W. Heimburg
Alte Liebe und anderes
W. Heimburg

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79 Korl Lorensen.

Ich gehe schon den ganzen Tag in Gedanken an eine neue Geschichte umher; was soll ich diesmal meinen freundlichen Lesern erzählen? Es gäbe gewiß noch vieles zu berichten aus dem Lenkwitzer Forsthause, aber mir fällt just nichts ein. Eigentlich habe ich auch schon zu oft geplaudert von den alten Begebenheiten; es könnte wirklich einmal etwas anderes sein – aber was? Vielleicht Geschichten aus der Gegenwart? Aus dem Hause, dem großen Mietshause, in dem ich wohne? Oder von der Straße – Geschichten, deren Inhalt sich an Vorübergehende knüpft, so eine Art Chronik der W.-Straße? Oder Begebenheiten aus der Dorfgasse, in der das Haus meiner Eltern steht?

Es gibt überall Interessantes, aber man muß es nur erst haben, sehen; lebendig werden müssen die Gestalten, die schattenhaft an meinen Augen vorübergleiten. Aber so viele ich auch heute festhalte und sie frage: »Nun sag, was könntest du wohl erlebt haben – und du und du?« sie bleiben stumm, schweben vorüber und zerfließen; sie lassen mich allein.

Nichts!

Ein Königreich für den Stoff zu einer neuen, fesselnden Geschichte! Und dabei ist's so friedlich in meiner Schreibstube, so recht zum Arbeiten geschaffen. Der Regen, der sich gegen Abend eingestellt hat, schlägt an die Fenster, der kleine Amerikanerofen steht und sieht mich mit feurigen Augen durch 82 die leichte Dämmerung an, die schon herabsinkt, und die Uhr tickt, die winzig kleine Schwarzwälderuhr, die ich mir einmal für fünf Mark in Rippoldsau erstand und die seit Jahren ihr Ticktack hören läßt, so traut und lieb, daß ich ihr immer wieder von neuem verzeihe, wenn sie so ganz und gar nicht richtig gehen will. Der Wind heult auch recht hübsch da draußen; aber das macht mein Zimmer noch behaglicher. Wenn nur ein Stoff da wäre für die Geschichte, dann müßte es ein reizender Abend werden. – Denken wir nach!

Ich könnte ja vielleicht von meinen Reisen erzählen? Freilich, das geht – versuchen wir es! Da vor mir steht ein Briefbeschwerer, der geflügelte Löwe von San Marco. – Venezia! Ich sehe die Gondeln gleiten, ich höre den Schrei der Gondeliere. Der Mondschein flimmert auf dem Canale grande, weiß leuchten die Marmorpaläste, und eine weiche Männerstimme – ein erster Schmalztenor, wie man in Berlin sagt – klingt in mein Ohr.

O du zaubervolles, göttliches Venedig, wenn nur nicht schon so über alle Maßen viel von dir erzählt wäre, das alles auf Mondschein, Meer und Gesang, auf Marmorpaläste und Gondeln herauskommt! Nein, Venedig gebe ich auf – aber was nun?

Meine Gedanken fliegen von der stolzen Dogenstadt, hingelenkt durch einen Tannenbruch, der hinter dem Bilderrahmen über meinem Schreibtisch steckt und von dem schon die meisten Nadeln abgefallen sind, nach dem kleinen märkischen Städtchen, in dem mein Vater fünf Jahre lang in Garnison stand. Der Bruch stammt noch von einer Schnitzeljagd, welche die Ulanen ritten, bei der auch die Damen mit den Tannenzweiglein beschenkt wurden am Schluß. Ich sehe die Heide wieder, die Häuser eines Dorfes mit dem geschnitzten Gebälk am Giebel, ich sehe die blausilbernen Reiter, und weit dahinter einen Eichenwald. Das Gras wächst auf dem Marktplatz des Städtchens, die Laternen schwanken an Ketten über der Straße, und der einzige Kirchturm ist beinahe so schief wie der von Pisa. Aber Geschichten kann man da finden – o – man glaubt nicht, was alles die alten Giebelhäuser wissen in den engen Gassen. Gehen wir also in S . . . auf die Suche.

83 Kling! Kling! Kling! Die Vorplatzklingel! – Lieber Himmel, da kommt Besuch, Besuch in meine schönste Arbeitsstimmung hinein! Ich höre meine Zofe parlamentieren im Korridor, eine Männerstimme sagt: »Nur einen einzigen Augenblick – melden Sie mich nur, ich gehe ja gleich wieder!«

Donna Hedwig kommt lächelnd herein zu mir: »Herr Seeberg!«

Albert Seeberg? Den kann man nicht abweisen, denn erstlich ist er ein alter Bekaunter, zweitens ist er ein sehr guter Gesellschafter und drittens ein liebenswürdiger Künstler, einer von denen, dessen Bildern man noch ansehen kann, was sie vorstellen sollen. Also, herein mit Herrn Albert Seeberg!

»'n Abend, Fräulein Heimburg – störe ich?« fragt er gleich darauf.

»Nein, nein!« sage ich höflich.

»Doch nicht bei der Arbeit?«

»So ganz noch nicht, ich suche nach –. Wissen Sie keinen Stoff für eine neue Geschichte?«

Er schüttelt den Kopf. »Haben Sie denn nicht ein altes Tintenfaß aus Lenkwitz, das Sie diesmal ›verknacken‹ können?« sagt er und macht sich's bequem in einem Fauteuil.

Ich verneine lachend. »Ich möchte 'mal etwas anderes erzählen als von alten Tintenfässern und dergleichen.«

»Ja, wissen Sie, Verehrteste, auf Kommando erscheint die Muse nicht, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Warten Sie, bis Sie ungerufen kommt, und erzählen Sie sich lieber etwas mit mir.«

»Schön, fangen Sie nur an!« erwidere ich.

»Das Wetter war famos, warum gingen Sie nicht spazieren heute?« fragt er statt dessen.

»Weil ich arbeiten wollte. Übrigens das Wetter ist ein vielversprechender Anfang zum Plaudern.«

»Na ja, mit etwas muß man doch beginnen,« meint er.

»Das ist sehr richtig! Sagen Sie, wie geht's daheim, in Holstein?«

»O, ick dank veelmal – geiht so,« antwortet er auf Plattdeutsch, denn er ist ein A . . . er Kind und hält viel auf seine »ollen Öllern« un op sin Vaderstadt.

84 Nun ist A . . . zwar nicht meine Vaterstadt, aber H . . . ist meines Vaters Geburtsstadt, beide stehen in sehr naher Beziehung zueinander, ich liebe sie sehr, die alte stolze Hansestadt, und folglich auch A . . . Im Umsehen befinden wir uns in einem Gespräch und vergleichen H . . .s und Dresdens Reize, und von da kommen wir auch auf das Künstlerleben beider Städte, und dann ist's wieder nur ein Schritt, daß wir auf Meister Alberts Kunst im besonderen kommen.

»Wann haben Sie sich denn entschlossen, Maler zu werden?« erkundige ich mich. »Wollten Sie es von vornherein oder wünschten es Ihre Eltern?«

»Wissen Sie denn das nicht?« fragt er zurück.

»Nein! Sie waren grad nicht sehr mitteilsam bisher über diesen Punkt.«

»O, eigentlich spreche ich nicht gern davon,« verteidigt er sich, »weil's mich immer so ein bißchen weich macht, so, so – –. Habe ich Ihnen davon wirklich noch nicht gesprochen?«

»Tatsächlich nicht. Bitte, bitte, erzählen Sie doch, vielleicht –«

»Ach so! Nun gedenken Sie möglicherweise mich zu ›verknacken‹ anstatt des Tintenfasses?«

»Großer Gott, wieder der Ausdruck! Möglicherweise – ja! wenn's mir paßt.«

»Also los!« sagt er. »Wenn manchmal ›en plattdütscher Snack‹ mit vörkommt, verzeihen Sie wohl?«

»Natürlich! Ick verstah all.«

»Also, in A . . . . . am Rathausmarkt bin ich geboren, und mein Vater war Kunsthandwerker, der höllisch arbeiten mußte für sin Fru un sine sös leewen Kinner. Sobald ich verständig genug war, mußte ich ihm helfen in meinen freien Stunden, denn he kost doch gar to veel Geld, so'n Sles. Aber darum war's doch eine schöne Kinderzeit, und Gelegenheit zum Spiel und zu dummen Streichen blieb immer mehr, als gut war. Und manche Tracht Schläge hat Mudder mi spendeert 85 wegen zerrissener Büxen un Kittels. Mein liebster Spielgefährte war Korl Lorensen. – – – – – – Herrje, Fräulein Heimburg, dieser Korl, der wär' am Ende einer, den Sie grad brauchen könnten für Ihre neue Geschichte, der wär' wirklich so ein Stück für eine Novelle; armer Kerl, dieser Korl Lorensen!

Er wohnte bei seinem Onkel im Hinterhaus, seine Mutter hatte er nie gekannt, sie war gestorben, als er dreiviertel Jahr alt war. Auch sein Vater war ihm unbekannt geblieben, der befand sich, während Korl geboren wurde, als Schiffskoch auf dem »Glück von Dänemark« und ging mit verloren, als die Brigg verloren ging an der Küste von Schottland. Ein Onkel nahm Korl hin, oder vielmehr eine Tante tat es.

Na, der Onkel, das war einer! Er hieß Eduard Heß und war ein verbummeltes Künstlergenie, war hinter dem Ladentisch fort zu den Schauspielern gelaufen, aber nie über die stummen Knappenrollen hinausgekommen. Dann hatte er sich der Malerei in die Arme geworfen, darin er auch liegen blieb, obgleich er nie einen Pinselstrich leistete, der einen Heller wert gewesen wäre, trotzdem er 'mal eine Zeitlang in Dresden »studeerte«. Dieses Studium hatte ihm indessen zu weiter nichts geholfen, als zu einem ganz niedlichen Größenwahn und einer ältlichen schwärmerischen Ehefrau mit kleinem Vermögen, die sich in das holsteinische Genie mit seinen Künstlerlocken, seinem Samtbarett und seinem »Wahnsinnsmantel« so blindlings verliebt hatte, daß sie ihm ohne weiteres, im Vertrauen auf sein Talent, von Dresden nach A . . . folgte und die einzige Seele blieb, die nie den Glauben an Eduards Künstlertum verlor – bis zuletzt, wo der nahende Tod sie hellsehend machte! Die alternde Frau hatte in Not und Entbehrungen gelebt mit ihrem Eduard, hatte ihn geschützt vor dem Verhungern mit ihrer Hände Arbeit und getreulich seinen Größenwahn ertragen, ohne je einen Vorwurf zu machen, obgleich er nie ein Bild fertig malte, nie eins verkaufte. Noch am Rande ihres Grabes nahm sie Korl Lorensen aus den starren Armen der eben gestorbenen Mutter, die ein Stück Verwandtschaft von Eduard Heß 86 war, zu sich in ihr armseliges Heim. Dann, nach kurzer Zeit ist auch sie gestorben, doch wohl aus Gram, daß von all ihrem erträumten Glück nicht weiter übriggeblieben war als die Künstlerlocken, das Samtbarett und der Wahnsinnsmantel ihres Eduard und Herr Eduard selber.

Meine Mutter saß im Hinterhause bei dem armen Weibe, als es starb, und war zugegen, als sie ihren über alles geliebten Eduard ermahnte, doch seinen Stolz zu beugen und dem Bäcker op de anner Sid von Morkt das verlangte Aushängeschild mit den Rundstücken und Kringeln zu malen, denn er wolle doch essen und Korl Lorensen auch, und letzterer dürfe nie etwas anderes werden als ein braver Handwerker, das müsse Eduard ihr versprechen. Und Eduard hatte denn auch, heulend vor Jammer und Schmerz, gelobt, er wolle das Bäckerschild malen und Korl Lorensen solle Handwerker werden. Und Korl Lorensen hatte dabei in seinem hohen Stühlchen am Tische gesessen, mit den Beinchen gebaumelt, kreischend und lachend; er war eben fünfviertel Jahre alt.

Meine Mutter nahm damals das kleine Unglückswurm mit zu sich ins Vorderhaus, für so lange wenigstens, bis der betrübte Witwer ein paar Tage später in seinem Wahnsinnsmantel, den er in düsteren Falten umgeschlagen hatte, und in seinem ganzen verdrehten Uptog vom Kirchhof zurückkehrte. Dann aber trug sie Korl Lorensen dem sogenannten Onkel wieder zu, der in malerischer Stellung in seinem Atelier saß vor einer leeren Leinwand, auf der er eben, unter rinnenden Tränen, die ersten Kohlenstriche machte zu dem Porträt seiner Entrissenen, die er aus dem Gedächtnis zu malen gesonnen war.

Meine Mutter hat mir oft erzählt von diesem Anblick, und daß sie zu dem Eduardo gesagt habe: »So, min leew Herr Heß, da is nu de Jung – ick hew fif egene, de kosten uns naug. Nu hangen's man den ollen Mantel an Nagel un setten en ordentlich anständig Mütz op un malen Se Schiller. De Jung 89 will leewen – hest Se mi verstahn, min leewe Herr Eduard Heß?«

Nun ja, daß der kleine Korl Lorensen essen wollte, das hatte er ja wohl verstanden, und er malte in verzweifelter Entsagung das Bäckerschild, und da es sehr schön ausfiel, so malte er auch fernerhin Schilder, durch welche Tätigkeit er sich und Korl Lorensen satt machte, ja er brachte es sogar so weit, daß oll Mudder Sörrensen die Aufwartung, die Pflege des Kleinen, die Reinlichkeit und das Kochen übernahm für wenige Schillinge den Monat. Aber der Wahnsinnsmantel, das Samtbarett und die ambrosischen Locken, die blieben, von denen trennte er sich nie, und nach wie vor liefen die Gassengören ihm hinterdrein und trieben ihren Spaß mit ihm, sobald er sich in den Straßen zeigte, um malerische Stimmungen zu erlauschen.

Die Ausdrücke »malerisch« und »Stimmung« und ähnliche Schlagwörter klangen in meine kleinen Ohren hinein, als ich noch »en ganz dummer Jung« war, der weder lesen noch schreiben konnte, und blieben sitzen in meinem Kindergehirn, so fest, als seien sie eingeschroben. Ja, wenn ich recht bedenke, so ist Eduardo Heß schuld daran, daß ich Maler geworden bin.

Korl Lorensen hatte von dem Tage an, wo er selbständig zum ersten Male auf noch unsicheren Beinchen, halb kriechend, den Weg in das Vorderhaus und in unsre Wohnung fand, ein für allemal den unbeschränkten Eintritt erworben. Meine gute Mutter trug das Herz auf dem richtigen Fleck. Der kleine Bursche, der da zwischen dem »verballerierten« Maler, wie sie Eduard Heß zu bezeichnen pflegte, womit sie wohl »verballhornisiert« meinen mochte, und der alten mürrischen Madam Sörrensen aufwuchs ohne jede Zärtlichkeit und liebevolle Pflege, jammerte sie, und sie litt es gern, daß wir Kameraden wurden, obgleich Korl Lorensen anderthalb Jahre jünger war als ich.

Zuerst spielten wir noch unter ihren Augen; als wir größer und dreister wurden, auf der Treppe vor dem Hause oder im Hofe, und auch, als wir zur Schule gingen, blieb unsre Freundschaft unzertrennlich, trotzdem Korl in die Armenschule und ich in eine höhere Schule ging. Wir konnten kaum erwarten, uns in der 90 freien Zeit auf der Straße zu treffen, um dann gemeinschaftlich unsre Spiele zu treiben, entweder bei uns im Zimmer oder auf der Straße. Mein Höchstes und Schönstes aber war, wenn Korl Lorensen mich mit in seines Onkels Atelier nahm – »Atalihr« sprach Korl es aus, und ich ebenfalls –, während der Zeit, wo dieser seinen künstlerischen Entdeckungen und Stimmungen nachging. Dieses »Atalihr« hat als Tempel der Kunst mich seinerzeit mit den heiligsten Schauern erfüllt, obgleich es weiter nichts war als eine einstmals weiß getünchte schiefe Stube, deren Wände mit Skizzenblättern zweiselhaftester Güte behangen waren. In der einen Ecke stand eine Staffelei mit dem immer noch unfertigen Porträt der seligen Frau Heß, in der andern eine zweite Staffelei, auf welcher irgend ein Firma- oder Wirtshausschild prangte, in welchem Genre Herr Eduard Heß nachgerade einen bescheidenen Ruhm erlangt hatte. Sonst war da, außer schmierigen Pinseln, stark bekleckster nie gereinigter Palette, einem Farbekasten mit ausgequetschten und gefüllten Farbenblasen, Näpfen, Papierschnitzeln, Zigarrenasche und zerbrochenen Spachteln, die ein anmutiges Durcheinander bildeten, nichts Bemerkenswertes als das jeweilige Modell für den Künstler, das in Gemüse, in Obststillleben, in Bücklingen oder dergleichen bestand. Die Wirtshausschilder malte er nach seiner Phantasie, wovon mir das »Zum blauen Wasser« noch erinnerlich geblieben ist, weil die Wellen, die darauf abgebildet waren, wirklich ganz auffallend, ganz wunderbar blau erschienen. Im übrigen herrschte ein unglaublicher Schmutz in diesem geweihten Raum, der mich ebenso mit Staunen erfüllte wie alles andre, denn ich entstammte einem sehr reinlichen Haushalt. Meine gute Mutter hat ihr Lebtag Scheuern und Waschen für das A und O aller Gesittung und Kultur gehalten. –

Eines Tages kam Herr Eduard Heß ungewohnt früh von seinem Spaziergang zurück und ertappte uns in seinem Allerheiligsten. Es mochte ihn mein andächtiges Gesicht, mit dem ich ihn und seine Leistungen anstaunte, erfreuen, denn er begann sehr leutselig ein Gespräch über Kunst mit mir dummem Jungen; es strotzte nur so von erhabenen Worten und Bildern, daß mir ganz schwindlig und benommen wurde und ich unwillkürlich die Hände 91 faltete und mit offenem Munde zuhörte. Was er alles sagte, weiß ich nicht mehr, aber der Schlußsatz ist mir in Erinnerung geblieben und hat vielleicht mein ganzes Schicksal bestimmt: »Dresden ist die wahrhafte Wallfahrtsstätte, zu der jeder kunstbegeisterte strebende Jüngling pilgern sollte, und wäre es nötigenfalls auf nackten Sohlen, wenn er keine Schuhe besitzt. Und dort möge er beten zu den Füßen der Sixtinischen Madonna, daß der Geist Raffaels über ihn komme.«

Zu jener Zeit nun, wo uns Eduard Heß die Raupen in den Kopf setzte von Dresden und Raffael, war bereits stark die Rede 92 davon, daß Korl demnächst in die Lehre treten sollte bei Discher Maadsen nebenan. Und mit diesem Tage begann Korls Kampf um die Zukunft, begannen seine stillen Proteste gegen die Tischlerlehre und begannen seine heimlichen Malübungen, seine Versuche, malerische Stimmungen zu entdecken, von denen sein Pflegevater phantasierte und die er bisher vergebens herbeigesehnt hatte.

Natürlich blieb ich nicht dahinten. Zunächst zwar verstand ich noch alles nicht recht, aber das Verlangen, mit Maleraugen sehen zu können, war übermächtig auch in mir vorhanden, und eines Tages war es da, das Wunder, so daß es mir durch die Seele fuhr wie ein elektrischer Funke: Herr Gott, wenn du malen könntest, so einfach festhalten – das – gerade das! Im Jahre 1864 war's, als mitten in der Nacht ein Zug dänischer Gefangener über den Rathausmarkt geführt wurde. Die Mondsichel droben am Himmel, haarscharf und silbern über dem Rathausdach, aus den Fenstern der Giebelhäuser am Markt das rötliche Licht der Anwohner, die, aus ihrer Ruhe geschreckt, an den Fenstern lauschten, auf dem Platz eine dicht gedrängte Menschheit und dazwischen der Zug marschierender Soldateska: hie und da blitzt ein Bajonett auf, leuchtet eine Pickelhaube vom Licht getroffen, das Ganze schattenhaft in einer gewissen bläulichen dämmerhaften Beleuchtung – Herr Gott, ist das schön, das muß es sein, was Eduard Heß »malerisch« nennt!

»Mudder, ick much, ick künn dat malen,« flüsterte ich beklommen der Mutter zu.

»Bist woll ganz ut de Tüüt?« fragte sie zurück, »malen? Wie kamst up malen? Willst woll ock so'n Snurrer warden as dat verballerierte Genie, de oll Eduord Heß? Malen – dat is för Lüd, de to nix anners good sünd.«

O weh, mein Ideal! Aber mein Glaube war stärker. – Korl Lorensen teilte ich andern Tages mit, daß ich gestern meinen unzweifelhaftesten Beruf entdeckt habe und nunmehr fest entschlossen 93 sei, Maler zu werden und nach Dresden zu gehen, um den Geist Raffaels auf mich herabzuflehen.

»Ja, Albert, dat must du,« gab er zu mit feierlichen sehnsüchtigen Augen, »un ick, ick gah mit un wenn ick utkniepen müst von Discher Maadsen. Un nahsten Sünndag gahn wi na H . . . un studeeren Malerisches un denn könnt wi dat alles noch besprecken.«

Na, das geschah ja wohl, und auch des öfteren. Ich hatte für nichts mehr Sinn als für meine Zukunft, und als gar meine Schwester sich mit dem Zeichenlehrer einer Schule verlobte, da wuchs mir der Mut, denn meine Mutter konnte doch sehen, daß Leute, die zeichneten, schließlich nicht durchaus Tagediebe waren. Und so in diesem Beharren kamen die Jahre und verschwanden. Korl Lorensen und ich wurden konfirmiert an dem nämlichen Tage. Er war allerdings, wie gesagt, anderthalb Jahre jünger, aber für einen Tischler war frühes Eintreten in die Lehre erwünscht, und der vierzehnjährige rotblonde stämmige Junge mit den rotgefrorenen mächtigen Fäusten, der gedrungenen Figur, dem runden Apfelgesicht und den im Widerspruch mit all diesen Zeichen einer robusten bäuerlichen Natur stehenden sehnsüchtig verträumten blauen Augen schüttelte mir die Hand, als wir vor der Kirchtür auseinander gingen, und sagte: »Albert, ick mutt nu doch to Maadsen, aber Dresden gew ick nich op, un du blifst min Fründ, Albert, und du seggst mi dat woll, wenn du so wit bist, un denn komm ick mit. Min 94 Unkel Heß mutt un mutt dat för mi dohn, ick kann nich Discher blieben, ick will Maler warn.«

»Och ja, Korl Lorensen, ick will di dat woll seggen, wann't so wit is, un Sünndags gahn wi, as sünst immer, spazeeren, dat wöllt wi fast hollen. Lat di god gahn, Korl! Ick sall ja nu woll bi minen Vadder in't Geschäft.«

Ja, so war't ock. Ick kam denn nu to min allen goden Vadder un schufte da vör alle Gewalt. Und Abends machte ich Studien in meiner kleinen Kammer für meinen künftigen Malerberuf, und was mein Schwager war, der hatte schon ein paarmal zu meiner Mutter gesagt: »Er hat ein büschen Talent, ein ganz nüdliches Talent hat der Albert.« Aber keines der Eltern zeichnete darauf, keine Seele wollte auf meinen Herzenswunsch eingehen, nur einzig und allein Korl Lorensen verstand mich. So oft ich konnte, schlich ich durch das Nachbarhaus auf den Hof, natürlich Feierabends, und rief zu den Fenstern der Tischlerwerkstatt hinauf: »Korl, bist du bald fertig?«

Manchmal kam er dann herunter, müde und matt, aber mit leuchtenden Sehnsuchtsaugen, die beständig in einer andern Welt zu sein schienen. Manchmal auch rief er: »Noch nich, Albert, hüt abend nich, min Beddstell is noch nich fertig.« Der arme Junge mußte nämlich jeden Tag eine Bettstelle fertigen von sehr primitiver Art, aber fertig mußte jeden Tag eine werden, da half ihm nix von. Discher Maadsen lieferte solche in Masse für Gott weiß welche Zwecke. Der Lehrjunge hatte eine zu machen, die Gesellen mehr als das. Aber wenn Korl Zeit hatte, standen wir flüsternd zusammen in irgend einem Winkel und schwärmten und schwiedeten einen Plan nach dem andern und stärkten unsre moralische Kraft für den Widerstand, dessen wir unsern Alten gegenüber so nötig bedurften. Eduard Heß hatte nämlich eine genau so schroffe Stellung gegen die Wünsche seines Pflegesohnes eingenommen wie meine Eltern gegen die meinen, nur daß Eduardo viel weniger zart verfuhr mit Korl Lorensen als die Meinen mit mir. Wie eine Beleidigung für seine Kunst sah er es an, daß so ein Slüngel, so'ne grobfadige Narur, so eine Knechtsseele – 95 wie er sich ausdrückte – sich unterstehen könne, auch nur die Falten des Gewandes ergreifen zu wollen, das die Muse der göttlichen Kunst umhüllt!

Und der arme Junge zitterte und weinte nach solchen Szenen, und sein Kopf mit den rotblonden stacheligen Haaren bog sich in seine Hände und die Tränen flossen zwischen den plumpen Fingern hervor. Es war zum Jammern. Ich weinte zwar nicht, aber ich war trotzig, zum Verzweifeln trotzig, und wo ich konnte, brachte ich zu Hause mein Sprüchlein vor: »Ich will Maler werden! Vadder, lat mi doch! Mudder, ick bitt di, help mi doch!« Und als ich eines Tages nach Rücksprache mit meinem Schwager ein paar gar nicht üble Blätter vorlegte, die selbst meine ganz unkünstlerische Mutter verblüfften durch die Ähnlichkeit, mit der ich meine Schwester getroffen, und gar den »verballerierten« Eduard in seinem Wahnsinnsmantel, da ward Vater schwankend trotz des Jammerns und Abredens meiner Mutter und begann die Frage des Geldpunktes aufs Tapet zu bringen, die allerdings trostlose Resultate ergab.

»Wo sall dat hen? Wo sölln wi dat Geld hernehmen tau'n Studeeren? Uns annere leewen Kinner sin doch ock noch dor? Un wo kein soll Vadder helpen Geld verdeinen, wenn Albert in Dresden is? Un wenn da nu nix ut ward als en büschen Klüterkram un ick erlewen müst, dat he so'n olles verballeriertes Genie ward as Eduard Heß – o, so'n Kummer, nee – so'n Kummer – ick wär' en unglücklich Froo!«

96 Na, das Gejammer war schrecklich, und einzig nur mein Vater überlegte es sich und handelte, trotzdem er am meisten verlor durch mein Weggehen: meine Hilfe in seinem Geschäft. Er setzte sich den »Sündagshoot« auf, nahm meine beiden Zeichnungen in die Hand und ging mit mir den schweren Weg eines Bittenden, um reiche kunstliebende Leute für mich zu interessieren. Und nach manch abschlägigem Bescheid, vielleicht nach mancher Demütigung, um die ich dem alten Mann noch heute zuweilen verstohlen und dankbar sein »grises Hor« streichele, erlangte er, daß man mir ein Stipendium gab für drei Jahre des Studiums in Dresden, und da es bitterwenig war, so fanden sich noch ein paar mitleidige Seelen, die sich für mehrere Jahre zu einem kleinen bestimmten Zuschuß verpflichteten.

Viel war's nicht, meine Gnädige. Herrgott, ich begreife jetzt manchmal nicht, wie ich damit durchgekommen bin, aber damals, in meinem Glückstaumel, schien mir die Summe unsagbar großartig und einen beseligteren Menschen mag es zu jener Zeit schwerlich in ganz A . . ., und H . . . dazu, gegeben haben wie mich. Ich schämte mich ordentlich, Korl Lorensen diesen Sieg mitzuteilen, jedenfalls tat ich es so schonend als möglich; es war auf dem Spaziergang am folgenden Tage.

»Je, Korl, ick gah nu aber wirklich na Dresden,« begann ich.

Er blieb stehen und sah mich mit seinen blauen Sehnsuchtsaugen an. »Du geihst na Dresden?« fragte er, »wiß un wohrhaftig, Albert?«

»Ja! Na, en büschen benaut is mi ja nu doch woll,« log ich, um ihn nicht zu sehr zu betrüben.

»O, ick gah mit, Albert, ick gah mit!«

97 »Korl, min leewe gode Korl, dorto is 'n groten Geldbüdel nödig.«

»Je, Albert, hest du em denn?«

»Ja, Korl, min Oll, de hett jawoll wat opdrewen.«

»Ick gah to min Patin, Albert, se mutt un – se mutt mi Maler studeeren laten.«

»Je, hest du denn ne rike Patin, Korl?«

»Ja, wat de Froo Senator Sonnebohm is in H . . . Vör de hett min Mudder wat snidert, un nahsten hett se bi mi Paten stahn.«

»Denn gah man tau, vör wat sünd de Patens in de Welt,« ermunterte ich.

»Glick – meenst du, Albert?«

»Ja, Korl. Ick reis' in veertein Dag na Dresden, un wer weet, ob de oll Madam sick nich en büschen besinnt, eh se na ehrn Geldbüdel grippt.«

»Denn man glick, Albert, kumm mit bit an de Dör, se wohnt am Börsenplatz.«

Und so wanderten wir denn stumm, das Herz voll Hoffnung, nach H . . . und nach dem Börsenplatz. Am Hause verabschiedete sich Korl Lorensen von mir und zog die Klingel. Ich sollte doch hier ein büschen täuwen, meinte er. Ich wartete denn auch getreulich, aber es dauerte gar nicht lange, da kam er wieder mit ganz niedergeschlagener Miene.

»So'n Unglück,« sagte er, »nu is de oll Madam grad gistern storben – je, nu weit ick nix mehr, Albert!« setzte er hoffnungslos hinzu.

Still kamen wir zu Hause an, und still ging jeder von uns in seine Wohnung, Korl Lorensen, um zu weinen, ich, um mich zu freuen, allerdings nicht ohne mitleidig an den armen Jungen zu denken. Armer Korl Lorensen!

Als Eduard Heß an demselben Abend noch hörte, daß ich nach Dresden ginge und sogar ein »büschen« Talent haben sollte, kam der gemiedene, verhöhnte, sonst so menschenscheue Geselle, 98 wie von einem Magnet angezogen, zu uns herüber und geradeswegs in die Wohnstube hinein, was bisher noch nie geschehen war. Meine Mutter erschrak so, daß sie den Schlucken bekam, als er da so plötzlich stand in seinem »verdreihten Uptog«, der mit den Jahren so unansehnlich und fadenscheinig geworden war und den er doch nicht ablegte in seinem Künstlerwahn. Sein langes Haar war gebleicht und stark gelichtet, der Henriquatre struppig und ungepflegt, und auf dem Gesicht des mächtig erregten, entschieden geisteskranken Mannes flackerte eine unnatürliche Röte.

»Mein Sohn,« begann er feierlich mit seinem tiefen Organ, »ich höre, du gehst nach Dresden – ich will dich nicht ziehen lassen, ohne dich gewarnt zu haben vor den Klippen und Gefahren, die dir dort drohen, damit du nicht erlebst, was ich erleben mußte – verkannt, verhöhnt, verspottet, verstoßen zu werden! Ach, Madam Seeberg, ermahnen Sie Ihren Sohn –« und nun trat er auf meine Mutter zu mit ausgebreiteten Armen, wobei ihm der »Wahnsinnsmantel« entglitt und er in einer schier unmöglichen Toilette vor der sehr »schenierlichen« Frau stand, worüber sie, ganz »ut de Tüüt«, zu schreien anfing und zu entfliehen suchte, während mein Vater, in der Meinung, es sei Feuer, aus der Arbeitsstube nebenan mit allen Zeichen des Entsetzens gestürzt kam.

Eduard Heß aber redete und schrie und gestikulierte und ließ sich durch nichts beruhigen. Es war unzusammenhängendes, wahnsinniges Zeug, was er hervorsprudelte, und es blieb meinem Vater nichts übrig, als einen Konstabler heraufzuwinken und mit dessen Hilfe den armen Menschen, nicht etwa in seine Wohnung, sondern nach dem Krankenhause zu schaffen.

»Sie werden alle sagen, du seist ein Pfuscher, mein Sohn,« schrie er noch von unten herauf, »du habest keinen Funken von Talent – werden sie sagen! Neid ist's, Bosheit ist's! Glaub's nicht, es geht dir sonst wie dem Eduard Heß, dem großen, verkannten Eduard He– Heß– –!«

Am Abend schlich ich hinüber zu Korl Lorensen. Er saß im »Atalihr« – jetzt schrieb er das Wort aber richtig, dank seiner 99 fortgesetzten Bemühungen sich zu bilden – und starrte die Skizzen an, die verstaubt und vergilbt an den Wänden hingen. Als er mich erblickte, stand er auf und gab mir die Hand: »Je, Albert, nu is dat so wid mit em – nu is he fort.«

»I, Korl, dat kann noch allens good swarn.«

»Nee, nee, Albert, de Doktor seggt, he is unheilbar, dat is Größenwahn, seggt he.«

»Weerst du im Spittel, Korl?«

»Ja, aber to seihen heff'k em nich krigt, un se bringen em morgen int Dullhaus. He meent je nu woll, he is Raffael sülben und hett de Sixtinische Madonna malt, so vertellte mi de Dokter. Ja, Albert, dat's doch ock man bloß so mit de Kunst, ick will man leewer bi Maadsen bliewen, dat's beter för mi, 's künnt sünst ook so'n End nehmen, mi is, als wär ick ock all dull.«

»I nee, Korl, du mußt nich de Flint so gau in't Korn smiten. Hest nich noch ein Pat, Korl?«

»Ja, Hinrich Berendsen, aber de hett sülber kein Schilling.«

»Hinrich Berendsen, de Schlafbaas

Korl nickte.

»Ja, da hast du recht, de hett nix.«

»Kein Sösling, Albert.«

»Wenn ick man helpen künnt, Korl.«

100 »Nee, du kannst nich, aber ich dank di veelmal, Albert: ick hew kein Glück.«

Der arme Jung' ließ mich zu keiner rechten Freude kommen, und ich hätte mich doch wirklich freuen können, denn auch meine Mutter war, unter bitteren Tränen zwar und mit vielen »o Gott, o Gott, o Gott!« doch emsig bemüht, mir eine kleine Ausstattung für die Fremde zu beschaffen. Sie ließ nicht etwa den »Snider« kommen und mir großherrlich Maß nehmen zu einem »püken« Anzug – o leewe Gott, nee – sie saß da und trennte den abgelegten Bürgerwehrrock von meinem guten Vater auseinander und wendete ihn höchst eigenhändig »up de anner Sid«, wo er noch ganz »nüdlich utsah«. Die Ärmel waren freilich zu kurz, aber dafür wußte Mutter Rat, indem sie ein paar »Upschläg« daran setzte »ut Sannft« von einem Spenzer meiner seligen Großmutter: en bütten rostig war er schon, aber mit Hilfe von etwas sauber und vorsichtig aufgebürsteter Tinte bemerkte man das gar nicht. Eine Weste ward ebenfalls umgewandt, un Mudder spendeerte nije Knöpp' dran; aber als alles so weit fertig war, fing der Kummer eigentlich erst an.

»Ja, de Büx, Vadder, de Jung mutt doch en nije Büx hewen.«

Vadder kratzt sich achter de Ohren und Mudder geiht ünner Seufzer un Tränen an ehr Sekretär und holt ehr lütte Sparbüß un nimmt twee Hamborger Duppelmark rut un seggt: »Dat Tüch kann ick allenfalls köpen, aber ick mutt sülben snidern.«

»Min leewe Deern,« sagt Vater benaut, »du kannst doch keen Büx snidern!«

»Min leewe Mudder, du kannst doch als Froo keen Büx maken,« wende ich beängstigt ein und denke bei mir, wo dat woll utfallt?

Aber de olle goode Froo let sick nich irren. Als annern Dags Madam Mackens kam mit ehr Packen op den Puckel, wo allerhand Tüch un Bänner in waren, köfft min Mudder die nödige Anzahl Ellen Buckskin und snackt dabi 'n Strehmel mit de 101 Olsch, wat dat woll haltbar wär, un denn smit se dat Tüg op den Disch und seggt: »So, Kinners, nu kann't ja woll losgohn; vörerst mutt ick aber 'n Munster hewen.«

Un nu bringt min Swester Agnes en olle Büx von mi, un de b'reit Mudder op den Disch ut. Danach snid se erst 'n Munster in Poppier, man blot en büschen vülliger, denn ick war da längst rutwussen. Un denn snid se bannig forsch in dat Tüch, dat min ollem Vadder de Ogen övergahn ob ehrn Maud.

»Mudder,« sagte er koppschüttelnd, »da achterwarts kümmt mi de Büx höllisch small vör.«

»O Gott bewohr,« röpt Mudder, »ick kenn em doch, he hett ja gar kein Achtergestell, de dumme Jung.«

Un nu word probeerenshalber tosamenneiht, un as ick se antreck, is dat Ding richtig veel to eng un ick kann mi man mit Mäuh un Nood dat Hulen unnerdrücken.

»Süh, süh!« seggt Vadder un geiht so um mi herum mit grote Ogen, »ick hew dat all bi't Tosniden markt – süh, süh, wat nu?«

102 Müdder aber, de ümmer ehr Kontenanz un ehr Plü wahrt hatt, ock in de slimmste Lebenslag, Mudder seggt: »Schadt em nich, dor sett ick en Kiel in.«

»Mudder, ick bitt di, snid den Kiel man breed gnog,« barmt min Vadder.

»Ja, mack du man, dat du ut de Stuv kümmst, ick will sacht allein de Büx farig kriegen.« Und dann nähte sie den Keil ein und probierte wieder. Gottverdori! De Kiel is noch ümmer to eng för dat Achtergestell! Nu word Vadder bannig dull un de Swester wunnerwerkt un jankt doröver un will em begöschen wegen de »mallörte Büx«, wie ich voll Ingrimm das Unglücksstück heimlich nenne. Abers Mudder seggt mit noch verstärkter Kontenanz: »Dann mut dor noch en Kiel insett warn.« Un so deed se, und als de Büx nu passend wor, sed min Mutter to Vadder: »Seeberg, plätten muttst du se, dat is for mi to swar, darto langt mine Kraft nich, abers vorher muttst du se insprengen.« Vadder nahm also den Mund vull Water und Swester Agnes hol em de Büx hen, einmal rechts un einmal links, un Vadder prustet se an mit sin Mund voll Water as en gelernten Tapzier, und danach wurden de Nähte ausgebügelt, und dann war das Wunderwerk fertig und zwar ein ganz apartes Stück geworden. Und wenn es Mode gewesen wäre, ein Paar Büxen zu benennen, dann hätten sie Eduardo heißen müssen, denn »verballeriert« waren sie jedenfalls. – –

Na, am elften April sollt' ich reisen, und den Sonntag vorher hatte ich mich nochmal mit Korl Lorensen verabredet zum Spazierengehen. Der arme Jung sollte auch Mittag bei uns essen, hatte Mutter gesagt, denn erstens saß er da ganz allein mit der ollen fünschen Madam Sörrensen im Hinterhaus – sein Pflegevater war ja ins »Dullhaus« gebracht – und zweitens war er doch mein Freund, drittens endlich sollte dies in unserem Hause seine Henkersmahlzeit sein, denn meine Mutter war gewillt, die 103 Beziehungen zu Korl Lorensen nach meiner Abreise nicht weiter zu kultivieren, »wil dat er en ollen Dröhnbartel was, un se heel nich wüßt, wat se mit em snacken künn, wenn ick nich mehr bi was.«

Korl Lorensen kam also richtig die Treppe herauf gepoltert, aber gar nicht zum Wiedererkennen. Strahlend vor innerer Seligkeit, zog er mich, nach flüchtiger Begrüßung meiner Eltern und Schwester, aus der Stube und, mich mit zitternden Händen am Ärmel packend, flüsterte er mir auf der halbdunklen Diele ins Ohr: »Du, Albert, ick gah mit di, ick hew nu dat Geld. – Albert, ick bin noch ganz beswiemt von all dat Gedraehn bi 'n Herrn Kurator.«

»Wer gibt's dir denn, Korl?« frage ich atemlos und fasse ihn rundum vor Freude.

»O Gott, o Gott, Albert, denk man, dee Froo Senator het mi in ehr Testament insett, mit dreihunnert Daler het se mi insett, und dat langt för drei Johr, un ick hew zu die Herrn Kurators seggt, wozu ich's will, und hab ihnen ein paar Zeichnungen von mir gewiesen, un da haben sie gelächelt un gemeint: ›Na, des Menschen Will is sin Himmelrik.‹ Un nu, Albert, könnt wir tausamen reisen, denn Eduard Heß darf nix mehr seggen, weil er seinen Verstand verloren hat und meint, daß er Raffael is.«

Das war denn nun ein großes Freuen für uns beide, obgleich meine Mutter da gleich 'nen Eimer kalt Wasser drauf goß, indem sie sagte, er hätt's man lieber auf die Bank tragen sollen und Zins auf Zins legen, dann hett's später 'mal zum Anfang 104 von en nüdlichen kleinen Dischlerei gelangt. Und mein Vater meinte: »Was willst du denn machen mit hundert Taler fürs Jahr, Korl Lorensen? Du kannst dich ja nicht 'mal satt essen an Kantüffeln?« – Aber Korl meinte, es sei so viel, da könnte er noch sparen.

Am Nachmittag gingen wir zusammen spazieren, er in seinem ausgewachsenen Konfirmationsrock, aus dem die roten Hände so groß und frech hervorsahen, mit seinem abgeschabten Hut über den jungen blauen Augen, die so begeistert in die Zukunft blickten, daß sie über seine sonstige Häßlichkeit einen fast verklärenden Schimmer gossen, und ich in meinem Anzug von Mutters Gnaden mit der »verballerierten« Büx, beide Arm in Arm, die Herzen voll stolzer Zukunftsgedanken, seliger Jugendschwärmerei. Die Leute, denen wir begegneten, lächelten, wir bemerkten es kaum. Wir gingen an dem Strom hin, nach der Vorstadt zu. In den Gärten der vornehmen reichen Leute sproßte das erste Grün, auf den Wellen des Flusses blitzten Sonnengoldfunken und die weißen Segel glitten darüber hin wie Riesenschwäne, die sich zum trunkenen Flug in die Lüfte schwingen wollten, um ein Jubellied zu singen. Wir wanderten bis da hinaus, wo die Villen aufhören und die Wege einsam sich hinziehen zwischen Wiesen und Wasser. Die Spreen lockten auf den Erlen, und von dem großen Restaurant herüber klang Musik. So festlich war die Welt, so wunderbar prächtig; und weit, weit da hinten, 105 stromaufwärts, da liegt eine große Stadt, in der die Kunst wohnt, in der Raffaels Madonna zu schauen ist.

»Dahin gaht wi to allererst, Albert,« sagte Korl, »in de Billergalerie to de Madonna. Eduard Heß säd noch letzt –«

»Lat mi mit din Unkel Eduard,« unterbrach ich ihn. »Ick will en wohrhaftiger Künstler warn un kein Schillerkleckser.«

»Ja, natörlich, Albert,« stimmte Korl zu, »wi wöölt ernsthaftig studieren. Unkel hett am End doch nich so recht –«

»Denn sin Kunst satt in sin Wahnsinnsmantel,« meinte ich verächtlich.

»Ja, Albert, ick denk man, he hett öberstudeert, un hier baben is bi em wat nicht richtig, aber he kann da nix vör, Albert. Un sin Farbens un Pinsels nehm ick mit mi.«

»Ja, wi kommt noch lang' nich an de Farbens, Korl. Min Swager seggt, bannig veel zeichnen müßten wi, ümmer bannig zeichnen in de Erst.«

»Nu lick mal eins, Albert, wenn wi so wat erst malen künnten,« meinte Korl Lorensen, und er zeigte auf die glatte Flut vor uns, die vom Abendhimmel schwach rosig getönt war. Weiter vor spannte sich die prächtige Brücke darüber im leichten Dunst des Lenzabends, und dahinter, zart verschleiert, erschienen die Türme von St. Katharinen und St. Petri und die stolzen Paläste der reichen Kaufherren. Die bereits angezündeten Laternen ließen die bläuliche Färbung der Luft noch intensiver erscheinen, und wie goldene zitternde Brücken lag ihr Widerschein auf dem Wasser.

»Ja, so wat much ick, min Vaderstadt much ick malen, Albert,« setzte er nach einer Pause hinzu.

»Un denn da in aufgehängt worden, Korl – in die Kunsthalle,« ergänzte ich und wies hinüber zu dem im griechischen Stile erbauten Hause, das H . . . s Bilderschätze barg, »un wann min Mudder da 'mal in geiht, un 's hängt da so 'n recht schönes Bild un 's segt einer to ehr: ›Ja, Madam Seeberg, wat kann abers Ehr Albert schön malen‹, – ja, das möcht' ich erleben, Korl.«

106 »Ick hew kein Ein, de sick freuen kann,« meinte Korl traurig.

»Da kann sick abers immer noch Ein finden, Korl, ton Bispill dine tokünftige Brut?«

»O Gott, o Gott!« sagte Korl, und seine Augen wurden noch weiter und strahlender, »ja, Albert, hest recht, wat kann mi noch alles för Glück passeeren. Ja, 'ne Brut, ja ick much woll ein – un süh, Albert, dat wär denn min alles, de lütte Deern; ick hew ja keen Minschen sünst, un – –«

»Se kreg den ganzen Pack von Leew, de in din Hart opstapelt is, so mit eins,« vollendete ich, »so veel Leew, dat se gor nich weit, wohen dermit.«

»Ja, so hew ick grad dacht. Ja, min Brut, Herr Gott, wo würd ick min Brut leew hewen!«

»Korl, komme zu dir,« sagte ich, ihn aus seinen Zukunftsträumen weckend. »Wer weit, wo de Brut nu is, wat se ganz und gar schon op de Welt umher löppt. Spar man noch din Braß von Leew un lern erst wat, dat du se achters ernähren kannst.«

»Ja abers, wenn ick ehr all kenn, oder se bald drapen ded, als ton Beispiel – –«

»Schafskopp,« unterbrach ich ihn, »so, as du da bist, nimmt di kein; erst mußt en Künstler warn un en püken Keerl!«

»Wenn se mi so nich will, denn mag ick ehr ock nacher nich, Albert. Un sühst du, du hest din Öllern un din Swestern, un ick hev mannigmal so'n Heimweh na 'nen Hart, dat mi hört.«

Und da wir grad unter einer Gaslaterne angelangt waren, sah ich Korl Lorensen an und sah seine Augen noch einmal so weit und sehnsüchtig in die Ferne gerichtet und auf seinem breiten Gesicht, das einen leidenschaftlich schmerzlichen Ausdruck trug, ein paar große Tränen.

»Herrje, Korl,« sagte ich erschreckt, »du hast woll gar all Een? Du schinst mi bannig verleewt!«

Aber er antwortete nicht, und schweigend kamen wir zu Hause an und trennten uns mit stummem Händedruck.

Ob he Ein hätt? Das ging mir während der letzten Tage unseres Aufenthalts daheim immer im Kopf herum. Aber, mein 107 Gott, welche kleine Deern denn? Ich kannte doch so ziemlich alle Personen, mit denen Korl verkehrte, und wußte, daß keine Frauensleute dabei waren, außer die oll Madam Sörrensen.

Der Abend vor unsrer Abreise sollte mir aber Aufklärung bringen. Ich traf nämlich Korl Lorensen in einem neuen Hut, sehr pük, ganz unvermutet vor unserer Haustür; in der Hand hielt er einen kleinen Veilchenstrauß. Er wurde so rot wie ein »kakter Hummer« als er mich sah.

»Wohen denn, Korl?« fragte ich.

»O, man da schrög över, to Bäcker Dobbers – Adjüs to seggen.«

»Kennst du denn de Madam Dobbers näher?« fragte ich.

Ja; er hätte doch jeden Morgen, schon als kleines Gör, die Rundstücke und Tweebacks da köfft, und die Bäckerfroo wär' immer freundlich zu ihm gewesen.

»Ja, komm Korl, ick gah mi di, kann da egentlich ock Adjüs seggen. 's is wohr, överall hew ick's dahin, bi Discher Maadsen un Madam Sörrensen, bi uns' Huuswarth un annere Nawers, warum nich bi Bäcker Dobbers?« –

Korl sagte nichts, aber er sah ein wenig verstimmt aus, was ich mir erst gar nicht erklären konnte. Als wir in den Laden kamen, stand Madam Dobbers da, sehr stur und stattlich, mit einem witten Platen vor, wie eine von ihren schön aufgegangenen Paschsemmeln, hinter dem Verkaufstisch, und als wir erklärten, wir wären nur gekommen, um ihr Lebewohl zu sagen, antwortete sie, ohne eine Miene zu verziehen, das sei ja 'ne groote Ehr', und sie wünschte uns viel Glück zu unserm Vorhaben.

In der Türe, die zur Wohnstube führte, erschien eben die schlanke Gestalt eines noch ganz kindlichen Mädchens, dessen brünettes reizendes Gesicht über und über lachte, daß die Zähne nur so blitzten und in den rosigen Wangen zwei tiefe Grübchen sich zeigten.

108 »O, was süße Veilchen!« rief sie, als Korl ihr unbeholfen sein Sträußchen hinhielt, »viel Dank auch, Herr Lorensen. Und vergessen Sie man nich, daß Sie mich abmalen wollen, wenn Sie wiederkommen.«

»Nein,« sagte Korl mit einer fast heiseren Stimme und verdächtig schimmernden Augen, »das vergesse ich nich, Fräulein Dobbers.«

»O, wie werd' ich Sie vermissen, Herr Lorensen, wenn ich Morgens die Ladens nich aufkriege.«

»Dummes Gör!« schalt Madame Dobbers, »als ob hier kein Ein wär, der dir die Ladens aufmacht.«

Das Mädchen schwieg und lächelte Korl noch immer an; so ein rechtes übermütiges Lächeln war's, das die zwei tiefen Grübchen nur noch reizender machte. Und Korl sah so blaß aus und so ernst und schluckte ein paarmal ganz komisch, als wollte er etwas sagen, und konnte doch nicht.

»Adieu, Pine Dobbers,« kam es endlich von seinen Lippen und seine große Hand streckte sich dem Mädchen entgegen.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, Herr Lorensen! Wie lange bleiben Sie denn aus?« fragte sie.

Er hielt ihre Hand noch immer, und die Augen groß auf sie heftend, sagte er langsam, jedes Wort betonend: »Drei Johr bliew ick ut, Pine Dobbers.«

Sie erschrak ein wenig vor diesem feierlichen Ernst seines Wesens. »Drei Jahre?« wiederholte sie.

»Zeit genug, daß aus dummen Gören vornünftige Deerns werden,« erklärte Madam Dobbers trocken. »Adjüs, Herr 111 Seeberg, adjüs, Herr Lorensen, kamen's gesund na Huus, un wat Ehr leewe Mudder is, Herr Seeberg, an de bitt ick ock en Komplement von mi to bestellen.«

Und damit hatte sie uns die Hand geschüttelt und wir standen plötzlich draußen auf der Straße, und ich starrte Korl Lorensen ganz vorbast an: »Nu segg mi mal, Korl – –«

Aber er wandte den Kopf weg.

»Du bist wohrhaftig dull verleewt, Korl?«

Keine Antwort.

Dann sagte ich nach einer Pause: »Je, ick hew se ja gar nich weddersehen, tid se ut de Flensborger Panschon torück keem; wat en söte lütte Deern is se worn! Wo old mog se denn sin, Korl?«

»O, söstein,« sagte Korl.

»Un du?«

»Ick bin negentein un en half.«

»Herrje ja! Un nu – wat sallt denn dat bedüden mit di un de lüttje Deern?«

»Nix, Albert, gar nix. Ick hew ehr man in letzter Tid Morgens ümmer de Ladens opslagen, weil dat de Bäckergesell nich glick bi de Hand wär, und weil dat se ümmer, tid se ut de School is, ehr Mutter Posten verwalten mutt in Laden Klock sös, denn de is man swach un Pine mutt dat Finbrod vorköpen.«

»Da täuwst du nu woll en lütten tidiger, eh de Gesell to helpen kümmt?«

»Ja, da täuw ick en büschen op de Straat,« gab er zu.

Süh! Süh! Korl Lorensen, dachte ich, ist's möglich, hast all so wat in Kopp? Un ick, de ick anderthalb Jahr öller bin as du, hew noch mit kein ein Gedanken an 'n lütte Deern dacht. »Ja, Korl, nu wat denkst du di nu dabi?«

»Gor nix, Albert,« versicherte er noch einmal. »Good Nacht, ick mutt slapen, ick sall morgen fröh mit klaren Ogen in de Welt kieken.«

»Na, Good Nacht, Korl, also op 'n Banhof um Klock achten.«

»Op 'n Banhof um Klock achten,« wiederholte er, »Good Nacht!«

112 Ob Korl geschlafen hat, weiß ich nicht: ich tat jedenfalls kein Auge zu, und als ich so zwischen fünf und sechs Uhr früh aufstand, müde und zerschlagen vom Abschiedsweh, Reisefieber und von unbestimmter freudiger Erwartung, da blieb mein Auge, das aus dem Fenster schweifte, zufällig an Bäcker Dobbers' Hause hängen, und richtig, da stand Korl Lorensen und half Pine Dobbers zum letzten Male die Läden aufschlagen, und als er damit fertig ist – sie hat derweil in der Ladentür gestanden und zugeschaut– winkt sie ihn ins Haus hinein, und dann sind alle beide auf der Diele verschwunden.

»Verdori!« sage ich vor mich hin, »so 'n Slef, so 'n bannig dummer Jung und – so 'n Glück! Kiek de Pine Dobbers, un wat de lütte Deern nüdlich warn is! Wie kommt die Rose to 'n Liemputt?« Denn für mehr als einen guten, herzensguten Menschen und ganz brauchbaren Tischlergesellen hielt ich ihn trotz seiner Künstlerideen 113 damals nicht; ich dachte immer, er wäre man bloß anstecken von sin Onkel Eduard.

Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder herauskam aus dem Bäckerhause und über den Markt schlich, mit so 'n bißchen torkeligem Gang wie ein Betrunkener. Eine ganz lasterhafte Neugier plagte mich, zu erfahren, ob die söte Deern dem plumpen Gesellen wirklich ehr lütte Snut zum Abschiedskuß geboten habe. Na, ich habe alles erfahren, aber erst viel später.

Damals fuhr er, verschlossen wie ein Buch mit sieben Siegeln, neben mir in die Fremde, und während mir die Augen von den Abschiedstränen brannten, blieben die seinen trocken. Er starrte nur durch das Coupéfenster in die Heidelandschaft hinaus, und einmal, als er dachte, ich schliefe, zog er ein kleines unscheinbares Notizbuch aus der Tasche und nahm etwas heraus, das er eine ganze Weile hindurch liebevoll betrachtete, um es verstohlen an die Lippen zu drücken, wobei er stark errötete, und es dann wieder verbarg.

Auch dieses Notizbuch und den kleinen Gegenstand habe ich später in Händen gehalten. Damals, als ich es zuerst erblickte, unterdrückte ich nur mit Mühe ein Lachen über die unbeholfene Art des Verliebten; als ich es später, zuletzt, in der Hand hielt, bedurfte ich aller meiner Kraft, um nicht in lautes Weinen auszubrechen. –

Nach beinahe zwölfstündiger Fahrt langten wir in Dresden an.

Ja, nun könnte ich Ihnen da ein langes Lied vorsingen, meine Gnädige, von Künstlers Erdenwallen, von Entbehrungen, wie sie härter kaum ein paar junge Menschen, und doch auch vielleicht nie heiteren und besseren Mutes, getragen. Ich darf Ihnen ja nur unser erstes Logis beschreiben, um Ihnen einen Begriff zu geben von dem Komfort, der uns empfing, den wir uns gestatten konnten. Und dabei befand ich mich, dank meiner Stipendien, noch grad zweimal so gut wie Korl.

Wir wohnten da bei einer Witwe, Frau Micheln, die in einer Vorstadtstraße zwei Stuben innehatte, eine für sich und ihre beiden kleinen Mädchen, die andere zum Vermieten. Die erstere Stube galt als Wohnraum, und dort wurde auch gespeist; 114 die Lagerstätten waren tagsüber verschwunden, Gott weiß, wohin. In unserer Kammer standen drei Betten; ein Schmiedegesell schlief da mit uns, den wir aber nie zu sehen bekamen, denn Abends, wenn wir uns zur Ruhe verfügten, schnarchte er bereits, und wenn er Morgens aufstand, schnarchten wir noch. Das Menü bestand unzweifelhaft aus auf verschiedene Art zubereitetem Pferdefleisch, denn Beefsteaks hätte uns Frau Micheln ja wohl für unsere Zahlung nicht liefern können. Nun, geschmeckt hat es uns ausgezeichnet, denn der beste Koch hatte es gewürzt, der Hunger.

Unten im Hause war in der Woche ein paarmal Tanzmusik, die uns aber auch nicht störte im Schlaf und Behagen. Ein Tropfen Bier kam nie über unsere Lippen; der einzige Leckerbissen, den wir uns, aber nur Sonntags, gönnten, war ein Stück Käsekuchen für fünf Pfennige. Ich leistete mir zuweilen zwei Stück, aber Korl verzehrte höchstens eins, und das nur selten. Wollte ich dann großmütig sein und ihm ein Stück spendieren, so nahm er es übel. Der große, robuste Mensch hungerte mit einer Seelengröße, die eines antiken Helden würdig gewesen wäre. Mager wurde er dabei; aber das kleidete ihn gut, und ich dachte oft, Pine Dobbers würde sich freuen, wenn sie ihn so sähe, so gleichsam verfeinert und verschönert durch Hunger und Arbeit. –

Ja, die Arbeit, unser Studeeren! Herr Gott, wie wir geschuftet haben in der Unterklasse der Akademie, und was Korl Lorensen für Zeichen eines ungeahnten entschiedenen Talents von sich gab bei seinem Gipszeichnen! Und dann die heimlichen Bummelgänge in der Umgegend mit den Skizzenbüchern, bei denen wir wahrlich nicht das Wenigste lernten, und das Schwärmen in der Galerie, das Seufzen: wie weit noch der Weg bis zum Können! Wie weit und mühsam! Und dann, wie wir beide plötzlich anbetend zu Ludwig Richters Füßen saßen! – Damals lernte ich meinen späteren Schwager kennen, einen tüchtigen Maler, der sich meiner wohlwollend annahm und mich freundlich mit hinüberzog in den Kreis seiner Familie. Für mich war en büschen Gemütlichkeit Winterabends unter der Lampe am runden Tisch 115 geradezu ein Lebensbedürfnis, bin ich doch dabei aufgewachsen; aber Korl Lorensen vermißte das nicht, er wies mich sogar schnöde und schroff ab, als ich ihm sagte, daß mein neugewonnener Freund auch ihn einführen wolle bei seiner Frau und seinen Schwiegereltern. Er saß bei der winzigen, schlecht brennenden Lampe und schrieb und zeichnete, wenn ich fortging, und saß noch ebenso da, wenn ich zurückkehrte, halb erfroren und jedenfalls nicht gesättigt, nur seine Augen, die strahlten immer.

»Hest woll an Pine Dobbers schreeben?« neckte ich ihn zuweilen, aber er schüttelte dann jedesmal ernsthaft den Kopf: »Worüm sall ick ehr schrieben? Ick hew ehr nix to schrieben.«

Als das zweite Weihnachtsfest näher kam, da packte mich eine große Sehnsucht nach der Heimat, nach mine ollen leewen Öllern, na mine Swestern, na uns' Wahnstuv und na de Vaderstadt. Ich meinte, ich würde es nicht aushalten, wenn ich nicht hätt' ein bißchen zum Dom gehen können nach H . . ., und Winachnabend Karpen essen und braune Kuchen mit den Meinen.

»Verdoria, Korl, ick holt nit ut, ick fahr veerte Klaß, aber hen mutt ick un wenn min Oller düller ward as dull.«

Korl sah nicht auf von seinem Blatte, an dem er zeichnete, und blieb stumm.

»Kannst nich mitkommen, Korl?«

»Nee, Albert.«

»Schad! – Harrst bi uns wohnen un slaapen kunnt, un eeten ock bi uns, hier möötst du ock leeben.«

»Ne, Albert, ick kann nich.«

116 »Denn amüsier di hier so good as angeiht. Ick reis.«

Und ich reiste wirtlich. Am Abend vorher, als wir schlafen gingen – der Schmiedegeselle schnarchte schon – legte Korl Lorensen mir plötzlich seine Hand auf die Schulter.

»Albert, ick hew en Bitt. Wann du so ganz tofällig mal in Dobbers' Laden kummst un lütt Pine is dorinnen, gröt se von mi un segg ehr, mi ging dat good; un wenn oll Mudder Dobbers grad nich bi is, giv er dat.« Er hielt mir ein kleines Päckchen hin mit der zitternden Rechten und sah dabei dunkelrot aus. »Willst auch woll, Albert?«

»Ja, Korl, wat en Frag! Natürlich will ick. Un nu segg doch man drist, se is din Leewste, wat deist du denn so heimlich dormit, wi sünd doch olle Frünn?«

»Je, Albert, se hett mi ja verbaden, ick sall davon nich snacken, un nu swig man heil still, Albert, doo mi de Leew. Wenn allens in de Richt is, vortell ick di den ganzen Stremel.«

»Na good, min olle Jung, dann giv man her den Leewsbreef, ick will em woll bestellen. Ob ick von din Leewsgeschichten weet oder nich – de Hauptsaak is, dat de Deern di good is un di treu bliwt.«

Er sah mich an statt einer Antwort, und da lag so allerhand in seinen Augen – Zorn, weil ich zu zweifeln wagte an dem geliebten Mädchen, und zugleich ein stummes Zugeständnis, daß auch er sich verzehre in Zweifel und Bangen, und so eine heiße schweigende Sehnsucht.

»Korl, Korl,« sagte ich mitleidig, »ick wull, de Deern wär' di erst in 'n paar Jahren för Ogen kamen; se zehrt an di un makt di elend, wo du doch die Kraft un Besinnung so nödig hest för din Studium.«

»Nee, Albert,« erwiderte er, »ahn den Gedanken an ehr – nee, se allein helpt mi över dit Hungerleben.«

Er brachte mich am anderen Morgen auf den Bahnhof, und ich meine noch immer seine Augen zu sehen, mit denen er mir nachschaute, so voll brennender Sehnsucht und Traurigkeit.


119 Ja, Winachn to Huus! Ich brauch's nicht zu beschreiben. Wer jemals aus der Fremde heimgereist ist zu diesem Freudenfest, wer je ünnern Dannenboom seten hett mit Öllern un Geswistern un gestrakt un geküßt un verhätschelt worden is, wem Mudder de beßten Stück op den Toller legt hatt, den Karpenkopp un de Gauskülen, un em en ollen leewen Jungen nennt hatt – der weiß es, wie wunderschön es tut, aber ich bin ja nicht die Hauptperson, das ist vielmehr mein oll Korl Lorensen.

Am Tag vor dem Fest ging ich in aller Morgenfrühe über den Markt und wartete, bis der Bäckerladen geöffnet wurde und Pine Dobbers ihr Feinbrot und Rosinenklöben und Winachskauken verkaufen würde. Es dauerte denn auch nicht lange, da kam ein Bäckergesell heraus, flötete irgend ein Lied in die kalte Luft hinaus und schlug die Läden zurück, und richtig – durch die Scheiben sah ich Pine Dobbers im erleuchteten Gewölbe stehen, propper as ne widde Duw, und auf ihre Kunden warten. Der große schlanke Mensch ging wieder ins Haus, und nun wollte ich rasch hinterher, um Pine zu sprechen, denn Käufer waren noch nicht da, – der Geselle mochte jetzt in der Backstube sein und ich hatte also Hoffnung, sie allein zu finden. Aber im Begriff einzutreten, sah ich den hübschen Kerl mit turnerischer Gewandtheit über den Ladentisch springen, die lütt Pine umfassen und küssen, ja küssen, aber so hartlich und nachdrücklich: und sie hielt so still bei und lächelte ebenso spitzbübisch und mit denselben Grübchen, wie sie meinen armen Korl damals angelächelt hatte.

Mit einem Satz war ich drinnen, und auf den Tisch klopfend, jagte ich die beiden mit den Worten auseinander: »Gooden Morgen, Pine Dobbers, ick bitt veelmal um Entschuldigung, wenn ick stör, ober ick hew Il

Wie ein Blitz war der weiße Junge verschwunden, und sie starrte mich aus leichenblassem Gesicht an, zitternd und schuldbewußt.

120 »O Gott – o Gott, Herr Seeberg!« stammelte sie.

»Ja, Se warn mi woll nich vermauden, Pine Dobbers? Na, da geben's mi förn Sösling Tweebackens, denn dat, wat ick hebben wull von Se, dat is jawoll nu all utverköft?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Seeberg,« sagte sie noch immer fassungslos.

»O, ick wollt' man bloß en Gruß för meinen Freund Korl Lorensen mitnehmen un wull Se wat tostellen. Aber ick meen, Ehr Gruß, Pine Dobbers, künnt licht en büschen Nachgesmack von Mehl und Sirup hebben, un ick meen, de Breif hier von Korl Lorensen un wat sünst is in den lütten Paket, dat kann Se nich mehr interessieren. So – un nu geben's mi de Tweebackens un denn Adjüs! Un ick denk, dat Korl, so Gott will, eines Dags över lachen kann, över Se, Pine Dobbers, un Ehr groote Treue un Toverläßlichkeit. Un gröten Se Ehrn Deegappen un seggen's em, Se künt dorüm so fin küssen, wil dat Se't all vördem gründlich probeert harrn. Villicht is he en ehrlichen Jung un bedankt sich for Ehr Leew, de so is as en heel falschen Schilling. Na, gooden Morgen, Pine Dobbers –!«

Damit ging ich und hörte hinter mir nur eine heisere, mühsam den Zorn unterdrückende Männerstimme: »Deern, wat's dit? Hest mi to'n Narren hatt?«

So, Pine, dachte ich, nu fret man ut, wat du di inbrockt hest! O, min arme Korl! min arme Korl!

Das ganze Weihnachtsfest war mir verdorben, gänzlich verdorben. Ich dachte nur immer darüber nach: wie bringst du es ihm bei, daß er sein Herz an ein ganz leichtes, oberflächliches Mädchen gehängt hat? Wie bringst du es ihm bei? Er geht ja daran zu Grunde, er überlebt es nicht. Einmal nahm ich mir vor: du willst es ihm erzählen, ein andermal: du wirst ihm schreiben, dann brauchst du wenigstens seinen ersten Schmerz nicht mit anzusehen. Dann wieder schalt ich mich feige und räsonierte mir vor: Du lieber Gott, um so'ne Deern, so'n gräunes 121 Gör! Als wenn's in der großen Welt nicht noch tausend liebe süße kleine Deerns gäbe, bessere als dieser Racker mit dem Spitzbubenlächeln. Ja, wenn's nur Korl Lorensen nicht gewesen wäre, dem das passiert, Korl mit seiner vielen aufgestapelten Liebe, die alle nur für Pine Dobbers aufgehoben war – mit so viel Liebe, daß wenn sie geschmäht würde, sein eigen Herz darin ersticken mußte.

O, Korl Lorensen! O, Korl Lorensen! – –

Am Silvesterabend fuhr ich nach Dresden zurück, ungefähr mit dem Gefühl, als habe ich eine Todesnachricht zu überbringen; es war vielleicht noch Schlimmeres. –

Korl Lorensen hatte während meiner Abwesenheit unseren kleinen Umzug besorgen wollen; wir waren nämlich der Frau Micheln und unseres Schlafkameraden überdrüssig geworden, auch wohl des ewig gleichen Menüs, und hatten – sowohl Korl wie ich verdienten durch Zeichnen auf Holzstöcke für Holzschneider, was wir halbe Nächte hindurch taten – also hatten uns eine kleine Stube in besserer Gegend gemietet, vier Treppen hoch, mit schrägen Wänden zwar, aber mit einem großen Fenster nach Norden hinaus. Hier hatten wir doch wenigstens allein das Recht.

Ich ging also direkt in die A.-Straße und erkletterte die vier Treppen unseres neuen Tuskulums. Die Wirtin, eine nette alte Frau, stand auf dem Korridor an der Wasserleitung und bejahte meine Frage, ob Korl Lorensen zu Hause sei. Ich trat ein und fand alles so, wie ich mir gedacht hatte: Korl an der Arbeit bei der Lampe und das Ganze ungeheuer gemütlich. Sogar ein paar Tannenzweige steckten als Mahnung an Weihnacht und Neujahr hinter dem Spiegel über der Kommode.

Korl stand auf und kam mir entgegen. »'n Abend, Albert, wie is di gahn?«

»Good! Un di, Korl?«

»O so – dank veelmal.«

Ja, nun war der Moment da, wo ich sagen müßte: »Un se lett di veelmal gröten,« oder – leider: »Min olle leewe Korl, dat deiht mi weh, aber ick mutt di de Wahrheit vertellen 122 – de Deern is nich wert, dat du enen Gedanken an se riskeerst.« Aber ich bracht's nicht über die Lippen.

Er ging zum Ofen, um ein Kännchen mit heißem Kaffee aus der Röhre zu nehmen, und ein Stückchen Wurst und Brot waren auch da.

»Warm di, Albert; de lange Fahrt – –«

»Dank, Korl. Hest du all eten?«

»Jawoll! Jawoll!« Er setzt sich wieder an seine Arbeit; mir quillt der Bissen im Munde.

»Mine Ollen laten di gröten, Korl.«

»Dank ock; se sünd doch good to weg?«

»Ja, ja, un min Swestern ock un sünst alle, man blot din Pflegvadder, Korl, den ward se woll bald – – na, em is to gönnen. Un sünst steiht dat oll Nest noch.«

Er strichelte ruhig weiter, und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

»Ja, min Korl,« – ich zog den Brief, den er mir mitgegeben hatte, aus der Tasche, »min oll leewe Jung – –«

Da ließ er die Hand sinken, und, an mir vorübersehend, sagte er: »Lat man, Albert, ick weet all, ehr Mudder hett mi schreeben, un ick dank di ock.«

123 Er sah so leidend aus, so um Jahre gealtert, dieser kaum Zwanzigjährige, zum Erbarmen. Die sonst so strahlenden Augen matt, überwacht – was mußte er gelitten haben in diesen Tage, da er allein war! Der arme Jung!

»Korl,« stotterte ich, »nimm dir's doch nich so schwer zu Herzen – süh, dat is ja noch dat Slimmste nich.«

Er schüttelte den Kopf. »O, ick segg ja nix, Albert.«

»Wat hett se di denn schreeben, Korl?«

»O, ehr Mudder hett schreeben an mi, un di bi mi verklagt, du harrst ehr unschüllig Kind in't Gered bracht, un ehr Brütigam was nu op den Punkt, ehr sitten to laten, un Pine will jawoll ut Desperatschon int Water gahn. Un ick sall doch glick schrieben, dat gar nich wahr wär', wat du seggt hest, dat se mi küßt harr, un ick ehr. Pine harr noch ni malen lagen, un se verswört sick bi alles, wat ehr heilig is, se hett so watt mit mi nich vörhatt.«

»So, dat hett ehr Mudder schreeben?« frug ich, »nu wat hest du denn dahn bi düssen proppern Vörslag?«

»Ick hew ehr schreeben, dat ick ehr Pine niemal küßt harr.«

»Verdammi, Korl, dat sünd ja nüdliche Lägen! Hest du se nich küßt, as du dartomal Morgens Klock sös de Ladens optoslagen kamst, un se di in't Huus winken ded? Nee, Korl, dat is lagen!«

Er schwieg eine Weile, eine tiefe Röte zog über sein Gesicht, und ein wehmütiges glückliches Lächeln legte sich einen Augenblick um seinen Mund, als empfände er noch einmal den Zauber jener Stunde. »Se ward dat jawoll vergeten hewen, Albert,« sagte er nach einer langen Pause. –

»Korl,« bat ich, »doo mi den Gefallen, gräm di nich üm de Deern, üm de nich!«

»O, Albert, lat uns von ehr swigen, ick bitt di hartlich.«

Und ich schwieg davon, ich wunderte mich nur über Korls Ausdauer in der Arbeit, über seine Fortschritte und über sein Schweigen. Er sprach nur selten noch, war aber freundlich und 124 ging auf alles ein. Aber ein ganz anderer Kerl war er geworden, keine Frische, keine Straffheit, keine glänzenden Blicke mehr. Dann begann er zu klagen über Schmerzen in der linken Seite der Brust. Mitunter sprang er plötzlich auf, vor Angst wie er sagte, und hinterher lächelte er und meinte, das sei doch am Ende so übel nicht, wenn es 'mal so ganz rasch vorbei wär' mit ihm.

Und dabei das fieberhafte Schaffen – etwas wollte er doch 'mal geleistet haben. –

Es war so zu Ende des dritten Studienjahres, da stellte Korl Lorensen sein erstes Bild aus im Künstlerverein. Er kam früher dazu als ich. Zwei Tage darauf war es verkauft für vierhundert Mark. Gar nichts weiter als eine »Abendstimmung an der Elbe«, noch im letzten Schein der sinkenden Sonne, graue und rosig gemischte Töne; ein Dampfer, der weit da hinten dem Meere zufährt, flache Ufer und im Vordergrund eine einzelne Figur, ein Mann, der, vom Beschauer abgewandt, dem Schiffe nachsieht. Aber in der Haltung dieser Figur lag eine Traurigkeit, eine Sehnsucht ausgedrückt, die mir, weiß Gott, die Tränen in die Augen trieb.

»Dat 's good, Korl, good, un nu man forsch to, nu is di de Weg wiesen.«

Er nickte und drückte mir die Hand.

Einmal, nicht lange danach, kam ein Brief von meiner Mutter; sie erzählte darin unter vielem anderen, daß Pine Dobbers nun endlich Hochzeit gehabt, nachdem ihr erster Bräutigam sie hatte sitzen lassen. Sie habe sehr pük ausgesehen. Mudder un Swester waren natürlich in de Kark gahn to düssen Ereignis; und unten stand noch als Nachschrift: »Und mit Eduard Heß geht's diesmal wirklich aufs letzt, und Korl kann sich man zum Begräbnis vorbereiten, und sag ihm, er könnte bei uns auf'm Sofa slafen.«

Ich ließ den Brief offen liegen, wir hatten ja keine Geheimnisse vor einander. Zufällig kam Korl früher nach Hause als ich und las das Schreiben. Als ich eine Stunde später eintrat, saß er auf dem Sofa und klagte über Schmerz.

125 »Un ick kann un kann nich na A . . . to'n Gräwnis, Albert, ick bin krank un – överhaupt nich.«

Die Todesanzeige von Eduard Heß traf meinen Freund Korl im Krankenhause, und dann ist das alles so rasch gekommen. Die Ärzte sagten, er hätte einen Herzfehler gehabt.

Na ja, mögen sie es sagen, ich aber weiß es besser, woran er gestorben ist, an sine övergrote verschmähte Leew. Möglich, dat se em opt Hart fallen is un't uteinanner sprengt hatt.

Seine ersten selbsterworbenen vierhundert Mark haben grad für das Begräbnis gelangt; ich hätte auch nicht gewußt, wer das sonst hätte bezahlen sollen. Korl Lorensen hatt' ja kein Ein op de wide Welt as mi, un ick?, du leewe Gott! Min Stipendien wärn eben to Enn un ick hatt' noch kein Bild verköfft – – Ick gung achter sin Sarg her un rohrte as en lütten Jung. Wieder kunnt ick nix dohn för minen Fründ. –

Nach Wochen, als ich seine paar Sachen durchsah, die seiner Bestimmung nach verschenkt werden sollten, fand ich auch das kleine Notizbuch und darin den Gegenstand, den er im Bahncoupé damals so innig geküßt hatte – eine Haarsträhne von Pine Dobbers' hübschem Kopf. Auf dem blauen Bändchen, das sie zusammenknüpfte, standen mit demselben Haar gestickt die Worte: »Aus Liebe.«

Armer Korl Lorensen!

126 Ja, meine Gnädige, und nun ist die Geschichte aus. Sie hat, entgegen jeder modernen Richtung, sogar einen Schluß, einen ganz gewöhnlichen Schluß; ich wüßte wenigstens nicht, daß heutzutage der Held einer Erzählung noch an gebrochenem Herzen stirbt. Na, Korl Lorensen ist daran gestorben, glauben Sie mir's, und nun sein Sie nicht böse ob dieser langen Störung.«

»Gewiß nicht! Ich danke Ihnen sogar herzlich. Und Pine Dobbers?«

»Ja, Pine Dobbers soll eine schrecklich dicke Madame geworden sein, aber von A . . . ist sie lange weg. Was sie hinaustrieb aus dem kleinen Lädchen? – – Sie lebt in Neuyork, soviel ich weiß; ihr Mann hat eine Kakesfabrik dort. Auch der Bäckerladen ist nicht mehr vorhanden, un mine Ollen wohnen in en annern Straat un überhaupt, s'iß dat all vergeten Kram, wo schon längst Gras übergewachsen ist, wie über Eduard Heß sein Grab und über Korl Lorensen seins.«

»Schade, er hätte eines Tages malen können!«


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