Thomas Theodor Heine
Die Märchen
Thomas Theodor Heine

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VIII
Das Mädchen, das nicht tanzen konnte

Sibylla Leiseklein war ein ganz junges Mädchen, hübsch und blond und hatte so grosse, sehnsüchtige Augen. Aber sie konnte nicht tanzen. Sie hatte es nicht lernen können. Sie war nämlich sehr schüchtern und wurde so leicht schwindlig. Immer wieder hatten es die Herren mit ihr versucht, aber es ging nicht. Sie musste sich gleich wieder setzen. Da sass sie nun und schaute den Anderen zu. Sie war auch gar nicht unterhaltend. Wenn ein Herr mit ihr ein Gespräch anknüpfen wollte, antwortete sie nur Ja und Nein und lächelte sanft vor sich hin. Man dachte, das würde sich mit der Zeit schon geben. Aber nun sass sie schon viele Jahre so still und einsam bei den Tanzgesellschaften herum und niemand kümmerte sich mehr um sie. Trotzdem wurde sie immer wieder eingeladen, denn ihre Eltern waren angesehene, wohlhabende Leute. Sie waren sehr bekümmert, weil ihre Sibylle solche Minderwertigkeitskomplexe hatte. Sie schickten sie deshalb auch einmal zu einem Psychoanalytiker. Aber der fragte sie nach so schrecklichen Dingen, dass sie weinend nachhaus kam, und es noch schlimmer mit ihr wurde.

Allmählich wurde sie eine alte Jungfrau, bekam Falten im Gesicht und ihre Haare ergrauten stellenweise. Alle ihre Altersgenossinnen hatten längst Anschluss und Männer gefunden. Jüngere erschienen bei den Tanzabenden und sahen sie manchmal verwundert an: »Worauf die wohl noch wartet?« Lange schon hatte kein Herr mehr versucht, sich mit ihr zu unterhalten oder gar mit ihr zu tanzen.

Jetzt war sie bereits ganz alt und verhutzelt. Nur ihre Augen strahlten noch immer gross und sehnsuchtsvoll. So sass sie auch im Fasching auf dem Künstlerball, still und resigniert, an einem 64 Tisch lustiger, junger Menschen. Man lachte ein wenig über die Alte, denn sie hatte sich als Colombine kostümiert und sah komisch aus. Besonders, wenn sie so ernst und traurig dreinschaute.

Da trat ein sehr schlanker, hochgewachsener Herr in den Saal. Er trug ein altspanisches Kostüm, ganz schwarz, auch der Hut und die Federn darauf. Das Gesicht bedeckte eine schwarze Umhüllung, so dass man nichts davon sehen konnte. Alle Blicke wandten sich der auffallenden Erscheinung zu. Als die Jazzband wieder zu spielen begann, schritt er auf den Tisch zu, an dem Sibylla sass und forderte sie, sich tief verneigend, zum Tanz auf. »Ach, ich kann ja die modernen Tänze nicht,« stotterte sie. Aber er hatte es wohl nicht gehört, und schon tanzten die beiden zwischen den anderen Paaren dahin. Jetzt ging es – so, als ob sie ihr Leben lang immer getanzt hätte. Alle jungen Mädchen schien der Spanier zu übersehen. Er tanzte nur mit Sibylla. Keinen Tanz versäumten sie. Mit Verwunderung sahen die Anwesenden, wie sich Sibylla dabei verjüngte. Sie sah jetzt wieder wie ein ganz junges Mädchen aus, eine entzückende kleine Colombine. Nun wollten auch Andere mit ihr tanzen, aber sie wies alle ab. Ganz hingegeben, selig und verzückt schwebte sie mit ihrem Kavalier durch den Saal. Es war ein herrliches Fest für Sibylla, nun war sie wieder jung und schön, und das Leben lag vor ihr wie ein Paradies. »Lass mich dein Gesicht sehen, Liebster,« flüsterte sie. Aber er umfasste sie nur noch fester und tanzte mit ihr dem Ausgang zu. Ja, sie tanzten durch das Portal hinaus. Wer ihnen nachsah, konnte bemerken, dass der Spanier sich demaskiert hatte. – – Es war der Tod.

Man fand Sibylla Leiseklein neben der Garderobe liegend, entseelt, mit einem glücklichen Lächeln um die halbgeöffneten Lippen.

 


 


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