, uns ohne Wanken und Schwanken hinter unseren Bundesgenossen bei der Wahrung seiner Lebensinteressen zu stellen. Der Türkei gegenüber müsse sich unsere Hilfe darauf beschränken, daß wir ihr zu einem für Österreich-Ungarn annehmbaren Ausgleich verhülfen und ihr im übrigen auf andern Gebieten ihre schwierige Lage soweit wie möglich erleichterten.

Nach diesem Programm wurde gehandelt. Unter Mitwirkung der deutschen Diplomatie kam im Februar 1909 eine Verständigung zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei zustande.

Aber die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina in die österreichisch-ungarische Souveränität war nicht nur gegenüber der Türkei durchzukämpfen, sondern in noch viel stärkerem Maße gegenüber andern nicht unmittelbar beteiligten Mächten. Vor allem kam es in Serbien geradezu zu einem Wutausbruch; man betrachtete dort Bosnien und die Herzegowina als großserbisches Gebiet und sah in der von Österreich-Ungarn ausgesprochenen Annexion eine gegen die großserbischen Aspirationen gerichtete Maßnahme. Die ganz offen zum Kriege treibende großserbische Partei fand Rückendeckung bei Rußland, obwohl Iswolski, damals Minister der Auswärtigen Angelegenheiten in Petersburg, wenige Wochen vor der Verkündigung der Annexion von Baron Aehrenthal, allerdings ohne Terminangabe, über die österreichische Absicht verständigt worden war und keinen Widerspruch erhoben hatte. Bezeichnend war aber vor allem, daß fast noch mehr als Rußland die britische Regierung sich entrüstete und Stellung gegen Österreich-Ungarn nahm. Die britische Regierung, die wenige Jahre zuvor mit Frankreich über die marokkanischen Angelegenheiten eine Abmachung getroffen hatte, die nicht nur eine formale sondern auch eine schwerwiegende materielle Verletzung der Madrider Konvention war, stellte sich jetzt gegenüber dem Vorgehen Österreich-Ungarns, das allerdings einen formalen Verstoß gegen den Berliner Vertrag bedeutete, materiell aber keine Änderung in dem bisherigen Zustande schuf, mit aller Strenge auf den an sich zweifellos berechtigten Standpunkt, daß internationale Verträge nur im Einverständnis der sämtlichen Unterzeichner abgeändert werden dürften. In Petersburg arbeitete die britische Diplomatie, vertreten durch den Botschafter Sir Arthur Nicolson, den Vater der britisch-russischen Entente, mit allen Mitteln auf eine Verschärfung des österreichisch-russischen Konflikts. Obwohl keinerlei britische Interessen im Spiel waren, sagte die britische Regierung der russischen die weitestgehende diplomatische Unterstützung zu. Es Hegen Anzeichen dafür vor, daß auch über die diplomatische Unterstützung hinaus die britische Regierung der russischen jede Aufmunterung zuteil werden ließ, die für eine kriegerische Zuspitzung erforderlich war. Ebenso wie im Jahre 1905 der französischen Regierung für den Fall eines kriegerischen Austrages der Marokkofrage militärische Unterstützung angeboten worden war, wurde jetzt der russischen Regierung die Aussicht auf britische Waffenhilfe gezeigt. Späterhin ist eine Äußerung Sir Edward Greys bekanntgeworden, die dieser nach Rußlands Einlenken zu dem russischen Geschäftsträger getan hat: Die Entscheidung über Krieg und Frieden hänge in England nicht von der Regierung, sondern von der öffentlichen Meinung ab; er habe aber das Gefühl gehabt, daß die öffentliche Meinung in England genügend vorbereitet gewesen sei, um der Regierung ein Eingreifen Englands an der Seite Rußlands in den Krieg zu ermöglichen.

Die deutsche Politik der »Nibelungentreue« erzielte damals einen vollen Erfolg, Trotz der englischen Aufstachelung zog es die russische Regierung vor, auf einen deutschen Vorschlag einzugehen, der ihr ermöglichte, bei der Aufgabe des Widerspruchs gegen den österreichisch-ungarischen Schritt einigermaßen das Gesicht zu wahren. Es ist kein Zweifel, daß die klare Bekundung der unbedingten Entschlossenheit des Deutschen Reichs, auf jede Gefahr hin zu dem österreichisch-ungarischen Verbündeten zu stehen, in erster Reihe dazu beigetragen hat, den Krieg zu vermeiden. Ein von Deutschland nicht unzweideutig gedecktes Österreich-Ungarn hätte entweder sich den lärmenden Forderungen der Serben und ihrer Hintermänner unterwerfen müssen, oder es wäre zum Krieg gekommen, den gegen Österreich-Ungarn und Deutschland zu führen man sich an der Newa nach der Schwächung durch den russisch-japanischen Krieg und die inneren Wirren nicht stark genug fühlte.


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