W. Heimburg
Alte Liebe und anderes
W. Heimburg

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201 Hilgendorf.

Einen Starrkopf hatte das hübsche Röschen immer gehabt, versicherte die Mutter: schon als Wickelkind setzte es seinen Willen durch, und es war ein doppelt schweres Unglück, daß der Herr Amtsrat bereits starb, als das kleine Ding noch im Kittelschürzchen umherlief. Die junge Witwe, die den Kopf so voll hatte, war dem bemerkenswerten Eigensinn des Töchterchens, ohne die väterliche Autorität, durchaus nicht gewachsen, es herrschte ein immerwährender Kriegszustand zwischen der jungen Mutter und dem winzigen Püppchen.

Dann war da noch eine Tante, der reine Verderb des Kindes: sie bewohnte oben die zwei Giebelstuben des stattlichen Hauses. Eine stille, sanfte Person, die immer zum Guten redete, immer vermittelte und die Schuld trug, daß Röschen niemals die regelrecht verdienten Prügel voll ausbezahlt bekam, ohne welche nun einmal, nach Meinung der Frau Amtsrat, Kinder nicht groß werden. Immer fiel diese Tante der strafenden Mutter in die Arme und erinnerte sie an den Seligen, der gewiß nicht wollte, daß sein Einziges so hart gezüchtigt werde.

Die resolute Frau Amtsrat haßte diese Tante geradezu, ohne daß äußerlich ein Grund dafür zu erkennen war. Sie hatte dieselbe einst in einem Anfall von Zorn »ein altes Hauchebild« genannt, es war damals, als um die schöne junge Witwe die Freier herumflatterten wie die Wespen um süße saftige Früchte. In keiner anderen Zeitperiode hatte Frau Amtsrat ihre sanfte Schwägerin so verabscheut. Das 204 alte Hauchebild bekommt mein Kind doch nicht, sagte sie sich innerlich zum Trost, und wenn ich darüber sterben sollte!

Wer kennt denn heute wohl noch ein »Hauchebild«, das wir von Anno dazumal in Gesangbüchern und Bibeln als ein Heiligtum verwahrten? Ein kleines, kartengroßes, aus hellroter Gelatine bestehendes, durchsichtiges Blättchen war es, das mit goldgedrucktem, strahlendem Gottesauge und einer Taube oder einem Lamm und dazu passenden Bibelsprüchen geschmückt war. Hauchte man so ein Blättchen an oder legte es nur auf die warme Hand, so bog es sich zusammen wie eine Rolle.

Mit solch einem Bild verglich nun die Frau Amtsrat ihres verstorbenen Mannes sanfte Schwester, obgleich dieselbe ihr kein Steinchen in den Weg legte. Und so unrecht hatte sie nicht, wenigstens nach einer Seite hin betrachtet. Sobald nämlich die Frau Amtsrat ihre blasse Schwägerin bei irgend einer Gelegenheit barsch anredete oder anhauchte, sank die zierliche Gestalt förmlich in sich zusammen und saß schweigend da in ihrem grünen Ruhesessel, der extra für sie in der tiefen Fensternische des Wohnzimmers stand, wenn sie nicht gar vorzog, »in ihr eigenes Revier hinaufzuwechseln«, wie ihr seliger Mann, der Oberförster Taube, derartige Rückzüge benannt hatte. Nun, ein Streit ist ja bekanntlich beendet, sobald der Gegner verschwindet. Und zum Streiten hätte es täglich kommen können zwischen den Schwägerinnen, immer lediglich über das Röschen, wenn Frau Oberförster nicht so friedfertig gewesen wäre.

Das wilde Kind hing zärtlich an dieser Tante. Wenn irgendwo und wie etwas Mädchenhaftes in ihm zum Vorschein kam, dann war's oben in Tante Lottchens friedlichem Bereich: dort lernte es stillsitzen und sticken und stricken, und im Dämmern legte es den mit zwei prächtigen dunklen Zöpfen geschmückten Kopf in den Schoß der Tante und ließ sich erzählen von dem Vater, den es so wenig gekannt, und den Tante Lotte so lieb gehabt hatte. Das war besonders der Fall, wenn die Mutter eine Damengesellschaft besuchte. Seitdem nämlich Frau Amtsrat Wendenburg das stattliche Domänengut Hilgendorf hatte verlassen müssen, um hier in Neustadt an der Solau ein Leben der Untätigkeit zu führen, wie sie ihr 205 Dasein nannte, war in ihr eine Leidenschaft für Geselligkeit und besonders für Kaffees erwacht, und dies letztere hatte wiederum seinen eigenen Grund. Sie hoffte irgend etwas zu erfahren über Hilgendorf, ihr liebes prächtiges Hilgendorf, das ihr so sehr ans Herz gewachsen war, sie kam sich vor wie eine Königin im Exil. Die stille Hoffnung, daß der Oberamtmann Bartenstein mit seiner Familie einen Besuch bei ihr machen werde, wie sich dies für den Nachfolger ihres seligen Mannes doch geschickt haben würde, trog; die Leute kümmerten sich um Neustadt an der Solau im allgemeinen und um Frau Amtsrat im besonderen nicht für einen Pfifferling. Trotzdem drangen allerlei Gerüchte über den neuen Herrn auf Hilgendorf in die Stadt und bildeten einen nie versiegenden Unterhaltungsstoff für die zahllosen Kaffees der Honoratiorendamen. Aber weit entfernt war Frau Amtsrat von dem sogenannten »Klatsch«, sie wollte hören aus wirklichem Interesse für ihr unvergeßliches Hilgendorf.

Seit langer Zeit hatten die Wendenburgs auf Hilgendorf gesessen, so fest und sicher wie auf eigener Scholle, immer wieder hatte das fürstliche Rentamt den Pachtvertrag mit einem Wendenburg erneuert, der Sohn war dem Vater gefolgt wie auf einem Fürstenthron, und nun hatte der Himmel dem seligen Amtsrat Wendenburg nicht nur den heiß ersehnten Sohn versagt, nein, er rief auch den frischen, kräftigen Mann in seinen besten Jahren von dieser Welt ab, und die Witwe sah die Pachtung in die Hände eines gänzlich Fremden übergehen, der eines Tages mit seiner blassen, stillen, ewig kranken Frau einzog.

Das war eine schwere Zeit gewesen, und andre schwerere kamen nach; zum Beispiel als das Testament ihres guten seligen Mannes bekannt gegeben wurde.

Ja, dieses Testament! –

Tante Lotte mied alle Festlichkeiten: sie machte lieber einen Spaziergang mit Röschen oder spielte vierhändig mit dem Kinde; anfänglich leichte Sachen, später ernste klassische Stücke. Wenn aber unten die Haustür klingelte und die tiefe schöne Stimme der heimkehrenden Mutter erscholl, dann steckte Tante Lotte das »liebste Kind«, wie sie ihre junge Nichte nannte, ängstlich zur 206 Tür hinaus, denn unter anderen Vorwürfen, die Frau Amtsrat für das Hauchebild hatte, behauptete sie auch noch, es trachte danach, ihr des Kindes Herz abspenstig zu machen. Und das Hauchebild konnte doch genug haben an ihrem eigenen Kinde, dem unausstehlichen Bengel, dem Fritz, dem ganz und gar nichts Hauchebildartiges anhaftete, der vielmehr rechtschaffen frech war, wie Frau Amtsrat Wendenburg jeden versicherte, der es hören wollte, eine Eigenschaft, die er von seinem verstorbenen Vater, dem Oberförster Taube, geerbt haben sollte – nach ihrer Meinung.

Gottlob! war dieser »Schlagtot« von einem Jungen immer nur während der Ferien zu seiner Mutter gekommen, aber da gab es schließlich auch gerade genug Ärger. Wenn Röschen wild war von Natur, so wurde sie es doppelt, wenn Fritz Taube erschien. Und obgleich besagter Fritze acht bis neun Jahre mehr zählte als seine Cousine Röschen, waren sie doch schier unzertrennlich, und der heranwachsende Jüngling ging mit dem Kinde um, als wäre er die beste Bonne der Welt. Das Hauchebild aber lebte auf in dieser Zeit und stiftete, nach Meinung der Mutter Röschens, die beiden Wilden zu immer größeren Torheiten an. In den Kinderjahren Röschens mochte es ja hingehen, daß diese Tante mit Sohn und Nichte tagelange Fußtouren in die Berge unternahm, als aber dann später der hübsche Forsteleve mit dem kecken blonden Bärtchen über den blitzenden Zähnen immer wieder kam und die Tante mit dem siebzehnjährigen Röschen und ihm sogar eines Augustabends eine regelrechte Mondscheinpartie unternahm, von der das Mädchen mit großen leuchtenden Augen und einem blassen andächtigen Gesichtchen heimkehrte, da wurde es der Frau Amtsrat zu bunt, und sie empfand wieder einmal tief gekränkt die Schmach, durch ihres seligen Mannes letzten Willen in so unlöslichen Beziehungen zu dieser Tante Lotte stehen zu müssen, gleich einem Galeerensklaven.

Die Frau Amtsrat war an diesem Tage in einem Gartenkaffee bei der Frau Superintendent gewesen, und als sie heimkehrte, aufgeregt von der großen Neuigkeit, die sie gehört, und nach einer Aussprache förmlich lechzend, waren die drei in die Au nach der Buschmühle gewandert. In ihrer Unruhe ging sie in den 207 Gartenwegen auf und ab und schalt innerlich auf das Hauchebild mit seinen verschrobenen Ideen, und dabei stand der Mond so wunderbar klar am dunkelblauen Himmel und versilberte jedes Zweiglein, jedes Blättchen, und lag wie Schnee auf den Kieswegen: die Rosen dufteten so süß, und jenseit der Gartenmauer gingen Bursche und Mädchen dahin und sangen:

»In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad« –

Der Frau Amtsrat wurde mit einemmal ganz eigen zu Mute, denn an solch einem Mondscheinabend hatte ihr Seliger sie gebeten, seine Frau zu werden – da war sie eben siebzehn geworden. Heute zählte sie sechsunddreißig, seit elf Jahren war sie Witwe. Und sie dachte an einen zweiten Mondscheinabend, an dem der alte Geselle droben am Himmel noch viel silberner gestrahlt hatte, die Rosen noch weit süßer dufteten als an ihrem Verlobungsabend, denn da lauschte sie mit den wachen Sinnen ihrer reifen blühenden achtundzwanzig Jahre den Liebesworten eines schönen ritterlichen Offfziers, dem sie – ach, so gern die Arme um den Hals geschlungen und dazu gesprochen hätte: Ja, ja, ich will dein sein, ich liebe dich, wie ich nie zuvor geliebt habe! Und sie mußte die Arme sinken lassen und sagen: »Ich werde mich nie wieder verheiraten, Herr Rittmeister, nie!« Gott weiß, wie schwer ihr das geworden war!

Und nun hatte sie immer nur für das Kind gelebt und hatte die ewige Sehnsucht nach frischer, fröhlicher, gedeihlicher Arbeit, und mit dieser Sehnsucht war Hilgendorf identisch. Es war der Traum ihres Alters, denn Frau Amtsrat erschien sich sehr alt, die Aufregung über das heute Gehörte kam mit dieser Vorstellung wieder heftig über sie, und mit ihr die Erbitterung über die Tante, die das Kind einmal wieder ihr entfremdete. Und just in diesem Augenblick kehrten sie heim. Durch die Gartenpforte trat die Tante mit Röschen und Fritz, und Frau Amtsrat konnte deutlich das Gesicht ihrer Tochter erkennen, ein blasses, feierliches Mädchenangesicht mit großen seligen Augen. Mutter und Sohn hatten sich begnügt, höflich Gute Nacht zu sagen, und letzterer zu 208 gleicher Zeit Adieu! Denn seine Zeit war vorüber, und morgen früh mußte er wieder fort.

Das »Lebewohl!« der Frau Amtsrat klang nicht allzu freundlich, und als Mutter und Sohn außer Hörweite waren, da ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Ganz unpassend sei das, so ein Umherlaufen in der Nacht. »Gott sei Dank, daß er morgen reist, der Junker Leichtfuß!«

Aber Röschen antwortete nicht. Sie blickte, ganz gegen ihre Gewohnheit, in den Himmel hinauf, nur der rote Mund lächelte ein wenig, als wüßte sie alles besser als ihre liebe Mutter.

»Ich red' nicht zum Spaß, du!« bemerkte Frau Amtsrat scharf, »ich hoffe, daß deine Tante Lotte da nicht etwa ein verstecktes Spiel treibt. Es könnte ihr sicher passen, wenn sich der Fritz in so ein warmes Nestchen setzen möchte und sie ihren Willen doch bekäme somit. Aber daraus wird nichts, merk dir's und laß dir keinen Floh von ihr ins Ohr praktizieren – ich bitte mir's aus!«

Wieder keine Antwort. Still und stumm gingen sie beide ins Haus. Frau Amtsrat aber tat kein Auge zu diese Nacht. Sie war eine ehrenwerte prächtige Frau, die ihr Kind liebte, aber beinahe ebenso stark wie dieses Kind liebte sie Hilgendorf, ihre alte Heimat. Ach, wenn es einmal sein könnte, diese beiden größten Erdenfreuden zu vereinigen, auf daß sie bis an ihr Lebensende beide genießen könnte, dann würde sie Gott Abends und Morgens ein Loblied singen, solange sich ein Ton in ihrer Kehle fände. Der Hilgendorfer ist Witwer – der Hilgendorfer, Witwer! so klang's unaufhörlich in ihrer Seele heut abend, denn im Kaffee bei der Frau Superintendent hatte sie die große Neuigkeit gehört, daß die kränkliche Frau aus Hilgendorf gestern abend sanft entschlafen sei.

»Gott steh' mir bei, ich bin ja wohl ganz verrückt!« seufzte sie, »die Frau ist noch nicht einmal unter der Erde! Und nach dem Trauerjahre würde er schon wieder ein Jahr älter sein, und er ist so schon Anfang der Vierziger: – ein Unsinn, nur daran zu denken!«

Aber da sprach wieder eine Stimme in ihr: »Wird er ein Jahr älter, so wird Röschen auch ein Jahr älter, und ein 211 stattlicher Mann ist er noch immer – à la bonheur! – Unsinn! – Dieses Kind, wie komme ich nur darauf?« ging's wieder durch ihre Seele. »Das macht aber die ewige Sehnsucht nach dem alten Nest, wo ich so glücklich gewesen bin, und die Angst vor Fritz!

Herr Gott, wenn ich oben in der Hilgendorfer Giebelstube meine alten Tage verbringen könnte, von deren Fenster aus man das Dorf liegen sieht, und die kleine Kirche am Apfelberge, und die weiten Felder und Wiesen! Und dann der Park, und der Garten mit dem Spalierobst, das ich selbst angepflanzt habe, lauter feine Sorten, und der Kuhstall – solchen Kuhstall gibt's ja überhaupt nicht weiter! Da noch einmal durch die Gänge zu wandern zur Melkezeit – ach Gott – ach Gott!«

Es kam ein förmlich schreiendes Heimwehfieber über die hübsche Frau. Ruhelos warf sie sich umher auf ihrem Lager, und mit heißem Kopf erhob sie sich in aller Herrgottsfrühe.

Ich schnappe ja wohl noch reinweg über? sagte sie sich, dies Hilgendorf wird sicher noch 'mal mein Tod – gottlob, daß der helle Tag kommt!

Sie badete den Kopf mit kaltem Wasser und ging im Morgenkleide nach dem Garten hinaus, einem sehr schönen Garten, aber natürlich mit dem Hilgendorfer nicht zu vergleichen. Die Morgensonne warf ihre schrägen Strahlen durch die Wipfel der alten Linden und Kastanien und blitzte in den Tautropfen des Rasens und der Beete: wunderbar kühl war die Luft. Sie ging mit federnden, elastischen Schritten an den Rosenstöcken vorüber, die gerade die zweite Blüte entfalteten, hob hie und da das herunterhängende Köpfchen einer Thea, roch daran und ertappte sich wieder bei dem Gedanken: in Hilgendorf sind sie doch noch schöner, das macht das regelmäßige Düngen mit Kuhmist.

Dann, völlig ärgerlich über sich selbst, weil sie nicht loskommen konnte von Hilgendorf, lief sie dem Gemüsegarten zu, weiter nichts wünschend, als daß das Schicksal ihr irgend etwas in den Weg schicken möchte, über das sie mit vollem Rechte schelten und reden könnte, um Hilgendorf und den Witwer einen Augenblick zu vergessen. Und dieser Wunsch erfüllte sich auch im selben Augenblick, denn als sie eben um das dichte Boskett bog, das den Zaun des Küchengartens 212 verdeckte, sah sie zwischen den roten Rüben, dem Wirsingkohl und den Bohnenbeeten ein paar junge Menschen umherspazieren, zärtlich aneinander geschmiegt, denn er hatte den Arm um die Taille des schlanken Mädchens gelegt.

Frau Amtsrat stand buchstäblich »angedonnert«, wie ein Lokalausdruck in Neustadt an der Solau verblüffte Menschen bezeichnet, und keines Wortes fähig. Auf ihrem frischen Gesicht wechselten Röte und Blässe, man sah, sie überlegte, was zu tun sei. Und plötzlich wandte sie sich um und kehrte im Geschwindschritt nach dem Hause zurück. Besser, nicht tun, als ob ich etwas weiß, denn der Sache eine zu große Bedeutung durch eine Szene beimessen, entschied sie: in der nächsten halben Stunde mußte ja der freche Junge abreisen! Daß er so bald nicht wiederkomme – der, der Mädchenjäger, dafür würde sie schon Sorgetragen! I, Gott bewahre! Hatte sie deshalb ihre Zukunft geopfert, um dem Hauchebild dennoch das Kind zu überlassen?

Und Frau Amtsrat führte diesen Vorsatz durch mit bewundernswerter Taktik und Ruhe. Sie tat ihrem stillseligen, verträumten Töchterlein gegenüber, als wäre sie vollkommen ahnungslos, 213 aber sie zog einen unsichtbaren Kordon um Röschen und um die verhaßte Tante Lotte. Eigentlich war es nie stiller und friedlicher gewesen in dem schönen alten Hause der Spohngasse als gerade jetzt nach der Abreise des jungen Mannes.

Die Monate vergingen, die Weihnachtszeit rückte heran, das Städtchen lag tief verschneit und der Hilgendorfer Witwer fuhr im Schlitten mit Schellenklang und Peitschenknall die Gasse entlang und zog respektvoll die Pelzmütze, als er vor dem Hause der Frau Amtsrat vorüber kam. Die blonde Frau saß am Doppelfenster voll blühender Hyazinthen und nähte, das Töchterlein ihr gegenüber. Letzteres tat, als wäre es blind und taub und zog gedankenlos die Nadel durch die feine Damastserviette, die es auf Befehl Mamas besäumen mußte.

»Mein liebes Röschen, der Herr Oberamtmann hat eben gegrüßt,« erinnerte die Mutter wohlwollend.

»So?« meinte Röschen gedehnt. »Ich glaube, Mama, er hat mich nicht gegrüßt, er sah dich nur an.«

»I, Gott bewahre! Entschuldige dich nur nicht so töricht, Kind!«

»Wahrhaftig, Mama!« beteuerte Röschen mit großen, unschuldigen Augen, »er sieht immer nur dich an, auch wenn wir ihn auf der Straße treffen, und schließlich verdenke ich es ihm gar nicht, du bist doch eine sehr hübsche Frau, Mama.«

214 »Seit wann hast du denn das Schmeicheln erlernt?«

»Das Schmeicheln? Ich?« antwortete das Töchterlein tief gekränkt. »Ich schmeichle nie! Sehe ich's doch mit meinen Augen alle Tage, und wenn ich nicht von selbst darauf gekommen wäre – so höre ich es ja alle Wochen ein paarmal von deinen Freundinnen und Freunden: Merkwürdig, daß die Töchter nie die Schönheit der Mutter erben! Oder: Die Mama war in Ihrem Alter doch ein gut Teil hübscher als Sie, kleines Fräulein! Oder: Wie zwei Schwestern, nur daß die ältere die bei weitem schönere ist.«

Sie hatte das mit verschiedenen Tonarten gesagt, offenbar in Nachahmung der betreffenden Persönlichkeitem

»Die Leute reden vieles, was sie nicht verantworten können,« antwortete Frau Wendenburg nicht gar zu böse: »es sind eben Redensarten, auf die man nichts gibt, aber hiermit hat das gar nichts zu tun, – wenn der Herr Oberamtmann Bartenstein zu unserem Fenster hinausgrüßt, hast du mit zu danken. Verstanden?«

»Ja, Mama!«

»Ich finde Herrn Oberamtmann Bartenstein sehr nett und höflich,« erklärte die Mutter eifrig, »ein ganz scharmanter Mann ist er. Auf Äußerlichkeiten achten doch nur sehr oberflächliche Menschen; mir ist er jedenfalls lieber als manch einer mit dem üppigsten Haarwuchs.«

»Ich habe aber seinen Wert nicht im geringsten angezweifelt, Mama! Wie sollt' ich auch? Ich kenne ihn ja gar nicht!«

»Und mokierst dich doch über seinen Kahlkopf? Weißt du auch, bei wem du das Mokieren gelernt hast? Bei Tante Lotte – red mir nicht dawider – bei Tante Lotte hast du es gelernt, basta!«

»Wirklich nicht, Mama, Tante Lotte sagt keinem Menschen etwas Böses nach: immer hast du etwas auf die arme Tante.«

Darauf eine lange Pause. Endlich fragte Röschen, um das gekränkte Gesicht ihrer Mutter wieder freundlich zu sehen: »Wir müssen nun wohl bald mit den Weihnachtsbäckereien anfangen, Mama? Die Zuckernüsse schmecken wirklich recht gut, wenn sie zwölf bis vierzehn Tage alt sind.«

»Wir backen in diesem Jahre nicht,« war die Antwort.

215 »Nicht? Und Fritz ißt doch so gern unser selbst bereitetes Konfekt!«

»Dann mag nur seine Mutter backen, wir – es ist eigentlich dein Weihnachtsgeschenk, und du solltest es erst kurz vorher erfahren, aber es läßt sich schwer verheimlichen, bist ja auch kein Kind mehr – wir reisen nächsten Sonnabend nach Berlin zu Onkel Richard und bleiben – –«

»Und bleiben –?« stotterte das junge Mädchen, das ganz blaß geworden war.

»Wir bleiben bis Anfang des nächsten Jahres,« vollendete Frau Amtsrat gelassen.

»Aber, Mama, dann – dann ist die arme Tante ja am Feste allein, und –«

»Fritz kommt ja doch, denke ich?«

»Ach ja, Fritz kommt!« Röschen legte ganz langsam ihre Näherei zusammen und stand auf, um das Zimmer zu verlassen.

»Nun, und du freust dich gar nicht? Du bedankst dich nicht einmal?« rief Frau Amtsrat ihr nach.

»O, ich freue mich ganz gräßlich, und ich danke dir sehr, Mama,« antwortete Röschen mit Aufbietung aller Kräfte, und dann war sie plötzlich aus der Tür und lief so eilig sie konnte über den großen Flur in ihr Stübchen, und wie sie dort die Türe zugeriegelt hatte, fing sie an zu weinen wie ein gestraftes Kind. Und danach wurde sie zornig und zerbiß ihren Taschentuchzipfel und trat mit dem Fuße auf, und endlich weinte sie wieder. Wie hatte sie die Tage gezählt bis zum heiligen Abend, an dem er kommen würde zum Christfest: wie hatte sie die Nächte hindurch bei der Arbeit gesessen, um die Brieftasche fertig zu sticken, die sie ihm heimlich, ganz heimlich schenken wollte! Und nun sollte sie fort, sollte das liebe Fest nicht hier verleben mit Tante Lotte und Fritz! Sollte da mit ganz gleichgültigen Leuten unter dem Weihnachtsbaum zusammen sein, in der fremden großen Stadt, weit fort von ihrem lieben Wald, der so herrliche Spaziergänge hat, ganz schmale Waldpfade, in denen man nur zu zweien, eng aneinander geschmiegt, wandern kann!

O natürlich! Mama hat etwas gemerkt, Mama ist es nicht 216 recht, Mama hat – sie stockte in ihrem Selbstgespräch plötzlich und sah mit starren Blicken ins Leere. Vor ihren Augen türmten sich plötzlich ganze Berge von weißer Leinwand, die Mama aus allen Schränken und Truhen hervorgekramt hatte, um diese Pracht nähen und sticken zu lassen; in der Schrankkammer saß ja seit zwei Wochen schon Fiekchen Blomann und stichelte mit einer Gehilfin auf Tod und Leben: und dem Vollmond gleich stieg plötzlich die Glatze des Herrn Oberamtmann Bartenstein in Röschens verwirrter Phantasie auf, die ganze Situation beleuchtend und klärend.

»Herr Gott, der Witwer! Und Mamas Leidenschaft für Hilgendorf! Und der Rüffel, weil ich nicht gedankt hatte auf seinen Gruß, und – – nun, da haben wir's ja!«

Sie setzte sich, ganz benommen, auf ihr Bettchen und atmete rasch und ängstlich. Nach einer Weile sagte sie halblaut: »Na, ich danke!« Und nach einem Weilchen wieder kicherte sie, und in ihren braunen Augen saß der alte Schelm.

Dafür ist ihr nicht bange, dazu gehören zwei! Wenn nur –. Und nun wurde es wieder trübe hinter der weißen hübschen Stirn – wenn nur das Weihnachtsfest ihr nicht so abscheulich verdorben werden sollte! Sie ist doch gräßlich dumm, diese Reise nach Berlin, gräßlich dumm! »Gräßlich« ist offenbar das Lieblingswort Röschens.

Nach einer Viertelstunde angestrengten Nachdenkens ging sie endlich leise die Treppe hinauf zu ihrer Trösterin und Beraterin in allen Lebensfragen, zu Tante Lotte.

Frau Oberförster saß am Fenster und stickte an einem Weihnachtsgeschenk für ihren Einzigen, einem Rückenkissen in Kreuzstich ausgeführt, einen Zwölfender darstellend, der seelenvergnügt aus einem Eichenkranz schaut.

»Ich werde wohl nicht fertig werden, Röschen,« seufzt die alte Dame.

»Ach, Tante, es wird überhaupt ein ganz klötriges Fest werden,« sagte Röschen kleinlaut. »Mama will es in Berlin feiern.«

»So? In Berlin?« Die hübschen blauen Augen der alten Frau sahen forschend in das tränenumflorte Gesicht der jungen 217 Nichte. »Nun, Kind, das ist ja immerhin noch kein Unglück.«

»Ich wäre Weihnacht lieber zu Hause: Onkel Richard kenne ich ja kaum, und die Tante, die kenne ich erst recht nicht, und – du hier so allein!«

»Ich habe ja den Fritz,« lächelte das Hauchebild, und in ihrem guten müden Gesicht zuckte es bitter, als sie den niedergeschlagenen Ausdruck in Röschens Gesicht bemerkte.

»Ja, du hast den Fritz!« nickte Röschen; dann schwieg sie und dachte: das ist doch kein Trost für mich. Plötzlich fiel ihr Blick auf einen ganzen Stapel feiner Taschentücher, die auf dem Nähtisch der Tante lagen. »Himmel! hat Mama dich auch mit Weißnähen begnadigt?« fragte sie.

»Ach, ich tue es gern, Kindchen, hab' so nichts vor.«

»Wozu nur auf einmal diese gräßliche Stichelei?«

»Wohl zu deiner Ausstattung.«

»Meiner Ausstattung, Tante? Aber, das hat ja noch gar keine Eile!«

»Nun, du bist doch jetzt in den Jahren, wo man freit! Wenn der Bräutigam anklopft, ist alles bereit.«

»Hat Mama das gesagt?«

»Nein, Kind, ich denke nur so. Zerbrich dir den Kopf nicht darüber, kommt Zeit, kommt Rat!«

»Ich will mich auch nicht ängstigen. Du hast recht, Tante: wenn der Freier erscheint, ist alles fertig.« Und dann setzte sie ganz laut hinzu: »Wie ich dies Hilgendorf nur hasse, Tante Lotte!«

218 »Herrjemine! Und hat doch deine Wiege dort gestanden!«

»Aber mein Sarg soll dort nicht stehen,« murmelte das junge Mädchen.

»Dein Sarg? Das klingt ja schauderhaft!«

Röschen schwieg. Vor ihren Augen stand der große Hilgendorfer Saal, und in ihm, am hellen Tage, brennende Kerzen und ernstes Grün, und viele, viele Menschen mit traurigen Gesichtern, genau so wie bei Papas Beerdigung; in der Mitte des Saales stand ein offener Sarg, in ihm lag die Gestalt einer jungen, bleichen Frau, der man ein Brautkleid angezogen hatte, und die Leute da umher flüsterten sich zu: »Sie starb an gebrochenem Herzen – sie hat den Mann nicht geliebt – er war ja auch so viel älter.« Auch ihre Mutter sah sie, und die war vor Reue rein außer sich, und Fritz stand, bleich wie der Tod, in einer Ecke und blickte auf den Sarg, und sie, Röschen, die da lag, hörte und verstand alles, und sie wußte auch, er würde ihren Tod nicht überleben, der Fritz würde ihr nachsterben, und die unbarmherzige Mutter würde ihn aus Reue an ihrer Seite begraben lassen. Aber dann – was hatten sie davon? Dann war ja das Leben vorbei, das so schön hätte sein können!

Die Tränen schossen ihr aus den Augen und liefen auf ihren Wangen hinunter, und dann mußte sie sogleich wieder lachen, denn ihr fielen die Strophen einer Schauerballade ein, die Fritz sie einst gelehrt, als sie Kinder waren:

»Es waren kaum drei Wochen
Verflossen nach dieser Zeit,
Da begrub man seine Knochen
Bei Rosalindens Leib.«

Die Tante sah auch dieses weinende Lachen, und ihre Züge erhellten sich. »Weißt du, was dein lieber Onkel immer sagte, wenn er nicht weiter wußte im Leben, Kind? ›Bange machen gilt nicht!‹ sagte er.«

»Mir ist auch gar nicht bange, Tante, mir graut nur vor den Kämpfen mit Mama, denn – ach, Tante, du weißt ja doch, Fritz 219 kann dir nichts verschweigen, Herzenstante, er hat dir doch gewiß auch erzählt, daß wir –«

»Nichts weiß ich – nichts weiß ich!« wehrte Tante Lotte ängstlich ab, »ich bitte dich, Kind, werde allein fertig! Du kennst doch die Ansichten deiner Mama über mich, und du weißt ja auch gar nicht, was alles zwischen uns steht.«

Drunten klingelte jetzt die Schelle der Haustür und Röschen huschte hinunter. Irgend ein Besuch würde es ja doch sein, den sie mit empfangen mußte, und Mama würde böse werden, wenn sie erführe, daß das Kind wieder bei der Tante gesteckt hatte.

Das war nun eine Prüfung, diese alte rätselhafte Abneigung zwischen Mutter und Tante! Heimlich schrieb Röschen an Fritz, welch schrecklicher Verdacht ihr in Betreff des Hilgendorfer Witwers aufgestiegen sei, und bat um Verhaltungsmaßregeln: sie teilte ihm auch mit, daß sie gezwungenermaßen Weihnacht nach Berlin reisen müsse mit Mama. »Ach Gott,« schloß der Brief, »am liebsten möchte ich sterben.«

Tante Lotte überreichte nach einigen Tagen ihrer traurigen Nichte ein winziges Briefchen, das einem Schreiben von ihrem Fritz an sie beigelegen hatte, aber sie trug dabei ihre strenge Miene und sagte: »Einmal und nicht wieder; der nächste geht mit wendender Post an Fritz zurück. Als seine Mutter kann ich dir keinen Vorschub leisten bei den eigentümlichen Verhältnissen, in denen deine Mutter und ich zueinander stehen.«

Schon wieder diese dunkle Andeutung!

Röschen flüchtete mit dem Brief in ihr Zimmer und las:

»Für den Hilgendorfer bist Du doch zu gut, süßer blonder Schatz. Wenn Mama durchaus wieder nach Hilgendorf will, so 220 soll sie den Witwer selber heiraten – das wäre doch eine Idee! Wetten wir? – Ich hatte mich sehr gefreut auf Weihnacht, aber wenn Mama es so will, reise Du nur getrost nach Berlin. Für die jetzige Entbehrung werden wir uns später entschädigen, wenn wir in irgend einer einsamen Oberförsterei im tiefsten Walde zusammensitzen und kein Mensch uns stören kann.

Ewig Dein Fritz.«

Herr Gott, was der Fritz klug ist! Röschen hätte am liebsten aufgeschrien vor Freude über diesen neuen Gesichtspunkt. Natürlich, das ist das Einfachste – die Mama heiratet den Witwer! Aber dann wurde sie bleich; nein, Mama heiratet nicht wieder, erst neulich hatte sie zur Frau Superintendent gesagt: »Ich bin nur einmal glücklich gewesen, und das war in Hilgendorf mit meinem guten Mann. Ich würde mich auch nie zu einer zweiten Ehe entschließen können, Röschens wegen nicht, und überdies –«

Ach, überhaupt – die Mama als Frau eines anderen? Die Mama, die schon hie und da in dem schönen Blondhaar einzelne weiße Fädchen hat? Nein, das tut sie nicht, das tut sie nicht! Und wie kann man denn auch noch heiraten mit Sechsunddreißig!

Sie seufzte tief und barg, nach vielen Küssen, den kleinen Brief in einem Kästchen, auf dem groß, in Holzbrand, zu lesen war: »Liebe Erinnerungen.«

Und eines Tages fuhren sie denn ab, die beiden Damen, nach Berlin, und das stattliche Haus mit der einsamen alten Frau darin und dem ganzen lieben Neustadt an der Solau versanken am Horizont in Nebel und Schneewolken. Solange noch die Spitze des Katharinenkirchturms zu erkennen war, hatte Röschen hinausgeschaut, bis ihr die Augen wehtaten. Nun sah sie nichts mehr, und seufzend lehnte sie sich zurück.

Ganz übel war die Zeit in Berlin ja nicht, wenn nur Mama nicht jeden freien Augenblick dazu benutzt hätte, um in Möbel- und Haushaltungsmagazine zu gehen, sich nach den Preisen zu erkundigen und Kataloge einzuheimsen. Ganz begeistert war sie von einer Dampfkochkesselanlage, die, nach Aussage des Geschäftsinhabers, sich für Volksküchen, Kasernen oder große 221 Güter, auf denen die Arbeiter gespeist wurden, besonders eigneten.

»Ungemein rationell, gnädige Frau, ungemein rationell, schmackhaftes Essen, größte Sparsamkeit,« versicherte der Verkäufer, »Tausende von Anerkennungsschreiben –«

Röschen ärgerte sich, daß ihre Mama gar nicht aufhören konnte, Fragen über diesen Riesenkochtopf zu stellen, wandte sich ab und liebäugelte mit einer kleinen Musterküche, ganz in Hellblau und Weiß, reizend und wie geschaffen für eine junge Frau, die nur für »ihn« und sich zu kochen hat.

»Wenn ich diese Anlage damals in Hilgendorf gehabt hätte!« seufzte Frau Amtsrat, als sie wieder auf der Straße waren. »Jetzt hat man doch alles viel bequemer! Ihr Heutigen wißt gar nicht, wie mühselig es eure Eltern hatten. O, welche Lust, zu wirtschaften mit Hilfe der neuen Errungenschaften, der Dampfkocherei, der Maschinen beim Molkereiwesen. Siehst du, was letzteres anlangt, Röschen, das ist geradezu ideal, du hast es doch gelesen in dem Buche, das ich dir zu Weihnacht schenkte?«

Sie gingen bereits wieder im dicksten Gedränge auf dem Bürgersteige, und Röschen sagte, der Wahrheit gemäß, kleinlaut: »Nein, ich habe es nicht gelesen.«

»Was? Du hast so wenig Interesse für die Bücher, die ich dir auswähle, daß du nicht einmal einen Blick in ›Die Frau als Landwirtin‹ getan hast?«

»Sei nicht böse, Mama, ich hatte bis jetzt gar keine Zeit, und die wenigen Minuten, die ich erübrigen konnte, die habe ich benutzt, um an Tante zu schreiben.«

»An Tante? So?«

»Ja, sie dauert mich so, sie ist so schrecklich allein.«

»Ihr Sohn ist doch bei ihr!«

»Das wird er wohl, Mama, aber – Fritz ist ein junger Mann und geht doch gewiß oft aus!«

»Na, sonst saß er wie angepflöckt im Hause,« murmelte Frau Amtsrat.

Als sie in der Wohnung des Onkels anlangten, war ein Brief da für Fräulein Röschen Wendenburg, die Adresse von 222 der Hand derTante: ein dicker Brief mit einer Zwanzigpfennigmarke. Das junge Mädchen barg ihn, wie einen kostbaren Schatz, sofort in ihrer Tasche.

Schrecklich, so irgendwo zum Besuch zu sein, bei einem Onkel zum Beispiel, der seine Nichte gern neckt, einer Tante, die so durchdrungen ist von dem Vorzug, in Berlin zu leben, daß sie jeden Satz anfängt: »Da ihr nun einmal hier seid, so denke ich, heute nachmittag respektive heute abend sehen wir uns dies oder das, oder noch etwas an –«

»Ins Königliche Schloß müßt ihr aber jedenfalls,« bemerkte sie heute, als die Damen wieder ein Haushaltungsgeschäft als das Ziel ihres heutigen Ausganges nannten, »das Palais des alten Kaisers habt ihr auch noch nicht gesehen, das Zeughaus, Hohenzollernmuseum ebensowenig, und das Mausoleum. Herr Gott, Kinder, womit vertrödelt ihr nur die Zeit, wenn ihr ausgeht? Ihr werdet nach Hause kommen und habt von Berlin keine Ahnung!«

Die großstädtische, etwas ältliche Cousine lächelte säuerlich geheimnisvoll: »Ach Mama, laß doch Tante Wendenburg zufrieden, die hat nur Sinn für Küchen und Wäschegeschäfte, – guck 'mal, Mama, wie Röschen rot wird.«

»Mich berührt das gar nicht, was Mama vorhat,« erklärte Röse ärgerlich, »ich für meinen Teil ginge lieber in das Kaiserschloß.«

Die Frau Amtsrat machte ein pfiffiges, wohlwollendes Gesicht und hütete sich, etwas zuzugestehen: sie wollte den Neid der verblühten Geheimratstochter nicht noch schüren. Armes Ding! Sie war beinahe so alt wie sie und mußte noch immer die junge Dame spielen!

Erst als Mama nach Tische auf der Chaiselongue im Fremdenzimmer ihren Mittagschlaf hielt und Röschen auf einem Lehnstuhl am Fenster dämmerte, zog sie ihren Brief hervor und öffnete mit Herzklopfen das Schreiben aus der lieben Heimat. Ganz vorsichtig ging sie zu Werke, damit das Papier nicht knistere und die Schlafende wecke. Beinah hätte sie aufgeschrien, als aus dem Bogen, der mit der zierlichen Schrift der Tante 223 bedeckt war, ein zweiter kleinerer, aber sehr eng beschriebener fiel, von »ihm«:

»Mein gutes Mutterchen ahnt nicht, daß ich diese Zeilen noch mit einschmuggele. Ich bat sie, ihr Schreiben an Dich lesen zu dürfen, Du süßer blonder Schatz; wenn ich ihr den Brief wieder gebe, habe ich das Kuvert geschlossen, vulgo ›zugeleckt‹. Das gute Muttel – ich sehe schon, wie sie mich mißtrauisch anblickt, aber mein dummes Gesicht kann ihr nichts verraten, und die erforderliche zweite Briefmarke werde ich heimlich aufkleben, wenn ich den Brief zur Post bringe.

Liebste, wie öde ist's ohne Dich hier! Aus purer Verzweiflung freundete ich mich vor ein paar Tagen mit dem Oberamtmann Bartenstein an, und er lud mich gestern zu einem kleinen Herrenessen nach Hilgendorf. Schatz, es ist ja famos dort! Daß Deine Mutter Sehnsucht nach diesem Paradiese hat, verdenke ich ihr nicht; und einen bösen Augenblick lang kam ich mir scheußlich vor, daß ich dich verhindern will, Dein Leben in diesem alten, behaglichen, vornehmen Hause zu verbringen; aber der Edelmut hielt nicht lange vor. –

Ach, Du Schatz, wenn ich mir dächte, Du säßest da neben dem alten Manne als Hausfrau in dem dämmerigen Eßsaal, von dessen hundertjähriger dunkler Wandvertäfelung sich ein gewisser Mondenschein so effektvoll abhebt – gräßlich! um mit Dir zu reden, eine Geschmacklosigkeit zum Totschreien!

Der Herr Oberamtmann tat zuerst sehr schwermütig, aber nach ein paar Gläsern Rotwein und der Gänseleberpastete wurde er schon lebhafter, und bei dem Rehrücken mit gefüllten Tomaten und vollends beim Champagner war er großartig aufgeräumt und pries überschwenglich das Glück, in die Hilgendorfer Pacht gekommen zu sein. Eine Musterwirtschaft habe er vorgefunden, eine Musterwirtschaft bis ins Kleinste!

Und da setzte ich den Hebel an; ich sagte, es sei nicht am wenigsten das Verdienst meiner lieben Tante, der Frau Amtsrat Wendenburg; eine solch tüchtige Frau, die solle man erst noch suchen. Meine Worte fanden übrigens bei den versammelten Herren ein Echo, und ich sorgte, daß das Thema aufs 224 eingehendste variiert wurde. – Meiner lieben Schwiegermutter in spe Loblied erklang in allen Tonarten, süßer denn Harfen und Geigen. Der Herr Oberamtmann wußte nicht, wo er zuerst hinhören sollte, und ich setzte noch den letzten Trumpf darauf: ›Und wenn man bedenkt, wie jung die Frau noch war,‹ sagte ich, ›als sie hier wirtschaftete! Vor elf Jahren starb der Mann, und jetzt ist sie erst sechsunddreißig.‹

›Sechsunddreißig?‹ Der Hausherr wollte es nicht glauben.

Ich hob die Finger: ›Kann's beschwören, Herr Oberamtmann!‹

›Dann hat sie wohl als Wickelkind geheiratet?‹ meinte er, gutmütig spottend.

›Sehr jung? Ja! Wickelkind? Nee! Aber mit achtzehn Jahren war sie Mama, das Töchterlein wird jetzt auch bald achtzehn.‹

Der Landrat von Z., das alte Rauhbein, brummte auf einmal ganz deutlich: ›Die Mutter ist mir heute noch lieber als die Tochter, die Kleene hat 'nen Stich ins Wendenburgische, die Nase ganz wie der selige Papa. Aber, Deibel nich noch 'mal, die Mutter, das ist noch heute ein Kapitalweib!‹

Eigentlich hätte ich ihn morden können, den alten Kerl, der keine Ahnung hat von dem Reiz Deines süßen kleinen Näschens: aber es paßte so gut in den Handel, so gut, daß ich – denke Dir, welch Scheusal ich bin – ganz laut bemerkte: ›Das stimmt; gar kein Vergleich die beiden, Herr Landrat!‹ – Schatz, kannst Du verzeihen? Ich bin zu jeder Buße bereit.

Resultat: der Witwer wurde nachdenklich und trank sehr viel Sekt. Zum Schluß fragte er, wann Ihr wiederkehrtet? Ich sagte: bald, nur sei vorläufig Tante Wendenburg noch sehr beschäftigt, neue landwirtschaftliche Maschinen und Erfindungen anzusehen, denn, obgleich sie in das Privatleben zurückgetreten sei, habe sie noch immer ein unsagbares Interesse für alle Neuerungen dieser Branche, worauf der Wirt verständnisvoll vor sich hin nickte und wiederum trank.

Diese Saat wird wohl aufgehen, denke ich.

Lieber Schatz, vergiß mich nicht in dem großen Berlin, denke 225 an künftige Tage und an unser wahrscheinlich recht kleines Haus; denke an herrliche gemeinsame Spaziergänge zu zweien im einsamen Wald. Wir werden da wandern in lichten Frühlingstagen, wenn durch die jungen Buchenblätter die Sonne scheint, daß sie leuchten wie lauter Smaragde, an Sommervollmondnächten den Wiesenpfad entlang, wenn das Wild heraustritt, um zu äsen, und an Spätherbstabenden, wenn der Wald wie im Märchen leuchtet in Gold und Purpur und weiße Nebel brauen über den Wiesen, auf denen die Herbstzeitlose blüht, und der Hirsch schreit, daß mein Liebchen sich zitternd an mich drängt. O, Du wirst sehen, wie schön das ist. Leb wohl, bleib mir gut!

Dein Fritz.«

Röschen verbarg das Briefchen und las nun Tantens Schreiben. Es war nur ganz allgemein gehalten. Berichte über das Wetter, die Mägde, die Wäscheangelegenheiten: und ihr lieber Junge reise nun bald wieder ab, dann sei es ganz still im Hause. Ein recht ungewohntes Weihnachtsfest wäre es gewesen ohne ihr lustiges liebes Röschen.

Röschen legte das letztere Schreiben auf den Tisch neben die schlummernde Mutter und betrachtete diese aufmerksam, so recht aus ihrem bösen Gewissen heraus. Sie, Röschen Wendenburg, einzige Tochter der süß schlafenden lieben Frau dort, war sie nicht eine häßliche, grundfalsche Person? Ihr einziger Trost blieb: Mama kann ja Nein! sagen, wenn sie den Witwer nicht will, falls dieser nämlich in der Tat um sie anhalten sollte. Ihm wäre dies freilich nicht zu verdenken, solche Frau wie Mama eine ist! –– Aber Mama würde bestimmt »Nein!« sagen, sie würde sich nicht wieder verheiraten, hatte sie so oft gesagt!

Röschen blickte plötzlich mit krausgezogener Stirn ins Leere hinaus. Herr Gott, wie war das doch gleich? Sie hatte vor mehreren Jahren ein sehr lebhaftes Gespräch – um nicht zu sagen Meinungsverschiedenheiten – zwischen Tante und Mama mit angehört, da war von einer Klausel im Testament ihres verstorbenen Vaters die Rede gewesen, betreffend den Fall einer Wiederverheiratung seiner Witwe. »Eine grausame Bestimmung,« hatte Tante Lotte gemeint, für die aber sie doch nicht 226 verantwortlich zu machen sei. Aber die junge Witwe hatte verächtlich gelächelt und gemeint: »Mich ficht sie nicht an, ich heirate ohnehin nicht wieder.«

Was mochte das nur sein? Ob Tante Lotte ihr das nicht sagen würde? Auf irgend eine Weise mußte sie es erfahren!

Und der Zufall war ihr unerwartet günstig.

Am Nachmittag, gleich nach dem Vesperkaffee, die Lampe brannte noch nicht, man wollte Abends ins Opernhaus und wartete auf die Friseuse, da war es, als die Dunkelheit rasch herniedersank und alle Ecken und Winkel füllte; Tante Geheimrat, die neben Frau Amtsrat im Sofa saß, hub nämlich plötzlich an: »Über eines wundere ich mich doch, Rosa, daß du nicht 227 wieder geheiratet hast; an Gelegenheit fehlte es dir sicher nicht. Ich weiß doch von meinem Mann – da war 'mal einer, der – der kreuzunglücklich gewesen sein soll, als du ›Nein!‹ sagtest. – Beichte mir 'mal, Rosa, warum hast du ihn nicht genommen?«

Eine lange Pause entstand. Vor einem Weilchen war die geheimrätliche Tochter hinausgegangen, und Röschen saß am Ofen mäuschenstill in dem tiefen Ledersessel des Hausherrn und hielt den Atem an; die Mutter mochte wohl glauben, daß sie mit der Tante allein im Zimmer sei.

Tief seufzend hob Frau Amtsrat an: »Ach Gott, Liebste, das sind ja überwundene Geschichten und es ist auch gut so; – damals wurde es mir allerdings ein bißchen schwer, den Rittmeister abzuweisen, aber – – – du weißt ja, mein seliger Mann hat eine so sonderbare Klausel in sein Testament gebracht, warum? das habe ich nie ergründen können, er wollte wohl seinem Kinde die Mutter ganz und ungeteilt erhalten. – Hat es dein Mann dir denn nie erzählt?«

»Nein,« versicherte die Geheimrätin, »er sagt mir nie etwas, er gleicht einem Buch mit sieben Siegeln.«

»Das ist wohl übertriebene Gewissenhaftigkeit von ihm,« entschuldigte Frau Amtsrat, »übrigens, er kennt das Testament ganz genau, das ja durchaus kein Geheimnis ist. Die Klausel lautet dahin, daß ich, sobald ich mich wieder verheiraten sollte, mich des Rechtes über meine Tochter zu begeben und ihre Erziehung in Tante Lottens Hände zu legen habe.«

»Aber, so etwas!« erwiderte die Geheimrätin empört.

»Ja, ja,« nickte die schöne Frau, »es war ein harter Schlag für mich.«

»Dieser Othello! Das hat er aus Eifersucht getan! Nein, so ein raffiniertes Mittel auszudenken!« zürnte die Schwägerin.

»Na, laß nur – er war doch ein guter Mann, eine Seele von einem Menschen und sichtlich von dem Gedanken ausgegangen, daß ich, bei meinen neuen Pflichten, möglicherweise sein über alles geliebtes Kind vernachlässigen könnte, und – kurz und gut, er kannte mich. Das Kind an Tante Lotte abzutreten? lieber 228 wäre ich gestorben! – So sprach ich damals denn mit schwerem Herzen das Nein! und blieb bei Röschen.«

»So, so! Na, da hattest du freilich keine Wahl,« sagte die Geheimrätin. »Sie sind doch alle ein bißchen eigentümlich, die Wendenburgs, dein Mann und meiner, und auch diese Tante Lotte. Sie würde ja das Würmchen ganz gut erzogen haben, aber welche Mutter will denn auf ihr Kind verzichten? Die Tante Lotte ist so eine Art Heilige in der Familie, mein Mann liegt auch anbetend vor ihr auf den Knien. Es ist ja recht hübsch, wenn einer seine Schwester liebt, aber, weißt du, wenn man immerfort nur hört: ›Lotte würde hierin so denken, und Lotte würde das tun,‹ – zum Verzweifeln!«

»Siehst du! Siehst du!« fiel Frau Amtsrat mit bebender Stimme ein, »das ist's, was mein Leben vergiftet hat. Du bist weit fort von ihr, aber mich hat der letzte Wille meines Mannes dazu verdammt, immer mit dieser Lotte des Kindes wegen zusammen zu sein. Sie tut einem ja nichts, im Gegenteil, sie ist fürchterlich bescheiden, aber ewig hat man sie vorgehalten bekommen als Muster aller Vorzüglichkeit, des Morgens zum Kaffee und des Abends aufs Butterbrot. Nein, dieser Kultus, er ist zu toll, ich wäre ja lieber gestorben, als daß ich ihr das Kind ausgeantwortet hätte! Und wenn sie etwa denkt, jetzt auf anderen Wegen zum Ziele zu kommen, so irrt sie sich, da kennt sie mich schlecht! Aber – ging da nicht jemand?« unterbrach sie sich erschrocken, denn eben fiel ein Lichtschimmer durch den Spalt der Tür, die nach dem Flur führte.

»Wer ist da?« fragte nun auch die Geheimrätin, aber niemand antwortete.

Und im Fremdenstübchen, da saß ein trauriges junges Mädchen und stützte sinnend den Kopf auf die Hand. Also, das war es! O weh, wie würde das enden? Nun verstand sie den Haß auf die Tante und Fritz, nun begriff sie, weshalb sie hierher gereist waren. –

Der Winter verging, der Sommer zog ins Land. Am Todestage seiner Frau legte der Oberamtmann Bartenstein mit gefaßter Miene einen prächtigen Kranz auf ihr Grab, und am Abend 229 desselben Tages trennte er höchst eigenhändig den Trauerflor von dem Ärmel seines grauen Überziehers. Eine Woche später fuhr er, um Besuche zu machen, in die Stadt, obgleich man sich mitten in der Erntezeit befand. Der letzte Winter war doch zu ungemütlich gewesen in seiner Einsamkeit und Leere!

Zuallererst fuhr sein schmucker Zweispänner bei Wendenburgs vor. Frau Amtsrat wollte eben in einen Kaffee gehen, es war zwischen vier und fünf Uhr. Sie legte aber eilig das Spitzencape wieder ab und empfing den Herrn Nachfolger auf dem Hilgendorfer Thron mit größter Liebenswürdigkeit in ihrem Salon, der ganz erfüllt war von Rosenduft, und in dem eine leichte rosige Dämmerung herrschte, die durch die roten Seidenstores der Fenster fiel. Die hübsche Frau, die ihm so freundlich entgegenkam, hätte man in dem rosa Lichte für achtzehnjährig halten können, wäre ihre Fülle nicht die der reifen Frau gewesen. Jedenfalls starrte der Witwer sie nachdenklich und lange genug an, als er ihr gegenübersaß und einige höfliche Phrasen mit ihr wechselte.

Sie fragte unaufhörlich nach Hilgendorf, dem lieben, trauten Nest, so glücklich sei sie dort gewesen. Er konnte nicht umhin, die Frau Amtsrat dringend einzuladen, sich einige neue, wie er glaube, vorteilhafte Veränderungen dort anzuschauen. Sie versprach es eifrig und setzte hinzu, er werde hoffentlich gestatten, daß sie ihr Töchterchen mitbringe, die leider heute nicht daheim sei.

»Aber selbstverständlich! Ich schätze mich glücklich, und falls Ihr Herr Neffe gerade anwesend sein sollte, gnädige Frau, so bitte ich ebenfalls um die Ehre, er ist mir ungewöhnlich sympathisch, der junge Mann.«

230 »Sie kennen meinen Neffen?« Das hübsche Gesicht der Frau Amtsrat schaute ganz verblüfft drein.

»Letzte Weihnacht lernte ich ihn kennen, und nicht zum wenigsten an ihm gefällt mir die Begeisterung, mit welcher er von seiner liebenswürdigen Frau Tante spricht.«

»Von seiner liebens–wür – –« Frau Amtsrat war auf dem höchsten Grad der Verwunderung angelangt.

»Von Ihnen, ja,« bestätigte Bartenstein. »Wundert Sie das so sehr?«

Mit der Frau Tante war plötzlich eine Veränderung vorgegangen: die Grübchen in ihren Wangen verschwanden, und sie sagte in kühlem Ton: »O nein, nein, das wundert mich gar nicht, es ist sogar ganz natürlich –« dann brach sie ab. Aber es nutzt ihm nichts! Es nutzt ihm gar nichts, setzte sie im stillen hinzu und zwang sich zu einem frischen Lachen. Und der Herr Amtmann, der das Hütchen auf ihrem Kopfe doch wohl bemerkt hatte, griff nach seinem spiegelblanken Zylinderhut und meinte, die gnädige Frau wolle gewiß zu einem Damenkaffee.

»Ach ja,« seufzte sie, »was soll man sonst tun in der Stadt? Wie ich noch in Hilgendorf war, da hatte ich niemals Langeweile. – Solch kleine Stadtwirtschaft, und dazu ein erwachsenes Töchterlein, da gibt's nicht viel Arbeit, und ewig lesen oder Handarbeit machen, oder gar malen, sehen Sie, ich kann's nun 'mal nicht: Sie glauben gar nicht, was für ein talentloses, hausbackenes Geschöpf ich bin.«

Er sah sie plötzlich mit einem langen, leuchtenden Blick an, küßte ihr die Hand und empfahl sich. Die Frau aber blieb auf der nämlichen Stelle in dem rosig durchleuchteten Zimmer stehen und rieb sich die Augen, als ob sie aus dem Schlafe erwachte, dann ließ sie plötzlich die Arme sinken, wie hilflos. Seitdem damals der Rittmeister sie als junge fünfundzwanzigjährige Witwe umwarb, hatte keiner wieder sie mit solchem Blick angeschaut. Ganz eigentümlich war ihr zu Mute, schwer und dumpf lag es ihr plötzlich in den Gliedern, als ob etwas Lähmendes über sie hereingebrochen wäre.

Sie schlich nach dem Spiegel und schaute, das Gesicht dicht 231 am Glase, aufmerksam hinein. Machte es die Rosenfarbe der Gardinen, daß ihr ein Antlitz von fast mädchenhafter Frische entgegenblickte? Und sie ward zornig über dieses vermeintliche Trugbild und riß die seidenen Vorhänge vor den Scheiben zurück, daß das kalte Tageslicht hineinflutete und alles Rosige vor ihm verschwand. Aber auch jetzt wollte der Spiegel ihr weder etwas Häßliches noch Altes zeigen. Gegen ihre Gewohnheit saß sie dann nachdenklich im Kreise ihrer Bekannten, von denen die meisten ihres Alters waren, die alle noch kleine Kinder daheim hatten und die junge Frau herauskehrten. Und eine, die am spätesten geheiratet 232 hatte, sagte gesprächsweise auch noch zu ihr: »Du, Rosa, du wirst ja viel zu früh alt, das kommt aber davon, wenn man die Zeit zum Heiraten nicht erwarten kann. Schau, ich bin nun noch eine junge Frau, und du gehst auf die Großmutter los.«

Und eine andere meinte: »Ich wette, Frau Amtsrat, Sie haben's recht eilig, das Töchterchen unter die Haube zu bringen.«

»Ja, ja,« kicherten die anderen, »man hat schon so etwas gehört – von einer baldigen Verlobung.«

Wenn man ihr so etwas noch gestern gesagt hätte, sie wäre empört gewesen, aber heute? – Sie kannte sich selbst nicht mehr, sie lächelte nur matt. Ihr ganzes Leben zog Abends, als sie in dem großen Himmelbette lag, an ihr vorüber. Sie gedachte des guten Mannes, dem sie gefolgt war, der schönen Hilgendorfer Zeit, seines Scheidens von dieser Erde und ihres Scheidens von Hilgendorf: dann kam sie auf die Testamentseröffnung und auf ihre Entrüstung über die besagte Klausel, die ihr tausend bittere Tränen erpreßt hatte; endlich auf den Rittmeister. Der war wirklich ein liebenswürdiger Mensch, und sie damals noch so jung, aber für die Welt nicht hätte sie ihr Kind aus den Armen gelassen, um es Lotte anzuvertrauen.

Heute drängte sich ihr mit einem Male unter dem bewundernden Blick des Mannes die furchtbare Überzeugung auf, daß die Zahl ihrer Jahre noch keine hohe sei, daß noch eine unendlich lange Strecke des Lebensweges vor ihr liege, die sie möglicherweise einsam durchwandern müsse, wenn sie sich zwar nicht vom Kinde, wohl aber das Kind sich von ihr trennen werde – hatte sie das nur gar nicht bedacht bis jetzt? Ach ja, ganz flüchtig hatte ihr dieser Zeitpunkt wohl vorgeschwebt, aber merkwürdigerweise sah sie sich dabei immer nur als alte wunschlose Frau. Nun wußte sie plötzlich, sie sei noch nicht alt, trotzdem ihr Kind alle Tage heiraten konnte, und würde selbst in fünf, sechs und zehn Jahren noch nicht alt und wunschlos sein. Wie kam es nur, daß sie seit langer Zeit bis zu dieser Minute nicht mehr an sich selbst, an Rosen, die für sie blühten, an ein eigenes Glück gedacht hatte? Daß sie nur noch davon träumte, ihre Tochter als Frau Bartenstein 233 zu sehen? Sich nur noch die milden blassen Freuden einer Großmama vorbehielt?

Sie starrte mit weit offenen Augen in das stille von der Mondnacht dämmernd erhellte Zimmer.

Wenn nun das Kind den alten Mann nicht wollte? Wenn es Treue zu halten verstand dem Sohne jener Frau da oben, der sie das Glück nicht gönnte, Tochter zu sagen zu ihrer eigenen Tochter? Dann war es da, das Leben der Einsamkeit, des langsamen Absterbens, des Alters in Nutzlosigkeit, in dem stagnierenden Wasser der Untätigkeit, zwischen Kaffeegesellschaften und Staubwischen, schwankend, öde, bleiern, fürchterlich in dieser kleinen Stadt.

Es fröstelte sie plötzlich, sie war nahe am Weinen. Niemals gebe ich diese Heirat zu, niemals! gelobte sie sich. Nach Hilgendorf soll sie, der Mann ist trotz seines Kahlkopfes noch ein hübscher, annehmbarer Herr. Zehnmal mehr Aussicht hat sie, mit ihm glücklich zu werden als mit dem Leichtsinn, dem Windhund, dem Fritz.

Ob sie wohl noch immer aneinander dachten, die beiden? Ob er wohl auf Urlaub kommen wird diesen Sommer? – Wenn sie ihn doch vergessen wollte, den Fritz: ihrer Mutter zuliebe die vernünftige Partie vorziehen – – ach Gott, sie hatte ja doch genug Opfer für das Kind gebracht!

Bei dem Gedanken, daß das Töchterlein bei seiner Liebe beharren könnte, stieg ihr das Blut in den Kopf, und ihr bedrängtes Herz wußte sich keinen anderen Rat, als daß sie bitterlich zu weinen begann. O, dieser Trotzkopf, dieser Trotzkopf! Woher hat das Kind ihn nur?

Einige Tage später fuhren die Damen nach Hilgendorf: es war ein köstlicher Sommertag. Mutter und Tochter, in lichten Kleidern, unter hellen Sonnenschirmen und Strohhütchen, erschienen wie Schwestern nebeneinander. Röschen fand im stillen, daß ihre Mama sich besonders schick und elegant gekleidet hatte, und Frau Amtsrat fragte ihr Töchterlein: »Hast du dich nicht angezogen wie zu einem Feste, kleine Eitelkeit?«

»Ich, Mama? Das Kleid ist doch eigentlich schrecklich simpel!«

234 »Na, na!« meinte die Mutter und streifte die blaßblaue Seide unter dem durchbrochenen Oberstoff von zart cremefarbenem Nessel. Röschen konnte aber trotz ihrer Bemühung den heiß erstrebten äußerlichen Ernst nur schlecht bewahren, sie hatte heute früh eine zu wundervolle Botschaft bekommen. Ganz direkt, ganz unverschämt dreist war ein Brief in das Haus geflogen, den die Mama, infolge einer verstellten Handschrift, für den einer Freundin gehalten haben mochte, denn er war unbeanstandet an Röschen gelangt. In diesem Briefe stand weiter nichts als:

»Ich komme heute nachmittag an, unerwartet, da ich sonst fürchten muß, daß Deine Mama wieder mit Dir verreist. Sage auch meiner Mutter nichts.

Dein Fritz.«

Nein, zu klug war doch der Fritz! Wenn sie heute abend wieder heimkehrte, dann wußte sie ihn oben im Giebelstübchen seiner Mutter.

Frau Amtsrat begriff ihr Kind nicht; noch gestern hatte es ein schiefes Mäulchen gezogen über diesen Besuch in Hilgendorf, und heute konnte sie offenbar nicht erwarten, hinzukommen. Mit einer beinahe unpassenden, kindlichen Zutraulichkeit lächelte sie den Witwer an, der sie am Fuße der Freitreppe empfing, es fehlte nicht viel, so hätte sie ihm bei dem Handgeben einen Knicks gemacht wie einem alten Onkel. Sie saßen dann auf der Veranda unter rotweiß gestreiftem Zelt am Kaffeetisch und schauten in den wohlgepflegten Garten hinunter.

Auf Frau Amtsrat wirkte das Wiedersehen so vieler lieber Plätze, an die sich frohe und schmerzliche Erinnerungen knüpften, entschieden tief, und in ihren hübschen braunen Augen quoll es feucht empor.

»Nicht wahr, Mama, als ob wir gar nicht fortgewesen wären?« fragte Röschen.

Die Mutter nickte.

»Nachher machen wir einen Rundgang durch Haus und Hof,« schlug der Oberamtmann vor, »ich möchte der gnädigen Frau gern meine neuen Einrichtungen zeigen. Daß ich eine Forellenzucht angelegt habe – –«

237 »Eine Forellenzucht?« rief Frau Amtsrat. »Sehen Sie, das war ja mein Traum! Ich sagte schon immer zu meinem Mann – das köstliche Bergwasser und der Teich.« – – Sie war rot vor Freude und klatschte in die Hände wie ein Kind um Weihnacht.

»Famos eingeschlagen ist es!«

»Das freut mich! Das freut mich!« Die hübsche Frau war ganz selig über diese Neuigkeit, und lebhaft plauderte sie weiter. »Warum sind Sie eigentlich nie mit Ihrer Frau zu uns gekommen?« sagte sie dann auf einmal. »Sie glauben nicht, wie ich darauf gewartet habe, ich sehnte mich ja beinahe krank nach diesem Hilgendorf; aber Sie wollten ja von der ganzen Gesellschaft in Neustadt nichts wissen, und so blieb das Paradies mir verschlossen.«

»Gnädige Frau,« sagte er langsam und traurig, »meine Frau war sehr krank, es war unmöglich, einen Verkehr zu unterhalten. – Sie litt mehr geistig als körperlich, ihr Zustand verdammte uns beide zur vollkommenen Einsamkeit.«

»O, verzeihen Sie – ich wußte es nicht.«

»Niemand wußte es, gnädige Frau.«

»Und haben Sie nie Kinder gehabt?«

Er schwieg ein Weilchen und sagte dann leise: »Drei. Alle tot, alle tot innerhalb einer Stunde – verunglückt, ertrunken, und seit diesem Augenblick war meine arme Frau – –« er deutete auf die Stirn und brach ab.

Ganz entsetzt starrte Frau Amtsrat den Oberamtmann an, der bei diesen Worten förmlich zusammengesunken schien, wie ein alter Mann, die Stirn gefurcht, ein scharfer Zug von der Nase herab, der sich in den Vollbart verlor.

Wie ein alter Mann! Wie ein alter Mann! Und von ihm irrte ihr Blick zu Röschen, aus deren blühendem Gesicht alle Farbe gewichen war bei den Worten des so schwer Geprüften. Und diesem Mann, dessen Herz durch ein grausames Schicksal zerrissen sein mußte, auf dem die ganze furchtbare Schwere des Lebens lastete, dem hatte sie die kleine sonnige Schmetterlingsseele ihres jungen Kindes zugesellen wollen? Sie kam sich plötzlich vor wie eine 238 Barbarin. »Röschen,« sagte sie, »hast du nicht Lust, deine alten Spielplätze aufzusuchen?«

Das Mädchen sprang auf und huschte wie erlöst die Steintreppe hinunter, um in den grünen Wegen des Gartens zu verschwinden.

Der Oberamtmann sah ihr nach. »Glückliche Jugend!« sagte er lächelnd. Und dann suchte er das Auge der Frau an seiner Seite, warm und fragend.

»Nicht wahr, es ist schön hier in Hilgendorf?« sprach er weiter, »aber schrecklich einsam, um so schrecklicher, weil die Erinnerungen so schwere sind!«

Sie nickte nur und blickte sinnend an ihm vorüber.

»Über diese Treppe haben sie den Sarg meines Mannes getragen,« sagte sie dann leise. Und wie sie den Blick hob, traf sie wieder sein Auge, das noch nicht von ihr gelassen hatte: ein seltsam bittender Strahl grüßte sie daraus.

»Wollen wir nun unsere Rundreise antreten?« fragte sie verwirrt.

Er erhob sich, straff und aufrecht stand er vor ihr und bot ihr den Arm. Sie schritten durch den weiten Flur auf den Hof hinaus, und die Frau lachte und weinte beim Wiedersehen 239 der alten lieben Heimat, sie lobte und tadelte und gab Ratschläge und war so ganz hingenommen von der prächtigen Wirtschaft, daß sie die lächelnde, freudig gerührte Miene des stattlichen Witwers ganz übersah. Lebhaft miteinander redend, kamen sie endlich aus den Schweineställen, wo die kleinen weißrosigen Ferkelchen an die alten Säue geschmiegt, jedes Völkchen in seiner eigenen geräumigen Kinderstube, lagen, nach dem Gemüsegarten und schritten den Weg hinunter zwischen Bohnen und Gurken und duftenden Suppenkräutern. In den Rabatten standen Stachelbeer- und Johannisbeerbüsche, die hatte sie noch gepflanzt, und die Brombeeranlagen waren prächtig gediehen.

Sie wollten durch den Park nach der Forellenzucht wandern. »Versuchen Sie es nur«, sagte Frau Amtsrat im Anschluß an ein Gespräch über Erdbeerzucht, »mit ›König Albert‹ es ist die allerbeste Sorte, ich ziehe sie auch.«

Wie sie aber um das sogenannte große Boskett bogen und sich der Pforte in der Parkmauer näherten, die nach dem Walde führt, stand diese weit offen, was einmütig von beiden als große Ungehörigkeit bezeichnet wurde.

»Dort ist jemand hinaus, der den Kniff am Schlosse kennt,« meinte Frau Amtsrat, »sofern es nämlich noch dasselbe ist wie zu meiner Zeit.«

»Ganz das nämliche, – das mit dem versteckten Riegel, gnädige Frau.«

»Das müssen Sie ändern lassen, Herr Oberamtmann, mit der Zeit bleibt auch ein Vexierschloß nicht geheim. Übrigens wurde zu meiner Zeit vom Gärtner jeden Abend diese Pforte mit einem wirklichen Schlüssel abgeschlossen.«

»Ja, ja, das soll geschehen, und heute noch,« gelobte er.

Der Waldweg jenseit der Parkmauer war sehr schmal, sie mußten einer hinter dem andern gehen bis zu der kleinen Lichtung am Forellenteich. Sie sprachen nicht; der Oberamtmann schritt hinter Frau Rosa Wendenburg und ließ kein Auge von ihr.

Plötzlich, am Ausgange des engen Pfades angelangt, blieb 240 sie stehen, und die Hand, mit der sie ihr Kleid gehalten hatte, ließ die seidenen Falten los und hing schlaff herunter: sie war einer Ohnmacht nahe. – Gar nicht weit entfernt saß ihr einziges Kind neben einem jungen Mann, von dessen Arm umfangen, und ließ sich küssen! Und so eifrig waren diese beiden wohlbekannten Schelme dabei, daß sie das Kommen der Mama völlig überhörten und zwischen den Küssen immer wechselseitig das Glück priesen, einander hier gefunden zu haben.

Frau Amtsrat wandte sich ebenso plötzlich um, wie sie stehen geblieben war, und flüchtete förmlich zurück in den dämmerigen Waldpfad, leise lachend folgte ihr der Mann. Im Park blieb sie stehen, und die tränenden Augen zu dem Oberamtmann aufschlagend und die ineinander geschlungenen Hände gegen ihn erhebend, fragte sie: »Was soll man dabei nun machen, was soll man machen?« Es lag ein wehes Jammern in ihrer Stimme.

Er nahm die beiden kräftigen schönen Frauenhände in die seinen und streichelte beruhigend mit der Rechten darüber. »Nichts, 243 meine liebe Frau Amtsrat,« flüsterte er, »das ist der Lauf der Dinge. Sagen Sie ja! Sagen Sie einfach ja!«

»Ach Gott, ach, wenn Sie wüßten –« schluchzte sie.

»Ich weiß, ich verstehe! Jede Mutter, die ihr Kind hergeben soll, fragt bange: Was soll ich nun beginnen? Noch dazu, wenn es das einzige ist, wenn sie denken muß, fortan ganz allein zu stehen – die Einsamkeit schreckt. Aber, müssen Sie denn einsam bleiben? Kommen Sie Ihrem Kinde zuvor.« Er zögerte ein wenig, ehe er fortfuhr: »Gott weiß es, liebe gnädige Frau, ohne diesen kleinen Zwischenfall hätte ich vielleicht noch lange nicht den Mut gefunden, Sie zu bitten! Kommen Sie zu mir, kommen Sie wieder hierher, Hilgendorf schreit ja förmlich nach Ihnen!«

Einen Augenblick überkam es die Frau Amtsrat wie ein Schwindel, als ob sie den festen Boden unter den Füßen verlöre und wie eine Feder in der Luft umherwirbelte. Das Kind hatte sie verloren, das war Tatsache, aber Hilgendorf – Hilgendorf! Wie nach einem Halt suchend, umfaßte sie die Hand des Oberamtmanns fester.

»Hilgendorf!« seufzte sie leise – –.

Vor der Gitterpforte erschien einige Sekunden später ein junges Paar und blieb nun seinerseits sprachlos stehen, denn da drüben unter der mächtigen Kastanie küßte eben der Oberamtmann Bartenstein die gestrenge Mama! Es sah ganz ernsthaft und feierlich aus, wie der große Mann dann so ritterlich und zart sich auf die Hand der hübschen Frau hinunterbeugte.

Im nächsten Augenblick waren die Schelme wieder verschwunden hinter der deckenden Mauer, und sie hielten sich übers Kreuz bei den Händen, und den Oberkörper zurückgebogen, wirbelten sie nach Art der Kinder, die dieses Spiel »Mühleziehen« nennen, in einer wirklich kindlichen Ausgelassenheit umher; sie hätten nicht anders gekonnt, sie wären sonst erstickt an ihrem stummen Jubel. Atemlos saßen sie dann nebeneinander, und der junge Mann zappelte noch immer mit den Beinen und focht mit den Armen und krümmte sich, als ob er die entsetzlichsten Schmerzen hätte, 244 alles ganz lautlos und mit dem lachendsten Gesicht der Welt.

»Wer hat nun recht?« flüsterte er endlich dicht an ihrem Ohr und sah Röschen an, die vor unterdrücktem Kichern ganz rot geworden war, »wer hat nun recht?« wiederholte er, diesmal mit einem Kuß.

Und sie brachte nun ebenfalls den Mund an sein Ohr: »Du mußt heute mit Mama sprechen, Fritz, heute noch, da kann sie nicht nein sagen, sie hat ja ihr Hilgendorf wieder. Und dann bleibe ich bei Tante Lotte, bis du mich holst, denn Mama darf mich jetzt nicht behalten,« meinte Röschen nachdenklich.

»Bis ich dich hole? Und was meinst du denn, wann das ist? Denkst du, ich will den ganzen Winter hindurch in der einsamen Oberförsterei sitzen? Von hier aus trete ich ja mein Amt schon an.«

»Ja, das dachte ich, Herr Oberförster,« flüsterte sie neckend.

»Weißt du was? Wir schlagen Mama vor, mit uns am selben Tag Hochzeit zu machen, dann kann sie dich behalten, bis wir alle miteinander in die Kirche fahren: so umgeht sie die fatale Bestimmung im Testament, die ihr so vielen Kummer gemacht hat.«

»Bist du gescheit!« lobte sie, »und deine gute Mutter kommt mit zu uns!«

Er wurde auf einmal gar ernsthaft. »Du lieber Schatz,« sagte er gerührt.

Am Abend desselben Tages saß Tante Lotte ganz allein in ihrer Giebelstube und wunderte sich, daß der Junge, der fast im nämlichen Augenblick, da er angekommen, nach Hilgendorf weiter gefahren war, und auch die Damen noch immer nicht zurückkehrten. Es ging schon auf elf Uhr.

Sie war müde, hatte wohl gar ein bißchen geschlafen, da tat sich die Türe auf, und eine Gestalt kam herein. »Lotte,« fragte die Stimme der Frau Amtsrat in der Dunkelheit, »bist du hier?«

»Ja, ja! Ich sitze am Fenster,« klang es zurück, ein bißchen verwundert über den späten Besuch der Schwägerin.

245 Da kam diese herüber und faßte ihre Hand. »Du bekommst sie ja nun doch,« sagte sie mit gedämpfter Stimme, »sie wird ja nun doch dein Kind, Lotte, – habe sie lieb, den Fritz und sie, ordentlich lieb!«

»Du gibst es zu?« Frau Lotte schrie es fast.

»Ja, Lotte.«

246 »Was, ums Himmels willen, ist denn geschehen, daß du so plötzlich deinen Sinn gewendet hast?«

Frau Amtsrat drückte ihr nur stumm die Hand und ging der Türe zu, und dort blieb sie stehen und murmelte etwas, das klang wie »Hilgendorf«. Dann verschwand sie.

Aber Tante Lotte hatte es doch verstanden. »Ach, so! Hilgendorf!« murmelte sie.


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