Wilhelmine Heimburg
Aus dem Leben meiner alten Freundin
Wilhelmine Heimburg

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Ein windiger, kalter Februartag neigte sich zu Ende, da stand ich vor Frau v. Bendeleben mit überströmenden Augen und stammelte schluchzend meinen Dank für die zahllosen Wohltaten, die ich in ihrem Hause genossen. Der Baron, in Hut und Überzieher, um mich zu begleiten, erklärte, um seine eigene Rührung zu verbergen: »Gretel, weine nicht, im Grunde wechselst du ja nur dein Schlafzimmer, du bist ja doch jeden Tag hier!« Frau v. Bendelebens Augen waren auch feucht, als sie mir sagte: »Gretchen, wenn du irgend Rat und Hilfe bedarfst, so weißt du, wo ich zu finden bin. Gottes Segen auf allen deinen künftigen Schritten. Möge dir ein glückliches Los im Leben zuteil werden. Übersieh nicht die Hand, die dir das Glück bieten will, ergreife sie rasch und halte sie fest. Es geht sich besser durchs Leben an der Seite eines braven Mannes – du verstehst, was ich meine; prüfe und überlege!«

Ruth lachte etwas spöttisch: »Wir kommen auch alle zur Hochzeit, nicht wahr, Mamachen?«

Der Baron stieß ungeduldig mit dem Stock auf die Erde: »Mein Gott, so laßt sie doch zufrieden, sie ist ein vernünftiges Mädel und wird allein wissen, was sie zu tun hat. Lobt ihr nicht den Pastor so sehr, das bewirkt oft gerade das Gegenteil. Die beiden werden allein einig werden, wenn's so sein soll.«

»Der Pastor will mich ja gar nicht«, sagte ich, böse gemacht durch die Anspielungen. »Höchstens lacht er über mich und mokiert sich, und deshalb kann ich ihn nicht leiden.«

»Na, nun komm, Gretel«, sagte der Baron rasch und beugte einer kleinen Szene dadurch vor, denn Frau v. Bendelebens große Augen blitzten mich zornig an. »Ich habe später keine Zeit«, setzte er hinzu, »und ich möchte dich gern in deine alte Heimat abliefern.«

Ich beugte mich noch einmal dankend über die Hand der Frau b. Bendeleben, die sie mir kalt überließ, reichte der Gräfin Satewski die Hand, die gnädig herablassend meinte, ich möge nur dann und wann einmal zu ihr kommen. Weinend schritt ich mit dem Baron hinaus. Dort stand Lisel und sagte mir mit trauriger Miene Lebewohl. Der alte Johann kam mir auf dem Korridor entgegen, er trug im Arme meine Blumenstöcke. »Ich gehe mit, Fräulein Gretchen«, sagte er. »Der Franz wollte das Zeug hinunterbringen, aber das will ich mir doch nicht nehmen lassen. Kommen Sie nur recht oft wieder, ich begleite Sie abends auch allemal sicher wieder ins Dorf. – Ja, Abschiednehmen tut weh. Wer ein bißchen Herz hat, dem geht's gar gewaltig nahe.«

Niedergeschlagen schritt ich neben dem Baron durch die Allee und gedachte, wie ich als kleines Mädchen hier aus Angst vor dem Gewitter hergeflüchtet war. Ich sah zur Erde, als ob ich die Spuren meiner Kinderfüßchen erblicken müßte: wie war die Zeit doch rasch dahingeeilt! Nun ging ich wieder fort aus dem Hause, das mich so liebevoll aufgenommen, meine verlassene Kindheit zu einer glücklichen umgewandelt, mich den Schatz der Bildung und alles, was das Leben schmückt, kennen gelehrt hatte, wo ich endlich ihn gefunden hatte, den geliebten Bräutigam. Ich blickte noch einmal zurück nach dem Turme, von wo die Fenster unseres Mädchenstübchens herabwinkten. Es war mir, als ob sich ein schwarzer Flor um meine Augen legte und eine Stimme mir zuflüsterte: »Das war deine schönste Zelt, sie kehrt nie wieder!«

»Na, Gretel, nun weine nicht mehr, Kind. Es ist ein Abschnitt in deinem Leben, das gebe ich zu, aber es ist ein kaum zu merkender Abschnitt. Du kommst, sooft du willst, zu uns, je öfter desto lieber. Sieh einmal, vielleicht gefällt dir das alte Haus, das sich aufs neue geschmückt hat für die junge Herrin.«

Ich sah auf, kaum traute ich meinen Augen. Sauber mit Ölfarbe gestrichen, war das alte verwitterte Gebäude kaum wiederzuerkennen. Hell blitzten die klaren Scheiben aus der braunen Einfassung der Fenster, und über der geöffneten Haustür mit dem blanken Messingschloß hing eine Girlande ans Tannengrün. Der Baron schob mich hinein und öffnete die Wohnstube – doch was ist das? Da waren sie, all die lieben Möbel aus dem Schlosse. Mir schien's, als stände ich noch in meinem Turmstübchen, durch die offene Tür des Schlafzimmers sah ich das Himmelbett schimmern mit seinen grünen Vorhängen. »Oh, das habe ich Ihnen zu danken!« rief ich, und aufs neue flossen meine Tränen, aber diesmal vor Freude, und dankbar preßte ich die Hand des Barons in den meinen. »Wie soll ich jemals alle diese Liebe vergelten?«

»Wenn's dir nur gefällt, Gretel. Du hast uns auch viel Freude gemacht, Kind. Komm nur zuweilen und singe mir ein Lied.«

Dann ging er rasch fort, als ob er sich meinem Dank entziehen wollte. Ich stand allein in meinem eigenen »Zu Hause«, ein stolzes Gefühl stieg in mir auf. Wie nett war es jetzt hier, wie gemütlich! Es war nichts vergessen an der ganzen Einrichtung, nur die Blumen fehlten noch, die Johann draußen auf den Flur gestellt hatte – wie sorgten sie doch droben im Schloß, daß mir der Unterschied zwischen hier und dort nicht zu fühlbar werde.

Aber was mochte nur Kathrin sagen? Ob sie noch böse war? »Kathrin!« rief ich aus der Tür. Da kam sie die Treppe herunter mit verdrießlicher Miene. »Bin mit meinem Spinnrad nach oben gezogen«, murmelte sie, »passe doch nicht mehr zu den neumodischen Sachen hier unten, wirst dir können auch eine neue Magd halten, Kathrin versteht es nicht, mit solch feinem Gerät umzugehen.«

»Weißt du, Kathrin«, sagte ich sehr bestimmt und drückte sie auf einen Stuhl in der Nähe des Ofens, »wir müssen jetzt einmal zusammen leben, und es wäre sehr vernünftig von dir, wenn du deinen Groll fahren ließest und dich bemühtest, freundlich gegen mich zu sein, wie ich es auch gegen dich bin. Du änderst an meinen Ansichten nichts durch deine mürrische Laune, und hast durchaus kein Recht, dich in meine Angelegenheiten zu mischen. Sobald mein Bräutigam majorenn ist – und sein vierundzwanzigster Geburtstag ist nächsten Sommer –, tritt er vor meinen Vater und sagt ihm, daß wir uns lieben. Bis dahin schweigst du zu jedermann über diese Angelegenheit. Laß dir ja nicht einfallen, drüben bei Renners zu plaudern! Und nun laß uns Frieden schließen.« Ich trat näher und hielt ihr meine Hand hin.

Als ich sie dabei näher ansah, fiel mir auf, wie furchtbar sich das alte Gesicht verändert hatte. Eine beinahe gelbliche Hautfarbe und blaue Lippen sowie ein heftiges Zittern deuteten an, daß die Alte krank sei. »Was fehlt dir, Kathrin?« fragte ich erschrocken und erfaßte ihre Hand. Kalt lag sie in der meinen. »Kathrin! Du bist krank, du mußt zu Bett, ehe es schlimmer wird!«

»Ich bin eben erst wieder aufgestanden und auf der Besserung«, sagte sie zähneklappernd. »Ich war recht krank, aber es geht besser, nur das Aussehen –«

»Es ist unverantwortlich, daß Sie aufgestanden sind, Kathrin«, tönte es hinter mir. Ich wandte mich um und stand der Frau Gerichtsschreiber Renner, der Mutter des jungen Pastors, gegenüber, die einen Napf mit dampfender Suppe in der Hand hatte. Sie fuhr fort: »Sie können glauben, Fräulein Gretchen, sie war recht krank, die Kathrin, und ich habe ihr heute früh wohl hundertmal gesagt, sie soll liegen bleiben. Sie würden's ihr doch wohl nicht übelgenommen haben?«

Kathrin krank! Und ich hatte nichts davon gewußt – War aus Trotz über ihre bösen Worte nicht wieder zu ihr gegangen! »Aber warum hat man mir nichts davon gesagt?« rief ich vorwurfsvoll. »Ich hätte sie gepflegt. Das ist unrecht von dir, Kathrin, und auch von Ihnen, Frau Renner.«

»Ach was, mach nicht solch Gerede. Ich wollt's nicht haben, das kannst du dir denken, und nun ist's genug, ich will nicht länger krank sein!«

»Sie müssen augenblicklich wieder ins Bett«, eiferte nun die kleine behende Frau Renner. »Sie können sich den Tod holen. Hier essen Sie Ihre Wassersuppe, und dann vorwärts ins Nest. Was kann's helfen? Was einmal nicht geht, geht nicht, und das Fräulein muß wieder aufs Schloß, wenn es sich nicht allein bedienen kann.«

Es lag ein Vorwurf in diesen Worten, der mich bitter berührte. »Seien Sie ohne Sorge, Frau Gerichtsschreiberin«, sagte ich etwas kühl, »ich muß nicht auf das Schloß, und werde nicht nur mich selbst bedienen, sondern werde auch Kathrin pflegen, und damit Sie sehen, daß dies mein vollständiger Ernst ist, so möchte ich Sie bitten, mir einen Augenblick Ihre Magd zur Verfügung zu stellen, damit sie mir behilflich ist, Kathrins Bett in mein Schlafzimmer zu schaffen.«

Das freundliche Gesicht der Frau Renner sah ganz betroffen aus. »In das schöne Schlafzimmer?« fragte sie.

»Nimmermehr!« rief Kathrin. »Mein altes Bett soll nicht hierher, ich will oben bleiben in meiner Dachstube, hier –«

»Du schweigst!« sagte ich sehr bestimmt. »Ich habe hier zu befehlen. Wenn ich dich herunternehme, so geschieht es aus zweierlei Gründen. Erstens kann ich Tag und Nacht um dich sein, was ich in der unheizbaren Dachstube nicht ausführen könnte, und zweitens –«

»Ja, das ist recht, liebes Fräulein Gretchen«, unterbrach mich die alte Frau gerührt. »Sie wird nicht gesund in dem alten zugigen Loch da oben. Ich hab's ja gleich gesagt. Aber als der Herr Baron kam und hier alles so hübsch machen ließ, und der Tischler die neuen Sachen brachte, da trug sie ihr Bett und Spinnrad nach oben. Sie konnte wohl hier unten in der Küchenstube bleiben, und das Spinnrad am Ofen hätte die schöne Stube auch nicht verunziert, aber sie war einmal eigensinnig.«

Ja, eigensinnig ist sie, dachte ich, aber diesmal wird es ihr nichts helfen. Sie brummte allerhand vor sich hin, das ich nicht beachtete. Die Frau Renner holte ihr Mädchen, eine flinke, saubere Person, und bald stand das einfache Bett an der wärmsten Stelle meines Schlafzimmers und das Spinnrad am Ofen der Wohnstube. Mit Hilfe der Frau Renner lag bald die vor Frost zitternde Kathrin im Bett und trank brummend und murrend eine Tasse Tee, obwohl der Ausdruck in den Augen schon viel freundlicher war.

»Siehst du, Kathrin«, sagte ich heiter, »hier muß es dir ja gefallen. Ist dir nicht schon ganz mollig? Eigentlich sollte ich dich schelten, doch damit will ich warten, bis du wieder ganz gesund bist. Geschenkt wird es dir nicht, das merk dir«, fügte ich lächelnd hinzu, indem ich noch eine Decke über ihr Bett breitete.

»Ach, Kind, ich hab' keine Ruhe im Bett; laß mich aufstehen. Wer soll dir denn Holz vor den Ofen tragen und das Abendbrot besorgen? Ach, mein Gott, es geht ja gar nicht.«

»Ängstige dich nicht, Kathrin, ich weiß noch sehr gut, wo unser Holzstall ist, und die Speisekammer kenne ich auch noch – wenn nur was drinnen ist.«

»Was wird nichts darin sein?« fragte die Alte ganz gekränkt. »Ich wußte doch, daß du kommen willst, und habe für Wurst und Brot und Eier Sorge getragen. Aber Tee und Schokolade und solche Kinkerlitzchen, wie du sie gewohnt bist im Schloß, die konnte ich nicht anschaffen.«

»Na, was gibt's denn Schöneres wie Wurst und Butterbrot, Kathrin? Warte nur, du sollst sehen, wie ich gleich darüber herfalle. Sieh so, nun habe ich eine Schürze vor, nun passe auf, wie gut ich wirtschaften kann.« Damit ging ich in den Holzstall, holte einen Arm voll Holz, und bald prasselte das Feuer lustig im Ofen. Die Lampe wurde angezündet, die Läden geschlossen, die Speisekammer revidiert, und dann setzte ich mich mit einem großen Butterbrot seelenvergnügt in die Sofaecke und aß. Nie hat's mir besser geschmeckt, es war ja Heimatskost. Unbeschreiblich anmutend war mir dieses Zuhause. Wenn nun gar erst Kathrin genesen ist und mein Vater kommt, dann muß es wunderschön hier werden in dem alten Hause.

Nach dem einfachen Abendbrot ging ich, mit Kathrin plaudernd, die sich im Bette gedreht hatte, um mich sehen zu können, ab und zu, räumte meine Sachen ein, packte die Körbe mit den Kleidern aus und hing sie in den großen Kleiderschrank. »Was wirst du nur mit all dem Zeug anfangen, Gretel?« fragte die Alte kopfschüttelnd. »Du kannst doch hier nimmer solchen Staat machen.«

»Nun, nun, Kathrin, ich werde doch noch oft aufs Schloß gehen, und dann vergiß nicht, daß ich nicht zu lange mehr bei dir bleibe. Wart nur, du Böse, du willst immer mit aller Gewalt vergessen, daß ich heimlich Braut bin und bald heiraten werde.«

Ein tiefer Seufzer antwortete mir, während ich, ihre Grillen kennend, ihn überhörte und ruhig in meiner Arbeit fortfuhr. Nach einer Stunde war meine kleine Habe wohlgeordnet in Schränken und Kommoden untergebracht. Kathrins Atemzüge waren leiser geworden, sie schlief. Ich setzte mich an den Ofen auf ein Fußbänkchen und löste das Band, welches ich um Eberhardts Briefe geschlungen hatte. Der Schein der Lampe fiel matt darauf, aber ich konnte sie doch lesen, ich konnte ja beinahe jeden auswendig! Es war doch wunderschön, so zu sitzen, so allein und ungestört, ohne Angst zu haben, ein Unberufener entdecke mein Geheimnis. Blatt für Blatt nahm ich in die Hand und wollte sie noch einmal durchlesen.

Der erste Brief! Mit welchem Entzücken hatte ich ihn erbrochen. Man sah es ihm an, daß er oft auseinander gefaltet war, und daß ich ihn tagelang mit mir herumgetragen hatte. Ach, so ein erster Liebesbrief ist doch ein bedeutungsvolles Ereignis in einem Mädchenleben. Wenn auch der Geliebte uns in Worten noch soviel gesagt hat, Geschriebenes bringt einen gewaltigeren Eindruck hervor. Auch jetzt ruhten meine Augen wieder auf den teuren Schriftzügen.

»Mein geliebtes Mädchen!« schrieb er. »Da sitze ich nun in meiner Junggesellenwohnung wie früher. Es ist noch dieselbe alte, etwas eingewohnte Stube mit den schadhaften Möbeln, die schon vor mir wer weiß wie viele Leutnants möglichst ruiniert haben. Es ist alles noch so, wie ich es verlassen, nur ich bin ein anderer geworden. Ach, Gretchen, mein süßes, geliebtes Gretchen, ist es denn wirklich Wahrheit, Du bist mein geworden in aller Deiner Lieblichkeit? Ich kann es kaum fassen, daß es so ist. Jener Abend im Walde, in dem klaren Mondschein, kommt mir wie ein wunderschöner Traum vor. Und doch ist es Wirklichkeit, ich habe es in Deinen Augen gelesen, Dein Mund hat es mir zugeflüstert, Du liebst mich und willst meine liebe, kleine, angebetete Frau werden!

Wie anders erscheint mir das Leben jetzt, ich denke gar nicht mehr an all das Unangenehme, was es sonst mit sich brachte. Meine Kerle wundern sich gewiß heimlich, einen so gnädigen Herrn an mir zu haben. Selbst das endlose, ewige Leutnantsein kommt mir nicht mehr so schrecklich vor, mir ist augenblicklich sogar die Beförderung gleichgültig, ich denke nur an Dich, sehe nur Deine süßen, blauen Augen vor mir – alles andere kümmert mich nicht.

Wie danke ich Dir, daß Du mich lieben willst. Ich habe ja keine Eltern mehr, und was mein Herz an Liebe besitzt, den ganzen reichen Schatz, der sich da aufgesammelt, den lege ich nun zu Deinen Füßen, mein Liebling, meine Braut! Laß Dich nicht verstimmen durch das Geheimbleiben unserer Verlobung; es sind die Verhältnisse, die mich dazu zwingen. Und ist es nicht auch reizend, daß kein Mensch etwas ahnt von unserem süßen Geheimnis?

Ach, Gretchen, das Leben ist schön, wenn man einen so herzigen Schatz hat, wie ich ihn besitze. Wie freue ich mich auf ein Wiedersehen! Ich denke, so in drei bis vier Wochen darf ich ganz ruhig wieder nach Bendeleben kommen, ohne zu riskieren, daß meine kluge Frau Tante den eigentlichen Grund meiner Anwesenheit ahnt. Wie lang wird mir die Zeit noch dauern bis zu dem Moment, wo mein müde gejagtes Pferd vor der großen Freitreppe Eures Schlosses hält. Ich male mir schon aus, wie Du möglichst ehrbar aussehen wirst, was dem schelmischen Gesichtchen gewiß einen neuen Reiz verleiht. Wäre es doch erst so weit!

Bitte, schreibe bald. Friedel ist ein treuer Mensch, Deine Briefe kommen sicher in meine Hände. Wie geht es Hanna? Der arme Bergen; ich wollte, er wäre so glücklich wie ich. Man sieht ihn nirgends, und als ich ihn besuchen wollte, ließ er sich verleugnen. Wie würde er mich beneiden, wenn er wüßte, wieviel mehr Glück ich habe.

Leb wohl, meine Braut, mein Liebling, mein einziges Herz, schreibe bald, bitte, ich vergehe vor Ungeduld. Tausend Küsse.

Dein Wilhelm.«

Ich las, und las mich nicht satt. Dann kam der zweite, der dritte, und endlich hielt ich den letzten in der Hand, den ich gestern bekommen und nur flüchtig lesen konnte:

»Mein liebes Gretel!

Vielen Dank für Deinen letzten Brief. Nimm es nicht übel, daß ich ihn erst heute beantworte, es fehlte mir nicht an dem besten Willen, wohl aber an Zelt. Dieser verdammte Dienst bei dem Hundewetter und diese dummen, polnischen Rekruten – Du glaubst es nicht, was es heißt, dabei Geduld zu behalten. Ich habe die Plackerei herzlich satt. Gestern abend ging ich zu Bergens, entre nous, es war sehr langweilig. Hanna machte zwar eine nette Wirtin, aber sie hatte doch nur Augen für ihren Mann, und der sitzt da, als wäre er ein Pascha und spricht goldene Worte der Weisheit. Gretel – das sage ich Dir von vornherein –, einen solchen Normalehemann bekommst Du nicht an mir. Ich konnte es auch nicht zu lange aushalten, ich wäre erstickt, hätte ich noch länger in diesen niedrigen Zimmern sitzen müssen, und eilte hinaus trotz Schnee und Regen. Meinem Burschen gab ich ein paar tüchtige Ohrfeigen, weil er nicht eingeheizt hatte. Es tat mir hinterher leid; aber geschehen ist einmal geschehen.

Wann ich wieder nach Schloß Bendeleben kommen werde, kann ich bei diesem schauderhaften Wetter nicht bestimmen. Morgen gehst Du nun in Dein Vaterhaus zurück; wie wird es Dir dort gefallen? Vermutlich nicht übermäßig. Wie werde ich es anfangen, Dich zu sehen? Zu Dir kommen kann ich nicht, schon um des alten Drachens, der Kathrin, willen. Verzeih mir, mein liebes, gutes Gretchen, ich will Dich nicht kränken. Habe Nachsicht mit mir, ich werde auch wieder anders werden. Ich hätte heute nicht schreiben sollen, doch unterließ ich es schon zu lange. Wie geht es der Gräfin Satewski? Hier in G. schwärmt die halbe Garnison für die junge Witwe. Sie ist in der Tat auch auffallend schön, kein Wunder, daß die Kameraden gewissermaßen in Aufregung sind, wenn sie einmal hier in der Stadt erscheint. Ich wurde neulich sehr beneidet, weil ich ihren Cicerone machen durfte, als sie hier einige Einkäufe besorgte, doch – Nun aber leb wohl, mein gutes Mädchen, schreibe bald, ich bitte Dich darum – schreibe recht gut, recht lieb, recht aus Deinem treuen Herzen.

Dein Wilhelm.

N.S. Wie mir Ruth erzählt, ist der salbungsvolle Liebling meiner Tante jeden Tag zum Abendessen Euer Gesellschafter. Ich finde es mindestens sonderbar, es ist aber wohl besser, ich behalte meine Bedenken für mich.«

Es lag etwas Gereiztes, Verstimmtes in diesen wenigen Zeilen. Welch ein Unterschied zwischen jenem ersten und diesem letzten Brief! Er wurde mir um so fühlbarer, als ich beide nun miteinander verglich. Was verstimmte ihn nur so, und was mochte ihm begegnet sein, daß er sich so unglücklich fühlt? Gewiß war ihm diese Heimlichkeit ebenso verhaßt wie mir, aber was half es? Wer A sagt, muß auch B sagen! Oder sollte es vielleicht Eifersucht sein? Aber nein, er wußte ja, wie unaussprechlich ich ihn liebe. Ich wollte ihm rasch schreiben, ihm recht Mut einsprechen; es galt doch nur noch eine kurze Zeit, dann war alles überstanden. Ich erhob mich, holte Tinte, Feder und Papier und schrieb ihm, wie er es gewünscht, so recht ans treuem Herzen. Aus dem Schlafzimmer drangen die leisen Atemzüge Kathrins, und so ruhig es um mich her war, wurde es auch in mir, je mehr ich schrieb. Heute weiß ich nicht mehr, was alles ich dem Papier damals anvertraute, aber jedes meiner Worte war von der Liebe diktiert. Herzlich und warm klang alles, als ich ihm Mut und Trost einsprach und scherzend versicherte, ich hätte ihn gleich lieb, selbst wenn er nicht ein Musterehemann würde wie Bergen. Er wäre eben er, und so wäre es gerade gut. Ich las noch einmal durch, was ich geschrieben, legte einige kleine Blumen von meinem Fenster in den Brief, drückte einen Kuß darauf und begab mich, nachdem ich ihn in meinem Nähtische verborgen hatte, zu Bett, um das erstemal nach langer Zeit meine Augen unter dem Dache meines Vaterhauses zu schließen. »Was man träumt in solch erster Nacht, geht in Erfüllung«, hatte mir Liesel noch vor dem Scheiden gesagt. Und Wilhelm erschien mir im Traum. Ich ging an dem kleinen Flusse im Park und suchte etwas, aber vergebens. Da stand Eberhardt drüben, ich winkte ihm, er aber schüttelte mit dem Kopfe und zeigte mit betrübter Miene nach rückwärts. Ich suchte nach einer Brücke, aber es war keine vorhanden. Da nahm ich einen schwanken Zweig und legte ihn über das Wasser; ich wollte darauf hinübergehen, zitternd vor Angst. Als ich mitten auf ihm war, stürzte ich in den Fluß. Ich rief um Hilfe. Eberhardt rührte sich nicht, nur ein Stöhnen hörte ich. Ich machte verzweifelte Anstrengungen, um ans Ufer zu gelangen, und kam nicht von der Stelle, während das Stöhnen immer ängstlicher und lauter wurde. Ich erwachte und konnte mich nicht besinnen, kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Da tönte mir wieder das Stöhnen ins Ohr, und nun wußte ich, wo ich mich befand.

»Kathrin, bist du krank?« Ein neues Stöhnen war die Antwort. Grauenhaft hörte es sich an. Im Nu hatte ich Licht angezündet und war in den Kleidern – da lag die arme Kathrin mit dunkelrotem Gesicht, der Atem ging pfeifend, als müßte sie ersticken, das Stöhnen rang sich unheimlich von ihren Lippen, die Augen sahen stier zur Decke. Ein namenloser Schrecken überfiel mich. Ich war allein mit der Kranken, Erfahrung hatte ich gar nicht, was sollte ich beginnen? Ich versuchte, sie ein wenig hochzurichten und rief ihren Namen. Schwer sank sie wieder in die Kissen. Einen Augenblick war ich vollständig ratlos, dann nahm ich ein Tuch um und ging hinüber zum Pfarrhause. Es war eine dunkle, windige Nacht, aber ein warmer Frühjahrshauch verkündete schon den kommenden März. Ich klopfte an einen Fensterladen, wo ich das Schlafzimmer der Frau Renner vermutete – ein-, zweimal, es hörte niemand. Endlich vernahm ich ein Geräusch, oben wurde ein Fenster geöffnet, und die Stimme des jungen Pastors rief herab: »Wer ist da? Soll ich zu einem Kranken kommen?«

»Nein, ich bin's«, sagte ich beklommen. »Kathrin ist so krank. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, und da wollte ich Ihre Frau Mutter bitten, daß –«

»Gleich, Fräulein Siegismund, sofort will ich sie wecken. Gehen Sie wieder hinüber zu der Kranken, Sie sollen sogleich Hilfe haben. Gehen Sie, ehe Sie sich erkälten.«

Ich ging. Kathrin lag noch ebenso. Ich beugte mich über sie, sie erkannte mich nicht. Eine kurze Zeit verfloß, da klang die Haustür, und Frau Renner trat, begleitet von ihrem Mädchen, ein.

»Herr Gott, Sie armes Kind, wie mögen Sie sich ängstigen«, sagte sie herzlich und faßte meine Hand. »Was mag nur dem alten Wurm sein, sie stöhnt ja furchtbar?« Sie trat an das Bett Kathrins, fühlte den Kopf und meinte: »Wir müssen kalte Umschläge machen, bis der Arzt kommt. Morgen ist glücklicherweise der Tag, wo er das Dorf besucht. Die Rose Marthal hat das Nervenfieber, und da wird er schon früh hier sein. Ängstigen Sie sich nur nicht, mein armes Hundel«, fügte sie echt schlesisch hinzu, »ich bleibe die Nacht bei Ihnen, und kommt ein neuer Tag, kommt auch ein guter Rat, es ist nicht alles so schlimm, wie es sich anläßt.«

Ich hätte der alten, praktischen Frau die Hände küssen mögen für ihren Beistand, wenn sie es mir erlaubt hätte, und bat ihr in Gedanken alles ab, womit ich sie beleidigt hatte. Gehorsam folgte ich ihren Anordnungen, tauchte Tücher in kaltes Wasser und legte sie der Kranken auf die Stirn.

»Das gibt eine Lungenentzündung, passen Sie auf, mein Kindel. Das pfeift viel zu sehr. Mein seliger Mann hat's auch durchgemacht. Es ist kein Spaß, sag' ich Ihnen.«

»Sie wird doch nicht sterben?« fragte ich angsterfüllt.

»Wollen's nicht wünschen, aber sie ist nicht mehr jung und, wie gesagt, es ist halt nicht zu spaßen mit einer Lungenentzündung.« »Ach, mein Gott, nur das nicht!« betete ich für mich. Es kam mir mit einem Male der Gedanke, ich hätte das alte, treue Herz noch so recht nötig für mein junges Leben. Und immer schlimmer wurde es mit ihr, und als es endlich Morgen war und der Arzt kam, da machte er ein bedenkliches Gesicht und meinte, die Patientin wäre schwerkrank.

Mit wahrer Todesangst wachte ich Tag und Nacht an dem Bette der Alten. Es war gewiß nicht leicht für mich, und ich erkannte, wie verwöhnt ich war. Vom Schloß wurde mir die Liesel zur Hilfe geschickt, auch sorgte die Baronin für ein »Tischchen deck dich«, obgleich mir vor Angst jeder Hunger fernblieb. Die Frau Gerichtsschreiberin und die Liesel standen mir treu bei und wachten auch nachts abwechselnd mit mir bei der Kranken.

Aber mein Brief! Ich hatte ihn einmal spät abends im Fluge zur Anne Marie getragen und stand wieder in der Krankenstube, ehe man mich vermißte. Auf das Schloß kam ich natürlich nicht. So vergingen lange Tage in steter Angst um das alte Herz, das zwischen Tod und Leben schwankte. Bald neigte es sich zur Besserung, bald schien jede Hoffnung geschwunden. Mein Vater hatte seine Ankunft wieder um vier Wochen hinausgeschoben.

Endlich, nach langer Zeit schlief unsere Kranke zum ersten Male einen ruhigen Schlummer. Liesel hatte sich an mein Bett gesetzt, und wir sprachen flüsternd miteinander. »Gestern war auch Herr Leutnant v. Eberhardt wieder da«, sagte sie Ieise. Ich fuhr zusammen: »War er schon öfter da, seitdem ich fort bin?«

»Zweimal, Fräulein Gretel. Das erstemal, als Kathrin sich gerade am schlechtesten befand! Gestern kam er ganz früh und ritt erst spät in der Nacht wieder fort. Er hat mit der Frau Gräfin gefrühstückt, und nachher sind sie spazierengeritten.«

Ich dachte nach. Also deshalb keine Briefe! Er hatte sicher geglaubt, mich dort zu finden.

»Unsere Leute im Schloß sagen, das gibt noch einmal ein Brautpaar«, fuhr Liesel fort, ohne mich anzusehen. »Die gnädigste Gräfin lassen ja den Herrn Leutnant gar nicht aus den Augen. Sogar, als er in den Park trat, hing sie sich ein Tuch über und folgte ihm. Der Johann hat noch gehört, wie sie sagte: ›Aber, Vetter, nun läßt du mich in dieser Langenweile da droben, wo man dem lieben Gott dankt, daß einmal jemand erscheint, mit dem man ein vernünftiges Wort reden kann! Willst du Luft schöpfen, so gib mir den Arm, ich gehe mit!‹ Und da ist sie mitgegangen, obgleich er ganz böse ausgesehen hat. Sie find auch zur Schloßgärtnerei gekommen, und da erzählte mir Anne Marie, der Herr Leutnant habe vor dem Gewächshause gesagt, die Frau Gräfin solle warten, er wolle ihr ein Veilchensträußchen herausholen. Aber sie habe ihn gar nicht losgelassen und habe lachend gemeint, mit Veilchen könne man sie aus der Welt jagen, die blauen, langweiligen Dinger seien ihr unbeschreiblich zuwider, sie liebe nur dunkelrote Rosen oder Granatblüten, und die werde man hier schwerlich haben. Denken Sie nur, Fräulein Gleichen, wie kann man Veilchen nicht leiden mögen! Es ist aber einmal so mit der Frau Gräfin, sie ist anders wie andere Damen. Neulich, als ich zufällig in ihr Schlafzimmer trat, da Hab' ich mich nicht schlecht erschrocken, da stand sie vor ihrem Toilettenspiegel und hatte ein wunderschönes, dunkelrotes Atlaskleid angezogen. Oh, diese Schleppe war so lang, und so prächtig sah das aus, und die Lichter blitzten aus den funkelnden Steinen, die sie in den schwarzen Haaren und um Hals und Arme trug, daß es mich beinahe blendete, und sie schaute lächelnd in den Spiegel und freute sich, daß sie so wunderschön aussah. Ich zog aber leise die Tür wieder zu; es gab mir einen ordentlichen Stich ins Herz, daß man sich so aufputzen kann, wenn der Mann erst seit Weihnachten unter der Erde liegt.«

Ich lag ganz still, mir brauste es vor den Ohren. Das war noch Ruth, dieselbe herzlose, kalte Kokette, die sie schon als Kind gewesen. Was sollte ich beginnen, wenn sie – ich wagte das Schreckliche nicht zu denken,

»War der Herr Leutnant recht heiter?« fragte ich.

»Ach nein, Fräulein Gretchen. Er sah schon finster aus, als er kam, und noch finsterer, als er aus dem Zimmer der jungen Gräfin trat. Zwischen der Frau v. Bendeleben und der jungen Gnädigen war etwas nicht ganz richtig. Sie hatte das Frühstück auf ihr Zimmer bestellt, da kam gerade der Herr Leutnant an, und sie sagte zum Johann: »Ich lasse meinen Vetter zum Kaffee bitten, meine Eltern haben doch schon getrunken. Ich war gerade im Zimmer, als er kam. Da richtete sie sich etwas von ihrem Sessel auf und reichte ihm die Hand zum Kusse – na, die Augen, die sie machte –, ich glaubte, der Herr Leutnant müßte schmelzen.«

»Genug, Liesel, hör auf! Das mag ich nicht wissen; erzähle mir lieber etwas anderes.« Mir krampfte sich das Herz zusammen bei diesen Nachrichten.

»Ich wollte ja nur erzählen, was der Herr Leutnant sagte, als sie ihm eine Tasse Kaffee selbst zurechtgemacht hatte«, begann Liesel wieder. »Er sah sie finster an und sagte –«

»Kathrin regt sich, Liesel. Bitte, sieh nach, es interessiert mich wirklich nicht.«

Liesel kam wieder: »Sie schläft – aber neugierig bin ich doch, was noch daraus werden wird.«

Ich schloß die Augen und tat, als ob ich schliefe. In meiner Brust kämpften die verschiedenartigsten Empfindungen. Bald führte mir die Eifersucht die erschreckendsten Bilder vor, bald war der Verstand bei der Hand und sagte: Urteile nicht ungerecht und vorschnell. Eine Angst vor diesem schönen, koketten Weibe überkam mich, daß ich meinen Kopf tief in die Kissen begrub, als wollte ich nichts hören und sehen. Die ganze Nacht quälte ich mich mit den schrecklichsten Bildern, erst das graue Licht der Morgendämmerung brachte etwas tröstlichen Schimmer in mein Gemüt. Liesel war auf dem Stuhle eingeschlafen, auch Kathrin schlummerte, und ich betete um ein festes, starkes Herz.

Als im Laufe des Nachmittags die Frau Gerichtsschreiberin am Krankenbette saß, rüstete ich mich, um einen Gang nach dem Schlosse zu machen, den ersten, seit ich von dort schied. Ich sah in den Spiegel: ein von Krankenstubenluft und Nachtwachen bleiches Gesicht schaute mir entgegen. Ich zuckte die Achseln und schalt mich selbst aus: »Warum bist du auch so dumm, Grete, dir trübe Gedanken zu machen, du Hasenherz – wo kein Vertrauen, da ist auch keine Liebe.« Ich schritt durch den Park mit seinen knospenden Bäumen, es war frühlingsmilde, warme Luft, und sie hauchte mir beinahe das letzte Bangen hinweg. Bei Anne Marie machte ich halt und fragte nach Briefen. »Nichts, Fräulein Gretchen«, sagte sie bedauernd und erzählte mir von der Szene am Gewächshause. »Wahrscheinlich wollte der Herr Leutnant einen Brief abgeben, aber die gnädige Gräfin ließ ihn nicht hinein.«

»Gut, Anne Marie, wenn einer kommt, bring ihn mir wieder, wie die letzten, aber bring ihn gleich!«

Anne Marie nickte, die freundlichen blauen Augen ruhten teilnehmend auf mir: »Fräulein Gretchen, Sie können sich doch denken: ich laufe gleich hinunter und bringe ihn, das versieht sich. Habe ich doch alle Gelegenheit dazu, wenn ich frage, wie es Kathrin geht.«

Nach einem freundlichen Gruß ging ich weiter und betrat die alte, wohlbekannte Allee. Die grauen Mauern des Schlosses blickten durch die kahlen Zweige der Bäume. Bald stand ich auf der Terrasse vor dem hohen Portal, über dem das Wappen der Bendelebens, in Sandstein gehauen, prangt – zu beiden Seiten befindet sich eine Inschrift: »Fürchtet Gott – ehret den König!« Hundertmal hatte ich es schon gelesen, und doch kam mir heute alles so fremd, so neu vor, die Halle erschien mir gegen die niedrigen Zimmer, in denen ich zuletzt gewohnt, so hoch, daß ich mich verwundert fragte: War denn das früher auch so?

Der alte Johann kam mir entgegen. Er schmunzelte, als er mich sah: »Ach, das ist doch grad', als ob die Sonne wieder scheint, wenn Ihr freundliches Gesichtchen mich einmal wieder anschaut. Sie haben schlimme Zeit gehabt, Fräulein Margret, wir alle haben Sie bedauert. Gott sei Dank, daß es wieder besser ist. Der Herr Baron und die gnädige Frau sind ausgefahren.«

Ich wollte umkehren. »Aber die Gräfin Satewski ist zu Hause«, sagte er; »Frau v. Bergen war noch nicht wieder hier. Das ist ja auch recht gut, sechs Wochen lang darf eine junge Frau nicht in das elterliche Haus, sonst bekommt sie Heimweh, das ist ein alter Glaube, den man respektieren muß. – Soll ich Sie anmelden?« Ich dankte, schritt allein die Treppe hinan und ging in den westlichen Flügel, wo die Zimmer der Gräfin sich befanden. Ich klopfte an die Tür des Salons, aber niemand erschien. Gewiß liegt sie in ihrem Zimmer auf dem Sofa, dachte ich, und trat ein, durchschritt den Salon und guckte in das kleine, lauschige, üppige Boudoir. Weil ich auch dort die Gesuchte nicht fand, wollte ich eben umkehren, als ich einen Lichtschimmer aus dem Schlafzimmer bemerkte. Licht am Tage? Wie sonderbar! Die Tür war nur angelehnt, ich blickte durch die Spalte. Was sahen meine erstaunten Augen? Da stand die junge Witwe vor dem Spiegel – aber wo waren Haube und Schleier! Ein granatrotes Atlaskleid fiel in schweren Falten zur Erde, die lange Schleppe lag auf dem Boden, und drüber wie ein Hauch ein köstliches, schwarzes Spitzengewebe. Brust und Arme schimmerten schneeig aus dem purpurroten Stoff, um den schlanken Hals blitzten Brillanten, ein kleiner, schwarzer Spitzenschleier war mit denselben kostbaren Steinen im Haar befestigt, hinter dem Ohr eine Granatblüte. Das seine Gesicht mit dem reizenden Profil sah musternd in den Spiegel, die Arme mit dem blitzenden Geschmeide waren halb erhoben und in der einen Hand hielt sie einen kleinen Fächer von schwarzen Spitzen. Sie stand da, als wollte sie eben um Tanze dahinschweben.

Wie bezaubert starrte ich das reizende Bild an – wie war sie schön, dieses junge Weib, in dieser halb spanischen Tracht. Und sie fand es selbst, denn ein Leuchten ihrer schwarzen Augen, ein triumphierendes Lächeln des kleinen Mundes, das ich im Spiegelbilde sah, verrieten es mir. Langsam wandte sie sich, mit dem Fuße stieß sie einen am Boden liegenden Gegenstand fort, daß er bis dicht vor den Türspalt flog – es war die kleine, schwarze Krepphaube mit dem Schleier. »Wie ist sie mir übersatt, diese alberne Komödie!« hörte ich sie halblaut sagen, während sie im Zimmer hin und her schritt, das künstlich durch Läden und Vorhänge dunkel gemacht war, damit sie ihre Schönheit bei Kerzenlicht bewundern konnte. Die Atlasschleppe rauschte, die Brillanten blitzten; ich konnte das schöne, Gesicht sehen, wenn sie an der Tür vorbeikam. »Oh, ich habe dieses Leben so satt«, fuhr sie in ihrem Selbstgespräche fort, »ich sterbe, wenn ich noch lange in diesem traurigen Aufenthalte zubringen soll. Oh, mein Wien, mein schönes, heiteres, lebenslustiges Wien! Ich sehne mich nach deinem Licht, deinem Farbenschmelz, wie der Vogel nach Freiheit, wie die trockene Erde nach Regen, wie – ich weiß selbst nicht wie.« Wieder blieb sie vor dem Spiegel stehen. »Kein Mensch ist hier, der mich sehen könnte«, murmelte sie weiter, »und ich bin doch schön, sehr schön. Wie lag man mir in Wien zu Füßen, und was gibt's hier für Bären!«

Ich schlich mich leise zurück und drückte die Hand gegen mein klopfendes Herz. Wie war es möglich, so frivol, so leichtsinnig, so – mir fehlten die Worte für eine Bezeichnung dieser Szene. – Nur vor den Leuten notgedrungen diese schwarzen Gewänder. War sie allein, so wurden sie beiseite geworfen, und weil niemand vorhanden war, der ihrer Schönheit huldigte, so schmückte sie sich für sich allein und berauschte sich an ihrem eigenen Liebreiz. »Eitles Geschöpf!« murmelte ich vor mich hin. »Und die soll ich fürchten? Nein, dazu hat er ein zu tiefes Gemüt, um diese Zierpuppe, diese Kokette zu lieben.« Damals wußte ich noch nicht, daß nichts die Männer mehr anzieht als Koketterie, und daß ein schönes, frivoles Weib die gefährlichste Gegnerin für ein unerfahrenes, einfach denkendes Mädchen ist.

Wie gejagt floh ich aus dem Schloß und eilte meiner Heimat zu. Kathrins tief eingesunkene Augen blickten mich mit einem Ausdruck von Rührung und Liebe an, die alte, knöcherne Hand faßte matt nach der meinen. »Gutes Kind!« flüsterte sie und schloß die Augen wieder. Die kleine Frau Renner erhob sich von ihrem Platz und winkte mir, ihr in die Wohnstube zu folgen. »Der Doktor war hier«, sagte sie leise. »Mein Herzel, es tut mir leid, dies Ihnen sagen zu müssen, aber es geht doch nicht anders: er meint, die Kathrin wird wohl gelähmt bleiben, später könne sie vielleicht wieder in einem bequemen Stuhl sitzen, aber arbeiten – das ist vorbei. Sie müssen sich ein Mädel nehmen, das jung und fix ist, und da hab' ich gedacht, Sie täten mir einen Gefallen, wenn Sie meine Marie mieten wollten, die kann tüchtig schaffen, und ich nehme mir eine Jüngere. So recht eine anzulernen, wird Ihnen jetzt zu schwer bei der Pflege, die das alte Würmel noch bedarf, und ich tue nichts lieber, wie mir ein neues Mädchen erziehen. Ich kann sie Ihnen auch bald schicken, das Haus muß imstande sein, wenn der Herr Vater kommt. Da oben sieht's gefährlich aus in dem Studierstübel.«

»Sie liebe, gute Frau Renner«, sagte ich tief gerührt, »das kann ich nicht annehmen, ganz gewiß nicht, das Mädchen paßt für Sie –«

»Sie tun mir einen Gefallen, Kind. Die große Person hat in meinem Hause lange nicht genug Arbeit – kein Wort mehr, sie kommt übermorgen. Schon gut, schon gut, mein Hundel, was wollen Sie die alten Hände küssen –«

Liesels Eintreten machte der Szene ein Ende. Die kleine Frau Renner trippelte über die Straße, und ich nahm meinen Platz am Krankenbette ein, stützte den Kopf in die flache Hand und dachte nach, während Liesel stillschweigend das Zimmer aufräumte.

Im fortwährenden Kreisgang drehten sich meine Gedanken um Ruth und Eberhardt. Wenn ich die Augen schloß, so gleißte mir der purpurrote Seidenstoff ihres Kleides entgegen, ich sah dieses wunderschöne Gesicht sich gegen den Spiegel neigen und hörte die Worte: »Oh, dieses elende Komödienspiel!« – Wenn ich doch Eberhardt ein einziges Mal sprechen könnte, ihn fragen, was ihn so finster macht, ihn warnen könnte vor diesem schönen, falschen Weibe!

Ich hoffte umsonst. Es gingen Tage dahin, und Anne Marie brachte mir keinen Brief. Meine Ungeduld, meine Angst wuchsen von Stunde zu Stunde. Auch Liesel kam nicht mehr, ich hatte das Mädchen von Frau Renner bekommen und erfuhr also auch von dieser Seite nichts. Der Baron war ein paarmal an meinem Fenster gewesen und hatte sich erkundigt, wie es stehe, hatte mich auch dringend eingeladen, ihn zu besuchen, er sehne sich nach meiner Gesellschaft. Ich entschuldigte mich damit, daß ich Kathrin nicht allein lassen könne, es wäre mir bisher unmöglich gewesen, nach dem Schlosse zu gehen. Arbeit, sagte ich mir endlich, Arbeit ist das einzige, was hilft. Ich ließ das Stübchen meines Vaters ausräumen und scheuern, befreite die unzähligen alten Bücher von ihrem jahrelangen Staub und machte mich eines Tages daran, sie wieder an ihre Plätze zu stellen. Es war eine schwere Aufgäbe, sich einigermaßen herauszufinden. Mit den deutschen Schriften ging es: Wieland und Klopstock, Archenholz' Annalen und Siebenjähriger Krieg, dann archäologische Werke wurden bald geordnet, aber die lateinischen und griechischen Bücher? – Ratlos stand ich und hielt ein solches unverständliches, in Schweinsleder gebundenes Ding in der Hand, da öffnete sich die Tür, und Pastor Renner trat über die Schwelle.

»Ich komme, um meine Hilfe anzubieten«, sagte er und sah mich freundlich an. Meine Mutter erfuhr, daß Sie bei dem Aufräumen sind, und schickt mich herüber. Alte Herren lieben in solchen Sachen Ordnung über alles, und wie ich sehe, stehen Sie schon da und wissen nicht, wo aus und ein.« Er nahm mir das Buch aus der Hand: »Das sind Ovids Verwandlungen in der schönen Elzevirausgabe, ich glaube, es stand hier. Bitte, reichen Sie mir die Bücher in gleichem Einband mit aufgeschlagenem Titelblatt – so ist's recht.«

Mechanisch reichte ich ihm eins nach dem andern: »Ovid – hier, Virgil – hier, so, wir werden bald fertig sein.« Eifrig ordnete er die von mir hingereichten Bücher. Das Peinliche seines Erscheinens verschwand, so ruhig und freundlich war sein Auftreten. Eine Stunde verging, ohne daß ein anderes Wort als das zur Arbeit notwendige gesprochen wurde. Nun war sie aber auch vollendet, und ich dankte ihm mit freundlichen Worten.

Er sah mich lächelnd an: »Kaum kann ich mir denken, daß Sie mit der jungen Dame identisch sind, die ich einst hier oben eintreten sah mit Hut und Reitpeitsche und verwehten Haaren.« Ich schaute betroffen an mir herunter – eine große, bunte Schürze, die beinahe das ganze Kleid bedeckte und noch von meiner seligen Mutter herstammte, hatte ich mir vorgebunden, die Ärmel zurückgeschoben und, mein Gott ja, um den Kopf ein weißes, dreieckiges Tuch geknotet, damit der Staub sich nicht auf mein Haar legen sollte. – Ich wurde dunkelrot unter seinem lächelnden Blick und wollte das Tuch vom Kopfe reißen.

»Ei, nicht doch!« wehrte er ab und legte einen Moment seine schlanke, weiße Hand auf meinen Arm. »Es wäre schade, wenn Sie das Tuch abnehmen wollten. Kein Hut, kein Blumenkranz hat Sie je so geschmückt, wie –«

»Bitte, keine Schmeicheleien!« sagte ich, bebend vor Verlegenheit.

»Schmeicheleien müssen sich allerdings wunderbar aus meinem Munde anhören. Ich spreche nur die Wahrheit, wenn ich behaupte, daß eine Frau nur frauenhafte Tracht kleidet.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich ungeduldig. »Sie haben mich getadelt, daß ich so gern zu Pferde saß. Ich wiederhole Ihnen, es war mein größtes Vergnügen. Sie können sich nicht denken, wie reizend es ist, so ein mutiges Tier zu lenken.«

»Ja, für eine Gräfin Satewski würde ich es allenfalls gelten lassen, aber für –«

»Nun?«

»Wir wollen nicht wieder streiten, Fräulein Gretchen. Ich bin überzeugt, Sie geben mir noch einmal recht. Lassen Sie uns Frieden schließen und meiden Sie nicht mehr so eigensinnig unser Haus, meine Mutter kränkt sich im stillen darüber, sie hat Sie sehr lieb.«

»Nein, ich kann nicht, ich kann nicht«, sagte ich hastig, seine dargebotene Hand abwehrend. »Kommen Sie nicht wieder hierher, ich bitte Sie dringend. Verlangen Sie nicht, mich drüben in Ihrem Hause zu sehen, ich will stets Ihre Frau Mutter ehren und lieben, aber lassen Sie mich unbeachtet!«

Betroffen trat er zurück. »Bin ich Ihnen schon jemals in irgendeiner Weise entgegengetreten, daß Sie das Gefühl haben müßten, ich sei Ihnen lästig?« fragte er verletzt und stolz zugleich. »Ich habe, bei Gott, mich noch nie in Ihre Nähe gedrängt. Daß ich dem Zufall dankbar war, der dies zuweilen tat, leugne ich nicht. Aber denken Sie nach, soviel Sie wollen, Sie werden nichts finden, was diese scharfen Worte rechtfertigen könnte.« Verzeihen Sie mir, es ist wahr, aber ich wiederhole dennoch meine Bitte um meinetwillen, es hängt sehr viel davon ab. Ich bitte Sie, tun Sie nicht, als ob ich lebe, als ob Sie mich jemals gesehen, als –«

»Sie sprechen in Rätseln, Margarete«, sagte er leise. »Ich vermag sie jetzt nicht zu lösen, aber es sei: ich werde Ihrem Wunsche gehorchen, ich werde mich bemühen, Sie nicht zu sehen. Leben Sie wohl, verzeihen Sie mein Eindringen hier, es war das erste und soll das letztemal sein. Mögen Sie den richtigen Weg gewählt haben für Ihr Glück!« Ein trauriger Blick streifte mich, als er sich förmlich verbeugte und hinausschritt.

»Verzeihen Sie mir«, sagte ich leise und hielt ihm die Hand hin. »Ich wollte Sie nicht kränken – wenn Sie ahnen könnten –« Er sah es nicht mehr und hörte es nicht – den Kopf stolz zurückgeworfen, ging er die Treppe hinunter. Ich blieb stehen und blickte ihm nach; aber ich konnte nicht anders. Was hätte Eberhardt denken sollen, wenn ich dem jungen Geistlichen gestattete, so herüberzukommen. Wie hätte ich die spöttischen, scharfen Neckereien der Gräfin Satewski ertragen können und die Anspielungen der Frau v. Bendeleben?

Ja, es war, besser so. Aber Eberhardt! Wann soll ich ihn wiedersehen? Warum schreibt er nicht??


»Frau v. Bendeleben läßt Fräulein Gleichen bitten, Sie möchten zum Abendessen aufs Schloß kommen, die junge Frau v. Bergen mit ihrem Mann kämen gegen Abend auch«, bestellte, vor Freude dunkelrot, Liesel am anderen Nachmittag, als ich nähend an Kathrins Bette saß. »Ich bleibe so lange hier, Fräulein Gretchen, und nun machen Sie sich recht schön. Es freut mich so, daß Sie auch einmal wieder ein Vergnügen haben. Sie sind ganz trübselig hier unten geworden. – Die gnädige Gräfin hat sich zurückgezogen«, fuhr sie fort, »sie sagt, sie habe Kopfschmerzen. Vorhin lag sie aber in dem kleinen, blauen Salon, und da hörte ich sie recht herzhaft gähnen, und Johann meint –« »Was meinst du, Kathrin«, fragte ich, die ordentlich aufgeregte Liesel unterbrechend, »kann ich dich wohl allein lassen einen ganzen Abend?«

»Aber, Kind, nun freilich; geh nur, geh nur. Kommt noch Besuch, Liesel?«

»Nein, Kathrin, wer soll denn kommen? Etwa der Leutnant v. Eberhardt? Na, sicher nicht; dann hätte die Frau Gräfin keine Kopfschmerzen.«

Ich biß mir die Lippen wund und stand auf. Kathrin sagte mit lebhaftem Interesse: »Sie mag ihn wohl leiden, den Herrn Leutnant?«

»Na, das versteht sich!« nickte Liesel. »Das kann ja ein Blinder mit dem Stock fühlen – ich hab's gleich gesagt. Neulich war sie wieder in die Stadt gefahren – das erzählte Mertens, unser Kutscher, abends in der Gesindestube – und hat den Fränzel in der halben Stadt herumgehetzt nach dem Herrn Leutnant. Er hat ihn aber nicht finden können, da ist sie denn sehr böse gewesen. Und wie sie aus einem Laden trat, der Fränzel hinter ihr, da hat sie den Herrn Leutnant auf der Straße getroffen und ist an seinem Arm weitergegangen. Es hat ausgesehen wie ein Brautpaar. Das muß so wienerische Mode sein, hier paßt sich das nicht – die Leute haben ihnen auch nicht schlecht nachgeschaut.«

Das Plappermaul konnte ich nicht stopfen und mußte geduldig mit anhören, wie nun Kathrin sagte: »So, so! Na, der Mann ist ja kaum unter der Erde, das hat wohl nichts zu sagen!«

Na, aber! Doch ich will nichts verraten!« rief Liesel und klopfte sich auf den Mund, als wollte sie ihn für seine Schwatzhaftigkeit bestrafen. Ich kleidete mich langsam an und tröstete mich damit, daß Ruth Kopfweh hatte, und Eberhardt nicht da war. Ich hätte ja nicht gewußt, wie ich es ertragen sollte, die beiden zusammen zu sehen.

Zögernd trat ich abends in die alte Halle, da tönten leise Schritte auf der Treppe; eine zierliche Gestalt in grauem Kleide flog mir entgegen, und mit dem hellen Jubelruf: »Gretchen!« lagen wir uns in den Armen. Ich blickte wieder in das liebliche Gesichtchen, die klaren Augen schauten mich so treu, so wie immer an, und da löste sich der starre Schmerz in meiner Brust, ich legte den Kopf auf ihre Schulter und weinte so recht aus Herzensgrunde.

»Armes Gretel, ja, du hast schwere Zeiten durchgemacht, während ich in lauter Glück schwamm. Komm, weine nicht, wir wollen wieder ein Stündchen wie früher verplaudern. Komm, ich war schon oben in unserem Mädchenstübchen, es ist noch alles so wie früher. Da wollen wir uns auf die alten Plätze setzen, und da sollst du dich aussprechen!«

Ich folgte ihr mechanisch und leise weinend. Als ich aber wieder in das alte, liebe Gemach trat, wo ich meine glücklichste, seligste Zeit verlebt hatte, da brach der Sturm in meiner Seele um so heftiger los, und beinahe schreiend warf ich mich in das Sofa und verbarg den Kopf in den Kissen.

»Gretel«, hörte ich Hannas Stimme, »das ist mehr Kummer, als ich vermutete. Die Sorge um die alte Kathrin ist das nicht allein, du hast anderes. Tieferes zu leiden. Kann ich dir nicht helfen, mein süßes, gutes Gretchen? Sag's mir, vertraue mir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ach, wenn ich könnte, aber ich darf's ja nicht«, schluchzte ich außer mir. »Oh, war' ich doch tot, tot und begraben, das ist besser, als so zu leben, ich kann's ja nicht mehr ertragen!«

Ratlos stand Hanna neben mir, ihre kleinen Hände streiften meine heißen Wangen, die frischen Lippen berührten meine brennenden Augen. »Armes Gretel, du darfst es nicht verraten, was dich so erschüttert? Weine dich aus, es wird besser danach, man fühlt sich wieder leichter nach solchem Tränenstrom.« Sie schlang den Arm um mich und legte meinen Kopf an ihre Schulter, meine Tränen flossen immer noch, aber ruhiger. Sie hatte recht, man wird freier und leichter.

»Törichtes Mädel«, schalt ich mich selbst, »als ob schon alles verloren wär! Was hast du für Ursache, zu weinen? Er kann keine Zeit gehabt haben zum Schreiben, oder irgendwelche anderen Gründe – vielleicht ist er doppelt vorsichtig, seit die Gräfin im Schlosse ist, damit kein Brief verlorengeht. Wenn du ihm erst wieder in die Augen gesehen hast, wirst du auch anders denken. Die lange, trübe Zeit da unten hat dich angegriffen – verzweifle nicht ohne Ursache, das Leben ist doch so schön!«

»Ein netter Empfang, meine liebe Hanna, den dir deine Gretel da bereitet«, sagte ich. »Verzeih, es ist schon alles vorüber, und ich lache jetzt über meine Angst und Sorge. Es ist die trübe Zeit da unten in der Krankenstube und die Sehnsucht nach dir, die mich so traurig machte. Du bist glücklich, nicht wahr?«

Ein heißer Freudenstrahl brach aus den klaren Augen: »Ach, Gretchen, die Worte fehlen mir, zu sagen, wie sehr ich es bin!«

Ich ließ mir von ihr vorplaudern, wie sie ihr Leben eingerichtet, wie leicht sie sich in die ganz veränderten Verhältnisse gefunden habe, wieviel Vergnügen es ihr mache, die Hausfrau zu spielen, und wie einzig lieb ihr Mann gegen sie sei. »Komm bald zu mir, Gretel, du mußt alles selbst sehen, das Erzählen ist ja gar nichts gegen die Wirklichkeit.«

Lange plauderten wir so, während die Dämmerung das kleine Gemach immer mehr erfüllte. Da tönte die Stimme Bergens vor der Tür: »Hanna! Frau! Ungetreues Weib! Wo steckst du denn so lange? Wir warten und warten, und da sagt Mama, du würdest wohl mit Fräulein Gretel hier oben im alten Quartier sitzen. Kommt heraus, wir wollen auch etwas von euren weisen Gesprächen profitieren.« Lachend öffnete Hanna und fiel ihm um den Hals. »Du Tyrann, du abscheulicher Mann, wir kommen ja schon.«

»Es ist auch die höchste Zeit«, fuhr er ernsthaft fort, nachdem er mich herzlich begrüßt und den Arm seiner Frau genommen hatte. »Papa ist schon sehr ungeduldig, daß seine jüngste Frau Tochter so lange bleibt, und Mama scheint Kopfschmerzen zu haben und spricht sehr wenig, und Eberhardt gibt ihr das beste Beispiel: denn bis jetzt hat er den Mund noch nicht aufgetan.«

Eberhardt hier! Eine Todesangst überfiel mich, was sollte ich beginnen? Umkehren? Nach Hause gehen? Das ging nicht mehr, schon standen wir vor der Tür. Nur vorwärts! flüsterte ich mir zu, während mein Herz wie wahnsinnig gegen die Brust schlug: es hilft nichts mehr, Gott weiß allein, wie es kommen soll!

Wir traten ein, mein Auge überflog das Zimmer; da saß Frau v. Bendeleben im Sessel am Kamin, der Baron am Tische und trommelte mit den Fingern auf der Platte, Eberhardt war nicht da. Ich wurde herzlich begrüßt, besonders vom Baron: »Du siehst ja ganz blaß aus, meine Kleine, die Krankenluft da unten tut dir nicht gut. Mußt wieder öfter einen tüchtigen Spazierritt machen, verlernst ja auch sonst das Reiten. Suleika hat dich schmerzlich vermißt, besuche sie nur einmal«, sagte er freundlich und schaute mich besorgt an.

»Wo ist denn Eberhardt?« fragte Hanna, die sich ihrer Mutter gegenüber niedergelassen hatte und eifrig an einem Strumpfe strickte.

»Er hat sich bei Ruch anmelden lassen, um sie zu bitten, mit uns zu Abend zu essen«, sagte Frau v. Bendeleben mit einem Seufzer. »Wie geht es Kathrin?« wandte sie sich dann an mich. »Ist es wahr, daß sie gelähmt bleiben wird?«

Eben wollte ich antworten, da trat Pastor Renner ein. Er erblaßte etwas, als er mich sah, und sagte mir sehr kühl »Guten Abend«. Frau v. Bendeleben wurde etwas gesprächiger. Renner erzählte von seinen Erfolgen in der neuerrichteten Schule, das interessierte sie, und so verfloß beinahe eine Stunde, für mich unsäglich langweilig, da meine Gedanken bei Eberhardt und Ruth weilten.

Johann meldete, daß serviert sei, und man erhob sich.

»Ja, wollen wir denn ohne Eberhardt und Ruth essen?« fragte Hanna.

»O nein«, sagte Frau v. Bendeleben, »bitte, geht und ruft sie!«

»Komm mit, Grete«, bat Hanna. »Wir wollen die vergessene Gesellschaft bald auf die Beine bringen« – damit zog sie mich hinaus.

»Geh allein, Hanna!«

»O nein, ich fürchte mich in dem langen Korridor.«

»Schick Johann«, bat ich.

»Nein, komm nur, wir wollen sie erschrecken.« Ich zitterte vor Aufregung, aber sie zog mich mit. »Horch, sie sprechen«, sagte sie leise, als wir in dem nur matterleuchteten Salon der Gräfin standen. Durch die schweren, dunkelroten Vorhänge drang Lichtschimmer aus dem kleinen Boudoir, und da tönte auch Ruths silberhelles Lachen. Ich hörte, wie sie sagte: »Was du für ein wunderbares Gesicht machst, Vetter. Ich finde dieses Arrangement sehr passend. Nur wollt' ich, daß der feierliche Schritt erst in aller Form geschehen wäre, aber Gott weiß, wie lange es noch dauert! Diese dörfliche Schönheit glaubt wahrscheinlich, es gehöre zum guten Ton, die öffentliche Verlobung mit ihrem salbungsvollen Anbeter zu verzögern, obwohl sie ja heimlich, wie mir Liesel sagte, vollständig einig sind. Na, sie war von jeher etwas obenhinaus und kopiert möglichst die Manieren der beau monde, soweit sie sie kennenlernte. Übrigens, es wird Zeit, daß ich dich beurlaube, Wilhelm, denn man rüstet sich zur Tafel. Ich wünsche bon appetit und viel Vergnügen; Bergen wird für lehrreiche Konversation Sorge tragen.«

»Du mußt mit, Ruth!« sagte Eberhardt.

»Nimmermehr!« rief sie. »Ich kann dies spießbürgerliche Wesen nicht ertragen. Das Fräulein Gretel wird wohl da sein mit ihrem ewigen Madonnengesicht. Der junge Pastor wird natürlich sie und sie ihn anhimmeln. Hanna wird gleich nach Tisch einen ellenlangen Strumpf aus der Tasche ziehen und sich mit der Miene einer erfahrenen Hausfrau ins Sofa setzen – nein, um alles in der Welt, ich bekomme Krämpfe, wenn ich daran denke.«

»Und so grausam willst du sein und mich dort unten vor Sehnsucht verschmachten lassen?«

»Oui, mon cher, allez seul.«

»Aber was soll ich allein dort? Onkel und Tante, Bergen und Hanna, der Pastor und – und«, seine Stimme klang auf einmal dumpf und gepreßt. »Ich bitte dich«, sagte er dann beinahe heftig, »komm mit hinüber, oder ich bleibe hier – soll ich dort etwas mit ansehen, was ich nicht teilen kann? Komm mit!« lachte er, »dann sind wir gerade drei Paare und könnten einen kleinen mittelalterlichen cour d'amour errichten, und du, als Sachverständigste, kannst entscheiden, welcher Ritter seine Dame am zärtlichsten verehrt.« Hanna preßte meine Hand, ihr Gesicht war dunkelrot geworden, und mir wankten die Knie, ich konnte mich kaum aufrechthalten. Aber alle meine Sinne waren gespannt auf die Vorgänge hinter den purpurroten Vorhängen gerichtet.

»Eh bien!« sagte Ruch. »Ich will es tun und hinüber kommen, aber eine Bedingung: du wirst dich bemühen, diese kleine schwarze Krepphaube nicht zu übersehen, mein teurer – Vetter!« Sie sprach das letzte Wort mit eigentümlicher Betonung.

Ein unheimliches, beinahe krampfhaftes Lachen Wilhelms erfolgte. »Mon dieu, was doch die Weiber für ihren guten Ruf besorgt sind! Ich bin fest überzeugt, dieses sanfte, unschuldige Kind aus dem Pfarrhaus« hat ihrem zärtlichen geistlichen Liebhaber etwas Ähnliches zur Pflicht gemacht, damit sie nicht kompromittiert wird. Sie ist spaßig, diese Komödie, die eine ist noch Witwe, die andere ist – alle Achtung vor diesen Weiberwitzen!«

Sein Gelächter tönte mir noch in den Ohren, als ich wie gejagt davonlief. Fast bewußtlos sank ich in dem kleinen Salon in den Sessel. Glücklicherweise war niemand mehr hier, sie mochten schon im Speisesaal sein. Wie gebrochen lag ich da, ein Chaos von Gedanken wirbelte in meinem Kopfe. Ich strich mit der Hand über die Stirn: »Was soll ich tun? Was soll ich beginnen? Lieber Gott, hilf mir, hilf mir!«

»Fräulein Gretchen, Fräulein Gretchen, wo stecken Sie denn?« rief Bergen. »Ich möchte um den Vorzug bitten, Sie als Tischnachbarin zu haben. Sind Sie krank?«

»O bewahre!« rief ich und nahm, aufspringend, seinen Arm. »Sehen Sie mich nur nicht so verwundert an, ich bin wirklich ganz gesund, vollständig –«

Man saß schon um den ovalen Tisch, Ruth neben ihrem Vetter und Bergen gegenüber, Hanna leichenblaß an der Seite des jungen Pfarrers. Wankend schritt ich zu meinem Platz. Eberhardts Blicke waren groß auf mich gerichtet, als er aufstand und mir eine tiefe Verbeugung machte. Mit etwas spöttischer Miene sah er, daß ich auf der anderen Seite des Pastors Platz nehmen mußte. Mir schnitt es gleich Messern ins Herz, als ich bemerkte, wie er mit Ruth einen Blick wechselte.

Wie eigentlich diese Zeit bei Tische hingegangen ist, weiß ich nicht mehr. Es war mitunter ein lebhaftes Gespräch im Gange, aber es schien mir, als ob alles untereinander gereizt und böse sei. Eberhardt sprach beinahe am meisten, und zwar widersprach das, was er sagte, gewöhnlich den Ansichten, die Bergen eben geäußert hatte. Auf häßliche, satirische Weise suchte er ihn lächerlich zu machen, aber Bergen blieb sehr ruhig, und Hanna warf ihm bittende Blicke zu, die er freundlich erwiderte.

Pastor Renner blieb beinahe stumm, ich gänzlich. Endlich erhob sich Frau v. Bendeleben und gab das Zeichen zum Aufheben der Tafel. Hanna trat zu mir und flüsterte: »Gretchen, ich bitte dich, schweig gegen jedermann über das, was wir gehört! – Was hat nur Eberhardt?« fragte sie ihren Mann, der eben zu uns kam.

»Kind, so zerfahren und gereizt ist er schon seit längerer Zeit – ich dächte, das mußt du auch schon gemerkt haben. Es ist gar nicht mehr mit ihm umzugehen jetzt. Gott mag wissen, was ihn drückt – er tut mir leid.«

»Ja, mir auch«, sagte Hanna mit einem Seufzer und legte ihr großes wollenes Strickzeug vor sich auf den Sofatisch in dem kleinen Salon. »Komm, Grete, du sollst Tröster für alle sein, du singst heut ein bissel. Ich hab' mich so lange nach deiner schönen Stimme gesehnt.«

»Aber die Gräfin Satewski, sie kann es nicht hören!« sagte ich ängstlich.

»Aber ich kann's hören!« sagte hier sehr bestimmt der Baron. »Wer es nicht vertragen kann, mag das Zimmer verlassen und sich außer Hörweite begeben.«

Er hatte laut gesprochen, aber die schöne Gräfin nahm nicht die mindeste Notiz davon. Sie hatte den feinen Kopf nach Eberhardt zurückgewandt, der hinter ihrem Sessel stand und zu ihr sprach. Er drehte das Ende seines schwarzen Bärtchens zwischen den Fingern und seine funkelnden Augen ruhten feurig auf dem schönen Gesicht.

Ich mußte an ihm vorüber, wenn ich in das Nebenzimmer gehen wollte, wo der Flügel stand. Mein Kleid streifte ihn, er merkte es nicht. Zum Singen war mir nicht zumute, fast mechanisch quollen mir die Töne aus der Brust. Ich merkte kaum, daß ich das alte Lied sang, das mir schon den ganzen Tag in den Ohren geklungen hatte. Da, beim zweiten Vers, kam mir wie ein Blitz die Erinnerung jenes Abends, an dem ich es zuerst gesungen. Ich sah ihn wieder, wie er drüben stand und mich anschaute:

So selig, so wonnig.
So wunderbar lieb,
O ihr Sterne am Himmel.
Wenn's immer so blieb!

Mond ist gegangen.
Erloschen die Stern',
So blaß meine Wangen.
Und er, – ach so fern!

und der letzte Vers – jetzt paßte er! Ich glaube, ich habe ihn nie mit tieferer Empfindung gesungen. Hanna nahm die Hände von den Tasten und blickte mich an: »Gretchen, das ging ja durch Mark und Bein, was ist dir nur, liebes Herz?«

Im Nebenzimmer faß Gräfin Satewski und lächelte wie vorher, aber der Platz hinter ihrem Stuhle war leer, Eberhardt war verschwunden. Er kam auch nicht wieder, obgleich die schöne Frau Johann durchs ganze Schloß jagte, um ihn zu suchen; – er blieb verschwunden. Hanna nahm unbekümmert ihren Strickstrumpf und bald klapperten die Nadeln flink gegeneinander.

»Unbegreiflich!« fing Ruth an. »Haben dich die Eltern so schlecht mit Nadelgeld versehen, daß du derartige Arbeiten selbst verrichten mußt?«

»O nein; aber du glaubst gar nicht, wie seine Wäsche aussieht. Solch ein unverheirateter Leutnant – du kannst es dir gar nicht vorstellen. Ich habe alle Hände voll zu tun, um alles, wieder in die Reihe zu bringen.«

»Na, dann strick doch in deiner Häuslichkeit soviel du willst, aber nicht in Gesellschaft.« »Ich glaube hier zu Hause zu sein und nicht in Gesellschaft. Ich habe mich überdies daran gewöhnt, mich mit etwas zu beschäftigen. Aber wenn es dich unangenehm berührt, lege ich das Strickzeug gern weg.«

»Nein, bitte, bitte!« sagte Ruth. »Ich fühle mich angegriffen und ziehe mich zurück.« Sie stand auf. »Bon soir. Hoffentlich ist mir morgen wieder besser.« Auch ich erhob mich und sagte »Gute Nacht«. Ich mußte allein sein mit meinem schweren Herzen.

»Ah, da winkt ja dem Herrn Pastor eine Ritterpflicht«, lachte Ruth, sich noch auf der Schwelle umwendend. »Man kann doch den finstern, einsamen Weg nicht allein machen?«

»Ich bedaure sehr, dem Fräulein meine Begleitung nicht anbieten zu können. Ich habe nachher noch einen Gang in das entgegengesetzte Ende des Dorfes zu tun«, bemerkte der junge Geistliche kühl.

»Ich gehe allein und fürchte mich gar nicht«, erwiderte ich und schritt an Ruth vorbei, die lächelnd folgte. Auf dem Korridor standen wir uns gegenüber, das Lächeln verschwand von dem reizenden Gesicht.

»Vielleicht wäre eine andere Begleitung angenehmer«, flüsterte sie dicht an meinem Ohr. »Mamsell würde ihren Arm vielleicht lieber in den des hübschen Leutnants legen? – Noch ganz die Prinzeß von früher, die sich einbildete, mit uns rivalisieren zu können. Damals waren es –«

»Bunte Bänder, Gräfin Satewski, und jetzt ist es eines Menschen Lebensglück. Aber beruhigen Sie sich, noch habe ich Mittel und Wege, mein Eigentum zu verteidigen – ohne die Waffen der Koketterie und der Lüge ergreifen zu müssen.«

Ihre Augen blitzten, sie faßte mich am Handgelenk. – »Wovon sprichst du denn eigentlich, mein Kind? Ich habe kein tendre für den Herrn Pastor. Ich meinte nur, man soll sich genügen lassen und nicht heimlich Liebesbriefe durch Anne Marie an einen anderen besorgen. Erschrecken Sie nur nicht! Ich weiß ja nicht, wer dieser Glückliche ist – aber was würde meine Mutter, was Hanna und der tugendhafte Ehren-Bergen sagen, wenn sie das wüßten?«

»Dieser andere, Gräfin«, sagte ich ruhig und laut, indem ich mich hoch aufrichtete und ihr fest in die Augen sah, »dieser andere ist mein Bräutigam schon seit beinahe einem halben Jahre. Schlimm genug für mich, daß die Verhältnisse mich dazu zwingen, ihm heimlich zu schreiben, indessen kann ich's nicht ändern. Daß aber andere, unberufene Personen, für welche die Sache ohne alles Interesse ist, meine Schritte beobachten und sich in meine Angelegenheit mischen, daß Anne Marie keine treue Hüterin meines Geheimnisses ist, das ist hart für mich, die ich schutzlos dastehe. Aber auch das werde ich überwinden. Sollte man aber so boshaft, so frivol, so leichtfertig sein, mich bei meinem Verlobten zu verdächtigen, ihm Andeutungen zu machen, als ob ich nicht treu sei, so werde ich jede Schranke niederreißen, Gräfin Satewski, werde die Wahrheit sagen und –«

»Nun, und?« fragte sie und lächelte.

»Ich werde es Hanna erzählen und Bergen und Ihren Eltern. Alle Welt soll es wissen, was für eine Fülle von Frivolität sich hinter dieser weißen Stirn verbirgt!«

Sie lachte. »Närrchen! Was fabeln Sie da eigentlich? Nun wohl, wir wollen sehen. Glück auf! Vergessen Sie nur nicht, daß Sie Grete Siegismund heißen und dort unten im Dorfe Ihrer Ahnen Haus stehen haben.«

Sie wandte sich um. Ich ging allein aus der Halle. Ein feiner Regen sprühte mir ins Gesicht, und der Weg war aufgeweicht. Ich zog mein Tuch fester um mich – mich fror, obgleich mein Kopf glühte. Aus der Gärtnerwohnung schimmerte noch Licht. Ich trat ans Fenster und sah hinein: Anne Marie saß an dem Bettchen ihres Kindes. Als ich klopfte, erhob sie sich und öffnete das Fenster.

»Anne Marie«, sagte ich bebend, »was hast du getan mit meinem Briefe? Du hast mein Vertrauen schlecht belohnt!«

»Ich? Jesses, Fräulein Gretchen, wie können Sie mir das sagen?«

»Man weiß darum! Deshalb hast du dich auch vor mir gefürchtet und bist nicht einmal ins Dorf gekommen.«

»Ach; aber wie können Sie so etwas denken? Der Karle war gerade so krank, da hab' ich den Maxel geschickt mit dem Brief. Er hätte ihn richtig abgeliefert, sagte er.« »Wann, Anne Marie?«

»Am vorigen Montag, Fräulein.«

»Ich hab' keinen bekommen, wahrhaftig nicht!«

»O Jesses! Was sind das für Geschichten! Er hat gesagt, das Fräulein habe ihn selbst abgenommen an der Brücke im Park. Sie habe ihm den Kopf dafür gestreichelt, und er sei darum so rasch wiedergekommen.«

»Das bin ich nicht gewesen, Anne Marie, der Brief ist in falsche Hände gekommen!«

»OH, mein Gott! Ich bin unschuldig, ich kann nichts dafür, Fräulein Gretchen –«

»Bitte, Anne Marie, komm morgen mit Maxel zu mir. Ich muß alles genau wissen, ich bitte dich darum.«

»Gewiß! Ja, gleich morgen früh, seien Sie mir nur nicht böse.«

Fieberhaft rasch schritt ich weiter. Nun wußte ich ja, woher die schöne Witwe mein Geheimnis kannte. Den Brief hatte ihr jedenfalls ein tückischer Zufall in die Hände gespielt. Er hatte vielleicht sehnsüchtig auf eine Antwort gewartet, während ich in Angst und Leid um sein Stillschweigen beinahe verging. Wer weiß, was dieses ränkesüchtige Weib ihm alles erzählte, um mich zu verdächtigen? Sie brauchte ein Spielzeug, um sich für die an Abwechslungen arme Witwenzeit zu entschädigen, da war der schöne Vetter willkommen – wie fatal, daß sie da entdecken mußte, er habe eine ernsthafte Neigung gefaßt für dieses verhaßte Mädchen aus dem Pfarrhaus«. Die mußte beseitigt werden! Gott weiß, zu welch teuflischen Mitteln sie gegriffen hatte.

»Mein Gott«, flüsterte ich, während mir diese Gedanken durch meinen schmerzenden Kopf wirbelten, »gib mir Gelegenheit, ihn zu sehen, zu sprechen, er muß sich ja überzeugen, daß alles nur Lüge ist, er muß das Spiel durchschauen.«

Da trat mir an der kleinen Brücke, die ich eben überschreiten wollte, eine hohe, dunkle Gestalt entgegen – wie hingezaubert stand er vor mir. »Eberhardt! Wilhelm!« schrie ich auf in der Angst meines gepeinigten Herzens und wollte meinen Arm um seinen Hals schlingen. »Wilhelm, ich kann's nicht mehr ertragen, ich sterbe, wenn du noch länger so grausam gegen mich bist!«

Ei trat rasch zur Seite, meine Arme sanken herab. Er legte die Hand an seine Mütze, verbeugte sich tief und gab mir den Weg frei. Es lag ein solcher Hohn in dieser Stellung, daß ich außer mir und mit gefalteten Händen vor ihn hintrat und bat: »Eberhardt, um Jesu willen, sei nicht so fürchterlich, sei barmherzig, ich kann's nicht mehr tragen, höre mich an!«

Eine nochmalige tiefe Verbeugung erfolgte, dann schlug er seinen Mantel zusammen, schritt an mir vorüber und verschwand in der Dunkelheit meinen Blicken.

Ich starrte in die Richtung, die er eingeschlagen hatte, als müßte ich die Finsternis mit meinen Augen durchdringen. »Wilhelm!« wollte ich rufen, aber das Wort kam nicht über meine Lippen. Meine Knie brachen zusammen, ich sank auf die nasse Erde und schlug mit der Stirn gegen das Brückengeländer. Der heftige Schmerz verhinderte eine Ohnmacht. Ich richtete mich mit Anstrengung wieder auf und preßte die Hand gegen meine blutende Stirn. Unaufhörlich rieselte der feine Regen hernieder, die Wellen des kleinen Flusses murmelten und glucksten unter der Brücke, finster und unheimlich war die Natur, aber unheimlicher und finsterer war es in meiner Seele. »Spring hinunter, dann ist alles aus!« flüsterte es in mir – »ein kleiner Sprung! Es hat ja schon mancher so Ruhe gefunden.« – Ich lehnte mich weit über das niedrige Geländer und streckte die Hände nach dem Wasser aus. –

Da stand er plötzlich noch einmal vor mir.

»Wilhelm!« rief ich und bemühte mich vergeblich, meine Hände freizumachen, die er ergriffen hatte und wie mit Eisen umspannt hielt. »Wilhelm, ich bin unschuldig. So wahr ein Gott lebt, man hat mich verleumdet!«

»Natürlich, vollkommen! Ich bin ja davon überzeugt!« höhnte er. »Aber warum sollte man nicht aus Langerweile und in Ermanglung von etwas Besserem einen kleinen Roman einfädeln? Jammerschade, daß dieser geistliche Herr so wenig Routine hat in solchen Sachen.« »Es gibt Leute, die lügen!« rief ich empört und riß mit einem heftigen Ruck meine schmerzenden Hände los. »Und ich bedaure dich von ganzem Herzen, daß du dich auf so jammervolle Weise hinter das Licht führen läßt. Ich weiß, wem ich es zu danken habe, daß dein Herz sich von mir abwendet. Diese Gräfin Satewski, die meine Kinderzeit vergiftete, sie nimmt mir jetzt das Glück meiner Jugend und meinen guten Ruf!«

Er wollte mich umfassen und küssen.

»Wenn du mich nicht mehr liebst, so beleidige mich wenigstens nicht!« schrie ich in hellem Jammer auf und stieß ihn zurück. »Ich habe nichts getan, was dir ein Recht gibt zu diesem Benehmen, das eines Mannes unwürdig ist!«

Er ließ mich frei, und ich sank auf dem feuchten Wege in die Knie.

Wie ich nur nach Hause gekommen bin an diesem Abend! Die Liefe! schrie laut auf, als ich in die Stube trat. Dann sank ich bewußtlos nieder. Als ich wieder zur Besinnung kam, standen die Frau Renner, die Marie und die Liesel an meinem Bett, und ich hörte Kathrins ängstliche Stimme: »Oh, du gerechter Heiland! Was ist nur passiert? Ach, mein Kind, meine Gretel!«

Ich erwachte mit der klaren Erinnerung des Geschehenen, ich konnte sogar eine Lüge erfinden, konnte sagen, daß ich über eine Baumwurzel gestolpert und arg hingefallen sei, und so meine beschmutzten Kleider erklären. Ich wurde auch nicht krank, wie Hanna damals. Nein, nichts von alledem, ich mußte das Schreckliche durchkämpfen vom Anfang bis zum Ende, den ganzen bittern Kelch bis auf die Neige leeren.

Wenn ich nur hätte weinen können! Aber die Tränen waren schon alle vergossen. Eine entsetzliche Starrheit war über mich gekommen. Bis dahin hatte mir noch die Hoffnung tröstend zur Seite gestanden, aber jetzt – war alles aus. Er hatte selbst mit rauher Hand den Himmel geschlossen, den er mir einst eröffnete, und es war dunkel geworden um mich her, ganz dunkel. Ich konnte nicht einmal ordentlich mehr denken, ich konnte nicht einmal beten.

Ruhelos warf ich mich auf meinem Lager umher, die Augen brannten wie Feuer und das Herz tat mir so weh, daß ich die Hand darauflegen mußte. Vielleicht bricht es – dachte ich, es muß ja brechen! Die Geschichte eines Mädchens im Dorfe, dessen Geliebter untreu wurde, als er unter die Soldaten kam in die Stadt, fiel mir wieder ein. Er hatte nicht wieder geschrieben, und sie war gegangen, ihn zu suchen; sie hatte ihn dann auch gefunden im Tanzsaal mit einer hübschen Dirne, mit der er schöntat. Als sie vor ihn getreten war, hatte er sie ausgelacht und ihr gesagt, sie solle sich wieder ins Dorf scheren, er könne jetzt auch Fein und Grob unterscheiden – ein Bauernmädchen möge er nicht zur Liebsten haben. Da war sie gegangen, und als sie in das Stübchen ihrer Heimat trat, war sie ihrer Mutter tot zu Füßen gestürzt. »Die ist an gebrochenem Herzen gestorben!« erzählen die Leute, wenn sie an dem einfachen Hügel vorübergehen.

»Vielleicht hat der liebe Gott Erbarmen«, dachte ich, »und du wachst morgen früh nicht wieder auf. Wenn's doch so wäre! Oh, hätte ich doch eine Mutter, könnte ich ihr doch den ganzen Jammer anvertrauen! Ach, nur ein Herz, das mich versteht, nur eins!«

Und es wurde Tag nach dieser entsetzlichen Nacht. Ich stand wie sonst auf und brachte wie sonst Kathrin das Frühstück ans Bett. Wie sonst gab ich dem Mädchen meine Anweisungen und setzte mich mit der Arbeit ans Fenster. Aber es kam mir alles so fremd vor. Mein Kanarienvogel saß zusammengekauert auf seiner Stange, er war doch früher so lustig umhergesprungen. Die Vorhänge sahen grau aus und die ganze Stube so unwohnlich. Ich hörte auch nicht, daß jemand an die Tür klopfte, und erst auf Kathrins herein!« blickte ich auf und gewahrte Hanna. Mechanisch stand ich auf und duldete den Kuß, den sie mir auf den Mund gab.

»Gretchen! Ach, was ist das für ein Aufenthalt drüben im Schlosse –» kann Kathrin hören? Mach die Tür zu! – Ich bin weggelaufen, ich konnt's nicht mehr mit ansehen.« Sie setzte sich auf das Sofa und zog mich neben sich. »Denke dir, gestern abend gab es noch eine furchtbare Szene zwischen meinem Manne und Eberhardt. Er schien doch gestern schon bei Tische so aufgeregt – er war es in letzter Zeit öfter. Wie du dich erinnern wirst, verschwand er dann plötzlich. Wir saßen noch und plauderten, da hörten wir auf dem Korridor einen Wortwechsel, und gleich darauf trat Eberhardt ein und warf die Tür hinter sich zu, daß es dröhnte. Wir sprangen entsetzt auf – er sah fürchterlich aus, die Haare hingen ihm wild um den Kopf, er schien geweint zu haben. Er hatte gewiß zuviel Wein getrunken bei Tisch, wenigstens meinte es Bergen. Unbekümmert um unseren Schrecken warf er sich in einen Sessel und fing an zu pfeifen, die Melodie zu dem Liede, das du kurz zuvor gesungen hattest. Mitten darin brach er ab und lachte höhnisch auf, dann pfiff er weiter. Mama, voll Entsetzen über dieses unpassende Benehmen, gab meinem Manne einen Wink, er möge ihn hinausführen – wahrscheinlich hielt sie ihn für angetrunken. Heinrich ging also wirklich auf ihn zu und fragte ihn ganz freundlich, ob er eine Partie Billard mit ihm machen wolle. Er erhob sich auch, und sie gingen in den Billardsaal. Von dort hörten wir nach einer Weile heftiges, lautes Sprechen. Ich ging mit Vater in meiner Herzensangst hinüber und kam gerade dazu, als Eberhardt, der ein Queue in der Hand hielt, mit zornbebender Stimme ausrief: ›Zum Donnerwetter noch einmal! Hör auf mit deinen Moralpredigten! Welches Recht hast du, mich wie einen Schulbuben zu behandeln?‹

›Ich behandle dich nicht wie einen Schulbuben, ich frage nur, ob du dich nicht lieber zu Bett legen willst, weil du mir krank zu sein scheinst‹, antwortete Heinrich, indem er mir winkte, fortzugehen.

Vater, der jetzt hinzutrat, legte beschwichtigend seine Hand auf Eberhardts Arm und bat ihn ebenfalls, die Ruhe zu suchen. ›Hast du Unannehmlichkeiten gehabt, oder bist du unwohl!‹

›Weder das eine noch das andere; ich scheine aber lästig hier zu werden!‹ schrie er. ›Und es ist das beste, ich reite nach Hause.‹ Er warf das Queue auf die Erde, riß die Zimmertür auf und rief nach Johann mit beinahe überlauter Stimme. Dann setzte er die Mütze auf und wollte gehen. »Du solltest heute nicht fortreiten, Eberhard?«, sagte mein Vater möglichst ruhig. »Kannst du keinen Spaß vertragen?«

»Den Teufel auch! Bin ich denn verrückt geworden? Am Ende ist alles nur ein Spaß gewesen – laß mich los, Bergen, ich reite, und wenn ihr allesamt euch dagegen auflehnt. – Mein Pferd, Dummkopf!« schrie er Johann an, der auf Befehl wartend dastand und verwundert die Szene mit ansah.

Er ritt richtig fort, ohne »Gute Nacht« zu sagen. Als er vielleicht fünf Minuten weg war, ließ Bergen sein Pferd satteln und folgte ihm. »Dem ist heute alles zuzutrauen«, sagte er zu mir, »ich muß aufpassen. Spioniere du ein bißchen, mein kluges Frauchen, was vorgefallen sein kann.« Was noch weiter passiert ist mit den beiden, weiß ich nicht – Ach, Gretel, was sagst du dazu; ich hab' doch so große Angst!«

»Mein Gott«, begann sie nach einer Pause wieder, als ich die Antwort schuldig blieb, »ich hab' so eine Ahnung. Bei Ruth war ich auch schon. Sie lag noch im Bett, und als ich ihr das Geschehene mitteilte, da lächelte sie nur und schob sich das gestickte Kissen recht bequem unter den Kopf und sagte: »Dummer Junge! Aber so sind die Männer alle; er wird sich schon wieder beruhigen.« Grete, ob sich wohl Wilhelm in meine Schwester verliebt hat und sie ihm am Ende einen Korb gegeben hat in Anbetracht ihrer jungen Witwenschaft? Etwas Derartiges muß passiert sein, ich sah noch nie eine ähnliche Aufregung, die ganze Art und Weise seines Benehmens bringt mich darauf. Jedesmal, wenn er mit Ruth zusammen war, mochte sie in der Stadt gewesen sein oder kam er von hier – immer war er in einer fieberhaften Erregung. Grete, sag, hältst du das für möglich? – Es sollte mir leid tun, denn Ruth – nun, du weißt, wie ich über sie denke.«

»Es kann ja sein«, sagte ich leise.

»Lieber Gott, was für Geschichten! Und du, Gretel, siehst auch aus, als ob dein Weizen verhagelt wäre, oder noch schlimmer. Ist denn auch etwas zwischen dir und dem Pastor vorgefallen, es schien mir beinahe so gestern abend.«

»Habt ihr euch denn alle verschworen, mich wahnsinnig zu machen?« schrie ich auf. »Was hab' ich, was hat er denn nur getan, euch auf diese verrückte Idee zu bringen? Allmächtiger Gott! Und auch du, Hanna, bist so – so grausam, so boshaft wie die anderen alle!«

»Aber, Grete!« rief gekränkt die kleine blonde Frau und sprang ebenfalls auf. »Ist denn heute alles toll? Jetzt beleidige ich dich, indem ich von einer Sache spreche, die wir alle als längst ausgemacht betrachten?«

»Ja, ausgemacht, ohne mich zu fragen! Das hat niemand für nötig gehalten – die arme Grete konnte ja überhaupt froh sein, wenn sich eine halbwegs passende Partie für sie fand! Da gab jeder sein Körnchen Weisheit dazu, es wurde geneckt und geschwatzt und ihr ein Bräutigam vor den Leuten angehängt, der ihr gleichgültig war, und der selbst nichts davon wußte! Das ist ja nun ganz vergnüglich für andere Leute – was ich darunter zu leiden hatte, was mir die Geschichte für namenlosen Kummer bereitete – daran habt ihr nicht gedacht.«

»Gretchen, dieser Vorwurf trifft mich schmerzlich«, sagte Hanna sanft, »um so schmerzlicher, da wir in letzter Zeit so Verschiedenes erfuhren, was die Wahrheit dieses Gerüchtes, wie du es nennst, zu bestätigen schien – ich bin die letzte, die dir etwas anhängen würde, wie du sagst.«

»Was für Verschiedenes hast du gehört? Hanna, ich bitte dich, sage es mir! Doch nein, laß es lieber, es ist ja alles vergebens, alles zu spät – zu spät!«

Das eintretende Mädchen meldete Anne Marie mit dem Knaben. »Sie kann wieder gehen, es ist nicht mehr nötig!« rief ich dem Mädchen zu. »Ich bedarf ihrer Dienste nicht mehr.«

»Gretchen«, fing Hanna wieder an, »dich drückt ein Geheimnis. Ich will dich nicht zwingen, es mir mitzuteilen, und hoffentlich trügt mich meine Ahnung. Aber ich möchte dir helfen auf alle Fälle, ich will tun, was du verlangst, bitte, verfüge über meine Hilfe, wenn du ihrer irgend bedarfst. Ich bleibe noch einige Tage hier, komm zu mir, wann du willst und sooft du willst – ich habe es doch immer gut mit dir gemeint!«

Ich war froh, als sie endlich ging, und ich wieder stumm an meinem Fenster saß. Der Tag verfloß wie jeder andere. Es kam die Dämmerung, und ich starrte mit meinen heißen Augen hinaus auf die alte Linde und das Pastorhaus: so wird es nun immer sein, jeden Tag, jeden Abend, einsam sollt' ich hier sitzen die kommenden Tage und Wochen und Jahre! Wie ein Alp lag dieses Bewußtsein auf mir! Wie werde ich es ertragen, dieses Leben? Kann es denn nicht wieder anders werden? Ist denn alles schon verloren? Unwiderruflich? Dann sprang ich auf und zündete ein Licht an, ich wollte an ihn schreiben, und ich schrieb und schrieb die halbe Nacht hindurch, sagte ihm alles, klagte ihm meine Verzweiflung, meine grenzenlose Angst, und bat ihn, zu prüfen, ehe er mich von sich stieß für immer.

Aber wer soll das Schreiben besorgen? Im nächsten Orte war Poststation, Wiesenau lag vielleicht drei Viertelstunden von hier – gleichviel, hin mußte der Brief, und sollte ich ihn selbst morgen hintragen.


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