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Marianne Sievening

. In der glückseligen Zeit zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren hatten wir, wie es normalen Backfischen zukommt, ein Kränzchen. Ich habe an dieser Stelle schon einmal erzählt von jener harmlosen, frühlingssonnigen Zeit, in die der erste Schatten fiel durch das ungewöhnliche Schicksal der einen aus unserm Kreise, der Franziska von Schlehen, die, ganz so wie es in Romanen vorkommt, mit einem Kunstreiter entfloh.

Wir waren unser sieben und haben uns alle recht und schlecht auf herkömmliche Art durchs Leben geschlagen bis auf eben jene Franziska und bis auf mich, die ich, zum allgemeinen Erstaunen und zum Entsetzen der Familie, besonders einiger alter Tanten, unter die Schriftsteller gegangen bin. Vier von uns sind teils glücklich, teils weniger glücklich verheiratet; eine ist die verwöhnte, mit riesiger Aufmerksamkeit umschmeichelte Erbtante zahlloser Nichten und Neffen geworden, und eine andre – lieber Gott – von ihr will ich erzählen; sie starb vor wenig Jahren.

Als der Sarg hinabgesenkt war und der kahle Hügel sich über ihm wölbte, da sagten die meisten Leute des Trauergefolges: »Jetzt ist ihr wohl, wir wollen ihr die Ruhe gönnen, sie hatte so nichts vom Leben und war sich und andern zur Last.« Sogar der eigene Bruder deutete etwas Aehnliches an. Und sie gingen hinweg mit dem Gefühl einer großen Erleichterung, sie litt nicht mehr, sie that nichts Unbegreifliches mehr, sie schlief.

Ach, sie wußten ja alle gar nicht, wieviel sie gelitten hatte, die arme, stolze Marianne Sievening, und daß das, was sie gethan, so menschlich war, so gar nicht unbegreiflich.

Ursprünglich gehörte sie nicht zu unserm Kränzchen; sie war älter als wir, nicht viel, aber doch um ein paar Jahre, und in der Jugend scheidet es sehr, wenn die eine achtzehn und die andre zwanzig zählt.

Wir wurden von ihrer Großmutter, der alten Frau Oberamtmann Sievening, in einem schmeichelhaften Schreiben geradezu gebeten, ihre arme, liebe Marianne in unsern liebenswürdigen Kranz – so schrieb sie wörtlich, die alte Dame – aufzunehmen, so daß wir sofort einmütig beschlossen, eine Deputation abzusenden und Marianne feierlichst aufzufordern, Kränzchenmitglied zu werden. Wir waren stolz über den Vorzug, die Enkelin einer so angesehenen Dame in unsre Mitte zu bekommen, dann aber – zu unsrer Ehre sei es gesagt – waren wir samt und sonders gutmütige Dinger und in dem Alter, wo das Herz bis zum Ueberfließen voll ist von Mitleid, Menschenliebe und Hilfsbereitschaft. Das arme Mädchen erschien uns so schwer geprüft vom Schicksal, daß wir mit Thränen in den Augen gelobten, Marianne Sievening auszusöhnen mit ihrem harten Los, sie, soviel wir konnten, vergessen zu lassen, daß sie eine Unglückliche sei. Außerdem waren unsre Gemüter noch alle erschüttert von dem Unerhörten, das ein Mitglied unsres Bundes der Kränzchenehre angethan hatte – Franzi von Schlehen.

Wir hatten uns feierlich gelobt, nur eine ganz solide Nachfolgerin für Franziska zu erwählen, und daß Marianne Sievening niemals einen ähnlichen Streich machen würde, dafür bürgte uns, zwar nicht ihre stolze Familie – die besaß Franziska auch – oder die gestrenge Großmama, wohl aber ihr körperliches Gebrechen. Die arme Marianne war bucklig, sehr bucklig, wie wir gelegentlich auf der Straße gesehen hatten, als sie mit ihrer Großmutter spazieren ging. Nicht etwa bucklig wie so viele – nein, sie war so verwachsen, daß sie, wenn sie sich umschauen wollte, den ganzen Körper wenden mußte; der Kopf lag auf den armen Schultern wie auf einer Schüssel. Jammervoll! Sie war vor kurzem verwaist und zu ihrer Großmutter übergesiedelt; sie kam vom Lande, von dem großen Rittergute ihres Vaters, das nun der Bruder besaß.

Minchen und ich wurden ausersehen, der alten Dame unsre Zusage auf ihren Brief zu bringen und zu gleicher Zeit Marianne zu bitten, unser Kränzchenmitglied zu werden. Wir wollten so thun, als sei die Ehre und Freude ganz auf unsrer Seite, wenn es auch thatsächlich ein kleines Opfer kostete, eine Aeltere, eine Verkrüppelte in unsern übermütigen Bund aufzunehmen.

Das Kränzchen fand am heutigen Tage bei Röschen statt, der jetzigen Erbtante. Die Frau Amtsrätin hatte uns den Brief durch ihre bejahrte Dienerin, »die olle Line«, zugeschickt, und wir gaben dieser, die wartend im Vorzimmer stand, den Bescheid, wir würden uns erlauben, mündlich zu antworten. Also Minchen und ich wanderten denn auch nach Verlauf einer Stunde in ganz bewegter Stimmung nach der Langen Straße, allwo Frau Amtsrat eine recht ansehnliche Wohnung inne hatte, die Marianne mit ihr teilte. Die Straße mit ihren uralten Häusern, deren Gärten durch lange Mauern voneinander getrennt standen, über welche sich im Frühjahr die blütenbedeckten Zweige der Aepfel- und Birnbäume streckten, von denen im Herbst so manche Frucht zur Freude der Kinder herabfiel, lag an jenem Tage genau so verlassen und einsam wie an allen andern Tagen und wie sie wahrscheinlich heute noch liegt. In ihr wohnten lauter stille Leute, kein einziges Geschäftshaus war da, ausgenommen ein Bäckerladen, in dem es Zwieback gab, welcher in der ganzen Stadt einen Ruf hatte. Die Fußsteige zu beiden Seiten des Fahrdammes waren sehr schmal, und die Stufen zur Hausthür unterbrachen sie so, daß man, wollte man nicht quer über eine schmale Sandsteinstufe wandern, auf dem Fahrdamm zu gehen genötigt wurde.

Auf diesen Sandsteinstufen spielten die Kinder, die kleinen Mädchen mit ihren Puppen, die Jungen ließen Papierkähne auf der schmutzigen Gosse schwimmen, und kein Mensch dachte an Bacillen und mikroskopische Lebewesen, die es auf Leben und Gesundheit der Kleinen heutzutage so arg abgesehen haben.

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Allenthalben saßen sie umher, die Gören, während wir Arm in Arm daherkamen.

Auch an diesem Tage saßen sie allenthalben umher, die Gören, während wir mitten auf dem Fahrdamm, Arm in Arm, daherkamen, um unsre »Neue« zu besuchen. Minchen hatte ein weißes Kleid an, dazu einen blaßblauen Gürtel, und trug auf dem schwarzen Lockenkopf einen großen Florentiner Hut mit blauem Bande; ich war in rosa Kattun gekleidet. Jedenfalls sahen wir mit unsern achtzehn Jahren auch wirklich jung und gar nicht übel aus, was die lachenden Blicke der Leute bestätigten, die uns vom Fenster aus zunickten.

So traten wir denn mit heißen Wangen, von Menschenliebe glühend, in das uralte Haus, welches Frau Amtsrat bewohnte. Die Schelle hallte wie im Sturmläuten in dem großen Flur wieder, der so kahl war wie eine Reitbahn. Eine scheuernde Frau bedeutete uns, daß die alte Dame oben wohne, und wir stiegen die breite Treppe empor, deren Eichenholzstufen so rein und unbetreten aussahen, als ginge selten oder nie jemand über sie hinweg. Die Line erschien auf unser Klingeln an der Thüre, welche die Treppe oben abschloß, öffnete und bat uns, einen Augenblick zu warten; dann huschte sie fast unhörbaren Schrittes den Korridor entlang und verschwand hinter einer Thüre. Nach einigen Minuten kam sie zurück, sprach ein feierliches: »Frau Amtsrat lassen freundlichst bitten,« und führte uns in einen Raum, der mit Kupferstichen und Oelgemälden förmlich austapeziert schien und dessen Möbel im Empirestil, trotz ihres respektablen Alters, mit allem Reiz des Neuen auf unsre unverwöhnten Augen wirkten. Dazu roch es nach verwelkten Blumen, ein Duft, der einer dickbauchigen Porzellanvase entströmte, die vor dem deckenhohen Spiegel stand; kurz, es ward uns ganz befangen in dem kühlen Zimmer, welches das Licht nur spärlich durch ehemals himmelblaue Seidenvorhänge empfing. Jetzt waren sie zu einer zwischen Grün und Blau schwankenden Farbe verblichen, die das Entzücken eines jeden Malers sein würde – heutzutage, heißt das.

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Wir haben es uns später eingestanden, Minchen und ich, daß uns bange gewesen ist in den paar Minuten des Wartens; wir hatten noch nie bei einer so allgemein respektierten Persönlichkeit, wie diese alte Dame es war, antichambriert und überlegten beide, wie wir uns ihr gegenüber eigentlich benehmen sollten.

Aber siehe, da that sich die Thüre des Nebenzimmers auf, und unter den verblichenen Vorhängen trat Marianne Sievening allein ins Zimmer. Die Großmutter hatte klug das Rechte gefunden; sie umging alles ceremonielle Danken und wieder Danken, Hin- und Herreden und schickte diejenige, um die es sich handelte, selbst ins Gefecht. Wir bekamen sie auch in der Folge nur selten zu sehen, die Großmutter.

Unsre Blicke umfaßten das kleine, schrecklich verunstaltete Menschenkind vor uns, dessen unglücklichen Wuchs heute keine Mantille freundlich verhüllte, und – wir blieben stumm wie die Fische, Minchen sah zu Boden, wie verlegen.

»Darf ich bitten, Platz zu nehmen,« schlug nun die weiche, liebe Stimme an unser Ohr, und als ich, wie erlöst, ihr Antlitz nach diesen Worten suchte, da sahen mich ein paar große, klare, schöne Augen an, die aus dem blassen, leidenden Gesicht wie zwei Sterne strahlten.

»Wir kommen mit einer großen Bitte,« begann ich frisch unter dem Einfluß dieser Augen, »aber bitte, Fräulein Sievening, halten Sie uns nicht für unbescheiden.«

»Ach ja,« fiel Minchen ein, »aber wir wissen, wie gut und lieb Sie sind, und wir haben schon immer – « Sie stockte und wurde rot ob ihrer Liebeslüge.

»Kurz und gut,« begann ich wieder, »wir wollten Sie recht innig bitten, doch unserm Kränzchen beizutreten.«

Das liebe, blasse Gesicht lächelte uns an. »Großmama hat mir gesagt, daß sie bei Ihnen für mich gebeten habe; wie gut und liebenswürdig Sie sind!«

»Aber ganz und gar nicht,« stotterte Minchen, »Ihre Frau Großmutter ist wirklich nur unserm Wunsche – «

»Ach nein,« unterbrach Marianne Sievening, »ach nein – ich – ich weiß ja, wie es kam, allein ich fürchte nur, Sie zu stören.«

Nun aber überstürzten wir uns in gegenseitigen Versicherungen und zogen beide die schwächliche kleine Gestalt nach dem steiflehnigen Sofa, und sie in die Mitte nehmend und jede eine der kleinen heißen Hände haltend, schwatzten wir auf sie ein, daß sie bald rot und bald blaß aussah und ihr Atem kurz ward von so viel feurigen Liebeserklärungen.

»Jeden Dienstag, von drei bis siebeneinhalb Uhr, kommen wir zusammen; wer zu spät erscheint, zahlt einen Silbergroschen Strafgeld in die Kränzchenkasse, und dafür wird im Sommer eine Landpartie gemacht. Hauptregel ist, daß wir uns untereinander niemals etwas übelnehmen,« sagte ich.

»Und daß es nie mehr gibt als Kaffee und Kuchen und hinterher Obst,« setzte Minchen hinzu.

»Nur im Fall einer Mißernte ist Flammeri aus Grieß gestattet,« ergänzte ich.

»Es wird vorgelesen von vier bis fünf Uhr.«

»Nur gute Bücher.«

»Na, das versteht sich!«

»Wir haben besondere Namen im Kränzchen, Blumennamen, Minchen ist das Veilchen.«

»Was möchtest – was möchten – nein – aber wir duzen ja! – Was möchtest du für eine Blume sein?«

»Ach, Kinder, wißt ihr was? Das beste ist, Marianne geht gleich mit und wir stellen sie den andern vor,« riefen wir abwechselnd.

»O, ich – ich fürchte, ich störe euch,« wehrte sie noch einmal ab, aber sie wurde überstimmt. Nach einer Viertelstunde sah uns die Lange Straße wieder über ihr schreckliches Pflaster wandern, und zwischen uns Marianne Sievening in einem dunkelblauen Kattunkleid, das mit einer weißen Pelerine festlich aufgeputzt war. Der große runde Hut, den sie der herrschenden Mode gemäß trug, ruhte fast auf dem armen, verunstalteten Rücken, aber ihre Augen leuchteten stillglücklich unter ihm hervor.

Die andern sahen wartend über die niedere Mauer von Aennchens Garten, der vor dem Thore des Städtchens lag. Als sie uns erblickten, liefen sie uns in hellem Jubel entgegen, und die arme, kleine Marianne ward beinahe erstickt von ungestümen Liebkosungen. Sie begann endlich zu schluchzen, und wir andern zur Gesellschaft mit. Einstimmig wurde beschlossen, sie Reseda zu taufen; die unscheinbare Blüte mit dem köstlichen Duft schien uns das richtige für sie. Minchen holte aus dem Gartenhause Weingläser und eine Flasche Himbeersirup, und mit Hilfe von Selterwasser wurde nun ein Getränk hergestellt, das uns völlig würdig erschien, die neue Freundin feierlich willkommen zu heißen. Unsre Gläser klapperten aneinander, wir tranken sie stumm leer und gaben uns feuchten Blickes die Hände, und Reseda sagte mit zitternder Stimme, sie wolle eine dankbare, treue Freundin einer jeden von uns sein, und jeder einzelnen von uns war weihevoll zu Mute.

Wohl keine von uns hat diesen Nachmittag je vergessen, und keine einzige von uns hat es je zu bereuen gehabt, der armen Reseda ein volles Herz entgegengetragen zu haben, denn jeder einzelnen ist sie eine treue Freundin geworden, wie sie damals versprach. Aber alle die andern haben sie nur oberflächlich gekannt als das vernünftige, mit seinem schweren Geschick versöhnte Geschöpf; wie sie gelitten und gekämpft hat, das weiß nur ich, die der Zufall in ihre Seele blicken ließ.

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Vorläufig aber waren wir noch lange nicht so weit, unsre Begeisterung sank sogar in der ersten Zeit ihrer Mitgliedschaft bedenklich zusammen. Durch ihr körperliches Leiden von den Vergnügungen ausgeschlossen, die zeitweilig unser ganzes Denken in Anspruch nahmen, genierten wir uns anfänglich, in ihrer Gegenwart davon zu sprechen, und infolgedessen bekam unsre Unterhaltung etwas Einseitiges, Gezwungenes. Es drängte uns samt und sonders dazu, nach einem Ballfest oder einer besonders gelungenen Landpartie in den Erinnerungen zu schwelgen, aber da saß mitten zwischen uns das arme, blasse, bucklige Mädchen, und wir schämten uns unsrer bescheidenen Freuden und sprachen lieber über eine Novelle von Storm, über ein schönes Gemälde oder ein Konzert; gewiß sehr bildend und brav, aber die Lust, der ungebundene Uebermut, alles, was in unsern jugendlichen Herzen klopfte, unterdrückten wir, mußten wir unterdrücken. Oder wir deuteten es an und lächelten – und erröteten, wenn uns ein Blick ihrer großen Augen traf, verwundert und vorwurfsvoll.

Ach nein, es war gar nicht so leicht, wie wir uns das gedacht hatten. Der arme Krüppel stand fremd und verständnislos in unserm Kreise, und untereinander teilten wir uns heimlich mit, es sei doch zuweilen recht peinlich, sich so genieren zu müssen. Bald hatte es Seda, so nannten wir sie, mit ihrem feinen Empfinden herausgefühlt, und eines Tages nach einem Kasinoball, den wir andern alle besucht hatten und – aus Rücksicht auf sie – nur flüchtig erwähnten, sagte sie ganz unvermittelt und mit freundlichem Lächeln: »Wie habt ihr euch denn gestern amüsiert? Erzählt mir doch! War es schön? Was hattet ihr für Kleider? Ich höre das so gern.«

Wir waren wie elektrisiert und überstürzten förmlich in glühenden Schilderungen dieser höchst bescheidenen Festlichkeit. Unsre frisch gewaschenen weißen Mullkleider wurden zu Feengewändern, und die Lieutenants, Assessoren und jungen Doktoren zu Halbgöttern. Sie hörte alles mit scheinbar größtem Interesse an, und so kam es, daß wir allmählich die Scheu, sie zu verletzen, verloren, und daß wir sie behandelten wie eine gute, treue Großmama, der man alles anvertrauen, alles sagen kann, die sich freut, neidlos freut über das Glück der Jugend, und die gütig mit uns fühlt bei unserm Leid – das ja eigentlich kaum ein solches ist – ohne daß sie besonders erschüttert wird davon, denn solche Schmerzen hat sie längst vergessen, fühlt sie nicht mehr.

Doris verlobte sich ein halbes Jahr später mit dem Pastor von Mühlen. Wir erfuhren durch einen Zufall zu unserm grenzenlosen Erstaunen, daß Seda die Vertraute von Doris gewesen war, und jede einzelne von uns wurde rot, denn jede einzelne lief heimlich zu dem geduldigen, freundlichen Geschöpf und machte sie zur Vertrauten ihrer Liebesgeschichte – auch ich natürlich. Sie wußte so mild zu trösten und Hoffnung zu spenden; man ging immer froher von ihr, als man hingekommen war, und unsre Geheimnisse waren so wohlverwahrt, als hätte man in einem Beichtstuhl gesprochen. Wir brauchten keinen Verrat zu fürchten, und so belasteten wir die schwachen Schultern des freudlosen, armen Mädchens mit all unserm Leid und Glück, und ob sie schwer daran zu tragen hatte, daran dachten wir nicht.

Und sie trug schwer daran! Ich habe es ja alles erfahren – viel schwerer noch an unserm Glück als an unserm Leid.

Natürlich hielten wir sie im Punkt des Liebens und Heiratens für eine Null, und daß sie sich selbst dafür hielt, das galt uns als ausgemachte Sache. Wir hatten den naiven Glauben, daß ein Geschöpf, welches keine Liebe zu erwecken vermag, auch selbstverständlich nicht die Fähigkeit haben könne, sie zu empfinden.

Eines Tages starb ihre Großmutter. Zur Beerdigung erschien Mariannes Bruder und dessen junge Frau, auch viele andre Verwandte; es war das großartigste Begräbnis, das die Stadt seit langer Zeit gesehen hatte, denn die Frau Oberamtmann Sievening war ebenso angesehen wie reich. Marianne und ihr Bruder waren die Erben; das arme, kleine bucklige Mädchen verfügte über ein fürstliches Einkommen. Man brannte allgemein darauf, zu erfahren, ob nun der Bruder ihr eine Heimat auf dem väterlichen Schlosse anbieten oder ob sie hier bleiben werde mit einer Gesellschafterin.

Wir wagten natürlich nicht, sie zu fragen, konnten ihr überhaupt nur durch einen stummen Händedruck unsre Teilnahme ausdrücken, denn das Haus war voller Besuch, und einige Gäste blieben auch noch ein paar Wochen nach dem Begräbnis da. Wir sprachen aber von nichts weiter, wenn wir in unserm Kränzchen bei einander saßen, und hofften von ganzer Seele, daß sie bei uns bleiben werde.

Es kam auch so; Marianne blieb mit ihren zweiundzwanzig Jahren, ihrem vielen Gelde und dem alten Dienstmädchen der Großmutter allein, ohne Gesellschafterin, ganz allein. Wir fanden das entzückend; nirgendwo fühlten wir uns in der Folge behaglicher als in dem altmodischen, traulichen Nest, in das der arme kleine Vogel gebettet worden war, dem das Geschick die Schwingen der Lebenslust so schwer gebrochen hatte. Sie war noch genau so wie früher, machte so anmutig die Wirtin, zeigte uns bereitwillig die ererbten Schätze an Schmuck, an Silber und Leinen und sagte immer, sie wünsche vorläufig gar nichts, als nur mit uns so weiter zu leben.

Als Doris ihren Pastor heiratete, stiftete Marianne einen wundervollen Silberkasten als Hochzeitsgeschenk und teilte uns mit, daß sie jeder von uns das gleiche zugedacht habe. Sie schenkte uns Theater- und Konzertbillets, sie fuhr mit uns in die schönen Harzberge und wehrte jeden Dank lächelnd ab: »O, laßt mir doch die Freude!«

Unser sittenstrenges Städtchen fand nichts dabei, daß dies junge Mädchen allein wohnte. Lieber Gott – eine Bucklige!

Und die Jahre gingen so hin und brachten für mich schweres Leid; wo hätte ich es wohl besser ausweinen können als bei Marianne? – Die andern hatten sich nach und nach verheiratet, bis auf Röschen, die infolge einer zurückgegangenen Verlobung ungenießbar geworden war, und so rückten wir beide, Marianne und ich, immer näher zu einander.

Damals begann ich meine ersten schriftstellerischen Versuche, wem anders hätte ich sie auch vorlesen sollen als ihr? Und wie nahm sie teil! Wie lobte, wie tadelte sie! Sie hatte sich ein großes, schönes Zimmer, die ehemalige Prunkstube der Großmama, so recht nach eigenem Behagen und Geschmack eingerichtet – mit kostbaren Teppichen und Vorhängen, mit Statuetten und Blattpflanzen und einer prächtigen Bibliothek. Sie las alles, wonach ihr Sinn stand, »denn siehst du,« sagte sie lächelnd, »sie haben mir meine Freiheit gelassen, nun nutze ich sie auch. Sie meinen, es ist nicht nötig, mich zu beaufsichtigen wie andre junge Mädchen – ich schütze mich von selbst, denken sie, weil ich ›so‹ bin – – Ach, sie wissen gar nicht, was mich beschützt, sie nicht und du nicht und ihr alle nicht.« Sie sah so strahlend glücklich, fast schalkhaft dabei aus.

Damals kam mir zum erstenmal der Gedanke: hat sie denn nicht ein Herz wie andre auch? Könnte nicht auch einmal die Liebe zu ihr kommen? Mit jähem Schrecken fast überfiel mich diese Frage, und ich wurde erst ruhig, als ich ihre stillen, klaren Augen sah und ihr müdes Lächeln um den Mund.

»Ja, ja,« nickte sie, »es ist so!«

Es war an einem warmen Septemberabend, als sie so sprach. Wir saßen auf dem Balkon, der über dem alten, schattigen Garten hing, welcher das Haus von drei Seiten umgab. Der Vollmond stand am Himmel, und die Türme von St. Servatius schimmerten wie Silber über den Bäumen und den Dächern der Stadt. Eine Stille lag über alledem, wie sie nur in solchen kleinen, weltfernen Städtchen herrschen kann oder auf dem platten Lande.

Marianne lehnte, mit Tüchern umhüllt, die ihre Gestalt fast ganz verbargen, in einem tiefen Lehnstuhl und starrte mit sehnsüchtigen Augen in den Himmel hinauf, ja – mit sehnsüchtigen Augen! Mir war das nie so aufgefallen, ich fand sie geradezu schön heute. Aber ich ängstigte mich um sie; ich dachte, es sei nur Sehnsucht, weitab von allem Irdischen, die Sehnsucht nach dem verklärten Leben, wo kein leibliches Gebrechen mehr stört.

Auf einmal sagte sie: »Ja, ehe ich es vergesse, erwarte mich morgen nicht zum Spazierengehen, ich kann nicht, ich bekomme Besuch.«

Ich hätte in diesen Worten gar nichts Besonderes gefunden – Marianne bekam des öfteren Besuch von ihrem Bruder oder andern Verwandten; aber der eigentümlich gepreßte Ton, mit dem sie das sagte, fiel mir auf, es lag etwas wie mühsam unterdrückte Freude, wie kaum bezwungene Leidenschaft in ihrer Stimme. Sie mochte meinen fragenden Blick aufgefangen haben.

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»Ach, er bleibt nicht lange,« fügte sie, scheinbar gleichgültig, hinzu, »er kommt nur auf der Durchreise, der Franz Brinkweiler – Franz Brinkweiler heißt mein alter Spielkamerad. Weißt du, sein Vater war Pastor auf Großmutters Besitzung, und er ist Offizier, steht da irgendwo an der Ostsee.« Ihr Gesicht hatte sich mit einer Purpurröte übergossen währenddem, und sie trank hastig die vor ihr stehende Limonade aus.

»Ist er verheiratet?« fragte ich.

Sie setzte ihr Glas hart auf die silberne Tablette zurück. »Nein! – Warum? Muß denn einer gleich verheiratet sein, wenn er mich besuchen will?« Das kam mit einer ganz spitzen, schrillen Stimme aus ihrem Munde.

Ich sah sie verständnislos an, dann ward es still zwischen uns. Die sonst so Ruhige hatte ihre Fassung verloren, sie atmete mühsam, und die Farbe kam und ging auf ihren Wangen.

»Ich habe ein wenig Kopfschmerz,« flüsterte sie endlich, und ich erhob mich zum Gehen, obgleich noch nicht die übliche Zeit unsrer Trennung herangekommen war. Sie drückte mir sonderbar fest die Hand, als wollte sie mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten; dann schloß sich die Stubenthür zwischen uns, und die alte Dienerin leuchtete mir die Treppe hinunter. Sie sah bekümmert aus, die alte Seele, und als sie mir die Hausthür öffnete, sagte sie: »Ich wollt', wir wären ein paar Tage älter, Fräulein – Kommen Sie nur übermorgen mal wieder 'ran, wenn Sie Zeit haben.«

»Wenn ich nur Ihr Fräulein nicht störe?« wandte ich zögernd ein.

»O, stören Sie sie nur, Fräulein, stören Sie sie nur, das wird gut sein,« murmelte sie, »und wenn Sie nicht von allein kommen, dann hole ich Sie – Sie werden's erleben – – «

Und die alte treue Person holte mich wirklich, das heißt – auf Befehl ihrer Herrin, die mich zu einem einfachen Mittagsessen um drei Uhr einlud, für unsre schlicht bürgerliche Sitte zur ganz ungewöhnlichen Zeit.

»Kommen Sie nur ja, Fräulein,« sagte sie ihrerseits bittend, »und bleiben Sie recht lange.«

»Ist noch jemand da?«

»Nein, Fräulein! – Kommen Sie nur recht pünktlich.« Ich traf Marianne in ihrem Zimmer und schaute ganz betroffen das Bild an, das sie und ihr Gast mir boten. Sie lehnte in einem der tiefen Polsterstühle, die sich förmlich an ihre Gestalt schmiegten, sie verschönernd und verbergend. Vor ihr, auf einem niedrigen Schemel, saß ein junger Mann, der sich bei meinem Eintritt hastig erhob und zu einer imponierenden Größe wuchs. Er hätte Flügelmann eines Garderegiments sein können, eine wahre Reckengestalt, schlank wie eine Tanne und ein bildhübsches Gesicht, ein Gesicht, aus dem der liebenswürdigste Leichtsinn sprach; dunkles dickes Haar über einem Paar strahlender, blauer Augen und unter dem Schnurrbart eine Reihe blitzender Zähne, wenn er lachte.

»Lieutenant Brinkweiler,« stellte sie vor – »meine beste Freundin! – Komm, Herz, setze dich neben mich! Er erzählte eben von einer Regatta in Kiel, nicht wahr, das interessiert dich auch? Fahren Sie fort, Franz.«

Ich sah mir jetzt erst Marianne näher an – fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. Sie trug ein seidenes Kleid vom lebhaftesten Rot, das ich nie vorher an ihr gesehen, und zwar nach neuester Mode gemacht, und ein mit Brillanten besetztes Medaillon an dicker goldener Kette. Sie war anders frisiert, ganz neumodisch, und in dem hochgetürmten Puff des braunen, seidigen Haares steckte, die Endchen nach oben, eine flotte Schmetterlingsschleife.

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»Lieutenant Brinkweiler,« stellte sie vor – »meine beste Freundin!«

Ich wurde plötzlich rot für sie; die Thränen schossen mir in die Augen, Thränen des Zorns, der Erkenntnis, wie mein Vorbild im Dulden und Entsagen sich so weit hatte verirren können. Gott weiß es, welche Pein mir dieses ausgesucht feine kleine Diner bereitete. Schon der Anblick, wie dieser bildschöne, schlanke Mensch das winzige, verwachsene Geschöpfchen an seinem Arm in das Eßzimmer führte, dann wie er ihr in aller Form den Hof machte und wie Marianne so ganz zu vergessen schien, was sie war. Ihre Augen strahlten, sie schien so glücklich, sie lachte und scherzte und neckte und ließ sich die Hand küssen von ihm. Und die alte Line bediente uns mit zusammengekniffenen Lippen und zwei abgezirkelten roten Flecken auf den Wangen, die genugsam ihre Aufregung verrieten.

Marianne schlug nach Tisch eine Ausfahrt vor, aber der junge Offizier lehnte ab: es sei so tausendmal reizender und freundlicher in diesen Räumen, und sie fügte sich mit Lächeln, als er sagte: »Was sollen wir unter fremden Menschen?« Wir nahmen den Kaffee auf dem Balkon, der blonde Apollo rauchte eine feine Cigarette nach der andern, trank mehr als einen Liqueur und sprach mit melancholischem Gesicht von der Flüchtigkeit der Stunden und von seiner Weiterreise.

Ich hielt die Zeit zum Aufbruch für mich gekommen und empfahl mich. Marianne nickte mir zu, er begleitete mich sporenklirrend bis zur Treppe, und ich stieg die Stufen hinunter. Vor meinen Augen tanzten in dem Dämmerlicht des großen Flurs ein paar rote Flecken, so rot wie Mariannes Kleid. Mir that das Herz fast körperlich weh – sie, die Bescheidene, Geduldige, Keusche, der das Gebrechen, das sie so ruhig trug, etwas Rührendes verlieh, als webte ihr ein Heiligenschein um den schlichten Scheitel – sie hatte sich in ein kokettes, gefallsüchtiges Geschöpf verwandelt! Ich konnte es nicht überwinden, tagelang nicht; ich mied ihre Straße, ihr Haus, sie selbst, denn ich mußte erst ruhiger werden. Ich wußte, ich hätte meinen Tadel nicht unterdrücken können, und wollte ihn doch so mild als möglich aussprechen.

So verstrichen acht Tage. Da riß es eines Nachts stürmisch an meines Vaters Doktorglocke, und am nächsten Morgen erfuhr ich, daß Marianne Sievening schwerkrank sei an einem Gehirnfieber. Wochenlang lag sie in größter Lebensgefahr; der Bruder hatte ihr eine Diakonissin geschickt, und mein Vater sandte regelmäßig Nachrichten an diesen über das Befinden der Kranken. Als er dann glaubte, mein Besuch werde ihr willkommen sein, trat ich an ihr Bett. Sie erkannte mich auch, starrte mich dann ängstlich an, als suchte sie nach einer Erinnerung, die mit mir im Zusammenhang stünde, und da verzerrten sich ihre Züge, sie warf sich in die Kissen zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schreien, schrecklich, gellend.

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Nun durfte ich monatelang nicht zu ihr. Die alte Dienerin und die Diakonissin reisten, als die Krankheit überwunden war, mit ihr in eine Nervenheilanstalt, und erst im Frühjahr, es mochte im März sein, kehrte sie nach halbjähriger Abwesenheit zurück – ganz gesund, wie mein Vater sagte, indem er mir ein Briefchen von ihr überreichte.

Marianne bat mich darin, sie zu besuchen. Die alte Line nickte mir freundlich zu, als ich in der blauen Dämmerung des Märzabends zum erstenmal nach langer Zeit wieder die Wohnung ihrer Herrin betrat.

»Sprechen Sie nur nicht von dem Brinkweiler,« flüsterte sie mir zu. Und dann saß ich neben Marianne in ihrem lieben, traulichen Zimmer und sah wieder in ihre klaren Augen, in denen es nur noch wie ein leiser Schatten stand; aber ihr Mund lächelte anders als sonst, ein bißchen wehmütiger vielleicht, im großen und ganzen war's aber doch die gute, stille, treue Freundin von einst. Das häßliche Zerrbild, in das sie sich damals flüchtig verwandelt hatte, wich aus meiner Erinnerung – Gott sei Dank!

Wir erzählten von der Zeit unsrer Trennung: sie sprach von ihrer Krankheit, von dem Leben in der Anstalt, wieviel Elend es gäbe in der Welt, und wie gut sie es doch eigentlich habe gegen andre – aber von unserm letzten Beisammensein kein Wort; ich berichtete von den Vorkommnissen im Städtchen. Dann kamen wir auch auf Litteratur und nahmen uns vor, viel miteinander zu lesen wie in alten Tagen. Und das hielten wir auch.

Ich habe keine mir liebere, keine treuere Freundin gehabt als Marianne. Als mich mein Geschick hinausführte aus der kleinen Stadt, gab's ein hartes Scheiden. Wir schrieben uns aber sehr fleißig, und sie nahm auch aus der Ferne rechten Anteil an allem, was mich betraf.

Eines Tages in Baden-Baden, nach langen Jahren – es mochten wohl zehn oder mehr sein – wurde ich urplötzlich und mächtig an die Vergangenheit erinnert. Ein großer schöner Mann, elegant gekleidet, der trotz der bürgerlichen Kleidung den Offizier nicht verleugnen konnte, ging an mir vorüber, eine Dame am Arm führend, schlank, elegant und schön wie er – Brinkweiler! Ein bißchen älter geworden natürlich, ein bißchen stärker, aber er war es, unzweifelhaft. Und da stand mir wieder die Scene so deutlich vor Augen: Marianne im roten Seidenkleid und der Halbgott, ihr eine Aprikose schälend.

Was war das nur gewesen? Würde ich es je erfahren?

Seine Frau war eine geborene von Büdlingen, das ersah ich aus der Fremdenliste. Er hatte übrigens den Dienst bereits quittiert, schien aber in guten Verhältnissen zu sein, denn er wohnte in einem der ersten Hotels. Welche Rolle er aber auch in Mariannes Leben gespielt haben mochte, eine Nebenrolle war es sicher nicht gewesen; denn daß ihre schwere Erkrankung mit seinem Besuch zusammenhing, das ließ ich mir nicht nehmen.


Nun habe ich es erfahren durch sie selbst und habe ihr längst alles abgebeten, dessen ich sie damals heimlich beschuldigte, die arme, kleine Marianne. Möge sie in besseren Welten für das entschädigt werden, was sie gelitten hier unten!

Ich war vor zwei Jahren gerade im Begriff, nach dem Süden zu gehen, da kam am Abend vor meiner Abreise ein Brief von Marianne, der mich zuerst – ich gestehe es offen – verstimmte; bedeutete er doch nicht mehr und nicht weniger als ein Aufschieben, wenn nicht Aufgeben meiner schönen Reise. Aber der Ton dieses Briefes war so flehend, daß ich nicht einen Augenblick zweifelhaft blieb, was ich thun sollte, und schon am andern Tage nach der alten, so lange nicht geschauten Heimat, zu Marianne, reiste, um sie zu besuchen. Sie war krank und hatte den dringenden Wunsch ausgesprochen, mich zu sehen.

Die »olle Line« war bereits gestorben. Eine Person von fünfundvierzig bis fünfzig Jahren, mit freundlichen Zügen, über denen es gleichwohl wie Trauer lag, empfing mich und führte mich in die ehemalige Wohnstube Mariannes, indem sie flüsternd berichtete, sobald Fräulein aus ihrem Schlummer erwacht sei, würde sie sie herüberführen. – Es war hier noch alles unverändert, als hätte ich das Zimmer gestern erst verlassen, nur stand jetzt ein Krankenstuhl unweit des Erkers und neben ihm ein Tischchen mit allerhand Fläschchen, einer Porzellanschale mit halb geschmolzenen Eisstückchen gefüllt und einer Vase, in der zwei Treibhausrosen die Köpfe hängen ließen. Dies alles verlieh dem Raume etwas Trauriges und drückte ihm den Stempel eines Krankenzimmers auf.

Lange mußte ich warten, ehe sie erwachte. Die Frau kam noch einmal zurück und brachte mir ein Glas Wein und ein paar kleine Kuchen. Dann blieb sie zögernd stehen, schien sprechen zu wollen und fand doch nicht das richtige Wort.

Ich kam ihr zu Hilfe: »Erzählen Sie mir doch, was fehlt Fräulein Sievening eigentlich?«

Eine Antwort erhielt ich nicht; statt dessen sagte sie hastig: »Ach Gott, Fräulein, wenn Sie ihr doch gut zureden wollten – «

» Wozu denn?«

»Daß sie sich wieder verträgt mit ihrem Bruder. – Ach Gott, es ist doch zu schrecklich!«

Ich sah die Person ganz erstaunt an – Marianne war ja die friedfertigste Seele der Welt!

»Man kann's dem Herrn Amtmann doch nicht verdenken, wenn er böse ist! Er hat vier Kinder, und heutzutage spinnen die Oekonomen keine Seide mehr, das weiß jeder Mensch.«

»Kennen Sie denn den Herrn Amtmann?« fragte ich.

»Liebe Zeit, ich bin doch vom Gute. Mein Vater ist der Gärtner gewesen bis vor ein paar Jahren, wo er starb.«

»So! Und in welcher Hinsicht soll ich Fräulein Marianne gut zureden?«

Die Frau kam näher und bog sich zu meinem Ohr herunter. »Da ist einer, der dreht ihr die Taschen um nach jedem Pfennig. Ich kenne schon immer die Briefe, sie riechen dem Postboten aus der Tasche heraus nach Moschus, und hinterher muß ich immer Geld auf die Post schaffen, viel Geld – 's ist ein Jammer. Und sie sitzt mit rotgeweinten Augen und gönnt sich selber nichts; immer nur fortschicken, fortschicken! Gott weiß, für was? Und da ist denn mal, als die ›olle Line‹ noch lebte – ich war aber auch schon hier, denn Line brauchte Hilfe – , der Herr Amtmann angekommen mit rotem Kopf, und ganz kurz ab hat er nach dem ›Guten Tag!‹ angefangen: die Wirtschaft müsse aufhören; sie, das Fräulein Marianne, wäre verrückt, und falls es nicht anders würde, lasse er sie unter Vormundschaft stellen. Sie sei nicht besser als eine Närrin, die ihr Geld aus dem Fenster in die Gosse wirft, nur noch schlimmer! Und geschrieen hat er, daß ich es in meiner Stube hören konnte, liebes Fräulein. Und seit der Zeit ist sie ordentlich zusammengebrochen; wer sie sieht, begreift's nicht, daß sie überhaupt noch leben kann. Vor ein paar Tagen hat sie ihr Testament gemacht; na, das wird umgestoßen, das hat der Herr Amtmann schon gesagt; sie hätte sich von dem Lumpen umgarnen lassen, hat er gesagt. Ist's nicht schrecklich, so was?«

Ich betrachtete die Sprecherin, die leise und bitterlich schluchzte.

»Sie dauert mich so, sie dauert mich so sehr,« stieß sie hervor, »ich kenne sie so genau, sie ist kindergut, und all ihr Unglück ist der Buckel, und wenn sie den nicht hätte, da wäre ihre Liebe kein Unding gewesen wie nun, und sie hätte ihn heiraten können. Ob sie nun glücklich mit ihm geworden wäre oder nicht – so jammervoll, wie es jetzt ist mit ihr, wär's doch nicht geworden. Und wenn der liebe Gott gerecht wäre, dann schaffte er nicht so was, oder er ließ' sie auch gleich ohne Herz auf die Welt kommen.«

Das wurde alles rasch, stoßweise gesprochen, und wie Dolchstöße traf's meine Seele.

Arme Marianne! Ja freilich, sie hatte ihn geliebt, den blonden Riesen, und er war gewissenlos genug, ihre Neigung auszubeuten. Ach, welcher Wahnsinn, diese Liebe! Wahnsinn? – Ja, wer begreift denn die Liebe? Wer heißt sie kommen, wer gehen? Und welches Herz entzieht sich ihrer Macht, selbst wenn's in einem verkrüppelten Körper pocht? – Welche Tragik! Das wäre richtiger.

In diesem Augenblick erklang der silberne Ton eines Glöckchens im Nebenzimmer. Die Frau trocknete sich hastig die Augen, strich die Schürze glatt und fuhr sich mit den Händen über den Scheitel, dann eilte sie aus dem Zimmer; und nach weiteren zehn Minuten, während welcher ich meine Selbstbeherrschung einigermaßen wiedererlangt hatte, kam Marianne über die Schwelle, mehr getragen als gehend, und ihre Augen suchten mich mit dem alten gütigen Blicke. Wenn ich nicht gewußt hätte, das ist sie, ich hätte sie nicht erkannt – noch kleiner, noch mißgestalteter, das Gesicht eingefallen, nur die alten hellen Augen noch und der glänzend braune Scheitel.

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»Endlich,« sagte sie, »nach so langer Zeit! Ach du, hast du mich noch lieb?« Und sie strich über mein Gesicht, als wollte sie sich vergewissern, daß ich es wirklich sei. Dann saß sie, mühsam atmend und eine meiner Hände haltend, im Krankenstuhl und suchte ihrer Erregung Herr zu werden.

»Ach du, ich habe eine so große Sehnsucht nach dir gehabt, du bist ja noch die einzige, die einzige! Ruh' dich nur erst aus; Marie serviert dir nachher ein Mittagsessen, dann schläfst du, und dann – weißt du, viel Zeit habe ich nicht mehr, es kann jede Stunde kommen; lange wirst du auch nicht hier bleiben wollen? – Aber einmal, einmal muß es herunter von der Seele – du bist mir nicht böse darum? Einer muß es wissen, daß ich keine Verrückte, keine Närrin bin, nur ein Mensch wie ihr andern auch!«

»Ich danke dir für dein Vertrauen, Marianne,« sagte ich, ihre armen, zitternden Hände festhaltend, »warum willst du nicht gleich sprechen, wenn es dich erleichtert? Ich habe unterwegs Mittag gegessen. Laß mir eine Tasse Thee bringen und das Feuer im Kachelofen schüren, dann kannst du erzählen, alles heraus aus deinem Herzen in das meinige hinein sprechen. Umgekehrt ist's oft genug der Fall gewesen, und ich werde es so treu bewahren, wie du meine verschiedenen Beichten bewahrt hast.«

Sie nickte. »Ja? O ich danke dir, aber – aber wirst du mich auch verstehen? Ach Gott, wenn du dächtest wie die andern! Schüttle nicht den Kopf, du ahnst ja nicht, wie albern, wie einsichtslos und vermessen ich gewesen bin; und ich weiß nicht mal, wie das kam – es war wie ein Rausch, wie ein Traum, und ich hatte doch gar kein Recht, so zu träumen!«

Ihre Stimme verklang in einem leisen Jammern.

»Du mußt mir einen Gefallen thun,« sagte sie endlich, »mußt eine Reise für mich machen. – Ja, du thust es,« fuhr sie fort, nachdem die Dienerin einen kleinen, völlig gedeckten Theetisch hereingetragen hatte, das Feuer brannte und wir nun ungestört miteinander waren, »nicht wahr, du thust es?«

»Ja, von Herzen gern, Marianne, aber erzähle erst!« Sie zögerte so lange, bis ich meine Tasse ausgetrunken hatte und nun im bequemen Lehnstuhl ihr gegenüber saß. An die Scheiben der Fenster prasselte der Februarregen, und die goldene Wetterfahne auf St. Servatii Turm drehte sich wie toll in einer Art Wirbelsturm.

»Ach, ich danke dir! Wie soll ich nur beginnen? Wirst du auch wirklich zu ihm reisen?«

»Gern, Marianne, sage nur – wohin? Zu wem? Und was ich dort soll?«

Wieder eine lange Pause. Sie sah sehr bleich aus und schauerte in ihrer warmen Hülle. »Ich weiß nicht, ob du dich noch eines Mittags erinnerst, wo wir zu dreien nebenan im Eßzimmer saßen, du, ich und Lieutenant Brinkweiler?« begann sie leise.

»Ja, gewiß, Marianne!«

»Er wohnt jetzt in einem kleinen Nest bei Stettin; es geht ihm schlecht, sehr schlecht, er hat eine kranke Frau und viele Kinder. Ich kann ihm durch die Post nicht so schreiben, wie ich es möchte, ich wage es nicht – ich glaube, man fängt meine Briefe auf. O, willst du ihm eine Bestellung machen, einen Brief übergeben? Natürlich erst, wenn ich tot bin – denn lange habe ich nicht mehr zu leben – ich weiß es, der Doktor hat mir's auch gesagt.«

Eine kranke Frau und viele Kinder? fragte ich mich im stillen, und ich hatte ihn doch in höchst angenehmer Verfassung in Baden-Baden gesehen. Ganz entsetzt sah ich zu Marianne hinüber. Armes Kind!

»Mein Bruder sagt, er sei ein Schwindler,« fuhr sie fort, »aber das ist nicht wahr, es ist nicht wahr, ich kenne ihn so genau. Wir haben zusammen gespielt in unserm Garten damals, als wir noch Kinder und ich noch kerzenschlank war; wir spielten immer Mann und Frau oder er den Räuber, der mich, die Prinzessin, raubte, und wir hatten uns fest vorgenommen, uns zu heiraten. Dann hat er mich im Uebermut einmal auf des Verwalters Schimmel gesetzt, und das dumme Tier verstand die Sache falsch, es ging wie närrisch mit mir davon; natürlich mußte ich herunterfallen, und daß mich der Huf des Tieres auf den Rücken traf, dafür konnte Franzel doch nicht, ebensowenig wie dafür, daß sich die Verkrümmung ausbildete, nach und nach, bis ich ›so‹ wurde. – Erst als Fähnrich habe ich ihn wiedergesehen – er kam bald nach dem Unglücksfall ins Corps – grad zu meiner Konfirmation kehrte er auf Urlaub heim. Ich habe es gemerkt, wie er erschrak, als er mich erblickte; aber dann war er so gut und lieb, alle Menschen waren so gut zu mir, und ich empfand es gar nicht, daß ich ›so‹ aussah. Wir sind auch wie sonst miteinander spazieren gegangen und im Kahn gefahren. Ein Jahr später kam er dann als Lieutenant, wie in der Folge jedes Jahr, und immer war er so aufmerksam, so ritterlich, und immer dachte ich – nun wird er gewiß bald sprechen. In meinem dummen, weltfremden Kopfe hatte sich der Gedanke festgesetzt, daß es bei Liebe und Ehe gar nicht so sehr auf Aeußerliches ankomme, und Papa und Mama küßten es mir auch noch so recht hinein in thörichter Zärtlichkeit, daß es gar nicht so schlimm wäre mit meinem Rücken. Dann war er wieder einmal auf Urlaub gekommen bald nach dem Tode meiner Mutter; Großmutter war noch da, auch mein Bruder, der sich eben verlobt hatte mit Anna, und ich war so trostlos; ich konnte mir ein Leben ohne Mama nicht denken – wie furchtbar viel ich verloren hatte, das wußte ich aber doch noch nicht. So saß ich immer in den Winkeln umher, in Fensternischen und hinter den Vorhängen und weinte, und da hörte ich eines Tages, wie mein Bruder zu seiner Braut sagte: ›Mache dir keine Vorwürfe, Kind, ich weiß es ja, es gibt so starke Antipathien, daß man mit dem besten Willen nicht darüber hinweg kann. Ich bin viel zu vernünftig, um von dir zu verlangen, daß du, weil du mich liebst, auch meine Schwester lieben sollst. Und später wird sich ja wohl ein Ausweg finden, daß das arme Tierchen, die Marianne, deinen Weg nicht zu oft kreuzt.‹ –

Ich weiß nicht, wie lange ich dagesessen habe in völliger Starrheit. Dann, nach Stunden, raffte ich mich auf und lief zu Mutters Grab. Ich mußte am Pfarrhause vorüber, und da hat er mich wohl gesehen; jedenfalls fand er mich wenige Minuten später über den Hügel hingeworfen, schreiend, schluchzend, und er hob mich empor. Und in meinem grenzenlosen Paroxysmus von Schmerz und Leid klammerte ich mich an ihn und schrie ihm zu, daß er mich nicht verlassen dürfe, daß er der einzige sei, den ich auf der Welt noch habe. Er sprach mich zur Ruhe, gutmütig, nett – heute weiß ich ja, daß er kein Wort von Liebe geredet hat. Aber damals hielt ich seine verlegenen Trostworte für Versicherungen ewiger Liebe und Treue – was wußte ich denn auch davon! Und mein wilder Schmerz wich einem stillen, tiefen Glück. Ich ging willig neben ihm vom Kirchhofe fort; er begleitete mich bis zum Herrenhause und drückte mir noch die Hand. ›Auf Wiedersehen, Mariannchen,‹ sagte er, ›weine nicht mehr. Es kommen bessere Zeiten, ehe du es gedacht,‹ waren seine letzten Worte. Ich verstand sie gänzlich falsch, aber ich fand Kraft, alles zu tragen in dem Glauben auf diese bessere Zeit; zunächst tröstete ich mich, daß man in der Trauerzeit sich nicht verloben könne. Der Trauer um meine Mutter folgte die um den Vater, dann holte mich Großmutter hierher, und ich wartete und hoffte weiter in der völligen Sicherheit meines Glückes, unentwegt, nur selten entmutigt. Wenn ihr von euren Heimlichkeiten schwatztet, dann dachte ich immer: ach, ihr solltet nur wissen, solltet nur wissen! und in all der Zeit schrieben wir uns. Er hatte einmal geklagt, daß er so knappen Zuschuß bekäme; seitdem wanderte mein ganzes Taschengeld zu ihm, anonym natürlich. Er hat's auch nie markiert, die ›olle Line‹ mußte die Adresse schreiben.

Als Großmutter starb, ward ich Herrin eines großen Vermögens. Mein Bruder kam mit seiner Frau, und die Frage tauchte auf, was mit mir nun werden solle. Ich wollte hier bleiben; man gab es zu, und ich hörte, wie meine Schwägerin sagte: ›Bei Marianne ist das ja möglich, sie kann doch nicht unter die jungen Mädchen gerechnet werden mit ihrem Gebrechen.‹ – Ich lachte sie heimlich aus; ich wollte es nicht einsehen, ich glaubte nicht daran, daß ich ausgeschlossen sein sollte von Glück und Liebe.

Ach, und endlich, endlich kam ein Brief, in dem er seinen Besuch ankündigte. Du – wie mir damals zu Mute war! – Verachte mich nur nicht, ich habe ja deinen verwunderten Blick bemerkt, als du mich sahst in dem roten Kleid. Ich wollte so schön als möglich sein, ich vergaß, daß ich ›so‹ bin; ich war wie im Fieber und meinte, ich hätte ihm so viel zu schenken mit meiner großen, großen Liebe!

Er kam. Er war so gut, so rücksichtsvoll, und ich sah ihm an, daß er eine Last auf der Seele trug, daß er sprechen wollte und den Mut nicht fand. Es entstanden am zweiten Tage seines Hierseins so lange, lange Pausen, und da schickte ich zu dir, und als du dann fortgingst und wir beide allein blieben in der Dämmerung des sinkenden Abends auf dem Balkon und er eine Cigarette um die andre anzündete und verkohlen ließ, und stumm und stummer wurde, da – da habe ich ihn gefragt, obgleich die Worte mir kaum von den Lippen wollten: ›Was willst du denn, Franzel? Kann ich irgend etwas für dich thun?‹«

Sie atmete mühsam und verstummte. Draußen plätscherte noch immer der Regen, aber der Sturm hatte nachgelassen, und in den Ecken des Zimmers stand schwarz die Dunkelheit; nur ihr Gesicht leuchtete noch seltsam bleich daraus hervor.

»Da,« stieß sie leise, fast keuchend hervor, »da lag er mir auf einmal zu Füßen, und da« – ihre Hand krallte sich plötzlich so fest in meinen Arm, daß ich mit Mühe einen Schmerzenslaut unterdrückte – »da sprach er von seiner Liebe, seiner heißen, großen Liebe zu – einer andern

»Marianne!« rief ich, denn sie hatte das letzte fast schreiend gesprochen und mit einem so leidenschaftlichen Schmerz, daß ich einsah, diese Wunde hatte sich nicht geschlossen, würde sich nie schließen, solange sie lebte.

»Sie wäre arm, ganz arm, sagte er, aber so schön! Ach du, ich muß dir ihr Bild zeigen,« fuhr sie fort. »Sie hätte die Kaution nicht, und – Nun, es war seine erste Bitte, und ich brauchte ja nicht mein vieles Geld, für was auch? Ich war ja fertig mit dem Leben. – Ich sah ihn nie wieder, nachdem er damals abgereist war, aber er schreibt mir – seine Heilige nennt er mich, seinen guten Engel. Ich besitze auch die Bilder seiner Kinder, schöne Kinder – die Eltern sind ja schön. Ich habe damals in meiner Leidenschaft nicht so weit hinaus gedacht – er hatte ja recht! Wer so ist wie ich, kann nicht Mutter sein!«

Ich drückte ihr nur stumm die Hand.

»Ich bin ja nun auch zufrieden, daß ich für ihn sorgen kann, und habe mich so hineingefunden in das Leben, aber die Menschen gönnen mir mein bißchen erbärmliches Glück nicht. Sie sagen, er betrüge mich, er lebe in Saus und Braus, er sei ein Erbschleicher! – O, ich bitte dich, reise hin, überzeuge dich, daß er mir die Wahrheit schreibt, gib mir das Vertrauen zu dem einzigen Menschen zurück, dem mein Herz gehört, gib mir meinen Frieden wieder, ehe ich sterbe! In diesem Zweifel kann ich nicht fort aus der Welt!«

Und da saß ich nun, und vor mir stand das Bild des eleganten Menschen, der schönen eleganten Frau, denen beiden die Freude am Leben, die Genußsucht und der Leichtsinn auf den Gesichtern lagen, und ich soll ihr seine Rechtlichkeit, seine Armut bestätigen, sein knappes Leben in dem kleinen pommerschen Neste mit vier Kindern und einer kranken Frau! »Ja, mein Herz,« beruhigte ich sie, »ich reise hin und bin überzeugt, er hat dich nicht betrogen. Morgen wollen wir weiter darüber reden – verlaß dich ganz auf mich!«

Da ward sie ruhiger. »Ich danke dir! Ja, ich glaube ihm, ich glaube an ihn.«


Ich sollte nicht in die Verlegenheit kommen, diese schwere Reise zu unternehmen. In der Nacht weckte mich Marie; sie hatte bereits zum Arzt geschickt.

Die Kranke saß aufrecht in ihren Kissen und streckte mir die Hand entgegen.

»Ich hatte so schön geträumt,« sagte sie, »den alten Traum, den ich hundertmal in meiner Jugend geträumt habe und jetzt schon so lange nicht mehr, so sehr ich mich auch zuweilen danach sehnte. Ich war so groß und schlank und wie andre auch, und er stand neben mir und hielt mich an der Hand. – Wenn mich das Pferd nicht so unglücklich getreten hätte damals, dann wäre ich wie andre geworden, und dann – ach, der schöne Traum!«

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Und dann verwirrten sich ihre Reden. Sie sprach von dem Garten ihres Vaterhauses, von dem kleinen Dorfkirchhofe und von ihrem rotseidenen Kleid – »es war so schön, ich habe es nie wieder angehabt! Und grüße ihn, grüße ihn von mir,« bat sie, »ich war so dumm, ich vergaß ganz, daß ich ›so‹ war.«

Am folgenden Tage trat ihr Bruder an das Totenbett. Er hatte feuchte Augen, als er sagte, es sei ihr doch am wohlsten so, und am besten sei es auch, sie wäre schließlich wirklich noch als Bettlerin gestorben.

Ich stand mit an ihrem Grabe. Der Pastor sprach über den Text: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Ach, sie wußten ja alle nicht, wieviel Leid sie getragen hatte!

Ihr Bruder focht in der That das Testament an, in welchem sie den Hauptmann a. D. Brinkweiler zum alleinigen Erben ihres Nachlasses eingesetzt hatte, und mit Erfolg. Man wußte ja, ein Gewissenloser hatte sie hintergangen. Aber, Gott sei Dank, sie erfuhr es nicht mehr, daß es wirklich so war.

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Der Pastor sprach über den Text: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Die Familie schickte mir die kleine Eichentruhe, in der Marianne ihren Schmuck verwahrt, und einen schönen Brillantring, den sie immer getragen hatte. Das alte geschnitzte Kästchen steht als Zierstück auf einem Möbel meines Zimmers. Neulich nahm ich es einmal zur Hand und schloß es auf; dabei entdeckte ich ein kleines Geheimfach und in diesem die Photographie eines etwa vierzehnjährigen Kadetten, die sorglich in einen Brief eingeschlagen war.

Von recht unbeholfener Jungenhand geschrieben stand da in verblaßter Tinte:

»Liebe Marianne!

Ich denke immerzu daran, wie Du vom Pferde gefallen bist, und daß nun Dein Rücken krumm wird, und ich bin doch schuld daran.

Wenn Du erst meine Frau bist, dann will ich ein ganz zahmes Pferd für Dich kaufen und immer neben Dir reiten, damit Du nicht fällst. Ich danke Dir für den Brief und verbleibe inzwischen

Dein treuer Franzel.«

Ich habe den Brief in die Truhe zurückgelegt. Wie mag es dem gehen, der ihn schrieb?

Sie ruht, und die Leute sagen, ihr sei wohl. Sie haben recht!

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