Heinrich Heine
Englische Fragmente
Heinrich Heine

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IV. John Bull

(Übersetzt aus einer englischen Beschreibung London's)

Es scheint, als ob die Irländer durch ein unveränderliches Gesetz ihrer Natur den Müßiggang als das echte, charakteristische Kennzeichen eines Gentlemans betrachten; und da ein jeder dieses Volkes, kann er auch aus Armut nicht einmal sein gentiles Hinterteil bedecken, dennoch ein geborener Gentleman ist, so geschieht es, daß verhältnismäßig wenige Sprößlinge des grünen Erin sich mit den Kaufleuten der City vermischen. Diejenigen Irländer, welche wenig oder gar keine Erziehung genossen, und solcher zählt man wohl die meisten, sind Taglohn-Gentlemen (gentlemen daylabourers), und die übrigen sind Gentlemen an und für sich selbst. Könnten sie durch einen raschen coup de main zum Genusse eines merkantilischen Reichtums gelangen, so würden sie sich wohl gerne dazu entschließen; aber sie können sich nicht auf dreifüßige Komptoirstühlchen niederlassen und über Pulte und lange Handelsbücher gebeugt liegen, um sich langsame Schätze zu erknicken.

Dergleichen aber ist ganz die Sache eines Schotten. Sein Verlangen, den Gipfel des Baumes zu erreichen, ist ebenfalls ziemlich heftig; aber seine Hoffnungen sind weniger sanguinisch als beharrlich, und mühsame Ausdauer ersetzt das momentane Feuer. Der Irländer springt und hüpft wie ein Eichhörnchen; und wenn er, was oft geschieht, sich an Stamm und Zweigen nicht fest genug hielt, schießt er dort herab in den Kot, steht dort besudelt, wenn auch nicht verletzt, und eine Menge von Hin- und Hersprüngen werden Vorbereitungen zu einem neuen Versuche, der wahrscheinlich eben so fruchtlos ablaufen wird. Hingegen der zögernde Schotte wählt sich seinen Baum mit großer Sorgfalt, er untersucht, ob er gut gewachsen ist und stark genug, ihn zu tragen, und kräftig wurzelnd, um nicht von den Stürmen des Zufalls niedergeblasen zu werden. Er sorgt auch, daß die niedrigsten Äste ganz in seinem Bereiche sind und durch eine bequeme Folge von Knoten an der Rinde sein Aufschwingen sicher vollbracht werden kann. Er beginnt von unten an, betrachtet genau jeden Zweig, bevor er sich ihm anvertraut, und bewegt nie den einen Fuß, ehe er sicher ist, daß der andre recht fest steht. Andre Leute, welche hitziger und minder bedächtig sind, klimmen über ihn fort, und bespötteln die ängstliche Langsamkeit seiner Fortschritte; aber das kümmert ihn wenig, er klettert weiter; geduldig und beharrlich, und wenn jene niederpurzeln und er oben auf ist, so kömmt das Lachen an ihn, und er lacht recht herzlich.

Diese bewunderungswerte Fähigkeit des Schotten sich in Handelsgeschäften hervorzutun, seine außerordentliche Nachgiebigkeit gegen seinen Vorgesetzten, die beständige Hast, womit er sein Segel nach jedem Winde aufspannt, hat nicht allein bewirkt, daß man in den Handelshäusern London's eine Unzahl schottischer Schreiber, sondern auch Schotten als Kompagnons finden kann. Dennoch vermochten die Schotten keineswegs, trotz ihrer Anzahl und ihres Einflusses, dieser Sphäre der Londoner Gesellschaft ihren Nationalcharakter einzuprägen. Eben jene Eigenschaften, wodurch sie beim Anfang ihrer Laufbahn die besten Diener ihrer Obern und späterhin die besten Associés sind, bewirken auch, daß sie die Sitten und den Geschmack ihrer Umgebung nachäffen. Außerdem finden sie, daß jene Gegenstände, worauf sie zu Hause den höchsten Wert legten, in ihrer neuen Heimat wenig geachtet werden. Ihre kleinlichen Feudalverbindungen, ihre prahlende Vetterschaft mit irgendeinem unbarbierten Eigentümer von zwei oder drei kahlen Bergen, ihre Legenden von zwei oder drei außerordentlichen Männern, deren Namen man niemals außerhalb Schottland gehört hat, ihre puritanische Mäßigkeit, worin sie erzogen worden, und die Sparsamkeit, die sie sich zu eigen gemacht – all dergleichen stimmt nicht überein mit den positiven und verschwenderischen Gewöhnungen John Bull's.

Das Gepräge John Bull's ist so tief und scharf wie das einer griechischen Denkmünze; und wo und wie man ihn findet, sei es in London oder Kalkutta, sei es als Herr oder Diener, kann man ihn nie verkennen. Überall ist er ein Wesen wie eine plumpe Tatsache, sehr ehrlich, aber kalt und durchaus abstoßend. Er hat ganz die Solidität einer materiellen Substanz, und man kann nie umhin zu bemerken, daß, wo er auch sei und mit wem er auch sei, John Bull sich doch immer als die Hauptperson betrachtet – so wie auch, daß er niemals Rat oder Lehrer von demjenigen annehmen wird, der sich vorher die Miene gegeben, als ob er dessen bedürfe. Und wo er auch sei, bemerkt man: sein eigner Komfort, sein eigner unmittelbarer, persönlicher Komfort, ist der große Gegenstand all' seiner Wünsche und Bestrebungen.

Denkt John Bull, daß Aussicht zu irgendeinem Gewinn vorhanden ist, so wird er schon beim ersten Zusammentreffen sich mit jemand einlassen. Will man aber einen intimen Freund an ihm haben, so muß man ihm wie einem Frauenzimmer die Kur machen; hat man endlich seine Freundschaft erlangt, so findet man bald, daß sie nicht der Mühe wert war. Vorher, ehe man sich um ihn bewarb, gab er kalte, genaue Höflichkeit, und was er nachher zu geben hat, ist nicht viel mehr. Man findet bei ihm eine mechanische Förmlichkeit und ein offenes Bekenntnis jener Selbstsucht, welche andre Leute vielleicht ebenso stark besitzen, aber gar sorgsam verbergen, so daß uns das kostbarste Gastmahl eines Engländers kaum halb so gut schmeckt wie die Hand voll Datteln des Beduinen in der Wüste.

Aber während John Bull der kälteste Freund ist, ist er der sicherste Nachbar, und der gradsinnigste und generöseste Feind; während er sein eigenes Schloß wie ein Pascha hütet, sucht er nie in ein fremdes einzudringen. Komfort und Unabhängigkeit – unter dem einen versteht er die Befugnis, sich alles zu kaufen, was zu seiner bequemsten Behaglichkeit beitragen kann, unter dem andern Ausdruck versteht er das Gefühl, daß er alles tun kann, was er will, und Alles sagen kann, was er denkt – diese beiden sind ihm die Ursache, und da kümmert er sich wenig um die zufälligen und vielleicht chimärischen Auszeichnungen, die in der übrigen Welt so viel Plag' und Not hervorbringen. Sein Stolz – und er hat Stolz in hinlänglicher Fülle – ist nicht der Stolz des Haman; wenig kümmert es ihn, ob Mardachai, der Jude, lang und breit vor der Türe seines Hauses sitzt, nur dafür sorgt er, daß besagter Mardachai nicht ins Haus hineinkomme, ohne seine spezielle Erlaubnis, die er ihm gewiß nur dann gewährt, wenn es zusammenstimmt mit seinem eigenen Vorteil und Komfort.

Sein Stolz ist ein englisches Gewächs; obschon er ziemlich viel prahlt, so ist seine Prahlerei doch nicht von der Art anderer Völker. Nie sieht man, daß er sich auf Rechnung seiner Vorfahren irgendein Air von Würde beimesse; wenn John Bull seine Taschen voll Guineen hat und ein Mann geworden ist, der warm sitzt, so kümmert es ihn keinen Pfifferling, ob sein Großvater ein Herzog war oder ein Karrenschieber. »Jedermann ist er selbst, und er ist nicht sein Vater« ist John's Theorie, und nach dieser richtet er seine Handlungen. Er prahlt nur damit, daß er ein Engländer ist, daß er irgendwo zwischen Lowestoft und St. Davids und zwischen Penzance und Berwick das Licht des Tages erblickte und tut sich auf diesen Umstand mehr zugut, als wenn er auf irgendeinem andern Fleck dieses Planeten geboren worden wäre. Denn Alt-England gehört ihm, und er gehört Alt-England. Diesem aber ist nichts gleich auf der ganzen Welt, es kann die ganze Welt ernähren, die ganze Welt unterrichten, und wenn es darauf ankäme, auch die ganze Welt erobern.

Aber das ist nur im allgemeinen gesagt; denn ersucht man John auf das Besondere einzugehen, und rückt ihm etwas näher zuleibe, so findet man, daß in diesem gepriesenen England eigentlich doch nichts vorhanden ist, womit er ganz zufrieden wäre, außer ihm selbst.

Man erwähne gegen ihn den König, denselben König, dessen Thron er mit so großem Stolz auf seinen Schultern trägt – und gleich klagt er über Verschwendung im königlichen Hausstand, Bestechlichkeit und königliche Gunst, wachsenden bedrohlichen Einfluß der Krone, und beteuert, daß, wenn nicht bedeutende, schnelle Eingriffe und Beschränkungen stattfinden, so wird England bald nicht mehr England sein. Erwähnt man gegen ihn die Parlamente – so brummt er und verdammt beide, klagt, daß das Oberhaus durch Hofgunst und das Unterhaus durch Parteiwesen und Bestechungen gefüllt werden, und vielleicht versichert er obendrein, England würde besser daran sein, wenn es gar kein Parlament gäbe. Erwähnt man gegen ihn die Kirche – so bricht er aus in ein Zetergeschrei über Zehnten und über gemästete Pfaffen, die das Wort Gottes zu ihrer Domäne gemacht haben und alle mühsamen Früchte fremder Arbeit in geistlichem Müßiggang verzehren. Erwähnt man die öffentliche Meinung und den großen Vorteil der schnellen Verbreitung aller Art von Mitteilung – so beklagt er ganz sicher, daß der Irrtum auf diesen verbesserten Wegen eben so schnell reist wie die Wahrheit, und daß das Volk alte Dummheiten aufgibt, um sich neue dafür anzuschaffen. Kurz, in England gibt es keine einzige Institution, womit John vollkommen zufrieden wäre. Sogar die Elemente trifft sein Tadel, und von Anfang bis Endes des Jahres murrt er über das Klima eben so stark wie über Dinge, die von Menschen herrühren. Selbst mit den Gütern, die er selbst erworben, ist er unzufrieden, wenn man ihn näher ausforscht. Obschon er große Reichtümer zusammengescharrt hat, so ist doch sein beständiger Refrain daß er zugrunde geh'; er ist bettelarm, während er zwischen aufgehäuften Schätzen in einem Palaste wohnt; und er stirbt vor Hunger – während er so rund gefüttert ist, daß er mit seinem Schmerbauche Mühe hat, sich von einem Ende des Zimmers nach dem andern hinzuschieben. Nur eins gibt es, was sein vollständiges Lob erhält, selbst wenn man es ganz besonders erwähnt – und das ist die Flotte, die Kriegsschiffe, Alt-Englands hölzerne Wälle; und diese lobt er vielleicht, weil er sie nie sieht.

Indessen, wir wollen diese Tadelsucht nicht tadeln. Sie hat dazu beigetragen, England zu dem zu machen und zu erhalten, was es jetzt ist. Dieser Murrsinn des rauhen, halsstarrigen, aber ehrlichen John Bull's ist vielleicht das Bollwerk britischer Größe im Ausland und britischer Freiheit daheim, und obgleich manche Provinzen Großbritanniens es nicht genug zu schätzen wissen, so verdanken sie doch das reelle Gute, das sie besitzen, weit eher John Bull's beharrlichem Knurren als der nachgiebigen Philosophie des Schotten oder dem stürmischen Feuer des Irländers. Diese beiden Völker, in der jetzigen Klemme, scheinen nicht Kraft und Ausdauer genug zu besitzen, ihre eigenen Rechte zu erhalten und ihr eigenes Heil zu befördern; und wenn irgendein Widerstand gegen Eingriffe in die allgemeine Freiheit zu leisten ist oder eine Maßregel für das allgemeine Beste ergriffen werden soll, so zeigen uns die Tagebücher des Parlaments und die Petitionen, die darin vorgebracht werden, daß in den meisten Fällen mit einem solchen Widerstand und einer solchen Maßregel niemand anders hervortritt als John Bull, der mürrische, selbstsüchtige, brummende, aber doch kühne, männliche, unabhängige, unerweichbare, vordringliche und durchdringende John Bull.


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