Wilhelmine Heimburg
Aus dem Leben meiner alten Freundin
Wilhelmine Heimburg

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Der Rest der Nacht verging wieder schlaflos, ermattet erhob ich mich am Morgen. Umsonst hatte ich unaufhörlich darüber nachgesonnen, wen ich zu Eberhardt schicken könne – ich hatte niemand gefunden. Kathrin schlummerte noch, als ich mir ein Tuch umband und, den Brief in der Tasche, die Richtung nach Wiesenau einschlug. Der Weg glich mehr einem kleinen Flusse, als einem Pfade für Menschen. Der Regen sprühte noch ebenso wie gestern, und ich versank manchmal bis über die Knöchel in dem aufgeweichten Boden. Ein scharfer Wind wehte mir ins Gesicht und machte mein betäubendes Kopfweh noch unerträglicher.

Da kam ein Wagen hinter mir her, ein Bauernwagen mit einem Leinwanddache. Ich versuchte rascher zu gehen, doch er war bald neben mir, die Pferde traten rücksichtslos in die Pfützen, so daß mich das schmutzige Wasser von oben bis unten bespritzte. Ich blieb endlich stehen, um das Gefährt vorbeizulassen, da rief eine mir wohlbekannte Stimme: »Fräulein Gretchen! Seh' ich denn recht? Was tun Sie hier auf freier Landstraße und in diesem Wetter?« Pastor Renner bog sich aus dem Wagen und sah mich fragend und verwundert an. »Ich will nach Wlesenau«, sagte ich, mechanisch seine Frage beantwortend, und wollte weitergehn.

»Aber Sie können ja unmöglich in diesem Schmutz vorwärtskommen, der Weg wird dort oben am Wasser noch grundloser. – Darf ich Ihnen einen Platz im Wagen anbieten?« fragte er schüchtern. »Ich fahre durch Wiesenau und will nach G.«

»Nach G.?« rief ich.

»Ja, es ist heute Synode dort.«

Eine Flut von Gedanken fuhr mir durch den Sinn, dann trat ich entschlossen etwas näher zum Wagen und fragte, meine Augen voll und groß auf das feingeschnittene Gesicht vor mir heftend: »Wollen Sie mir einen Gefallen tun, mir einen Dienst erweisen, von dem mein Lebensglück abhängt?«

»Sie sprechen immer so feierlich«, entgegnete der junge Mann etwas scheu und verlegen. »Erst neulich gab ich Ihnen auf Ihren Wunsch ein ähnliches Versprechen –, wenn ich Ihnen mit irgend etwas dienen kann, gewiß, von Herzen gern.«

»Geben Sie diesen Brief in der Wohnung des Leutnants v. Eberhardt ab«, bat ich und hielt ihm mit zitternder Hand das Schreiben entgegen. Eine heiße Glut stieg mir in die Wangen, als die Augen des jungen Mannes forschend und erstaunt zugleich auf mir ruhten. Er nahm den Brief und las halblaut: »Dem Herrn Leutnant W. v. Eberharde, ...tes Regiment. G., Tempelstraße Nr. 7.«

»An Leutnant v. Eberhardt, und von Ihnen?« fragte er und sah plötzlich leichenblaß aus.

»Wollen Sie den Brief abgeben?« rief ich aufgeregt und hastig.

»Ich soll das tun? Ich? Warum gerade ich?« kam es tonlos von seinen Lippen.

»Weil ich niemand habe, dem ich vertrauen kann. O seien Sie barmherzig, tun Sie es mir zuliebe!« bat ich.

»Ihnen zuliebe!« wiederholte er leise. »Aber warum nur gerade dieses?« Er verstummte und sah einen Augenblick an mir vorüber starr ins Leere. Dann richteten sich wieder die ernsten Augen auf mich, die ich im Wind und Regen und vor Kälte und Aufregung zitternd am Wagen stand und ihn bittend ansah. Mein bleiches Gesicht ließ ihn schnell entscheiden; er reichte mir die Hand aus dem Wagen und sagte: »Gehen Sie rasch nach Hause, ich werde tun, was Sie fordern, der Brief soll in seine Hände kommen. Ängstigen Sie sich nicht, ich ehre Ihr Vertrauen und ich weiß, Sie tun nichts, was Ihrer nicht würdig wäre. Gehen Sie rasch, Ihre Kleider sind ja schon ganz feucht. Gehen Sie ohne Sorge, Margarete.«

Er nahm den Hut ab, und ich trat vom Wagen zurück. Doch ehe er noch dem Kutscher zurufen konnte, weiterzufahren, war ich schon wieder am Wagen und bat mit Todesangst: »Geben Sie mir den Brief zurück! Ich trage ihn selbst nach Wiesenau.« Mit einem Male war es mir in den Sinn gekommen, welch einen Boten ich gewählt! Die erste Freude, überhaupt einen solchen zu finden, hatte es mich ganz übersehen lassen, daß keine unpassendere Persönlichkeit den Brief in Eberhardts Hände legen konnte. – Wie, wenn er, wirklich eifersüchtig, mit dem jungen Prediger in Wortwechsel kam? Wer konnte wissen, in welcher Stimmung er sich auch heute wieder befand? Welchen Beleidigungen setzte ich den Boten aus durch mein Begehren? Was konnten für Unannehmlichkeiten, ja, was für ein Unglück entstehen, wenn diese beiden sich gegenüberstanden?

»Geben Sie«, bat ich noch einmal, während diese Vorstellungen durch meine Seele flogen, »es geht nicht, daß Sie – ich will –«

»Warum?« fragte seine tiefe Stimme.

»Sie dürfen ihm den Brief nicht geben. Fragen Sie nicht, er darf Sie nicht sehen –«

»Er soll mich auch nicht sehen, Margarete«, erwiderte Pastor Renner. »Seien Sie ohne Sorge, der Brief gelangt in seine Hände, ohne daß ich vor seine Augen komme. Gehen Sie jetzt nach Hause, ziehen Sie trockene Kleider an. Heute abend bringe ich Ihnen den Bescheid, daß dieser Brief richtig abgegeben ist, und dieser Bescheid wird auch das letzte Wort sein, das je über diese Angelegenheit aus meinem Munde kommt. Und nun, Margarete, danken Sie nicht, sondern nehmen Sie Dank für das Vertrauen, welches Sie mir schenken.«

Ich stand noch, als schon der Wagen sich ein ganzes Stückchen entfernt hatte, mit über dem Herzen gefalteten Händen da. Der Wind riß mir das leichte Tuch vom Kopfe, und der feine Regen sprühte mir ins Gesicht und kühlte meine heißen Augen. Ein angstvolles Gebet war auf meinen Lippen, daß Gott alles zum Guten lenken, daß mein Brief ihn überzeugen möge, wie ich nur ihn liebe und immer geliebt habe.

Als ich den langsam fahrenden Wagen nicht mehr sah, kehrte ich fröstelnd und durchnäßt nach Hause zurück. In unruhiger, fieberhafter Stimmung durchlebte ich den Tag und sehnte den Augenblick herbei, da Pastor Renner wieder aus der Stadt zurückkehren würde. – Endlich hörte ich das Rasseln des Wagens, und bald darauf trat der junge Mann in das Zimmer und sagte mir, daß alles besorgt sei. Der Bursche habe den Brief in Empfang genommen und gleich abgegeben.

»Möchten Sie nur ruhiger werden, Margarete«, fügte er hinzu und sah traurig in mein verstörtes Gesicht. »Ängstigen Sie sich nicht mehr, Gott lenkt alles so, wie es zu unserem Besten ist, wenn wir es auch manchmal nicht begreifen. – Sie scheinen viel Kummer zu haben«, fuhr er fort, als er sah, daß ich mir ein paar Tränen aus den Augen wischte. »Sie wollen ihn standhaft allein tragen – wenn es Ihnen aber doch zuviel werden sollte, Margarete, drüben in dem Pfarrhause finden Sie allezeit ein paar Herzen, die gern helfen werden mit Rat und Tat.«

Er ging, nachdem er mir nochmals die Hand gereicht hatte. Ich dankte ihm nicht einmal, und doch habe ich von dieser Stunde an keinen treueren Freund auf dieser Welt besessen.

Etwas Ruhe war über mich gekommen, ich faßte plötzlich wieder Mut. Er mußte ja überzeugt sein, wenn er las, was ich ihm geschrieben, es mußte ja noch alles gut werden. Und da drang auch seit langer, grauer Zeit der erste Sonnenstrahl in die Stube und fiel voll und golden auf das Lager der schlummernden Kathrin, und als ich zum Himmel hinaufsah, leuchtete ein Stück des reinsten Blaus durch die weißlichen Wolken. An den Bäumen und Sträuchern zeigte sich ein heller, grüner Schimmer, und vor meinem Fenster stand der kleine pausbackige Müller-Gottlieb und hielt mir jubelnd einen Strauß Schneeglöckchen entgegen, soviel wie seine Händchen kaum fassen konnten. Ich nahm sie in Empfang, die reizenden, kleinen Frühlingsboten mit den goldenen Spitzen an ihren weißen Blütenglöckchen, wie eine glückliche Vorbedeutung erschienen sie mir, sie verkündeten der Natur das Erwachen aus ihren Wintersorgen. Oh, möchten sie auch meinem Herzen einen Lenz bedeuten!

Der Kleine zog glücklich ab mit ein paar Äpfeln. Ich wand Blume an Blume zu einem Kranz und trug ihn auf das Grab meiner Mutter. Lange saß ich dort auf dem kleinen Hügel, meinen Arm um das einfache Marmorkreuz geschlungen. Ein stummes, wortloses Gebet schickte ich empor für meine Liebe, und voll heimlicher Hoffnungen schritt ich wieder nach Hause.

Bei all meinem Tun dachte ich an die Antwort, die ich bekommen müßte. Wenn ich mit Kathrin sprach, so rechnete ich dabei aus, wann Wohl ein Brief hier eintreffen könnte, wenn ich nähte, murmelte ich vor mich hin: »Nur noch zwölf Stunden, dann kann ich schon eine Antwort haben, oder er kommt selbst, das ist möglich. Oh, wie wollte ich ihn herzlich empfangen, kein Wort des Vorwurfes sollte über meine Lippen kommen! Die Näherei flog wieder in den Korb, und ich ging unruhig im ganzen Hause umher. Ich besah mir das Zimmer meines Vaters, in acht Tagen sollte er ja eintreffen. Wie endlos weit lag die Woche noch hinaus, es war ja noch lange nicht morgen. Die Blumenstöcke hatten welke Blätter, die abgepflückt werden mußten, mein ganzes Stübchen kam mir unordentlich vor, hier und da schob und rückte ich etwas zurecht – er könnte ja kommen! Ich ging in den Garten und suchte Schneeglöckchen, die wurden zierlich in ein Glas gestellt. Über Kathrins Bett wurde eine weiße Decke gebreitet.

»Sag, Kind, was hast du nur vor? Kommt Besuch? Ich möchte nur wissen, warum du jetzt so eigentümlich bist, seitdem du das letztemal vom Schlosse kamst und hingefallen warst. Gestern sahst du so bleich aus wie das Tuch nm deine Stirn, und heute glühen dir die Wangen. Dabei redest du keine Silbe, und ängstliche Seufzer sind das einzige, was man von dir zu hören bekommt. Sag doch, Herzenskind, was ist's nur?«

»Nichts, Kathrin«, beruhigte ich sie, auf ihrem Bette sitzend und die welken Hände fassend. »Draußen wird es Frühling, fühlst du nicht, wie die Sonne schon wärmt? Bald können wir dich in deinem Bett ans offene Fenster tragen, das ist gut für die kranke Brust.« Die Alte schüttelte den Kopf: »Was das für eine Antwort ist, und was du für tiefe blaue Ringel um die Augen hast!«

Die Nacht ging hin und der Morgen brach an, alle Augenblicke schaute ich aus dem Fenster. Einmal wollte es mich dünken, als ob ich Friedel um die Ecke der Kirche biegen sah – ein heißer Schrecken durchfuhr mich, aber er war es nicht. Der Nachmittag verging, der Tag neigte sich seinem Ende, meine heißen, müden Augen konnten nichts mehr unterscheiden auf der Dorfstraße, und ich saß am Fenster und bemühte mich zaghaft, die immer mehr schwindende Hoffnung festzuhalten. Draußen fang Marie bei ihrer Arbeit mit hoher Stimme. Deutlich klang jedes Wort zu mir herein:

Da drüben überm Bergel
Wo der Kirchturm herschaut.
Da wird mir vom Pfarrer
Mein Schatzerl angetraut! –

Zwei schneeweiße Tauberl
Fliegen über mein Haus,
Und der Schatz, der mir bestimmt ist.
Der bleibt mir nit aus.

Kathrin lag still in ihrem Bette und horchte dem alten Liede zu, das sie in ihrer Jugend gewiß oft gesungen hatte. Da klang ein rascher Schritt unter den Fenstern. Ich erkannte im Fluge eine Militärmütze. Schon kam er die Stufen vor der Haustür herauf, die Sporen klirrten auf dem steingepflasterten Flur – mit beiden Händen hielt ich mich an dem Tische in der Mitte des Zimmers – die Tür öffnete sich, und mit einer Stimme, aus der das Pochen meines armen, gequälten Herzens herauszuhören sein mußte, rief ich: »Wilhelm, Wilhelm!«

»Fräulein Gretchen!« tönte da eine andere Stimme. Ich sah, es war nicht seine hohe Gestalt, es war Bergen, der dort an der Tür stand. Die ausgestreckten Arme sanken nieder, ich starrte ihn wie bewußtlos an.

Da faßte Bergen meine Hände: »Sie müssen sich setzen, ehe ich Ihnen erklären kann, weshalb Sie mich hier sehen. Ich habe Sie erschreckt, nicht wahr? Sie sollten ein Glas Wasser trinken.« Er nahm die Karaffe und schenkte ein. Ich trank, kaum wissend, was ich tat. Eine schreckliche Ahnung überkam mich. Die Hände faltend, blickte ich auf den jungen Mann vor mir, als müßte ich ihn um Erbarmen bitten.

»Es ist mir sehr schmerzlich, Fräulein Gleichen«, klang da seine weiche Stimme, »der Bote einer Nachricht zu sein, die Ihnen Schmerz und Kummer verursachen muß. Ich weiß, Sie haben ein stolzes Herz und ein mutiges Herz, und deshalb möchte ich Sie bitten, nehmen Sie all Ihren Stolz und Mut zusammen –«

»Allmächtiger Gott!« stammelte ich, »er liebt mich nicht mehr!«

»Vergessen Sie ihn, mein armes Kind, suchen Sie ihn zu vergessen.«

»Er liebt mich nicht mehr!« schrie ich auf. »Nicht wahr, er liebt mich nicht mehr?«

Sein Stummbleiben gab mir die Antwort. »Ach, meine Ahnung!« flüsterte ich und schlug die Hände vor das Gesicht. Dann bat ich: »Nun sagen Sie mir alles, es wird nicht mehr so schmerzen, da ich das Furchtbare weiß.«

»Was soll ich noch hinzufügen?« sagte er leise. »Ich kann nur beteuern, daß mir das Herz blutet, Sie so vor mir zu sehen, daß dies der schwerste Gang meines Lebens war. Ich habe jene ganze unglückliche Leidenschaft entstehen und blühen und wieder vergehen sehen, und ich bin empört über die Ursache dieses Bruches. – Niemand ahnt es, Fräulein Gretchen, daß ich hier bin, niemand weiß etwas von der traurigen Entscheidung. Ich habe ihn heute früh abreisen sehen, bin gestern bei ihm gewesen und war zugegen, als Ihr Brief kam. Ich weiß, Sie haben in namenloser Pein die Stunden gezählt, bis die Antwort kommen konnte, und ich bringe sie Ihnen, indem ich noch einmal bitte, nehmen Sie Ihr Herz zusammen, seien Sie stark und suchen Sie ihn zu vergessen! Und nun, was auch noch kommen möge, bewahren Sie sich ein vertrauensvolles Gemüt, verbannen Sie jede Bitterkeit aus Ihrer Seele, betrachten Sie nicht Ihr junges Leben als ein geknicktes, der liebe Gott gibt Balsam für jede Wunde. Und nun leben Sie wohl, Sie haben noch einen schweren Kampf zu kämpfen, gehen Sie siegreich aus ihm hervor. – Geben Sie mir die Hand, Sie haben einen treuen Freund an mir gefunden für das ganze Leben, an mir und an meiner Frau. Leben Sie wohl!«

Er ging – regungslos lag ich in meinem Sessel. Nun war wirklich die Sonne mir gesunken und alles aus. Er liebte mich nicht mehr. Oh, diese schreckliche Gewißheit! Wie mir zumute war? Es brannte wie Feuer in meiner Brust, und draußen erhob Marie wieder ihre gellende Stimme:

Da drunten im Tale,
Geht's Bächlein so trüb',
Und ich kann dir nicht hehle,
Ich hab' dich so lieb.

Und wann i dir zehnmal
Sag', ich hab' dich so lieb.
Und du gibst mir kein Antwort,
So wird mir ganz trüb.

Ich meinte, ich müßte ersticken in der Stube. Die einfache Weise fachte einen wilden Schmerz in mir an. Ich wollte ihr zurufen: »Hör auf zu singen!« – da tönte es schon wieder:

Und daß du mich liebtest.
Das dank i dir schön.
Und i wünsch', daß dir alle
Zeit besser mag's gehn.

Ich war aufgesprungen, hatte die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen und sank mit dem Aufschrei: »Mutter, ach, Mutter!« an Kathrins Bette nieder. Wie ein Krampf schüttelte es mich, ich schrie und weinte, bis mich die Kräfte verließen. Kathrins alte Arme hatten mich umschlungen, und in namenloser Angst beugte sie sich über mich. Sie wußte, was geschehen, und ließ den lang verhaltenen Schmerz austoben. Wie besinnungslos lag ich nachher auf meinem Bett, nur ein leises Wimmern noch rang sich dann und wann aus meiner Brust, bis mich die Erschöpfung in eine Art Schlummer sinken ließ. Als ich erwachte, war es heller Morgen, und Hanna saß an meinem Bett und hatte einen Strauß Veilchen in meine Hände gelegt.

»Mein Mann läßt dich herzlich grüßen«, sprach sie, mir einen Kuß gebend. – Da stand mit einem Schlage der gestrige Abend vor meiner Seele, und ein neuer Tränenstrom brach mir aus den Augen; wo kamen sie noch alle her?

»Mein Gretel, mein gutes Gretel!« tröstete sie. »Du sollst nicht weinen, du sollst ruhig werden. Steh auf, wir wollen einmal an die frische Luft hinaus.« Sie sprach kein Wort über Eberhardt, sie sah mich nur traurig an. Ich konnte es doch noch nicht fassen, daß er mich verstoßen, daß ich nie wieder seine Stimme hören, daß unser Weg getrennt sein sollte, getrennt für immer! Hastig wehrte ich ab, als mich Hanna in den Park leiten wollte, wo jedes Plätzchen in mir eine Erinnerung weckte. »Laß mich allein«, bat ich, »ich kann noch nicht so fest sein. Laß mich allein!«

»Ich begleite dich nach Hause, mein Herz«, sagte sie. Und dann saß ich wieder allein, und die Uhr tickte wie früher, die Kinder spielten ihre alten Spiele vor unserer Haustür, und Kathrins Augen sahen mich an, als wollten sie sagen: du armes Kind! Und abends, wenn ich zu Bett ging, dann kamen die Gedanken, kam die Erinnerung, und das Herz fragte immer wieder von neuem: Was tatest du nur, daß du so elend werden mußtest?

Ich wußte ja damals noch gar nicht, weshalb er sich von mir gewandt hatte – ich glaubte nur, ich sei verleumdet. Erst viel später erfuhr ich den wahren Grund, und das war gut, denn es hätte mich, glaube ich, wahnsinnig gemacht. Bergen war damals gekommen, um mir alles zu sagen, aber mein namenloser Schmerz ließ ihn das Demütigende nicht aussprechen. Er sagte mir nur, daß ich seine Liebe verloren, und das war genug, meinen Lebensmut, meinen Frohsinn für immer zu brechen.


Tage waren vergangen und Wochen. Mein Vater war zurückgekehrt. Er hatte sich wohl kaum gewundert über mein verändertes Aussehen, mein stilles Wesen. Aber gefreut hatte er sich, mich nun drunten im Hause zu haben, und er erzählte im Dämmern viel und schön von seinen Reisen. Die Frau Renner kam gar oft herüber mit ihrem Strickstrumpf, und auch Kathrin in ihrem Lehnstuhl horchte aufmerksam, wenn er von Rom sprach mit seiner riesigen Peterskirche, vom Vatikan mit den schönen Bildern, oder wenn er von Neapel schwärmte, jenem Stückchen Paradies, das so wunderschön sein soll mit dem blauen Meer und dem feuerspeienden Berge, dem wunderbar, klaren, tiefblauen Himmel, wie man ihn hier gar nicht kennt. Zuweilen trat auch der junge Pastor in das Zimmer – immer ließ er vorher durch Marie erst anfragen, ob es erlaubt sei. Dann tauschten die beiden Männer ihre Ansichten über dieses und jenes aus in einer für uns ansprechenden Weise. Mein Vater hatte keine Ahnung von dem, was ich in seiner Abwesenheit gelitten und erlebt. Kathrin und ich hatten ohne jede Verabredung Stillschweigen beobachtet, warum sollte auch der alte Mann einen Kummer mittragen, den er doch nicht lindern konnte?

Auf dem Schlosse war ich mehrere Male gewesen, nachdem die erste bange Zeit verflossen. Ich überzeugte mich bald, daß der Baron und Frau v. Bendeleben keine Ahnung von jener traurigen Episode hatten. Hanna und Bergen hielten mein Geheimnis in Ehren und entschädigten mich durch doppelte Liebe. Die kleine blonde Frau konnte ganze Nachmittage bei mir unten im Dorfe sitzen, wenn sie zum Besuch auf dem Schlosse war. Ihr Mann holte sie dann wohl ab, und bei einem solchen Besuch hatten sie mich mit aller Überredung den ersten Abend wieder in das Schloß gelockt. Von Eberhardt hatte ich nichts wieder gehört. Er befände sich auf einem Kommando in Potsdam, erfuhr ich zufällig. Ruth war gelangweilter denn je. »Sie schreibt den ganzen Tag Briefe«, hatte einmal die Liesel der Kathrin erzählt. Gegen mich war sie eigentümlich, halb herausfordernd, halb beschämt. Zuweilen, wenn ich sie groß und voll ansah, konnte sie ihren Blick senken, und ein Hauch von Röte flog über das schöne Gesicht.

So war der Sommer gekommen, der schöne warme Sommer. Für mich blühten freilich keine Blumen mehr, aber um Kathrins willen freute ich mich. Wir konnten doch ihren Stuhl unter die Linde tragen, sie sonnte sich und atmete die erquickende Luft ein. Sie war ein großer, guter Charakter, das alte, schlichte Mädchen. Taktvoller und feinfühlender konnte niemand auf Erden sein. Mit keiner Andeutung hatte sie meine schmerzende Wunde berührt. Nur immer bemüht, mich zu trösten, war sie voll tausend kleiner Zärtlichkeiten gegen mich gewesen. Mir bangte heimlich vor ihren Vorwürfen, ich hatte schon gemeint zu hören: »Ich wußte es ja vorher – du wolltest es ja nicht besser – ich hab's ja gleich gesagt!« Nichts von alledem. Gewarnt hatte sie mich, und nun ich unglücklich geworden, da nahm sie mich voll Liebe an ihr Herz und verschloß den Jammer, den sie darüber empfand, tief in ihrer Brust.

Der Sommer verging, der Herbstwind fuhr über die abgemähten Felder, und jeder Tag brachte mir neue Gedanken an die selige Zeit im vorigen Jahre. Der zweite September kam mit demselben schönen Mondschein. Ich lehnte unter der Linde und sah nach dem Schlosse und dem Park hinüber. Diesmal war der Schein nicht so golden und klar wie damals, ein leichter Nebel hing wie ein feiner, duftiger Schleier über der Landschaft, oder waren es die Tränen, die mir im Auge standen? Das alte Lied fiel mir ein, das ich heute vor einem Jahre so jubelnd gesungen, als ich, meine Hand in der seinen, neben ihm auf dem Waldwege dahin ritt. »Oh, nicht den letzten Vers!« hatte er gebeten.

Mond ist gegangen.
Erloschen die Stern', So blaß meine Wangen,
Und er, – ach so fern!

Wo mochte er sein? Ach, es verging kein Tag, keine Stunde, in der ich nicht an ihn dachte – wie hätte ich ihn jemals vergessen können! Wenn ich ihn nur einmal sehen könnte, ob er glücklich ist, dann wollt' ich ja gern meinen Schmerz weiter tragen durchs Leben. Ach, alles Glück der Welt für ihn!

Wieder vergingen die Wochen so langsam, so eintönig. Die Adventszeit kam heran, wieder lag Schnee auf Bäumen und Dächern. Ich konnte die alten, grauen Mauern des Schlosses ganz deutlich durch die entlaubten Bäume schimmern sehen, wenn ich oben in meines Vaters Stube am Fenster stand. Wieder war die schönste Schlittenbahn, und die Kinder hatten unter unserer Linde einen großen Schneemann aufgebaut.

Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Wie bangte mir davor – wie sollte ich ihn nur verleben, diesen Abend? Ohne Freude besorgte ich die kleinen Geschenke für meinen Vater und Kathrin, manche Träne fiel auf die Kleidchen, die mir Frau v. Bendeleben geschickt hatte, damit ich sie für die Dorfkinder nähe. – Und dann kam der Baron und bat mich, seiner Frau bei der Christbescherung im Schlosse zu helfen. »Es versteht sich von selbst, Gretel«, sagte er, »nur unter der Bedingung, daß du es gern tust. Du kommst jetzt so selten, daß man schier Angst hat, dich darum zu bitten, so traurig und blaß siehst du aus, wenn du bei uns bist. Ich hatte mir das ganz anders gedacht, meinte, du würdest wenigstens jeden Tag einmal hinaufgesprungen kommen. Freilich, die alte Kathrin, die nun so gelähmt ist – da mußt du die Wirtschaft führen. Sag, Kind, singst du auch noch?«

»Nein«, sagte ich leise, »ich glaube, mein Vater macht sich nichts daraus, und –« ich wollte hinzufügen: »mir ist das Singen vergangen« – schwieg aber.

Am Tage vor dem Heiligen Abend stand ich wieder in dem hohen Saal und legte die Christgeschenke unter den Baum. Frau v. Bendeleben sprach freundlich und ruhig mit mir.

»Du kommst doch morgen abend auch einmal herauf, Gretchen?« bat sie. »Es wird ein stilles Weihnachtsfest in diesem Jahre. Bergens kommen nicht, Hannas wegen, sie wagt sich nicht mehr vom Hause fort. Wir werden wohl ganz allein sein. Komm nur ja auf ein Stündchen, mein Mann würde dich zu sehr vermissen. – Das ist für die große Annerl vom Waldhüter, die Ostern konfirmiert wird«, fuhr sie fort und legte einen Zettel auf das schwarze Kleid. »Das ist aus einem Trauerkleide von Ruth gemacht« – sie strich seufzend mit der Hand über das weiche, schwarze, wollene Gewebe –, »nun wird es schon ein Jahr, seit sie Witwe ist, vorgestern war der Todestag und am dritten Feiertage kam sie hier an. Mein Gott, ich sehe sie noch immer verstört und blaß in den Saal treten. Was muß man doch alles erleben!«

Wir waren bald fertig mit dem Aufbauen der Sachen. »Du könntest einmal zur Gräfin gehen, Gretchen, und sie fragen, ob sie der Bescherung beiwohnen will«, bat sie. »Ich will indessen die Lichter am Baume anzünden. Hör' nur, wie die kleine Gesellschaft nebenan lärmt. Sie sind schon ungeduldig, Mamsell Rißmann kann sie kaum noch bändigen.«

Mich berührte der Auftrag nicht angenehm. Die Erinnerung, wie ich schon einmal mit Hanna hingegangen war, um die schöne Gräfin zu holen, wurde wieder lebendig. Eben beschloß ich, Johann zu schicken, als ich Liesel erblickte, die eilig aus den Zimmern der Gräfin kam und mich beinahe umgerannt hätte, so rasch eilte sie dahin.

»Jesses! Fräulein Gretchen! Nun, seien Sie nur nicht böse. Herr Gott, nun hab' ich doch recht gehabt. Ich hab's ja aber gleich gesagt. Da erzählen Sie es nur der Kathrin, die hat's mir immer nicht glauben wollen. Jetzt können Sie es sehen, wie der Herr Leutnant die Frau Gräfin im Arm hält und sie ›mein Liebchen‹ und Gott weiß wie nennt. Nein, wer hätte das heut abend noch gedacht! Das muß ich gleich drunten melden, das weiß noch keiner.«

»Liesel«, bat ich – ganz starr hielt ich sie an der Schulter fest – »von wem sprichst du? Wen meinst du?« »Nun, mein Gott, wen soll ich schon meinen?« rief sie. »Der Leutnant v. Eberhardt ist vorhin ganz unvermutet gekommen und befindet sich bei der Frau Gräfin. Ich hab's halt gleich gesagt, daß das noch ein Liebespaar abgibt.«

Fort war sie, und ich legte wie betäubt meinen Kopf an die kalte Wand, die Qualen der Eifersucht packten mich wie mit tausend Gewalten. Also deshalb liebte er mich nicht mehr, er liebte die schöne Frau – was war ich auch gegen sie?

Da öffnete sich die Tür zu Ruths Zimmern, ein heller Lichtschein fiel in den Korridor. Ich sah seine hohe, schlanke Gestalt heraustreten, eine Frau in weißem, schleppendem Kleide folgte ihm. »Au revoir, mein Geliebter«, sagte sie und schlang beide Arme um seinen Hals, während er sie nochmals umfaßte und zärtlich auf sie niedersah. »Ich werde gleich Toilette machen, und dann kommst du, deine Braut abzuholen. Sorge nur, daß Mama nicht in Ohnmacht fällt, wenn du mit deiner unvermuteten Werbung vor sie trittst. Mon dieu, ich glaube, sie denkt eher an den Einsturz des Himmels als an eine Verlobung. Sie hat ja keine Ahnung davon, daß wir uns schon so lange lieben.«

Sie lachte glockenrein, und er bog sich nieder und küßte sie: »Auf Wiedersehen, mein Engel, ich gehe gleich zu den Eltern.«

Ich schloß die Augen und drückte mich tief in eine der Nischen, die in der Wand angebracht sind. Mein Herz klopfte wie wahnsinnig vor Zorn und Schmerz. Wenn er mich nur nicht sieht, dachte ich. Aber meine Angst war unnütz, schon schritt er an mir vorüber, den Kopf stolz erhoben, das Auge blickte wie siegestrunken, und um den Mund lag ein Lächeln seliger Befriedigung – so hatte ich ihn ja auch gesehen, als er mich damals küßte. Oh, daß ich hätte hinspringen können und ihm zurufen: »Du irrst dich ja, ich bin es allein, die du liebst. Du täuschest dich selbst; wie sie dich täuscht, dieses herzlose, kalte Geschöpf!« Jetzt wußte ich, was Hassen ist. Glühend haßte ich sie, die mir sein Herz geraubt. Bis jetzt hatte ich dieses Gefühl immer mit Entschiedenheit zurückgewiesen, ich redete mir ein, sie habe mich nur bei ihm verleumdet, weil sie um keinen Preis mich, die Bürgerliche, als seine Frau sehen wollte – jetzt wußte ich, sie liebte ihn selbst, und es war ihr leicht geworden, mich zu beseitigen. Sie besaß ja die Macht einer reichen, hinreißend schönen, klugen Frau – was hatte ich dagegen einzusetzen?!

Ich raffte mich zusammen und ging durch die Halle zurück. Noch immer drang das ungeduldige Lärmen der Kinder und Mamsell Rißmanns beschwichtigende oder scheltende Stimme aus dem Zimmer neben dem Saal. Ich wollte mir heimlich Hut und Tuch holen und dann fortgehen, da kam Johann: »Fräulein Gretchen, die Frau Baronin läßt bitten, Sie möchten den Kindern allein bescheren, sie habe augenblicklich Abhaltung – der Leutnant v. Eberhardt ist drinnen«, wisperte er mir leise zu. »Na, Sie werden auch wohl merken, was der will. Dem Franzel sein Brauner hat sich ja die Beine fast abgelaufen. Beinahe jeden Tag wurde er nach der Stadt gejagt mit Briefen. Na, nun ist er da, nun wird ja Mensch und Vieh auch wieder Ruhe haben.«

Er öffnete mir die Saaltür: da stand Pastor Renner neben dem strahlenden Weihnachtsbaum und wartete auf den Beginn der Bescherung. »Wir sollen immer anfangen«, sagte ich leise, »die Herrschaften haben soeben Abhaltung.« Die Kinder wurden gerufen, der Weihnachtsgesang erschallte, der Prediger sprach wie sonst einige passende Worte – wie aus weiter Ferne drang alles in mein Ohr. Mamsell Rißmann und ich halfen den jubelnden Kindern die Herrlichkeiten einpacken, dann hing ich mein Tuch um und ging durch die beschneiten Wege nach Hause. Kathrin saß am Ofen und streckte mir freundlich die Hand entgegen: »Gelt, Gretel, morgen abend bleibst du hier bei uns? Der Vater hat ein Christbäumchen gekauft, er meint, sonst wär's dir nicht wie Weihnacht.«

»Ja, Kathrin«, sagte ich leise, »ich bleibe bei euch.«

Und so saß ich nun in meinem Stübchen am andern Tage. Der kleine Christbaum stand da, mit vergoldeten Äpfeln behangen, die Fahne von Flittergold rauschte leise. Kathrin saß am Ofen und las in der Bibel. Ich dachte an ihn und seine schöne Braut – ob ihn sein Gewissen wohl mahnen würde, daß er einst eine andere geküßt, deren Leben nun vergiftet und deren Jugend gebrochen ist! Es wurde dunkel. In Gedanken sah ich ihn wieder hier in der Stube stehen, wie im vorigen Jahre, sah Kathrins erstauntes Gesicht. Da hörte ich die Kirchenglocken läuten. Ich stand auf und nahm Tuch und Hut. »Adieu, Kathrin«, sagte ich. »Bet für mich mit«, murmelte die Alte und blickte von ihrer Bibel auf. Dahin schritt ich allein den Weg, den er mit mir zusammen ging. Ich sah wieder hinüber zu dem Grabe meiner Mutter und kniete nieder davor, aber allein, und heiße, heiße Tränen rollten auf den Hügel. Aus der Kirche klang es wie damals:

Vom Himmel hoch da komm' ich her.
Ich bring' euch heute frohe Mär,

Dann saß ich in dem alten Predigerstuhl und konnte endlich beten, ordentlich beten, kindlich und gläubig wie früher, für sein Glück, für sein Wohlergehen, und die Stimme des jungen Pfarrers tönte mild in mein Gebet: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Amen.«

Aus unseren Fenstern strahlten mir die Kerzen des kleinen Weihnachtsbaumes entgegen, mein Vater und Kathrin warteten auf mich mit ihren kleinen Überraschungen und mit den Herzen voll Liebe. Mein Vater erzählte von dem Weihnachtsabend, den er im vorigen Jahre allein im Süden gefeiert, wie er sich gesehnt nach deutschem Tannenbaum und deutschem Weihnachtsgesang, und wie traurig er gewesen sei an jenem Abend, so fern von der Heimat und von seinem Kinde.

»Nun bleiben wir immer zusammen«, sagte ich leise und schmiegte mich an ihn, »immer, bis wir sterben.«

Nachher schlich ich mich in meines Vaters Stube und starrte hinüber nach dem Schlosse und seinen erleuchteten Fenstern. »Daß Gott dich behüte!« flüsterte ich. »Daß dir niemals ein Augenblick der Reue komme! Die Schmerzen für mich, das Glück für dich. Hab' Dank, daß du dich einmal freundlich zu mir herabgebeugt, du hast mich die Liebe kennengelehrt – hab' Dank, ich werde dich nie vergessen!« Und die Zeit rauschte weiter, man merkte kaum ihren gewaltigen Flügelschlag, in dem kleinen Dorfe, in unserem stillen Hause. Einsam flossen die Tage dahin, und doch verging der Winter. Der Frühling kam und Hanna war wie das Glück selbst mit strahlendem Lächeln, ihr Töchterchen auf dem Arm, in meine stille Stube getreten. Das kleine, süße Ding, mit den blauen Augen seiner Mutter, hatte mich freundlich angelächelt, und wir hatten glückliche Stunden miteinander vertändelt.

Ich war nur noch selten im Schloß gewesen, seitdem die schöne Frau Eberhardts Braut geworden, und nur, wenn ich überzeugt war, ihn nicht dort zu treffen. Er befand sich nach Beendigung seines Kommandos nach Potsdam wieder in G. und wollte seine junge Frau nach dort holen. Hanna sprach wenig darüber zu mir, nur daß sie zur Hochzeit kommen werde, erwähnte sie. Durch Frau Renner, die gern und wichtig über das bevorstehende Ereignis redete, erfuhr ich wider Willen, daß die Trauung in der Kirche sein sollte, und zwar abends um sieben Uhr; daß das kleine Gotteshaus mit Orangenbäumen und Blumen geschmückt und mit zahllosen Kerzen erleuchtet werden sollte.

»Und im Schlosse soll es auch gar prächtig sein«, erzählte sie weiter. »Die Gäste kommen von nah und fern, da kriegt man mal was zu sehen. Sie gehen doch auch brautschauen, Fräulein Gretel, oder sind Sie mit bei der Hochzeit?«

Nein, man hatte mich nicht geladen. Ruths Freundin war ich ja nie, und Hanna und Bergen hatten wohl auch davon abgeredet, der Baron wäre der einzige gewesen, der vielleicht daran gedacht hätte. Er schien aber nicht mehr so freundlich gegen mich zu sein wie sonst, und hatte gar einmal etwas von »dummem Benehmen« und »Undankbarkeit« fallen lassen, weil ich so selten aufs Schloß kam –. Ach, undankbar war ich gewiß nicht!

Der Hochzeitstag, sein Hochzeitstag brach an. Golden schien die Sonne auf die frühlingsgrüne Erde, und die Apfelbäume saßen so voll von rosigen Blüten wie noch nie. Das ganze Dorf war in Aufregung. Die Frauen standen vor den Haustüren und plauderten von der schönen Braut, die Kinder bewunderten die Ehrenpforte, die man an dem Eingang des kleinen Kirchhofs gebaut hatte. Ich hörte das ferne Rollen der Wagen, welche die Gäste brachten. Hanna kam einen Augenblick zu mir, sie hatte eine Träne im Auge, als sie mich umfaßte und küßte. Sie litt mit mir, ich wußte es. Ruhig besorgte ich meine kleinen Pflichten, Kathrin streichelte mir dann und wann leise die Hand. Als es dunkel wurde, tönte die Glocke des Kirchleins und sagte mir, daß er jetzt bald an den Altar treten würde.

Ein heißes Verlangen, ihn noch einmal zu sehen, stieg in mir auf. Ich nahm mein Tuch um, und scheu hinter den vielen Menschen fortschleichend, die vor dem Haupteingang standen, schlüpfte ich durch eine Nebenpforte in die Kirche. Blendend hell war es hier, und ich drückte mich angstvoll in den finstersten Winkel, hinter die alten hölzernen Säulen, die den Chor und die Orgel tragen und mit grünen, duftenden Blättern umwunden waren. Eine glänzende Gesellschaft reihte sich um den kleinen Altar, die Fülle der Blumen duftete beinahe betäubend durch die Kirche, deren kahle, nackte Wände man verschwenderisch mit Grün geschmückt hatte. Hannas süßes Gesicht strahlte aus der bunten Menge wie ein freundlicher Stern zu mir herüber. Frau v. Bendeleben sah in der Kirche umher, als ob sie etwas suche. Unwillkürlich drückte ich mich tiefer in den Schatten. Da verstummte plötzlich das leise Geräusch der Menge. Man hörte einen Wagen vorfahren – es war, als ob mein Herz aufhörte zu schlagen. Aller Augen richteten sich nach der Tür. Ich vernahm ein leises Gemurmel der Bewunderung, die Orgel erbrauste, und nun schritten sie durch den Gang daher, der hohe, schlanke Mann in der schimmernden Uniform, und an seinem Arm das wunderschöne Geschöpf in ihrem weißen, silberdurchwirkten Kleide, mit den blitzenden Brillanten auf dem dunklen Haar, um das sich Orangenblüten schlangen. Einer Wolke gleich floß der Schleier um die zarte Gestalt. Wie geblendet starrte ich sie an. Ach, eine schönere Braut gab es wohl nie!

Ich hörte nichts von der Rede des Geistlichen, ich sah nur das Brautpaar. Aber als sie hinknieten, da eilte ich in wilder Hast aus der Kirche, ich hätte das Ja nicht hören können, das nun sein Mund aussprechen wollte! Ich flüchtete in unseren kleinen Garten, in die alte, verwilderte Buchenlaube, wo ich als Kind so oft gesessen. Da blieb ich die halbe Nacht. Es war eine so weiche, berauschende Luft, die Nachtigall flötete in vollen, langgezogenen Tönen, der Flieder duftete, ein geheimnisvolles Leben waltete in dieser linden Maiennacht; der Frühling sang sein altes zaubervolles Lied von Lieben und Seligsein. In ungestümer Sehnsucht streckte ich die Arme aus nach dem Glück, das ich besessen und nun für immer verloren hatte. Drüben auf dem Schlosse rauschte der Hochzeitsjubel, zuweilen drangen abgerissene Akkorde der Musik zu mir herüber, und ich war verlassen – verlassen!

Auch dieses ging vorüber. Der heiße Schmerz, der sich noch einmal wild aufgebäumt hatte in jener Maiennacht, wurde sanfter. Es war, als hätte ich einen wunden Fleck am Herzen, der bei der leisesten Berührung wehtat. Mein Leben floß still und einförmig weiter, mein Vater saß über seinen Büchern, und ich war auf die Gesellschaft der alten Kathrin angewiesen. Der Verkehr mit dem Schlosse blieb nach wie vor nur ein geringer. Wenn Frau v. Bendeleben mich einmal gebrauchen konnte, so schickte sie, oder ich bot mich selbst an. Was sollte ich auch sonst dort? Mit dem Pfarrhaus bestand ein freundschaftliches, stilles Hinüber und Herüber, die kleine, alte Frau hatte nun einmal eine besondere Liebe für mich. Der junge Pfarrer war zurückhaltend, aber vorsorglich für mich bedacht. Ihm verdankte ich meine Lektüre, er besorgte mir Blumensamen für meinen kleinen Garten, er besuchte meinen Vater an den langen Winterabenden, wenn er ermattet die Feder weglegte, und plauderte mit ihm.

Bergen wurde bald nach Ruths Hochzeit von G. versetzt, und zwar nach M. als Adjutant einer Brigade. Das war noch ein schwerer Tag, als die beiden Freunde Abschied von mir nahmen. »Kommt bald wieder, ach, vergeßt mich nicht ganz«, bat ich sie und begleitete sie bis an die Freitreppe des Schlosses. Ich wäre mit hinaufgegangen, hätte sich nicht eben eine kleine, elegante Equipage in der Allee gezeigt, in der ich Eberhardt und Ruth erkannte. Sie führte die Zügel. Rasch schlug ich einen Seitenweg ein, ich konnte noch hören, wie der Wagen hielt und Eberhard sagte: »Da sind wir doch noch, Ruth hat sich besonnen und ihren Schmollwinkel verlassen.« Dann tönte Ruths Lachen in mein Ohr. Ein letztes Zurückgrüßen von Hanna – und auch sie hatte ich verloren.

Dann kam ein Morgen, wo ich verzweifelt am Bette meines Vaters stand, immer wieder mit versagender Stimme seinen Namen rief und doch keine Antwort erhielt, wo seine kalte Hand die meine nicht mehr fassen konnte. Er war heimgegangen. Tot hatte ich ihn in seinem Bette gefunden, als ich ihm sein Frühstück bringen wollte: ein Schlagfluß hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Tränenlos ließ ich mich hinwegführen und sank neben Kathrin in die Knie. Die Tränen der Alten fielen auf mein Haar, und sie hielt mich fest umklammert – die alte, gelähmte Dienstmagd war ja noch das einzige, was ich auf der Welt besaß.

Ich sehe noch, wie man den unter Blumen verdeckten Sarg auf den Kirchhof trug. Das ganze Dorf gab dem verehrten alten Seelsorger die letzte Ehre. Die Leute weinten und schluchzten, und ich stand noch immer ohne Tränen an dem Fenster meiner Stube und sah ihm nach – nun war ich eine Waise. Dann kam der Baron und wollte mich wieder aufs Schloß nehmen, ich lehnte hastig ab und zeigte auf Kathrin. Was sollte die wohl anfangen ohne mich: es gab doch noch ein Wesen, das meiner bedurfte, und diese Sorge wollte ich mir nicht nehmen lassen. Wer weiß, wie lange ich noch dieses beglückende Gefühl haben durfte, daß ich jemand unentbehrlich sei.

»Du darfst hier nicht allein bleiben, du verkommst hier«, sagte der Baron. »Ich ehre deine Anhänglichkeit, aber du mußt wenigstens die Woche ein paarmal an bestimmten Tagen zu uns kommen. Du gehst hier zugrunde in deinem starren Schmerz, du siehst ja mehr tot als lebend aus.«

»Lassen Sie mich«, bat ich. »Ich danke Ihnen tausendmal – nicht jetzt, vielleicht später, ich kann ja nicht –«

Ein Weilchen ließen sie mich wirklich in Ruhe, aber dann kam der Baron wieder. »Nun gehst du auf jeden Fall heute mit«, sagte er, »ich kann es nicht verantworten, mich so wenig um dich zu bekümmern. Ich bin jetzt dein Vormund und ich befehle es.« Willenlos ließ ich mich mitziehen. Ich saß am Abend geduldig neben Frau v. Bendeleben und ließ mir erzählen von Hanna, und daß Ruth einen prächtigen Jungen besitze. Vorläufig sei nur noch ein großer Streit um die Vornamen. Ruth wolle, er solle Stanislaus heißen und Eberhardt habe gesagt, er werde dem Pastor schon die Namen aufschreiben.

Der Baron bestimmte die Tage in der Woche, an denen ich auf dem Schlosse erscheinen sollte. »Ich werde mich erkundigen, Gretchen«, fügte er hinzu, »ob dein Grund ein stichhaltiger ist, wenn du einmal nicht kommst. Du darfst dich deinem Schmerz nicht so hingeben, dazu bist du noch viel zu jung, das ganze Leben liegt noch vor dir.«

Das ganze Leben! Ich erschrak förmlich – und das sollte ich so weiterleben? Entsetzlicher Gedanke! Läge ich doch da drunten bei meinen Eltern! Das ganze Leben – wie lang ist so ein Menschenleben! Unser Leben währet siebenzig Jahre – und ich war eben zwanzig gewesen. Aber Gott ist barmherzig, dachte ich, es kann ja nicht so lange dauern!

Ich war folgsam, ich kam pünktlich auf das Schloß, ich spielte mit dem Baron Schach und las die Zeitung vor, und am Tage saß ich unten im Dorf, pflegte Kathrin und leitete meine kleine Wirtschaft. Ich tat alles, aber ohne Freude, mit totem Herzen.

Eines Abends war ich wieder oben im Schloß und bemühte mich, aufmerksam einen langen Bericht über Kartoffelernte anzuhören, da horchte Frau v. Bendeleben auf. »Es kommt Besuch«, sagte sie und legte ihre Arbeit hin, indem sie aufstand. Es wurden schon Stimmen laut, die Tür öffnete sich, und herein trat Ruth, gefolgt von ihrem Manne.

Ich konnte nicht mehr fliehen, wie angewurzelt blieb ich stehen und sah ihn an. Auch er erblaßte leicht, als er mich erblickte, während die schöne Frau keine Notiz von mir zu nehmen schien und hastig, ihren Samtmantel abwerfend und die Mutter umarmend, fast unwillig ausrief: »Mamachen, du mußt einen Streit schlichten. Denke dir, die alte Gräfin Satewski in Wien ist gestorben. Man hat mir geschrieben, es sei wünschenswert, daß ich der Eröffnung des Testaments beiwohne – ich muß, ich will nach Wien, und mein teurer Gatte« – hier wendete sie sich zu Eberhardt, der die Lippen aufeinandergebissen hatte – »erklärte es für unnötig und wünscht, daß ich nicht reise, anstatt mir seine Begleitung anzubieten.«

»Na, setzt euch nur erst«, unterbrach der Baron die Rede der jungen Frau, »dann können wir überlegen. Was hast du für Gründe dagegen, Wilhelm?« fragte er seinen Schwiegersohn, der seinen Sessel möglichst aus dem Lichtkreise der Lampe geschoben hatte.

»Tausend Gründe für einen«, sagte er; »die Hauptsache aber ist, daß der Kleine kränkelt, er bekommt wahrscheinlich Zähnchen und weint den ganzen Tag. Auch weiß ich nicht, inwiefern Ruths Anwesenheit dort so unerläßlich notwendig sein soll, es leuchtet mir nicht ein, und ich finde ihre Gegenwart bei dem Kinde viel nötiger als bei der Testamentseröffnung. Das Resultat, wenn's überhaupt eins für sie gibt, kann ihr hierher mitgeteilt werden.« Seine Stimme klang ruhig und leidenschaftslos, mich traf sie bis ins innerste Herz. Ich wollte aufstehen und hinausgehen.

»Nichts da!« rief der Baron, »willst du schon wieder ausrücken? Hiergeblieben!« und er zog mich in den Sessel. Niemand außer ihm konnte ahnen, mit welchen Qualen ich dort saß.

»Ich muß gestehen, Ruth«, fuhr der Baron fort, »dein Mann scheint recht zu haben. Möglicherweise hast du Unannehmlichkeiten in Wien zu erwarten. Mit den Verwandten deines ersten Gatten hast du dich so gut wie gar nicht gestanden. Ich würde lieber hierbleiben, abgesehen davon, daß das Unwohlsein des Kleinen schon einen triftigen Grund bietet.«

»Es ist gar nicht so schlimm, Eberhardt übertreibt wie immer«, fuhr sie auf, und die Augen blitzten zornig zu ihm hinüber. »Die Amme ist eine ausgezeichnete Person, und außerdem kann er ja so lange hier bei Mama sein.«

»Die Luft ist aber zu rauh, um eine solche Fahrt mit dem Kinde zu machen, bedenke das!« sagte Frau v. Bendeleben. »So gern ich mein Enkelchen hier hätte, ich mag nicht zureden.«

»Aber ich sag' es euch, ich muß nach Wien!« rief sie, und ein paar zornige Tränen blitzten in den Augen. »Ich muß!«

»Gut, mein Kind, reise – ich werde so lange Mutterstelle bei deinem Kind vertreten«, unterbrach sie Eberhardt, ebenso kühl wie vorhin.

»Wer hat dir denn geschrieben, Ruth, daß deine Gegenwart so nötig ist?« fragte der Baron.

»Das ist's ja eben«, antwortete Eberhardt statt ihrer. »Sie sagt, sie habe einen Brief aus Wien – aber von wem? das hat man mir nicht anvertraut.«

Die schöne Frau sah plötzlich verlegen zu Boden. »Genug, daß dem so ist«, erwiderte sie. »Es ist mir geschrieben worden, und ich werde reisen – auf jeden Fall. – Papa, darf ich morgen meinen Reisewagen einmal ansehen? Er steht noch von damals hier. Hoffentlich ist er noch so, daß ich ihn benutzen kann, er war ja noch ganz neu!«

»Wird auch wohl noch gut sein«, sagte der Baron. »Wann soll's denn losgehen?«

»Sobald wie möglich; übermorgen denke ich.«

Eberhardt war aufgestanden. »Rauchen wir vielleicht eine Zigarre in deinem Zimmer, Papa?« fragte er; dann gingen beide Herren hinaus.

Sobald sie fort waren, brach ein wahrer Sturm von Vorwürfen über ihren Gatten aus dem Munde der jungen Frau. Bis in die Seele erschütterten mich die herben Worte, und wie ein Blitz stand auf einmal die schreckliche Gewißheit vor mir, daß er nicht glücklich sei. Wo war der Nimbus des Vollkommenen geblieben, der dieses schöne Paar umgab, als sie dort in der kleinen Kirche vor dem Altar standen? Das strahlende Lächeln war von seinem Gesichte geschwunden, ein müder Zug lag um den stolzen Mund, und sie – sie mußte in der Tat sehr erbost auf ihn sein, daß sie in meiner Gegenwart so rücksichtslos seine Fehler und Untugenden, wie sie sich ausdrückte, an das Licht zog. Der Zorn ließ sie alle Klugheit vergessen – oder fürchtete sie nichts mehr von dem blassen, vergrämten Mädchen, das da mit entsetzter Miene den harten Worten lauschte?

»Ich sage dir, Mama, ich kann's nicht aushalten! Oh, dieses spießbürgerliche Leben, diese tugendhaften, dummen Gänschen von Kameradenfrauen, diese Kaffeegesellschaften, wo sie mit Strickstrümpfen sitzen, dünnen Kaffee trinken und über Dienstmädchen und Kinderbrei sprechen! Jedesmal, wenn solch verwünschte Einladung kommt, und ich will absagen, heißt es: ›Du mußt hingehen, die Frau Major oder die Frau Hauptmann könnte es übelnehmen.‹ Dabei sehen sie mich an, diese dummen Gänschen, als sei ich ein Wundertier, und sprechen von Extravaganzen und so weiter. Herrgott, wie hab' ich doch früher gelebt! Ach, mein Wien, mein schönes Wien, und nun gönnt man mir nicht einmal die Reise dahin!«

»Aber, Ruch, du bist ja außer dir und weißt nicht mehr, was du redest. Du solltest ebenfalls Interesse haben an Dienstmädchen und vor allem an Kinderbrei. Was macht dir denn eigentlich Spaß, wenn nicht das Interesse für dein Kind obenan steht?«

»Mein Gott, ja«, erwiderte die junge Frau, »der Junge ist ja ganz passabel und hübsch, aber ich kann nicht solchen Kultus mit ihm treiben wie Eberhardt, der von mir womöglich verlangt, daß ich den ganzen Tag in der Stellung der Murilloschen Madonna mit ihm umherziehe. Ich bin noch jung, ich will tanzen, ich will mich sehen lassen, ich will nicht die bürgerliche Hausfrau vorstellen! Aber die halbe Stadt schlägt die Hände zusammen über mein Benehmen, über meine Toilette und was sie alles haben, es ist zum Verzweifeln. Das wäre nun aber schließlich gleichgültig, wenn nicht Eberhardt – –« sie schwieg.

»Du läßt dich immer gleich zu argen Bitterkeiten hinreißen, Ruth«, tadelte Frau v. Bendeleben, »wenn du einmal Grund zu Unzufriedenheiten zu haben glaubst. Nach meinem Dafürhalten solltest du solche Szenen nicht zu oft herbeiführen, es stumpft das Gefühl für dich bei deinem Manne ab, du könntest ihm mit der Zeit gleichgültig werden.«

»Ja so!« lachte sie auf. »Bei allen guten Göttern, Mama, das bin ich ihm schon geworden! Ich fühle, wie wir nur noch an einem losen Faden zusammenhängen; wenn das Kind –«

»Ruth! Um des Himmels willen, bist du wahnsinnig?« schrie Frau v. Bendeleben auf. »Schäme dich, hier vor mir solche Worte auszusprechen; vergißt du ganz, was du dir und mir schuldig bist?«

Die schöne Frau zuckte mit den Schultern, sah mich an und lachte laut auf: »Was dieses blasse Kind für ein entsetztes Gesicht macht! Nicht wahr, Kleine, Sie können das nicht fassen, daß man an Ihrem Ideal – und das war doch der gute Eberhardt früher – so ein bißchen auszusetzen findet? ›Ich hätte ihn glücklicher gemacht‹, sagen Sie gewiß leise vor sich hin. Mon dieu, ich habe es schon manchmal bedauert, Ihnen –«

Da fiel die Hand der Frau v. Bendeleben schwer auf Ruths Schulter. »Kein Wort weiter!« sagte sie leichenblaß, während mir das Blut vor Zorn und Scham heiß in die Wangen stieg. »Ich habe bis jetzt geglaubt, die gereizte Stimmung in deinen Briefen und deinen Worten sei eine Folge deines kränklichen Zustandes gewesen. Ich irre mich aber, du bist jetzt ganz gesund, und ich sehe, wie es steht: ihr lebt in keiner glücklichen Ehe, das ist furchtbar hart für ein Mutterherz, und du so wie er – ihr dauert mich aufs innigste. Deine spöttischen Reden aber lassen mich nicht einen Moment im Zweifel, wo ich den schuldigen Teil zu suchen habe.«

»Nur nicht so tragisch, Mama«, sagte Ruth. »Wir werden schon noch ein Weilchen an unserem Joch weiterziehen. Übrigens hoffe ich, mir aus Wien wieder etwas Lebensmut mitzubringen. Ich kann ja ohne Sorgen reisen, er wird Tag und Nacht an der Wiege sitzen.«

Eberhardt sah leichenblaß aus, als wir uns bei Tische gegenübersaßen. Ob er wohl daran dachte, wie wir uns einst heimlich die Hände gereicht hatten unter demselben alten Tische? Ich weiß es nicht, aber ich fühlte, daß sein Auge zuweilen mein Gesicht streifte. Ruth sorgte, daß die unerquicklichsten Dinge dem Gespräch nicht fehlten. Die kleinen Ausfälle gegen Eberhardt waren zahllos, aber er blieb unempfindlich. Nach Tische empfahl er sich. »Ich ängstige mich zu sehr um den Kleinen«, sagte er, »und da Ruth morgen erst ihren Reisewagen besichtigen will, so werde ich diese Nacht noch zurückkehren. Der Wagen kann morgen mittag wieder hier sein, oder Papa laßt sie vielleicht fahren.« Er nahm eiligst Abschied, wobei er mich übersah, und fuhr fort.

Ich lag in meinem Bett zu Hause und konnte es nicht fassen, daß er so unglücklich aussah. Heimlich hatte mir längst gebangt. Ich kannte ja den Charakter Ruths, hatte so manchen Einblick in dieses kalte, kokette Herz getan: es mußte ja so kommen, zu vermeiden war es nicht. Aber es tat mir weh, unendlich weh, dieses stolze, lebensfrohe Gesicht so müde, so teilnahmlos und abgemattet zu sehen. Mein Gott, du führst deine Kinder wunderbar! dachte ich. Jeder kleine Groll, der sich vielleicht in irgendeinem Winkel meines Herzens noch gegen ihn verbarg, verschwand vor seinen traurig-stillen Blicken und häufte sich immer mehr als glühender Haß auf das Haupt seines Weibes. Sie war ja doch an allem allein schuld.

Rätselhaftes Menschenherz! Die ganze heiße Liebe für ihn war aufs neue emporgeflammt, als er mir so unverhofft gegenüberstand – um so heller und ungestümer, je mehr ich einsah, daß er nicht glücklich war.

»Kathrin!« sagte ich am andern Morgen noch mit bebender Stimme und kniete an ihrem Bette nieder, »weißt du, wen ich gestern abend gesehen habe?« Sie blickte mich verwundert an, dann fragte sie, in meinen Augen irgend etwas Eigentümliches lesend: »Doch nicht etwa ihn, den Leutnant v. Eberhardt?«

»Ja, Kathrin, ich sah ihn wieder, aber wie!«

»Nun?« fragte sie gespannt.

»Er war nicht im besten Einvernehmen mit seiner Frau und sah so bekümmert aus –«

»Ich weiß es schon lange«, nickte Kathrin, »und habe mich im stillen gefreut darüber. Es ist seine gerechte Strafe und durfte gar nicht anders kommen. Darum habe ich den lieben Gott gebeten, als ich dich hier so elend und verzweifelt sah. Mit Freude habe ich die ersten Andeutungen begrüßt, die mir verkündeten, seine Ehe wäre nicht so, wie sie sein sollte. Oh, es muß noch besser kommen, damit er einsieht, wie er sich versündigt hat an dir!«

»Pfui über dich, Kathrin!« rief ich und sprang entsetzt auf. »Schäme dich; ich hätte dir so rachsüchtige Gedanken gar nicht zugetraut. Wenn du ihn gesehen hättest, wie traurig, wie freudenarm er aussah –«

»Gretchen, nimm dich zusammen«, unterbrach mich die Alte barsch; »fang mir nicht wieder an. Dein Gefühl für ihn könnte Sünde werden – er hat Weib und Kind.«

»Sünde?« wiederholte ich. Einen Augenblick übergoß es mich wie mit siedendem Wasser. Ich drückte die Hände vor das Gesicht und holte tief Atem – wohin hätte ich mich da beinahe verirrt! Ach, wäre er mir strahlend vor Glück entgegengetreten, so hätte ich mich ruhig zurückgezogen, mich an seinem Wohlergehen gesonnt – aber so –! Es drängte mich mit aller Macht zu ihm hin, ihn zu trösten, ihm ein freundliches Wort zu sagen zum Ersatz für all den Hohn, den ihm sein Weib ins Gesicht warf. Und dieses Mitleid, diese Teilnahme sollte Sünde sein?

Und doch hatte sie recht, die alte Kathrin. Ich durfte nicht an ihn denken, er hatte mich ja so rauh von seinem Herzen gestoßen, er wollte ja gar nichts von mir wissen, und – er war der Gatte einer anderen.

Unruhig verbrachte ich den ganzen Tag. Endlich faßte ich mir ein Herz. »Kathrin«, bat ich, »du sagtest heute früh, daß du schon länger wüßtest, er lebe nicht glücklich mit seiner Frau. Bitte, erzähle mir, was du weißt.«

»Nun, Kind, das erzählen sich die Spatzen auf dem Dache«, begann die Alte, »das ganze Dorf ist voll davon. Die Herrlichkeit hat nicht gar lange gedauert, aber ich mochte dir's nicht sagen, weil ich schon vorher wußte, daß dein gutes Herz und deine alte Liebe gleich wieder in Flammen stehen würden. Die junge Frau soll bald nach der Hochzeit, als die Flitterwochen noch nicht vorüber waren, allerhand sonderbare Ansinnen an ihren Mann gestellt haben. Sie hat sich in der kleinen Festung nun einmal nicht einrichten können, und da hat sie von ihrem Manne verlangt, er solle den Soldatenrock an den Nagel hängen und mit ihr nach Wien ziehen. Da soll es denn auf dem Schlosse einen großen Spektakel gegeben haben, die Liesel erzählte mir davon. Der Herr Leutnant hat erklärt, er wäre mit Leib und Seele Soldat, und sie habe gewußt, was er sei, da sie ihn genommen. Er bleibe Offizier auf alle Fälle. Die junge Frau hat gescholten und getobt und sich zuletzt aufs Bitten verlegt. Er ist aber fest geblieben und hat gesagt, das Weib müsse sich in dem Stande wohl fühlen, in dem der Mann einmal sei. Die Frau Baronin hat sich zuerst der Tochter verzweifeltes Wesen sehr zu Herzen genommen und hat dem Baron Vorschläge gemacht, ob er sich nicht zur Ruhe setzen und Eberhardt das Gut übergeben wollte. Das habe aber der Baron sowohl wie der Herr Leutnant zurückgewiesen, der Baron, weil er noch zu jung sei, um schon auf der Bärenhaut zu liegen, sein Schwiegersohn, weil er Soldat bleiben wolle. Na, schließlich hat Frau v. Bendeleben gemeint, das aufgeregte Wesen liege in dem Zustande der jungen Frau, und wenn sie erst ein Kindel auf den Armen wiege, werde sich das alles machen. Nun hat sie einen herzigen Buben, wie die Liesel sagt, und 's ist halt noch die alte Komödie. Was draus wird, mag Gott wissen. Ich sag', was ich sag', die Strafe bleibt nicht aus, es ist ein gerechter Gott da droben.«

Ich hatte die Hände gefaltet. »Armer, armer Eberhardt!« dachte ich und malte mir aus, welche häuslichen Szenen er mit jener schönen, ruhelosen, exzentrischen Frau durchgemacht haben mußte.

»Die Eltern haben's natürlich gar gern gesehen, wie sie sich mit dem schmucken Neffen verlobte«, fuhr Kathrin fort. »Es soll da allerhand passiert sein in ihrer ersten Ehe, die Leute munkeln so manches. Der Kutscher, der sie damals, als der Graf Satewski gestorben war, über Hals und Kopf von Wien hat herfahren müssen, soll wunderliche Brocken herumgestreut und sich manchmal pfiffig hinterm Ohr gekratzt haben. Na, der Herr Baron hat ihn auch gleich am andern Tage wieder zurückgeschickt, aber in ein paar Stunden kann einer viel säen, was nachher aufgeht. Ich will nichts gesagt haben, die Menschen sind halt schlecht und reden, was sie dermaleinst nicht verantworten können; aber aus der Luft fällt so was auch nicht immer.«

Ich konnte es diesmal kaum erwarten, nach dem Schlosse zu gehen. Ich mußte wissen, ob die junge Frau wirklich nach Wien gereist sei. Richtig, sie war fort, und Frau v. Bendeleben hatte bereits einmal die Stadt besucht, um zu sehen, wie es dem Enkelkinde erging. »Eberhardt ist rührend«, sagte sie, »er sitzt den ganzen Tag zu Hause, wenn er nicht im Dienste ist. Ich wünschte, Ruth hätte etwas von diesem Sinn für Häuslichkeit: das wilde Wiener Leben hat ihn aber gänzlich erstickt. Als Gräfin Satewski umgab sie ein kleiner Hof, und es muß ihr wohl schwer fallen, sich in die Stellung einer Leutnantsfrau zu finden. Ich hoffe, Eberhardt wird sich noch einmal bereden lassen und seinen Dienst quittieren. Wir gedenken ihm einst das Gut zu übergeben, einen Sohn haben wir doch nicht, und Ruth ist die Älteste und Eberhardt unser Neffe. Wenn sie es nur verstände, so lange ihren Wünschen den Zügel anzulegen.«

»Sind schon Nachrichten aus Wien da?« fragte ich.

»Jawohl, ein Brief an Eberhardt, aber ein sehr kurzer. Sie schreibt nur über die Erbschaftsangelegenheit, die nicht günstig für sie ausgefallen zu sein scheint. Der Universalerbe der großen Reichtümer sei ein Neffe der alten Gräfin Satewski, der einzige Sohn ihres einzigen Bruders, den sie immer sehr geliebt habe, ein junger Fürst Bodresky. – Nun, ich halte es nicht für ein so großes Unglück. Ruth ist immerhin durch das Vermögen ihres verstorbenen Gatten eine sehr reiche Frau geworden. Ich begreife nicht, wie sie darauf kommt, zu denken, die Schwiegermutter könne ihr Reichtümer vererben, die sie doch den Satewskis erst zubrachte. Diese besaßen eigentlich gar nichts wie ihren alten Namen. Sogar das Hotel in Wien, in dem die Satewskis gewohnt haben, stammt von den Bodreskys her, und die Satewskischen Familiengüter waren mehr als verschuldet. Als die Fürstin Bodresky den Grafen Satewski heiratete, hat sie sie mit ihrem Vermögen vor dem gerichtlichen Verkauf bewahrt. Ruth erhielt bereits nach dem Tode ihres Mannes ein bedeutendes Kapital. Wie sie jetzt noch mehr erwarten kann, begreife ich nicht. Ich meine, sie hätte zufrieden sein können, sie hat von Haus aus Vermögen, sie hat Eberhardt geheiratet, der ebenfalls ganz ansehnliche Mittel besitzt –«

Frau v. Bendeleben schwieg, als hätte sie bereits zuviel gesagt. In der Tat, so vertraut war sie noch nie mit mir gewesen. Sie mochte sich wohl nach irgend jemand sehnen, mit dem sie sich aussprechen konnte. Sie schien unruhig und schmerzlich bewegt zu sein, als ob eine innere Angst sie peinige.

Ich brachte die Rede auf Hanna, ein paar Worte wurden über ihren letzten Brief gesagt, dann kam wieder Ruth in den Vordergrund.

»Du glaubst nicht, Gretchen«, begann sie aufs neue, »was für einen grenzenlosen Kummer es mir macht, Wilhelm und Ruth nicht so miteinander zu wissen, wie es eigentlich sein sollte zwischen einem jungen Ehepaar. Ich kann mir wahrhaftig das Zeugnis geben, daß ich Ruth gewarnt habe, als Eberhardt so plötzlich mit seiner Werbung vor mir stand. Ich habe ihr gesagt, daß sie sich nicht wohl fühlen würde in den kleinen Verhältnissen einer Offiziersfrau. Aber sie lachte mich aus und behauptete, sie liebe ihn einmal, und ich solle ihr nicht darein reden. Im Grunde waren wir ja froh, daß sie gerade Eberhardt gewählt, und wir hatten schließlich die besten Hoffnungen. Allein kein Jahr dauerte es, da fand sie ihre Stellung bereits unerträglich und Eberhardt nicht für sie paffend, selbst das Kind ist ihr langweilig. – Oh, mein Gott, was soll nur daraus werden!«

Ich saß ganz starr dabei; also ist es doch wahr, was die Leute munkeln und was ich in den ersten Minuten gefühlt hatte, die ich mit dem jungen Paare zusammen verlebte. Meine Gedanken eilten zu Eberhardt, ich sah ihn einsam an dem Bettchen seines Kindes, mit seinem trüben Gesicht – was mochte er für Qualen ausstehen, wenn er an sein Weib dachte!

»Ich will Ruth nicht allein die ganze Schuld zuwälzen«, fuhr Frau v. Bendeleben fort und trocknete sich eine Träne aus dem Auge. »Eberhardt mag kein feuriger Liebhaber sein, der ihr beständig zu Füßen liegt und sie anbetet, wie sie es zu verlangen scheint von ihrem Manne. Er ist schweigsam und finster geworden als Ehemann und tritt ihr öfter sehr schroff entgegen, allerdings wohl meistens mit Recht. Sie ist verwöhnt durch ihren ersten Mann, der sich vor seiner schönen Frau wie ein Sklave bückte, um den Pantoffel zu küssen. Diese scheinbare Unterwürfigkeit, dieses stete Entzücktsein über jede ihrer Launen und Kapricen vermißt sie bei Eberhardt, der ein ernster Mann ist und das Leben anders auffaßt wie ein leichtblütiger, halbpolnischer Edelmann. Ich glaube, dieses Zuckerbrot ist dem verwöhnten Kinde vollständig unentbehrlich, sie kann es nicht ertragen, nicht jeden Morgen und Abend eine neue Liebeserklärung von ihrem Manne zu hören, wozu er wiederum gar nicht angetan ist. Wenn sie doch nur erst wieder hier wäre!«

Es dauerte indessen noch lange, ehe der Himmel diese Bitte erfüllte. Der November ging vorüber mit seinen Stürmen, der Dezember brach kalt und klar an, und noch immer war die schöne Frau in Wien. »Meine Bekannten wollen mich gar nicht fortlassen«, schrieb sie ihrer Mutter. »Ich will auch diese Zeit benutzen, wer weiß, ob ich jemals wieder hierherkomme. Fürst Bodresky ist übrigens ein liebenswürdiger Mann, er hat mir während der Zeit meines Aufenthaltes das Palais Satewski vollständig zur Verfügung gestellt. Ich wohne wieder in meinen Zimmern, und wenn ich morgens erwache, so kommt es mir manchmal vor, als hätte ich alles das, was ich später erlebte, nur geträumt. Ein Hauch aus jener berauschenden Zeit, da ich noch die gefeierte Gräfin Satewski war, weht mir hier aus jedem Raume entgegen und läßt mich auf Stunden vergessen, daß in der engen, schmutzigen preußischen Festung Pflichten meiner harren, an deren Erfüllung ich nur mit Widerwillen und Beängstigung denke. – Die Freiheit ist doch zu wundervoll, und ich bin noch so jung!«

Frau v. Bendeleben las mir diese Stelle vor und brach dann in Tränen aus. Es rührte mich, diese stolze Frau so elend zu sehen. »Es geht nicht länger«, erklärte sie, »Eberhardt muß ein Machtwort sprechen. Auf mich hört sie nicht mehr. Ich habe ihn schon öfter gebeten, sie ernstlich aufzufordern, endlich wiederzukommen; er hat es nicht gewollt. ›Was soll es, wenn sie gezwungen zurückkommt, Mamachen?‹ sagte er dann. › Freiwillig muß sie kommen.‹ – Ach, ich glaube, wenn er darauf wartet, so kehrt sie gar nicht zurück. Er muß jetzt energisch darauf dringen, schon der Leute wegen.«

Sie setzte sich eben an den Schreibtisch und ergriff die Feder. Ich nahm meine Arbeit, als der Baron eintrat, ein geöffnetes Schreiben in der Hand.

»Ein Brief von Eberhardt, Klothilde«, sagte er und reichte seiner Frau das Blatt hin. »Er scheint jetzt die Geduld zu verlieren und hat Ruth aufgefordert, zurückzukommen. Er scheint dies sehr kühl und bestimmt getan zu haben. Aber nach meiner Ansicht verfehlt er damit den Zweck. Sie will doch nun einmal keinen Gebieter, sondern einen Untertan in ihrem Manne sehen. Er schreibt: Ich habe Ruth ersucht, zurückzukehren um ihres Kindes willen. Vielleicht besitzt die Mahnung an das Mutterherz noch die Gewalt über sie, welche die schwache Leidenschaft für ihren Gatten nicht mehr übt.«

Frau v. Bendeleben seufzte: »Es ist gut, daß er überhaupt den Wunsch ausspricht, sie wieder zu haben. Ich wollte, ich wüßte erst, was daraus wird!«

Ruth kam wirklich zurück, aber diese Wiederkehr war beinahe beleidigender für ihren Gatten, als wäre sie gar nicht gekommen. Gleich nach den Weihnachtsfeiertagen traf sie ein, sie hatte das schöne Fest in ihrem Reisewagen zugebracht und es verschmäht, ihrem Kinde die Lichter am Tannenbaum anzuzünden und sich an seinem Lächeln zu erfreuen und das Jauchzen des Kleinen zu hören, wenn er verlangend die Ärmchen nach den bunten Herrlichkeiten ausstreckte. Sie hatte ihren Gatten allein gelassen an dem Abend, wo doch selbst das ärmste Tagelöhnerweib von ihrer harten Arbeit feiert und sich mit dem Manne des Jubels der Kinder freut unter dem dürftigen Weihnachtsbaum. Allein gelassen an dem Abend, wo er ihr vielleicht um des Kindes willen noch einmal herzlich und freundlich entgegengetreten wäre!

Ich war außer mir, als ich es von Frau v. Bendeleben vernahm. Sie hatte ja ebenfalls bestimmt darauf gerechnet, daß Ruth noch vor dem Feste zurückkehren würde. Ich weinte beinahe Tränen der tiefsten Empörung. Aber wer konnte hier helfen? Es blieb ja doch alles, wie es war.

Wieder war es Frühling geworden, und als ich eines Nachmittags in das Schloß trat, waren eben Herr und Frau v. Eberhardt angekommen. Es berührte mich nicht angenehm. Ich hatte zwar Eberhardt öfter wiedergesehen, doch schien er immer sichtlich bemüht, mir auszuweichen. Auch ich war verschiedene Male wieder nach Hause gegangen, wenn ich zur rechten Zeit erfuhr, daß die Herrschaften aus der Stadt daseien.

Sie zogen aber immer noch an ihrem Joche weiter, wie damals Ruth ihrer Mutter verkündete. Nur war jetzt die schöne Frau ungeduldiger als vor ihrer Reise, und Eberhardt finsterer als je.

Heute konnt' ich nicht mehr fliehen, ich stand schon mitten im Zimmer unter ihnen. Meinem Erscheinen folgte ein plötzliches Verstummen, nur Ruth hatte eigentümlich aufgelacht, und Eberhardt machte eine heftige Bewegung, als wollte er mich hinausschicken. Frau v. Bendeleben erwiderte meinen Gruß nicht, der Baron sah mich finster an.

»Kurz und gut«, nahm die junge Frau das Wort und stand von ihrem Sessel so hastig auf, daß er ein Stück auf dem Teppich hinflog, »ich kann mich einmal nicht in einer Ehe glücklich fühlen, wo das Herz des Mannes mir nicht ganz und ungeteilt gehört. Ich bin nicht die Person, die sich mit einigen Überbleibseln abspeisen läßt, und darum schenk' ich dir deine Freiheit wieder und zugleich die Erlaubnis, ganz dem Zuge deines Herzens zu folgen.« Wieder lachte sie, indem sie vor ihrem Manne stehenblieb mit über der Brust gekreuzten Armen.

Ich zog mich erschrocken zurück bei diesen Worten und wollte die Tür öffnen; um alles in der Welt hatte ich dieser entscheidenden Szene nicht beiwohnen mögen.

»Halt!« rief da die schöne Frau und war mit einem Sprunge an meiner Seite. »Nicht davonrennen, mein Herzchen. Du bist es ja, die er mit aller Inbrunst eines schüchternen Jünglings anschmachtet! – Hier geblieben! Dir verdanke ich die ganze widerwärtige Zeit, die ich jetzt durchleben muß, du allein hast mir sein Herz abwendig gemacht. Verantworte dich doch, wenn du kannst, du hochmutstolle Prinzessin, du! –« Sie hatte mich bis in die Mitte des Zimmers gezerrt und schleuderte meine Hand von sich, als hätte ich Gift an den Fingern.

Ich war so betäubt, daß ich gar nicht antworten konnte. Wie hilfesuchend irrte mein Blick umher und starrte in Frau v. Bendelebens entsetztes Gesicht.

»Mich kannst du verleumden, Ruth, soviel du magst«, tönte da die Stimme Eberhardts, »aber zieh nicht unschuldige Personen mit in diese traurige Geschichte.«

»Unschuldig?« fragte Ruth. »Sie ist wohl im Traume dazu gekommen, dir Briefe zu schreiben? Und im Traume hat sie dir ihr Bild geschenkt? Da, Mutter, hast du die ganze Unschuld!« rief sie und warf ein Päckchen Briefe auf den Tisch vor die Baronin. »Sieh da, das fand ich, als er gestern vergaß, den Schlüssel von seinem Schreibtisch zu ziehen. Und hier ist ihr Bild, das ich aus seiner Schreibtafel nahm und das mir den ersten Beweis seiner Untreue gab. Hier! Und nun werdet ihr dieses ganze unglückliche Leben an seiner Seite verstehen.«

»Gretchen!« schrie Frau v. Bendeleben auf mit einem Tone, der mir durch die Seele schnitt, so vorwurfsvoll, so jammernd klang die Stimme. Noch immer starrte ich wie abwesend auf die Briefe, von denen Frau v. Bendeleben einen nach dem andern nahm. »Deine Margarete«, las sie die Unterschriften, und wieder klang es schmerzlich: »Gretchen, haben wir das um dich verdient?«

»Nein, Mama«, unterbrach Eberhardt die schreckliche Pause, die einen Moment entstand, »urteile nicht zu rasch! Höre mich erst. Auch du, Papa, sieh nicht so furchtbar böse auf Margarete – die Sache liegt anders, als ihr denkt. Die Briefe und das Bild beweisen keine Untreue, denn sie sind geschrieben, noch ehe Ruth als Witwe zurückkehrte zu euch, das weiß Ruth nur zu gut. Daß sie jetzt etwas hervorsuchen will, um mit möglichstem Eklat eine Trennung von mir in Szene zu setzen, will ich ihr nicht verdenken, auch ich sehne mich danach, daß ein Ende wird, aber daß sie diesen Grund erfindet, das ist eine Perfidie, die ich denn doch der Mutter meines Kindes nicht zugetraut hätte!«

»Nein!« rief Ruth. »Glaub' es nicht, Mama, an sie hat er gedacht Tag und Nacht, ihr Bild hat er stets auf dem Herzen getragen und gegen mich war er immer abstoßend und unfreundlich – ist das noch keine Untreue?«

»Ruth, ich möchte in Gegenwart des Mädchens da mich nicht mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen, verteidigen«, fiel Eberhardt ein. »Bei Gott, du solltest mich nicht herausfordern. Denke daran, wie du mir das Leben auf jede Weise zur Hölle gemacht hast, was für eine nachlässige Mutter du deinem Kinde warst! Ich habe, weiß Gott, das mögliche getan, um den Frieden zu erhalten, es ging oft über meine Kräfte.«

»Margarete«, rief des Barons Stimme, und sie war heiser und unfreundlich. »Margarete, hast du wirklich diese Briefe geschrieben?«

»Ja, ich tat es«, sagte ich tonlos und legte die Hände vor mein Gesicht.

»Sag' nur, Kind«, rief er heftiger, »was dachtest du dir dabei? Wie kommst du, die ich für ein vernünftiges, gesittetes Mädchen hielt, dazu, Briefe mit dem Leutnant v. Eberhardt zu wechseln?«

Ich schwieg. Es wäre mir nicht möglich gewesen, ihn als wortbrüchig hinzustellen, indem ich die Wahrheit sprach. Frau v. Bendeleben stand auf, und indem sie mir einen kalten, verachtenden Blick zuwarf, schritt sie aus dem Zimmer.

»Es tut mir sehr weh, Gretchen, daß ich dergleichen Dinge von dir hören muß«, nahm der Baron das Wort. »Ich kann mir jetzt manches erklären: deine Abneigung gegen Pastor Renner, dein verstörtes Wesen, als sich Ruth verlobte – es ist unrecht, daß Eberhardt vergaß, wie nahe du mir standest, und dir wie einer hübschen Kammerjungfer Sachen in den Kopf setzte, die für die Freundin meiner Tochter nicht passend sind. Das war nicht ehrenhaft von ihm. Du siehst, was für traurige Folgen es nun gehabt hat.«

»Verzeihung, Papa«, sagte Eberhardt, »du bist im Begriff, ein sehr hartes Urteil zu sprechen. Ich habe an Fräulein Siegismund nicht einen Augenblick in dem Sinne gedacht, wie du es aufzufassen scheinst. Margarete war meine Braut« – hier bebte seine Stimme – »und ich hätte sie ebenso sicher geheiratet, wie ich jetzt Ruth heiratete, wären mir nicht Dinge erzählt worden, die ich so schwach war zu glauben, und die mich eine Verbindung lösen ließen, die meiner nicht würdig zu sein schien.«

»Deine Braut?« fragte der Baron, als könne er nicht fassen, was da so ruhig gesagt wurde.

»Ich sagte es«, wiederholte er noch einmal. »Meine Braut war sie, und die Briefe sind völlig legitim, sozusagen.«

»Da siehst du, Papachen, seine Braut!« lachte Ruth und trat zu dem erstaunten Vater, während ich, an allen Gliedern zitternd, krampfhaft die Lehne eines Stuhles in der Hand hielt. Ein heißes Gefühl wie erwachender Frühling überkam mich trotz aller Beschämung. »Da siehst du es, es ist schade, daß diese Partie nicht zustande kam. Du hättest dann deinen Bekannten deine Nichte Frau v. Eberhardt, geborene Siegismund, vorstellen können.«

»Keinen Spott!« unterbrach sie Eberhardt zornig. »Kommen Sie, Fräulein Siegismund; hier ist kein Platz für Sie! Gehen Sie nach Hause und vergessen Sie das Häßliche, was Sie hier gehört haben.« Er nahm meinen Arm und führte mich zur Tür, die er öffnete.

Wie im wüsten, schweren Traum wandelte ich meiner Heimat zu. Graue Wolken hingen tief vom Himmel hernieder. Ein warmer Wind strich um meinen heißen Kopf, und aus den zerrissenen Wolken blickte hier und da wie ein freundliches Auge ein kleiner Stern. Und droben auf dem Schlosse da kämpften sie weiter, die miteinander nicht leben konnten und die Fesseln zu zerbrechen suchten, die sie aneinanderketteten. Das eine Herz, weil es ein wankendes, eitles Ding war, nur für die Freuden dieser Welt geschaffen, ein Herz, das selbst die Liebe zu ihrem Kinde nicht an den Gatten zu fesseln vermochte, den sie einst so glühend begehrt, den zu besitzen sie sich nicht gescheut hatte, die teuflischsten Mittel anzuwenden – wie sie nun zu ähnlichen Mitteln griff, ihn wieder wegzustoßen und frei zu sein! Und das andere Herz, – ach, ich hatte es ja herausgefühlt, das konnte nicht vergessen, konnte seine erste Liebe nicht hinausweisen, obgleich er es gezwungen hatte mit ernstem Willen. Das war doch trotz allem Unglück ein heimliches süßes Gefühl, und ließ mich beinahe das Bittere in dem Benehmen der anderen vergessen. Er hatte ja auf meiner Seite gestanden.

»Kathrin«, sagte ich, als ich die Alte sah, und ein Tränenstrom stürzte aus meinen Augen, »nun glaub' ich, ist's vorbei mit denen auf dem Schlosse und mir. Ruth, die mich immer schon verleumdete, hat jetzt auch Zwietracht zwischen ihren Eltern und mir gesät.«

Kathrin schwieg. Einmal schien sie antworten zu wollen, aber sie blieb still. Es war am Ende auch besser – sie hätte vielleicht nur bittere Bemerkungen gehabt. Am anderen Morgen ging ich zu Frau v. Bendeleben, ich wollte ihr alles erzählen, mit möglichster Schonung Ruths, es mußte klar werden zwischen uns. Sie sollten nicht denken dort oben im Schlosse, daß sie ihre Wohltaten an eine Unwürdige verschwendet hätten. An Hanna hatte ich gleich geschrieben, ihr erzählt, wie alles gekommen, und sie gebeten, sie möge mich rechtfertigen helfen bei ihrer Mutter.

Es war ein schwerer Gang an jenem Morgen, und mein Herz pochte gewaltig, als ich Johann hinaufschickte, um mich zu melden. Er kehrte mit erschrecktem Gesicht zurück: »Ach, Fräulein Gretchen, nehmen Sie es nur nicht übel, aber die Frau Baronin und Frau v. Eberhardt packen gerade die Sachen, um zu verreisen. Sie sind nicht imstande jetzt –« er stockte und sah mich traurig an.

»Ich kann die gnädige Frau nicht sprechen?«

»Nein, in zwei Stunden wollen sie fort –«

»Dann frag den Herrn Baron, Johann«, sagte ich und drängte meine Tränen zurück.

»Der Herr Baron – der ist auch drinnen bei den Damen –«

»Frage, Johann; bitte!«

»Der Herr Baron bedauert, er muß gleich nach Wiesenau reiten!« kam Johann zurück. »Adieu, Johann!« sagte ich. »Da werde ich wohl nicht wiederkommen.« Langsam wendete ich mich und ging die Stufen der breiten Treppe hinunter. Durch die geöffnete Tür der Halle konnte ich den Reisewagen auf dem Schloßhofe sehen. Er wurde eben gewaschen, und Liesel stand dabei und schwatzte mit dem Kutscher. Ich hörte, wie sie sagte: »Aber diesmal komme ich mit, das wird eine Lust!«

Mir stürzten die Tränen aus den Augen, als ich durch das alte Tor schritt, über die Terrasse und durch den Park. Es war mir beinahe zumute, als hätte ich meinen Vater zum zweiten Male verloren. Es schmerzte so tief, daß die Leute mich nicht sehen wollten, die ich so sehr geliebt hatte. Als hätte ich ein Verbrechen begangen, mußte ich jetzt das Haus verlassen, das mir so lange eine Heimat war. Wieviel Bitteres brachte das Leben für mich! Alle meine Hoffnungen hatte ich noch auf den Baron gesetzt, aber freilich, es war die Tochter, die mich anklagte. Es war überhaupt schon ein Verbrechen, daß ich, die Bürgerliche, gewagt hatte, meine Augen zu dem Neffen des alten adligen Hauses zu erheben.

Wer blieb mir nun noch? Auf zwei alten, müden Augen stand mein ganzer Schutz, den ich in dieser Welt hatte, schlossen sich die, dann war ich allein. Ich setzte mich auf das Grab meiner Eltern und barg das Gesicht in dem grünen Efeu – wie war es nur möglich, daß noch immer mehr Leid kommen konnte!

Nochmals schrieb ich an den Baron und bat um eine kurze Unterredung. »Es ist besser«, antwortete er mir in einem kleinen Billett, »wir sehen uns jetzt nicht, und es wächst erst Gras über die letzte Geschichte. Viel Kummer habe ich jetzt zu tragen, und über meine unglückliche Tochter kaum weniger als über dich, die du meine besondere Liebe hattest. – Zur Nachricht diene dir, daß meine Frau mit Ruth nach der Schweiz gereist ist, und daß wir uns mit Eberhardt sehr im Bösen getrennt haben.«

»Mein Gott, wie ist es nur möglich, daß Eltern so verblendet sein können!« stammelte ich, als ich die paar Zeilen überflog. Ich gab es auf, mich zu rechtfertigen, man hätte mir doch nicht geglaubt. Kathrin sah tiefbekümmert aus. »Weißt du, Gretchen«, nahm sie gegen Abend dieses Tages das Wort, »du tätest mir einen rechten Gefallen, wenn du mich einmal ruhig anhören wolltest. Sieh, ich werde nun schon so alt, es kann mal eines Tages passieren, daß ich daliege, kalt und steif, und daß du mich halt begraben mußt. Tue mir dann den Gefallen und weise es nicht zurück, wenn sie dir drüben eine Heimat anbieten. Du bist noch zu jung, um allein zu leben, und so viel hat dir der Vater hinterlassen, daß du nicht unter fremde Leute zu gehen brauchst. Ich meine ja nicht, daß du drüben hineinheiraten sollst, das findet sich später und mag Gott einrichten, wie er will. Nein, nur hinüber sollst du zu der Frau Renner. Versprich mir das, damit ich ruhiger werde.«

»Quäle dich nicht, Kathrin«, bat ich und kniete vor ihr nieder, »du bleibst noch lange bei mir. Denke nicht ans Sterben, ich bitte dich; ich will dir auch versprechen, alles zu tun, was du wünschest.«

Die Alte streichelte mir den Kopf und legte sich in den Stuhl zurück: »Dann ist es gut, mein Herz, dann bin ich ruhig.« Ich setzte mich wieder an das Fenster und sah in das Abendrot. Neben mir stand ein Strauß Schneeglöckchen. Sie erinnerten mich an einen Abend, da ich auf Eberhardt gewartet mit bangem Herzen, und da Bergen statt seiner gekommen und mir gesagt hatte, daß er mich nicht mehr liebe. Was hatte ich alles seitdem verloren! Aber was war das? Da stand in der geöffneten Tür eine hohe Gestalt, ich konnte nicht mehr erkennen, wer es war, aber ich fühlte es. Mein Herz klopfte gewaltig, und ich vermochte mich nicht von meinem Stuhl zu erheben.

»Margarete«, klang es leise, »darf ich eintreten? Wirst du mich nicht von deiner Schwelle weisen, wo ich jetzt mit einer so großen Bitte nahe?«

»Wilhelm!« sagte ich leise, »tritt ein!«

Wir standen uns gegenüber. Es war dunkel im Zimmer, und ich konnte nicht in sein Gesicht sehen. Aber heiße Tropfen fühlte ich auf meinen Händen, die er an seine Lippen zog, und mit leiser Stimme bat er: »Verzeihe mir!« »Alles, Wilhelm, alles! Ich wünschte, ich hätte dich glücklicher wiedergesehen!«

»Gretchen, ich will dir nicht die ganze Geschichte meiner Schuld erzählen heute«, sagte er, noch immer meine Hand in der seinen haltend. »Ich bin elender gewesen, als du vielleicht geahnt hast. Ich schenke es mir nicht, alles will ich zu deinen Füßen büßen – später, jetzt kann ich es noch nicht, es ist noch nicht Zeit dazu. Nur um eines bitte ich dich jetzt: nimm dich meines Kindes an.«

»Dein Kind!« rief ich. »Oh, bringe es mir, Wilhelm, ich bitte dich.«

»Es ist draußen im Wagen«, sagte er und schritt hinaus. Mit bebenden Händen zündete ich Licht an. Da trat er herein, ein reizendes Kindergesichtchen schaute schlaftrunken aus einem Gewirre von Tüchern und Mänteln, und auf einmal lächelte der rosige Mund, und zwei kleine Ärmchen streckten sich mir verlangend entgegen – mit einem Ausruf des Entzückens nahm ich das Kind in meine Arme. Halb weinend, halb lachend küßte ich die dunklen Augen, und der kleine Kerl jauchzte und lachte mit und fuhr mit den Händen in meine Haare.

»So weiß ich es gut aufgehoben«, sagte Eberhardt, und es schimmerte feucht in seinen Augen. »Ich habe ein Kommando von mehreren Wochen, und sie ist abgereist, ohne sich nach dem Kinde umzusehen. Sie glaubte vielleicht, ich werde es pflegen können, wie immer, und ich hätte es getan, wäre nicht dies dazwischengekommen. Die Kinderfrau ist mir davongelaufen, indem sie erklärte, in einem Hause, wo die gnädige Frau stets böse wäre, wollte sie nicht bleiben. Gretchen, ich weiß, du –«

Er hielt mir seine Hand hin. »Ohne Sorge!« rief ich. »Es wird meine heiligste Pflicht sein, das Kind zu hüten!«

»Lebe wohl!« Er beugte sich über das Kind hernieder und küßte die kleinen Händchen, dann ging er aus der Tür.

Ich war allein – nein, nicht allein, ich hielt ja sein Kind in meinen Armen. Das Herz wollte mir springen vor Wonne, vor Glück. Ich eilte an das Licht und sah in die süßen Kinderaugen, und küßte den kleinen Mund und die runden Schultern, die aus dem Kleidchen hervorsahen. »O du süßes, geliebtes, kleines Kindchen, du sollst deine Mutter nicht vermissen!« flüsterte ich ihm zu, und dann hob ich es wieder auf meinen Arm, schritt im Zimmer auf und ab, und fast unbewußt fing lange nicht singen hören.

Schlaf, Kindchen, schlaf!

Da rief Kathrin ängstlich aus der Nebenstube: »Aber, Gretchen, Kind, was ist dir denn?« Die Alte hatte mich so lange, lange nicht singen gehört.

»Oh, Kathrin, sieh doch, sieh!« rief ich und hielt ihr das Kind entgegen, das, lachend und strampelnd mit Händchen und Füßchen, auf meinem Arme saß. »Was ich hier habe! Sieh doch, er brachte mir sein Kind, sein Liebstes! Ach, Kathrin, nun will ich wieder fröhlich und lustig sein und singen!« Marie, die hereingekommen war, mußte die Lampe bringen, damit Kathrin das süße Ding ordentlich sehen konnte. Die Lippen der Alten bebten leise, als die großen, dunklen Kinderaugen verwundert auf sie herniederschauten, und Marie nannte es einmal über das andere: »Ach, das hübsche, kleine Buberl!«

Wie verweht war meine Trauer, seit langer Zeit hatte mein Herz nicht so frisch geklopft wie jetzt. Ich tummelte mich, die Wiege mußte vom Boden heruntergebracht werden, Milch wurde gekocht, und dann saß ich an der Wiege, in welcher schon meine Mutter und ich gelegen, und sang mit leiser Stimme alte Wiegenlieder, die mich Kathrin als kleines Mädchen gelehrt hatte. Als sich die langen Wimpern des Kindes senkten, da kniete ich nieder, und ein Gebet voll inniger Dankbarkeit stieg aus meinem Herzen empor.


Eine glückliche Zeit durchlebte ich nun, um keinen Menschen kümmerte ich mich, nur das Kind – das Kind war meine einzige Sorge. Daß ich es nicht immer würde bei mir behalten können, daran dachte ich nicht. Ich trug es im Garten umher, wenn die Sonne schien, ich leitete die ersten unbeholfenen Schritte und war selig, als ich aus dem undeutlichen Stammeln nach meinem unermüdlichen Vorsagen das erste klare »Papa« heraushören konnte. Es sollte dies ja der Gruß für Eberhardt sein, wenn er kam, sein Kind zu besuchen.

So vergingen Tage und Wochen. Vom Schloß erfuhr ich nichts, als daß die Damen noch immer in der Schweiz weilten. Eberhardt war nicht hiergewesen, nur Friedel hatte sich hin und wieder eingestellt, um nach dem Kinde zu fragen und einen Gruß zu bringen.

Endlich, an einem schwülen Sommertage, als ich mit dem Kleinen in der schattigen Laube unseres Gartens saß und ihm bunte Steinchen auf den Tisch gelegt hatte, die er mit seinen Händchen unermüdlich wieder herunterwarf, erzählte mir Frau Renner, die mir mit dem Strickstrumpf ein wenig Gesellschaft leistete, gestern abend seien die beiden Damen wieder zurückgekommen, und heute früh sei die Frau v. Eberhardt zur Stadt gefahren. Wahrscheinlich habe sie einen Termin vor Gericht wegen der Scheidung. »Ein hochmütiges, pflichtvergessenes Frauenzimmer«, setzte sie entrüstet hinzu und zeigte auf das spielende Kind. »Es ist eine Sünd' und Schand'! Wenn's nur Gott ihr nicht so hingehen lassen wollt'.«

»Bin neugierig«, fuhr sie nach einer Weile fort, »wem das Kind zugesprochen wird, ihm oder ihr?« – »Ihr?« wiederholte ich. »Mein Gott, ist denn da überhaupt noch ein Zweifel? Das Kind, um das sie sich nie gekümmert hat!« Ich preßte es angstvoll an mich, als wollte man mir es schon entreißen.

»Ja, das kommt ganz darauf an«, meinte die kleine Frau, »wie die Sache liegt. Wenn er schuldig ist, kriegt sie es, und umgekehrt kriegt er es, oder nein, ich glaube, wenn sie alle beide schuld haben, dann behält es die Mutter bis zum vollendeten fünften Jahre, später kann es der Vater reklamieren.«

»Mein Gott!« sagte ich und blickte ganz erstarrt in eine Reihe schrecklicher Möglichkeiten hinein.

Da hörte ich auf einmal einen leichten Tritt auf dem Sande des Gartenweges, das Rauschen eines Kleides, und Frau v. Bendeleben stand vor der Laube, mit großem, erstauntem Blick das Kind auf meinem Schoße musternd. Ich erhob mich verwirrt und ängstlich. »Bleib sitzen, Gretchen«, sagte sie mit ruhiger Miene und nahm Platz auf dem Sessel, den Frau Renner, die ich eilig auf dem Wege nach Hause verschwinden sah, soeben verlassen hatte. Einen Augenblick blieb es still zwischen uns. Um die Lippen des seinen, blassen Gesichts spielte ein eigentümlicher Zug. Sie sah auf den kleinen, schönen Knaben im weißen Kleidchen, der, unbekümmert um die neue Erscheinung, fortfuhr, mit den Steinchen zu spielen, während er jene unverständlichen und doch zum Herzen gehenden Laute von sich gab, die ein Mutterherz so gut begreift, als hätte das kleine Geschöpf sich in deutlichster Rede ausgedrückt.

»Ich hörte bereits gestern abend, als ich ankam«, begann sie endlich, »daß du die Freundlichkeit hast, mein Enkelkind zu pflegen. Wir sind dir in der Tat vielen Dank schuldig und wollen dir nun auch nicht länger die Last aufbürden, die dir die Wartung des Kleinen gemacht hat. Ich werde ihn mitnehmen und sage dir unseren besten Dank für deine Güte.«

»Das Kind ist mir keine Last«, sagte ich, vor Angst kaum imstande zu sprechen – »ich habe es lieb und –«

»Das glaube ich wohl, und es war, wie gesagt, sehr freundlich von dir«, wiederholte Frau v. Bendeleben, und eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. »Es ist allerdings eine eigentümliche Idee von Eberhardt gewesen, das Kind gerade hierherzubringen, indessen –«

»Aber mein Gott, gnädige Frau«, rief ich, »wo sollte denn das Kind bleiben? Sie waren verreist mit Frau v. Eberhardt, die Wärterin lief davon – wie sollte ein Mann, der ohne weibliche Bedienung ist und außerdem noch seinen Dienst versehen muß, es denn anfangen, ein kleines Kind zu beaufsichtigen?«

»So? Die Wärterin lief davon?« fragte Frau v. Bendeleben. »Wunderbar! Es war doch sonst eine ganz vernünftige Person. Nun gleichviel, es wäre am Ende nur in der Ordnung gewesen, daß er das Kind auf das Schloß gebracht hätte, wo es prächtig aufgehoben gewesen wäre bei der Rißmann, anstatt den Skandal noch zu vergrößern und es gerade hierherzubringen. Für Ruth ist dies ein Schlag ins Gesicht, der – das mußt du einsehen – geradezu perfide genannt werden muß. Und nun gib mir den Kleinen, der Wagen hält vor der Tür.«

»Gnädige Frau, verlangen Sie alles von mir, nur nicht das Kind«, bat ich und stand von meinem Platze auf. Der Kleine schlang beide Ärmchen um meinen Hals und wandte scheu das Köpfchen zurück. »Ich weiß, wie tief ich in Ihrer Schuld bin, alles will ich tun, um meine unbegrenzte Dankbarkeit, meine Liebe für Sie und den Herrn Baron zu beweisen. Aber das Kind, das er mir anvertraute, kann ich nur ihm, oder auf seinen Befehl herausgeben.«

Einen Augenblick sah sie mich wie verdutzt an, dann sagte sie, noch ruhig, obgleich schon ein verhaltenes Beben in der Stimme lag: »Wenn du wirklich dankbar wärest, so würdest du nicht so sprechen – denke nach, in was für eine Situation bringst du dich und uns, wenn du dich weigerst, das Kind herauszugeben.«

»Es tut mir leid, aber ich –«

»Übrigens ist es lächerlich, daß ich erst noch frage«, schnitt sie mir die Antwort ab. »Du hast überhaupt nicht das mindeste Recht, dich zu weigern. Es ist das Kind meiner Tochter und geht dich gar nichts an. Es ist nicht allein mein Recht, es ist auch meine Pflicht, das Kind seiner Mutter zurückzugeben.«

»Seiner Mutter, die sich nie um das Kind kümmerte?« fiel ich gereizt ein. »Alles, was sie dazu bewegt, es wieder zu verlangen, ist Angst vor der Welt, wenn man erführe, daß sie abreiste, ohne auch nur die geringste Anordnung für die Pflege des Kindes zu treffen! Sie überließ dies dem Vater, nun mag sie auch zufrieden sein mit dem, was er in dieser Sache zu tun für gut fand. – Ich wiederhole es nochmals, gnädige Frau, es tut mir leid, aber ich gebe das Kind nur in die Hände dessen zurück, der es mir anvertraute.«

»Gretchen!« klang es gereizt und atemlos. Leichenblaß sah sie aus. »Vergißt du ganz, mit wem du sprichst? Willst du der Unglücklichen nicht nur den Gatten, sondern auch das Kind abspenstig machen?«

»Den Gatten?« fragte ich. »Und Sie, gnädige Frau, Sie glauben das immer noch? Sie, die ich so verehrt, so über alles geliebt habe? Freilich, wie soll ich mich verteidigen, ohne zugleich die Tochter furchtbar anzuklagen. Das Mutterherz würde mir doch keinen Glauben schenken. Aber fragen Sie Hanna oder Bergen, vielleicht urteilen Sie dann anders über mich, wenn sie Ihnen die ganze Wahrheit gesagt haben werden.«

»Genug!« unterbrach mich Frau v. Bendeleben. Ihre Blässe war einer hohen Röte gewichen. Möglich, daß sie ahnte, es könne nicht alles so sein, wie man ihr gesagt hatte. Ihre Augen blitzten mich zornig an: »Genug! Diese widerwärtige Szene soll ein Ende haben. Ich will nicht das Kind meiner Tochter in den Händen der Gelieb –«

Sie vollendete nicht, ein zorniger Aufschrei von mir ließ sie erschreckt einhalten. »Beleidigen Sie mich nicht, meine gnädige Frau!« sagte ich mit erhobener Stimme und trat einen Schritt näher. Der Kleine legte ängstlich seinen Kopf an meinen Hals. »Schon der Leutnant v. Eberhardt hat dem Herrn Baron erklärt, daß ich seine Braut war. Wie es kam, daß ich es nicht blieb, das könnte ich Ihnen ebenfalls erzählen. Doch es ist eine häßliche Geschichte, und ich will sie Ihnen ersparen, möglich, daß sie doch einmal vor Ihre Ohren kommt. Ich stehe ganz allein, ganz schutzlos vor Ihnen, augenblicklich besitze ich nichts als meinen guten Ruf, meine Ehre. Es ist Ihnen ein leichtes, mir sie zu rauben, aber noch gibt es, Gott sei Dank, Leute, die es beweisen können, daß ich nie etwas Unrechtes getan habe, daß –«

»Verschone mich, ich kann deine Verteidigungsrede nicht mit anhören, mir mangelt die Zeit dazu – gib mir das Kind, ich habe Eile.« Sie machte eine Bewegung nach dem Kleinen, der nun, durch den ganzen, etwas heftigen Wortwechsel erschreckt, in lautes Weinen ausbrach.

Ich war zurückgetreten und wollte ihn beruhigen. »Ich habe Eile, bemerkte ich schon einmal«, sagte Frau v. Bendeleben ungeduldig. »Laß ihn immerhin weinen, er wird sich schon wieder beruhigen, und nun zum letzten Male: gib mir das Kind!«

»Das Kind bleibt hier, liebe Tante«, sagte plötzlich eine ruhige Stimme hinter mir. Ich wandte mich und erblickte zu meiner unaussprechlichen Beruhigung Eberhardt, der, die Hand an die Mütze gelegt, der Frau v. Bendeleben eine tiefe Verbeugung machte.

»Ich konnte es mir denken«, fuhr er fort, »daß dein gutes Herz dich sofort hierhertreiben würde, um dein Enkelkind in deine großmütterliche Obhut zu nehmen, und ich danke dir dafür herzlich und aufrichtig. Aber leider muß ich dir deinen Wunsch abschlagen. Das Kind bleibt hier, ich kann nichts an dieser Bestimmung ändern. – Aber noch einmal, liebe Tante, meinen innigsten Dank für deine freundliche Absicht.« Er ergriff die feine Hand im hellgrauen Handschuh und drückte einen Kuß darauf.

Sprachlos starrte Frau v. Bendeleben den jungen Mann an, der so ruhig und bestimmt seinen Willen kundtat und, mit gänzlichem Übersehen späterer Rechte, sie einfach wieder »liebe Tante« anredete, als ob er nie der Schwiegersohn gewesen wäre.

»Ich war schon im Schloß«, begann er aufs neue, als Frau v. Bendeleben ihn immer ansah, als wäre er oder sie irrsinnig, »und hörte, daß du hierhergefahren seiest. Da ging ich gleich hinterher, um Meinungsverschiedenheiten zu verhüten. Ich freue mich, daß ich dich hier noch treffe, da deine Anwesenheit mir Gelegenheit gibt, den Kleinen einmal nach langer Zelt wiederzusehen und der freundlichen Pflegerin zu danken. Noch einen Moment, liebste Tante, ich werde dich, wenn du es gestattest, begleiten, der Onkel hat mir eine Unterredung bewilligt – ich möchte nicht gern im Bösen von euch scheiden, wenn ich euch auch als Schwiegersohn nicht alles – so – so« er brach ab. Eine dunkle Röte färbte einen Augenblick das stolze Gesicht. Er beugte sich zu dem Kinde nieder, das aufgehört hatte zu weinen und, ihn erkennend, ihm zujauchzte. Dann nahm er es auf seinen Arm, und ohne mich anzusehen, setzte er hinzu: »so sollt ihr doch an den Neffen nicht in Groll denken.«

»Es ist gut«, sagte Frau v. Bendeleben endlich und ließ ihre dunklen Augen gleichgültig über die anmutige Gruppe von Vater und Sohn schweifen. »Es muß sich finden mit dem Kinde, wem es gerichtlich zuerkannt wird. Meinetwegen mag es solange hier bleiben, es handelt sich ja nur noch um einige Tage.«

»Verzeihung, liebe Tante«, unterbrach sie Eberhardt, »das Gericht hat nichts mehr in der Sache zu tun. Ruth und ich haben sie bereits geordnet. Sie war so liebenswürdig, mir heute früh auf meinen Wunsch das Kind zu überlassen, das heißt, sie entsagte feierlich allen Ansprüchen darauf in Gegenwart ihres und meines Anwaltes, und somit dürfte diese Streitigkeit beendet sein.«

Wäre ein Blitzstrahl zu Füßen der blassen Frau niedergefahren, sie hätte nicht starrer, nicht erschrockener aussehen können als jetzt. Ihre großen Augen hafteten mit wahrhaft entsetztem Ausdruck an Eberhardt, und über die farblosen Lippen kam endlich ein leises, tonloses: »Es ist nicht möglich!«

»Doch, es ist so, und ich kann dir wiederholen, daß sie freiwillig und sofort auf meinen Wunsch einging –«

»Wilhelm!« rief Frau v. Bendeleben, aufs tiefste erschüttert, und trat einen Schritt näher. »Eine Mutter sollte ihr Kind gleich hergeben? Wilhelm, sag nein, sag nein!« Flehend hingen ihre Blicke an seinem Gesicht.

Sie tat mir leid, die arme gedemütigte Mutter, der ein einziges Wort den tiefen Schatten in dem Charakter der schönen, über alles geliebten Tochter enthüllte. Wenn sie auch früher manchmal über ihr exzentrisches Benehmen geseufzt, sie getadelt und manche ihrer Handlungen nicht gebilligt hatte, es war ihr doch stets nur als Laune erschienen. Der effektvolle Schluß der jungen Ehe, den die junge Frau so meisterhaft in Szene zu setzen wußte, indem sie durch den Raub meiner früheren Briefe ihren Mann als treulos in den Augen der Eltern hinzustellen versuchte, hatte das Mutterherz vollständig für die arme, betrogene Tochter eingenommen. Sie glaubte natürlich alles, und entschuldigte die Launen der jungen Frau durch die trüben Erfahrungen an der Seite eines Mannes, der seine Gattin hintergeht. Es war ja natürlich, daß bittere Gemütsstimmungen einkehren mußten in ein so armes, gequältes Herz. Nun noch der Schimpf, als der Mann sein Kind in die Hände derjenigen gab, die sie als Urheberin dieser ganzen traurigen Geschichte betrachtete. Sie war heute hierhergekommen, um den »Skandal« ein Ende zu machen, um das Kind der armen, gekränkten Mutter wieder zuzuführen, und nun wurde ihr gesagt, daß diese tiefgekränkte, verkannte Frau ganz ruhig und bereitwillig das Kind – ihr Kind – dem verabscheuten Gatten überließ!

Sie sah zum Erbarmen aus, diese stolze, jetzt so gedemütigte Frau. Auch Eberhardt empfand dies. Einen Augenblick leuchtete es wie Triumph aus den dunklen Augen, dann gewann schnell das gute Herz wieder die Oberhand. Er trat einen Schritt näher und sagte freundlich: »Wundert dich das so sehr, liebe Tante? Nach dem Vorspiel kann dich der Schluß wenig befremden, sollte ich meinen. Ich glaube, daß der Kleine Ruth stets sehr wenig interessiert hat, und der beste Beweis ist die plötzliche Abreise mit dir nach – – – Ihr waret ja wohl in der Schweiz? Sie hat nicht einmal einen Abschiedskuß auf den kleinen Mund gedrückt. – Sie dachte, verzeih, liebe Tante, auch du dachtest – das Kind ist ja während der Abwesenheit der Mutter in Wien bei dem Vater und der Wärterin wohl aufgehoben gewesen, warum nicht auch jetzt? Leider stand diesmal die Sache anders. Das Gerücht unserer gestörten Verhältnisse verbreitete sich, und eines Tages gingen mir Kinderfrau, Stubenmädchen und Köchin davon. Wo sollte ich hin? Zum Onkel, von dem ich aufs tiefste erzürnt geschieden war? Das ging nicht. Ich wußte ja nicht einmal, ob er von meinem Kinde etwas wissen wollte, das die eigene Mutter vergessen zu haben schien. Sollte ich die Frau eines Kameraden bitten, sich des Kleinen anzunehmen? Das hätte nur den Skandal vergrößert. Mit einem Worte, ich wußte niemand weiter auf der ganzen Welt als diejenige, die ich auf unerhörte Weise beleidigt und gekränkt hatte um Ruths willen. Und sie nahm das Kind mit Freuden auf. – Wenn du, liebe Tante, darüber nachdenkst, so kann dich die Handlungsweise Ruths nicht in Erstaunen fetzen. Ihr würde der kleine Schelm doch nur eine lästige Fessel sein, um so mehr, da sie, wie sie mir heute früh selbst erklärte, schon in einigen Tagen nach Wien zu gehen gedenkt. Fessellos will sie sein, und sie versteht es auch, die Ketten zu brechen, das hat sie mir bewiesen.«

Er seufzte tief auf, als er die letzten Worte leise vor sich hin sprach.

Frau v. Bendeleben war kraftlos auf den Stuhl gesunken und hielt sich ihr Taschentuch vor die Augen. Eine bange Pause trat ein, nur ein qualvolles Stöhnen drang unter dem weißen Tuche hervor, das die zitternden Hände hielten.

»Ich kann es nicht glauben, ich will es nicht glauben!« stieß sie endlich heraus. »Ich will sie selbst sprechen, sie ist durch die Aufregung der ganzen Angelegenheit verwirrt gewesen. Es kann nicht sein, es darf nicht sein!« Sie erhob sich. »Komm, ich will klarsehen.«

»Verwirrt?« fragte Eberhardt mit leiser Stimme, indem er mir das Kind zurückgab. »Ach nein, Tante, ich glaube, wenn du plötzlich die ganze Reihe dieser Verwirrungen übersehen könntest – du würdest schmerzlich erstaunen!«

»Eberhardt«, unterbrach ihn Frau v. Bendeleben bittend, »laß mich das Kind mitnehmen. Glaube mir, es soll meine heiligste Pflicht sein, es zu erziehen. Ich will alles wieder gutmachen, was die Mutter an ihm gesündigt – gib mir das Kind!«

Über das Gesicht Eberhardts, zu dem ich ängstlich aufblickte, als hinge mein Leben von der Antwort ab, die nun folgen mußte, flog ein eigentümlicher, beinahe spöttischer Zug. »Ich danke dir, liebe Tante Bendeleben«, sagte er ruhig und fest, »aber es bleibt bei dem, was ich beschlossen habe. Es wäre überdies nur eine kurze Zeit, die das Kind bei dir verleben könnte. Du wirst es begreiflich finden, daß ich meinen Sohn bei mir oder wenigstens in meiner Nahe zu behalten wünsche. Da ich hoffen darf, daß man mir auf mein Gesuch die Versetzung in ein anderes Regiment gewahren wird, und ich das Kind jedenfalls dorthin mitzunehmen entschlossen bin, so würde es nur ein unnötiges Herausreißen aus seinen Gewohnheiten sein, was ja kleinen Kindern nicht guttun soll.«

»Und wer soll denn dort in deiner künftigen Garnison das Kind pflegen und erziehen, da du es ja doch nicht allein kannst, wie du vorhin bemerktest?« fragte Frau v. Bendeleben und sah ihn verletzt an.

»Oh, Tante«, erwiderte er, und seine Augen leuchteten freudig auf, während ein süßer Schreck durch mein Herz fuhr. »Oh, Tante, das ist mein Geheimnis. Aber glaube mir, die beste, liebreichste Hand wird mein Kind pflegen, und das edelste Herz wird es lieben, wenn sich meine Hoffnungen verwirklichen.«

Ein rascher verständnisvoller Blick streifte mich. Ich fühlte, ich war dunkelrot geworden.

»Ich glaube zu verstehen«, sagte die Baronin und zuckte mit den Achseln. »Wäre Ruth eine Ahnung davon gekommen, was mir jetzt klar zu werden beginnt, sie hätte dir das Kind nicht gelassen, um keinen Preis der Welt. Ich selbst würde sie auf den Knien darum gebeten haben, es nicht fortzugeben. Oh, daß ich mit der Reise nachgab! Wären wir doch hiergeblieben, diese Schande hätte nie unsere Familie treffen können!«

»Weiß Gott, Tante«, brauste jetzt Eberhardt auf und stieß unmutig mit dem Fuße an den kleinen Kinderwagen, daß er weit über den Grasplatz rollte und dort in einem großen Päonienbeet steckenblieb, »du machst es mir sehr schwer, in Frieden ober wenigstens in Ruhe von euch zu scheiden. Ich habe die Ehrerbietung gegen dich und den Onkel stets zu bewahren gesucht. Aber diese Reden könnten selbst ein Lamm zur höchsten Wut reizen. Ich bin dir für meine zukünftigen Handlungen auch nicht die geringste Rechenschaft schuldig, deine Familie und die meinige magst du ganz ruhig als vollständig getrennt betrachten, damit du die ›Schande‹, wie du dich auszudrücken beliebst, von dem Standpunkte einer Unbeteiligten kritisieren kannst. Ich tue, was ich für recht halte, und wenn alle Bendelebens der Welt meine Handlungsweise als eine ›Schande‹ auffassen. Wollte Gott, ich wäre früher schon meinem Rechtsgefühl gefolgt und hätte mich nicht von einem verführerischen Irrlicht in den Sumpf locken lassen.«

Er hatte mit lauter, heftiger Stimme gesprochen – Frau v. Bendeleben stand da und zuckte mit keiner Wimper. »Ist deine Rede beendet, oder hast du mir noch etwas zu sagen?« fragte sie eisig. »Dann mache rasch, ich habe nicht mehr lange Zeit und darf wohl kaum erwarten, daß du Lust hast, nach dieser Auseinandersetzung noch mit ins Schloß zu kommen.«

»Allerdings komme ich noch mit ins Schloß«, versetzte er gereizt. »Der On – der Baron v. Bendeleben erwartet mich zu einer Unterredung, und ich wüßte nicht, warum ich sie wie ein Feigling vermeiden sollte.«

»Dann bitte ich, mich zurückziehen zu dürfen«, sagte sie ebenso eisig wie vorhin. »Meine Nerven können ohnedies ein solches Wortgefecht nicht vertragen.« Sie schritt, ohne mich oder das Kind anzusehen, den Weg entlang zwischen den Stachelbeer- und Johannisbeersträuchern, äußerlich ruhig – doch ihre innere Aufregung mußte furchtbar sein. Denn als die Spitzen ihres Kleides in einem solchen Strauch hängenblieben, riß sie dieselben so hastig los, daß ein ganzes Stück des prachtvollen Gewebes sitzenblieb. Eberhardt beugte sich rasch zu dem Kleinen und drückte einen Kuß auf seine Stirn, dann sah er mich an und sagte: »Leb wohl, Margarete, du wirst von mir hören. Hab Dank für alle deine Liebe«, und schritt auch hinaus.

Was mochte in der Seele dieser stolzen Frau toben und wühlen? Das Mutterherz lehnte sich auf und wollte nicht an den frivolen Charakter der Tochter glauben, obgleich sich die Wahrheit mit siegender Macht ihr aufdrängte. Sie begann einzusehen, daß doch nicht alles so sein könne, wie man ihr vorgeredet hatte. Sie war eine rechtliche Natur, und das Bewußtsein, vielleicht ungerecht geurteilt zu haben, war ihr ein schrecklicher Gedanke. Das wußte ich, ebensogut wußte ich aber auch, daß die Hindeutung Eberhardts auf meine Person von ihr richtig verstanden worden war, und daß diese Verirrung, wie sie stets die Liebe eines Adligen zu einer Bürgerlichen zu nennen pflegte, imstande war, den letzten schwachen Rest von Zuneigung für mich in ihrem Herzen vollständig zu zerstören. Sie tat mir leid, ich wußte, sie kämpfte schwer – wer konnte ihr diesen Kampf ersparen.


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