Thomas Theodor Heine
Die Märchen
Thomas Theodor Heine

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VI
Der fliegende Eugen

Manchmal hatte der kleine Eugen versucht, an den Spielen seiner Mitschüler teilzunehmen. Er war aber so schwächlich und ungeschickt, dass ihn alle auslachten. So oft sie sich nun im Schulhof mit dem Fussball vergnügten, stand Eugen abseits, still und verträumt aber nicht traurig. Eine innere Glückseligkeit strahlte aus seinem blassen, schmalen Gesicht und aus den grossen Augen mit den dunklen Schatten darunter. Wenn er einmal zu den Kameraden hinblickte, zuckte ein Ausdruck von Stolz und Verachtung um seinen Mund. Eugen wusste, dass er mehr konnte als sie alle. Eugen konnte fliegen. Aber das brauchten die anderen nicht zu wissen. Es war sein Geheimnis.

Wie hatte er das nur gelernt? Ganz von selbst. Eugens Kusine Hilda, ein wunderschönes Mädchen, war zu seiner Mutter auf Besuch gekommen, und er hörte, wie sie erzählte: »Morgen fliege ich nach Berlin.«

Abends, als ihn die Mutter zu Bett brachte, sagte er weinerlich: »Hilda ist so schön, ich möchte mit ihr fliegen.« »Jetzt musst du deinen Lebertran nehmen und dann ganz artig schlafen. Vielleicht nimmt sie dich dann 45 einmal mit. Gute Nacht, Eugchen.« Dann ging die Mutter hinaus. Bald machte Eugen die Augen zu und im Nu fühlte er, wie sein Körper ganz leicht wurde. Er stieg aus dem Bett, gab sich einen Schwung, stiess mit den Beinen vom Boden ab, bewegte die Arme wie Flügel und schon schwebte er durch das Zimmer. Es war gar nicht anstrengend und ein herrliches Gefühl. »Ach, wenn mich doch Hilda so sehen könnte!« dachte er.

Am andern Morgen hatte Eugen wieder einmal Kopfschmerzen und brauchte nicht zur Schule zu gehen. Er sollte sich in der frischen Luft erholen und spazierte hinaus bis ans Ende des Stadtwäldchens, wo die grosse Eiche stand, in deren Schatten er immer so gern sass. Käfer summten, Schmetterlinge flogen und Vögel zwitscherten. »Jetzt versuche ich's nochmal,« dachte Eugen. Er schloss die Augen und machte Flugbewegungen. So leicht wie im Zimmer ging es nicht gleich. Er musste erst einige Male kräftig in die Höhe springen, endlich bekam er Luft unter die Arme. Mit langsamen Flügelschlägen erhob er sich und dann umschwebte er wie ein grosser Vogel den Wipfel des Baumes. Von Zeit zu Zeit liess er sich auf einen Ast nieder, um gleich wieder in den sonnigen Himmel hineinzufliegen. Wunderbares Wohlbehagen durchströmte ihn dabei. 46

Da sah er unten seine Mitschüler, die der Hitze wegen frei bekommen hatten und mit dem Lehrer einen Spaziergang machten. Er rief ihnen zu. Erstaunt blickten sie hinauf, aber sie erkannten Eugen nicht. Weitab von ihnen liess er sich auf eine Waldwiese niedersinken und ging nach Hause.

Niemandem erzählte er, dass er jetzt fliegen konnte. Aber abends, wenn er allein im Schlafzimmer war, übte er sich oft, damit er es nicht wieder verlernte. Manchmal ging er auch untertags heimlich in das Gärtchen hinunter und flog da umher.

Eines Tages, in der Schule, sollte er eine Rechnung vorn an die Tafel schreiben. Er machte alles falsch, und die anderen lachten. Auch der Lehrer. Da dachte Eugen: »So, jetzt zeige ich 47 euch doch, dass ich mehr kann als ihr.« Er schloss die Augen, und sofort erhob er sich, mit Armen und Beinen rudernd, in majestätischem Flug bis an die Decke des Klassenzimmers. Er hörte die bewundernden Stimmen der Schüler, und der Lehrer rief: »Aber Eugen, Eugen, was machst du denn!«

Eugen kreiste dann ganz niedrig und streifte beinahe ihre Köpfe. Aber schon packten sie ihn an Händen und Füssen, holten ihn aus der Luft herunter und setzten ihn auf eine Bank. Er schlug die Augen auf und sah, wie sie alle in stummer Bewunderung um ihn herumstanden. Der Lehrer liess ihm ein Glas Wasser reichen, ging dann hinaus und telephonierte an Eugens Mutter. Die holte ihn gleich.

Der Doktor kam ins Haus, machte ein bedenkliches Gesicht und sagte, der Junge müsse ganz ruhig liegen und kalte Umschläge bekommen, er habe starkes Fieber. Dann verschrieb er eine Medizin. Wie die Mutter am Bett sass, sprach Eugen zu ihr: »Sei mir nicht böse, Mama, weil ich dir nicht gesagt habe, dass ich jetzt fliegen kann. Du musst es auch lernen. Es ist so 48 schön. Wenn Hilda wieder kommt, fliegen wir zusammen in den Stadtwald.« Er lag mit heissen Backen und konnte nicht einschlafen. Das Fenster stand offen und die nur wenig abgekühlte Luft der Sommernacht strömte ins Zimmer, so dass sich die Gardinen leise bewegten. Die Mutter wollte die ganze Nacht bei ihm wachen. Aber gegen 2 Uhr nickte sie ein. Eugen bemerkte es bald, machte die Augen zu und begann wieder seine Flugübungen. Ein grosser Nachtfalter schwirrte herein. Eugen versuchte gerade, ihn zu erhaschen, als er draussen vor dem Fenster die schöne Hilda vorbeischweben sah. Sie flog mit eleganten Bewegungen und lächelte ihm freundlich zu. »Hilda, ich komme,« rief Eugen, und schon flog er hinaus zu ihr. Es war wie ein süsser Rausch.

Durch den Ruf war die Mutter erwacht und, erschrocken aufschreiend, zum Fenster gesprungen. Sie konnte Eugen gerade noch an einem Fuss erfassen. – Aber das hätte sie nicht tun sollen. Eugen verlor das Gleichgewicht. »Lass mich doch fliegen, Mama!« konnte er noch sagen, dann stürzte er in die Tiefe. 49

 


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