W. Heimburg
Alte Liebe und anderes
W. Heimburg

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31 Großmutters Kathrin.

meiner frühesten Kindheit schon lernte ich sie kennen und hatte heillose Angst vor ihr. Sie war Großmutters Dienstmädchen zu jener Zeit, als sich dieselbe von dieser Sorte nur noch eine hielt, das heißt, als die Kinder schon alle dem heimatlichen Neste entflogen waren, der Großvater keine Forsteleven mehr drillte und die alte Dame ihren Haushalt bedeutend vereinfacht hatte. Sie erklärte, an einer sich gerade genug ärgern zu können, und die dicke Kathrin sorgte dann allerdings in diesem Punkte ausgiebig – für drei. Trotzdem aber blieb sie lange Jahre im Dienst der Großmutter, so lange, bis die alte Dame eines Tages zu ihr sagte: »Höre, Kathrin, wenn du nun aber wirklich noch heiraten willst, dann mach Ernst; übers Jahr wirst du vierzig und es könnte leicht keiner mehr kommen!«

Das schrieb sich die Dicke hinter die Ohren, und drei Wochen nach dem vierzigsten Geburtstage trat sie mit ihrem Erwählten, einem zehn Jahre jüngeren klapperdürren Schuster, vor den Altar, zum sprachlosen Erstaunen ihrer Herrin, die von dieser Verlobung keine Ahnung gehabt. Hatte doch Kathrinchen noch vier Wochen vorher einem anderen erklärten Bräutigam im Garten ihre Stelldicheins gegeben; indessen, man war ja bei Kathrin an Überraschungen in dieser Hinsicht gewöhnt.

Sie war ein Original, diese dicke Kathrin, wie es kein zweites gab, voll Fehler, sogar grober Fehler; aber eine Tugend besaß sie doch, die sie in vergangenen Zeiten zu einer Heiligen 34 gestempelt haben würde, das war eine beispiellose Treue und Aufopferungswilligkeit für ihre Herrschaft. Meine Großmutter hat noch auf dem Sterbebette der alten Dienerin gedankt für ihre hingebende treue Pflege, denn es muß leider hier gesagt sein: die dicke Kathrin hatte ihren spillerigen und tippligen Schuster binnen Jahresfrist wieder hergeben müssen. Er starb an der Schwindsucht; Großmutter aber behauptete, Kathrin habe ihn totgeärgert, denn die kurze Ehe war äußerst stürmisch gewesen; und daß der arme Mann der Unterdrückte war, das lag jedem klar zu Tage, der den Vorzug hatte, Kathrin zu kennen.

Sie kam denn also eines Tages als junge Witwe wieder in Großmutters Haus. Die alte Dame hatte inzwischen einige recht schlimme Erfahrungen gemacht mit jungen Dienstmädchen und war froh, die alte erprobte Kraft wieder zu bekommen; an ihr Wesen hatte sie sich ja mählich gewöhnt, und zu Kathrins Lob sei es gesagt: ihr Hauptfehler kam seitdem in Wegfall. Von »die dämlichen Männer« mochte sie, seit ihrem Eheglück, nichts mehr wissen; ein Leben voller Arbeit und Schinderei könnte sie auch ohne solchen tippeligen Kerl haben, danach brauchte man wirklich nicht zu freien! So äußerte sie sich wenigstens unverhohlen, und fortan blieb sie männer- und ehefeindlich.

Als die dicke Kathrin zum ersten Male in den Dienst der Großmutter trat, kam sie, wie man so sagt, frisch von der Weide; sie hatte ein wunderliches Kinderleben hinter sich, halb in zügelloser Freiheit, halb in knechtischer Arbeit und moralischem Elend. Ihre Mutter war die Witwe eines Unteroffiziers, der wegen Trunks entlassen werden mußte; es hatte sich zuletzt bei ihm das Delirium eingestellt und er prügelte in solchem Zustande Mutter und Kind halb tot.

Ihren Wohnsitz hatte die Familie in der Kreisstadt, in dem jammervollen Hause einer erbärmlichen Gasse, in die weder Sonne noch Mond schien. Die Frau Zeugler erwarb den Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen mittels eines ambulanten Kuchenhandels. Jeden Morgen, den Gott werden ließ, marschierte sie vor Tau und Tag, mit ihrer Tragkiepe auf dem Rücken, an jedem Arme einen mächtigen Henkelkorb, nach den 35 umliegenden Dörfern und Rittergütern, und neben ihr lief klein Kathrinchen, ebenfalls ein Tragkörbchen auf dem Rücken, manchmal noch taumelnd vor Müdigkeit. Abends zogen sie dann heim, schwer bepackt mit Eiern, Obst und sonstigen ländlichen Erzeugnissen, die der Konditor ihr abnahm, indem er so eine Art Tauschgeschäft mit ihr machte, das aber nur einen sehr winzigen Gewinn für die Händlerin abwarf.

Natürlich suchte sie diese karge Einnahme dadurch zu verbessern, daß sie ihren Kunden mitunter altbackene Ware aufhängte, die ihr Herr Stelzer, der Konditor, billiger berechnete; aber allzu oft durfte sie das auch nicht riskieren, denn ihre Abnehmer ließen es sich nicht gefallen. Sie schwur dann immer hoch und teuer, das altbackene Stück sei nur aus Versehen »mit mang« gekommen.

In der Schule war das Kathrinchen selten gewesen, nur dann, wann der Polizeidiener sie gewaltsam holte. Sie trottete mit ihrer Mutter im Lande umher, und als sie heranwuchs, balancierte gleich dieser auf ihrer Tragkiepe eine ebensolche Riesenschachtel von Holz mit dem leckeren Inhalt. Bei solcher Gelegenheit faßte Großmutter mal das hochaufgeschossene dralle junge Ding, das immer so feindselig und verdrossen aussah, ins Auge, meinte, das müsse großartig arbeiten können, und auf die Frage, ob es in ihren Dienst treten wolle, erhielt sie nach einigen Tagen das Jawort der Mutter und Tochter. Daß es kein leichtes 36 gewesen war, die in Freiheit dressierte Kathrin zu zähmen, läßt sich wohl denken, Großmutter nannte es ihr schwerstes Stück Arbeit im Leben. Aber allmählich schien sie ja einzuschlagen, wenngleich die Klagen der alten Dame nicht abrissen.

Als Kathrin in den Kreis meiner Erinnerungen trat, mochte sie vierundzwanzig Jahre alt sein und ihr Aufenthalt in Großmutters Hause bald fünf Jahre währen; ihre Mutter näherte sich den Sechzigern. Diese bildete übrigens zu jener Zeit viel mehr den interessanteren Teil der Familie Zeugler für uns Kinder. Ich erinnere mich sehr wohl, wenn ich mit meinen Geschwistern auf Ferien bei den Großeltern weilte, des Jubels, so oft die Kuchenzeuglern kam. »Sterlettchen ist da!« schrieen wir wie unsinnig und rannten ihr schon unter den Linden entgegen. Je nach der Jahreszeit pries sie ihren Stachelbeer-, »Kersch-« oder Pflaumenkuchen an, und daß uns Kindern eine Stachelbeertorte – die alte Frau nannte diese kleinen runden Obstkuchen »Sterlettchen« – als das höchste erschien, was es von Delikatessen auf der Welt geben konnte, das mag jeder glauben.

Wir, die wir gut erzogene Kinder waren, die sich stets gebührend freuten, wenn wir in den Ferien bei den Großeltern von Vater oder Mutter besucht wurden, wir rannten natürlich, sobald wir »Sterlettchen« begrüßt hatten, in die Küche zu Kathrin und schrieen: »Kathrin, deine Mutter kommt!« und waren jedesmal von neuem enttäuscht, wenn dieses Rabenkind, anstatt sich zu freuen und der Alten entgegen zu gehen, sagte: »Na, was is'n da weiter? Is mich ganz egal, braucht' gar nicht so oft die Frau Oberförstern zu ›inkommandieren‹.«

Und wenn die Frau Oberförsterin die alte Frau in die Küche schickte mit der Weisung, sich von ihrer Tochter eine Tasse Kaffee geben zu lassen – wir gingen natürlich pflichtschuldigst mit und staunten das Wiedersehen an – dann blieb sehr häufig das »Guten Tag!« der Alten unbeantwortet und Kathrin knallte der Beschützerin ihrer Jugend so ärgerlich und stumm einen Blechtopf voll Kaffee auf den Tisch, daß wir uns darüber entrüsteten. Machte aber ihre Mutter nur den leisesten Versuch, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen, so wurde sie mit einem 37 unnachahmlich lässigen: »Um Gottes willen, holt's Mul, Olle, ick weit ja oll!« zum Schweigen gebracht.

Mutter Zeuglern pflegte sich hierauf zusammenzuducken wie ein scheues Tier, mit den zahnlosen Kiefern ihre Schweinefettschnitte zu zermalmen und im übrigen mucksstill zu sein. Sie wagte selbst dann keinen Einwand, wenn Kathrin, der unsere Gegenwart anfing lästig zu werden, zu dem Korbe der Mutter ging und, trotz des ängstlichen Hin- und Herrutschens der alten Frau, die Bindfaden der Kuchenschachtel aufknüpfte, die Vorräte untersuchte und endlich ein paar leckere Stücke an uns verteilte mit den Worten: »Nu makt aber, dat ir ut mine Küche kamt,« was wir auch, ohne der flehentlichen vorwurfsvollen Blicke der Beraubten zu achten, glückselig taten. In solchen Augenblicken fühlten wir die größte Sympathie für Kathrin.

Gewöhnlich entspann sich nach unserem Rückzug ein Zank zwischen den beiden, der bis zur Treppe schallte, auf der wir saßen und unsere Kuchen verzehrten; ein Zank, bei dem das Ungeheuer von Tochter ganz unbotmäßige Worte gebrauchte. 38 Aber wenn »Sterlettchen« nach solchem Sturm das Haus verließ, so hatte sie dennoch das freundlichste Lächeln auf dem alten, runzligen Gesicht und einen Dank an die Frau Oberförsterin für freundliche Aufnahme.

Als wir Kinder einmal bei der dicken Kathrin vorstellig wurden wegen besserer Behandlung ihrer Mutter, stemmte sie die Arme in die breiten Hüften und schrie uns nicht schlecht an: ob wir denn jemals Haue statt Brot gekriegt hätten von unserer Frau Mutter? Und ob wir denn unseren Vater schon mal aus der Gosse aufgelesen hätten? Und ob das vielleicht unsere Mutter schon mal gesagt hätte: »Wenn man bloß die Last nicht wäre mit das Kind – aber reiche Leute ihre sterben, und unsereiner muß sich mit so was weiterplagen!« Ja, ob das unsere Mutter schon mal gesagt hätte? »Nee? Nich wahr?« Na, dann könnten wir auch nicht mitsprechen in solche Sachens und möchten gefälligst die Mäuler halten und uns freuen, daß wir keine Mutter hätten, die man immer was wollte, wenn sie käme, bloß zu Brannewin, zu weiter nichts als zu Brannewin, denn sie habe sich das – – – und hier machte Kathrin eine Bewegung, als setzte sie eine Flasche an den Mund und tränke – bei Vatern angewöhnt.

Seit der Zeit sagten wir nichts mehr über ihr unkindliches Benehmen. Mehr herangewachsen, vermieden wir es sogar, ihr unser Beileid auszudrücken, als die »Olle« endlich vom Armenhause aus in einem sogenannten Nasenquetscher begraben wurde und die dicke Kathrin mit einer schwarzen Schürze und einem schwarzen Tuch über ihrem lila Sonntagskattunkleide (eigentlich ihr Ballstaat) zur Begräbnisfeier in die Stadt ging, sehr gefaßt und durchaus nicht mit einem Gesicht, wie Leidtragende es zu zeigen pflegen. Abends kam sie mit einem Bündel zurück, das enthielt ihre Erbschaft: ein bißchen Bettwäsche und Hemden und ein verbogenes silbernes Ringchen mit einem unechten Türkis, das vielleicht einmal im Leben der alten Kuchenfrau »das Glück« bedeutet hatte.

Kathrins Augen waren rot gerändert, sie sagte aber gleich, das sei vom Winde, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen 39 zu lassen, sie habe etwa der alten Mutter, deren sie sich immer geschämt, eine Träne nachgeweint.

Meine Großmutter hatte es wohl längst aufgegeben, zartere Gefühle in ihr zu wecken; sie war überhaupt auf die dicke Kathrin in letzter Zeit nicht gut zu sprechen, und an Schelte fehlte es wahrlich nicht, obgleich sie stets hinzusetzte: »In der Arbeit und Sauberkeit hat sie nicht ihresgleichen.«

»Heiliges Kreuz – Donnerwetter, so schicke sie doch fort!« pflegte Großvater zu poltern, wenn seine Anita ihm das gar so oft vorklagte. Aber dazu kam es nie, denn Kathrin pflegte bei einer Kündigung so widerhaarig zu sein, so viele Einwände gegen ihr Fortgehen vorzubringen, so exemplarisch gut zu braten und zu kochen, daß sie trotz aller ihrer ungeheuren Fehler und Absonderlichkeiten nach wie vor im Hause blieb.

Sie war zu jener Zeit ein stattliches Weibsbild mit braunem gewelltem Scheitel, blauen Augen und einer großen üppigen Gestalt, die ihr den Namen der »dicken Kathrin« eintrug. Der Teint, trotz des Herdfeuers, zart; die Arme, die aus den kurzen Ärmeln des bedruckten Spenzers guckten, rund und marmoriert wie die Schlackwürste. Das ganze Mädel leuchtete vor Sauberkeit, und zumeist dann, wenn gegen sechs Uhr Abends ihre Küche reingemacht war und sie irgendwelche Einkäufe im Dorfe zu besorgen hatte. Sie erfreute sich eines schier unglaublichen Erfolgs bei der Männerwelt, und »Poussieren«, wie sie sich ausdrückte, war ihr höchstes. Im Krug »Zum Würfel« tanzte sie jeden Sonntagnachmittag bis in die Nacht um drei Uhr früh, mit einer Unterbrechung von sieben bis neun Uhr, da sie um keinen Preis die Zubereitung des Abendessens für die Herrschaft versäumen mochte. Vormittags hatte sie bereits die Kirche 40 besucht, und trotzdem war in der Wirtschaft alles in tadellosester Ordnung. Sie stand eben immer vor Tau und Tag auf, ihrer Frömmigkeit und ihrer Vergnügungssucht zuliebe, und ihre Laune war grimmig, wenn die Erlaubnis zum Kirchgang oder zum Tanz einmal versagt wurde. Das Kirchengehen erlaubte die Großmutter ja immer sehr gern, aber die Leidenschaft für den Tanzboden, die, als Kathrin in die Zwanzig kam, immer stärker wurde, machte, daß sie ihrer Herrin mit der Zeit und trotz vorzüglicher Leistungen doch verleidet wurde. Und da Vorstellungen gegen ihren leichtsinnigen Wandel auf offenbare Verständnislosigkeit stießen, so wurde endlich beschlossen, Kathrin solle zum nächsten Quartal definitiv gekündigt werden.

Es zögerte sich mit dieser Kündigung freilich noch ein wenig hin, bis sie eines schönen Abends unter heftiger Entladung eines häuslichen Gewitters dennoch erfolgte. Die Großeltern waren an jenem Sonntag ausgebeten, und als sie gegen Abend zurückkehrten, um einige Stunden früher, als Kathrin gedacht – weil Großvater sich nicht wohl fühlte –, fanden sie auf dem braunen Ripssofa der Wohnstube einen riesigen Kürassier der benachbarten Garnison, dessen mit Kreide eingestäubter weißer Koller bei seinem schleunigen Rückzug einen großen Fleck auf dem dunkeln Bezug hinterließ, den Großmutter ein paar Minuten lang anstarrte, ehe ihre Empörung Worte fand.

Kathrin stand indes ahnungslos in der Küche und briet Schweinefleischklößchen für den Schatz, die sie ihm, im Verein mit Kartoffelsalat, vorsetzen wollte. Sie entschuldigte sich sehr demütig, indem sie hervorhob, daß ihr das Kochen gar so schlecht gelänge, wenn ihr einer dabei auf die Finger gucke, und darum habe sie ihn geheißen, sich derweilen im Vorzimmer die Jagdbilder anzusehen. Sie habe sich doch nicht denken können, daß der Affe – wie sie sich lieblos ausdrückte – gleich so frech sein würde, sich aufs Sofa zu setzen. Gnädige Frau möge doch um Gottes willen nicht böse sein! Er gefiele ihr so wie so nicht, und es solle nicht mehr vorkommen, und das Sofa wolle sie schon gründlich abbürsten.

Aber so glatt ging's diesmal nicht ab. Die erzürnte Herrin 41 kündigte und beteuerte, daß es ihr überhaupt schon längst nicht mehr passe, sich über das Tanzbodenlaufen und Vordertürstehen der dicken Kathrin zu ärgern.

»Ich versäume ja doch meine Arbeit nicht drum,« hatte diese hierauf verwundert entgegnet. »Es kann Sie doch ganz egal sein, gnä' Frau, ob ich die Nacht schlafe oder tanze, wenn ich sonst meine Sachen ordentlich mache?«

Und mit dem Vorwurf, daß sie ja alle Wochen lang mit ihren Schätzen wechsle, kam die vorwurfsvolle Antwort: »Ja, was kann denn ich dafür, daß sie alle nichts taugen bei näherer Bekanntschaft?«

»Aber ich dulde so etwas nicht! Ich will anständige Mädchen in meinem Hause haben!« hatte Großmutter erklärt.

»Nun, dann kann ich ja abziehen,« war die Antwort gewesen. »Ich bin nicht schuld daran, daß mein Vater kein Oberjägermeister nich war, und daß die Freier nich in die gute Stube kommen dürfen, um mich kennen zu lernen, und ich sie. Und Leute, die sie in meinem Interesse auf'm Zahn fühlen, ob sie ordentlich sind oder nich, habe ich auch keine, das muß ich selbst besorgen, und anders als vor die Haustür oder auf dem Tanzboden habe ich keine Gelegenheit dazu. – Dann kann ich ja gehen zu Ostern.«

Großmutter erzählte diese Antwort, halb belustigt, halb empört, bei Tische, und Großvater meinte seufzend: »Na, wenigstens ist sie nicht scheinheilig, und ihr Kartoffelsalat ist geradezu 42 großartig. Am letzten Ende – so unrecht hat sie nicht mit ihrer Lebensauffassung, sie untersteht anderen Sitten.«

Aber da kam Großvater schön an bei der Großmutter. Durchaus nicht! Das sei durchaus nicht der Fall! Ob Dienstmädchen oder Fräulein, die Moral sei dieselbe, und sie dulde nicht dieses Gebaren. Ihres Wissens sei kein Knecht, kein Waldläufer und kein Bauernsohn in der ganzen Umgegend, der nicht schon auf der Heiratsliste der dicken Kathrin gestanden habe; es sei zu arg, und sie müsse gehen.

»Schön! Sie muß gehen, Anita – es ist ja deine Angelegenheit!«

»Gewiß! Und außerdem – ich fühle mich für die Moral meiner Mägde verantwortlich,« erklärte Großmutter. »Diese ist unverbesserlich, darum Schluß der Debatte und fort mit Schaden!«

Die dicke Kathrin war wie gebrochen in der nun folgenden Zeit. Onkel Leo, der gerade zum Besuch kam, meinte, sie wäre wie eine geknickte Lilie, und unser altes Flickdorchen schüttelte den Kopf, halb tadelnd, halb mitleidig. Aber Großmutter blieb fest. Sie sprach nur das Nötigste mit der Sünderin und ließ sich weder durch ihre geradezu verführerischen Mehlspeisen und Braten, noch durch ihr de- und wehmütiges Wesen rühren.

Um diese Zeit grassierte eine bösartige recht ansteckende Grippe in der Umgegend und kehrte auch im Lenkwitzer Forsthause ein. Zuerst legte sich Großvater und dann, als er halbwegs auf der Besserung war, die Großmutter; es wurde ein schweres Krankenlager. Bei mir daheim lagen Mutter und Schwestern, niemand von uns konnte die alten Leute pflegen, denn ich hatte alle Hände voll zu tun, und der Lenkwitzer Onkel, damals schon Witwer, vermochte auch nicht zu helfen, weil er ebenfalls die garstige Krankheit durchmachte. So sah ich denn stets mit Bangigkeit der Rückkehr meines Vaters entgegen, der täglich nach Lenkwitz fuhr, und atmete jedesmal auf, wenn er sagte: »Sie sind bestens verpflegt, die Kathrin opfert sich auf. Ich wollte, solcher Mädchen gäb's mehr! Keine Nacht Schlaf, und immer auf dem Posten, und von einer Zartheit und einer Sanftmut – man kennt das Ungetüm gar nicht wieder.«

45 Als ich nach ein paar Wochen zum ersten Male wieder nach Lenkwitz kam, fand ich die lieben Alten schon nebeneinander im Sofa sitzend, die Füße sorglich in Decken gewickelt, vor sich auf appetitlich gedecktem Tischchen Bouillon mit Ei und gelbbraun gebratene Täubchen, alles schön zerteilt und zierlich hergerichtet, wie man es schwachen Kranken mundgerecht macht, und Großmutter Anita streckte mir lächelnd die Hand entgegen.

Gottlob! Ich hatte sie im Geiste schon ganz vernachlässigt und in unbehaglicher, unordentlicher Umgebung gesehen. »Wie schön, Großmütterchen,« rief ich, »daß ich euch so treffe! Was kann ich für euch tun? Sag nur rasch, soll ich dir das Haar ausbürsten?«

»Das tut Kathrin, liebes Kind.«

»Soll ich deinen Wäschschrank revidieren, ob alles in Ordnung ist?«

»Danke, Herz, Kathrin hat's schon besorgt.«

»Du ißt Weingelee so gern, Großvater, darf ich dir ein Schüsselchen voll kochen?«

»Kathrin hat gestern schon welchen zubereitet, sie nudelt uns wie die Gänse.«

»Der Tausend, diese Kathrin!« staunte ich. »Und auch die andere Wirtschaft in Ordnung?«

»Flickdorchen, die gestern revidierte, meinte, daß es so sei,« antwortete die alte Dame.

»Das ist doch aller Ehren wert, Großmama.«

»Ach ja, sie kann recht nett sein, wenn sie will,« gab diese zu, aber mit einer gewissen nichtachtenden Miene.

Großvater räusperte sich und meinte dann: »Sie hat doch eigentlich mehr getan als ihre Pflicht, Anita.«

Aber die alte Dame schwieg, der große Kürassier auf dem braunen Ripssofa war entschieden der Anerkennung von Kathrins Leistungen hinderlich.

Ich suchte nachher die dicke Kathrin in der Küche auf und erschrak, als ich sie sah.

»Ums Himmels willen, sind Sie auch krank, Kathrin?« rief ich.

46 »Ich weiß nich – mich is nich ganz recht extra, aber das is woll, weil ich die letzten drei Wochen nich recht geschlafen habe. Ich habe mir ja zu sehr gesorgt um die ollen Herrschaftens.«

Der Kutscher, der eben eintrat, um sich sein Mittagessen zu holen, mischte sich in das Gespräch und sagte: »Sie hat ja immer auf die blanken Dielen vor die Türe von der Herrschaft gelegen, wie 'n Hund hat sie dagelegen, gnä' Fräulein – da soll der Mensch nicht elend werden?«

»Aber, warum denn das, Kathrin?« fragte ich, »Sie konnten doch Ihr Bett herunterbringen und auf dem Sofa schlafen!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ach nee, gnä' Fräulein, mit das olle Sofa da hab' ich ein Haar in gefunden – nee, seit die Geschichte kann ich das olle Ekel nich mehr leiden.«

»Weiß denn meine Großmutter, daß Sie auf der bloßen Diele schliefen?«

»Nee!« Und ganz ins Platt fallend: »Det brukt se ock nich to weten. Allens to weten, mackt man Kopppin. Es wird schon wieder werden mit min ollen Deetz – ich laß mich aus die 47 Apotheke for'n Silbergroschen Spitzbubenessig mitbringen, das wird ja woll helfen.«

Sie hantierte dabei mit ganz ungewohnt matten Bewegungen in der Küche umher, und ihr Gesicht hatte den gequälten Ausdruck eines von heftigen Kopfschmerzen geplagten Menschen.

»Kathrin, ich will das hier mal übernehmen, gehen Sie in Ihre Stube – ich brauche vor Abend nicht zurückzufahren.«

»Ach Gott, nee, Fräulein, da regt sich die gnä' Frau über auf, und Aufregung bekommt sie jetzt nich. Jo nich, das geht nich!«

»Aber, wenn Sie krank werden, Kathrin?«

»Ich werd' nich krank. Und jetzt muß ich zu die Herrschaften und sehen, ob sie auch essen, denn essen müssen sie und zureden tut was dabei.«

Sie schüttelte eben eine köstliche kleine Omelette aus der Pfanne auf ein Schüsselchen und trug sie, stolz vor mir hergehend, zu den alten Leuten ins Eßzimmer.

»Von ganz frischen Eiern,« sagte sie, »und mit Himbeermarmelade drin aus'm Lenkwitzer Garten. Gnä' Frau ihr schwarzes Lieblingshuhn hat die Eier gelegt, und for gnä' Fräulein reicht's auch noch mit.«

Und ein paar Augenblicke später saßen wir alle drei und speisten Kathrins Omelette und machten Pläne für das Osterfest, zu dem meine jüngere Schwester, zum ersten Male nach ihrer Verheiratung, aus weiter Ferne heimkehren wollte, um Großmütterchen ihre Kinder zu bringen.

Kathrin ging immer ab und zu, schließlich deckte sie den Tisch ab und legte gerade das Tafeltuch zusammenen am Büfett, 48 als Großmutter zu mir sagte: »Vergiß nur nicht, zur Vermietsfrau zu gehen, Kind, und sieh zu, daß du womöglich eine bekommst, die acht oder vierzehn Tage früher anziehen kann. Kathrin mag sie noch anlernen, ich selbst werd' kaum dazu im stande sein, und außerdem fällt Ostern grad so um den ersten April, und da wär' mir eine Hilfe sehr lieb, wenn deine Schwester mit den Kindern hier ist.«

Ich sah unwillkürlich zu Kathrin hinüber; das Gesicht des Mädchens war plötzlich wie verfallen, und sie blickte mit so traurigen vorwurfsvollen Augen ihre Herrin an, daß mir das Herz ordentlich weh tat; etwa wie ein treuer Hund blickt, wenn er mit einem Fußtritt hinausgejagt wird von seinem Herrn, dem er anhänglich ist mit all seiner rührenden Treue. Großmutter sah das nicht, wollte es wohl auch nicht sehen.

Kathrin kam herüber und fragte mit heiserer Stimme, ob sie gnä' Frau zu dem Mittagsschläfchen ins andere Zimmer führen dürfe. Und dort hüllte sie die Genesende sorgfältig in Decken und Tücher, kam dann zurück und folgte auch Großvater mit den Decken ins Schlafzimmer, und als sie den alten Herrn dort ebenfalls versorgt hatte, trat sie abermals ein, öffnete die Fenster, legte frischen Torf in den Ofen und ergriff endlich mit zitternden Händen das gebrauchte Tafelgeschirr, um es in der Küche zu säubern.

Sie tat mir furchtbar leid, ich muß es sagen, aber helfen konnte ich ihr nicht. Großmutter, die überhaupt leicht reizbar war, jetzt in der Rekonvaleszenz mit Bitten zu bestürmen, wäre vergeblich gewesen und hätte der Guten auch nur geschadet. Zudem hatte ich selbst die Geschichte mit dem Kürassier reichlich frech gefunden und – Großmutter mußte ja wissen, was sie zu tun hatte.

Ich besuchte während des Mittagsschlafes der alten Leute den Lenkwitzer Onkel, den ich ebenfalls auf dem Wege der Besserung fand, und kehrte gegen vier Uhr in das Forsthaus zurück. Es war ein recht windiger Februartag, meine lieben Alten saßen bereits bei der Lampe auf ihren Sofaplätzen und tranken Kaffee und lasen die Zeitung. Großmutter erinnerte mich nochmals an 49 die Vermietsfrau und ich verabschiedete mich von beiden, als gegen sechs Uhr der Wagen gemeldet wurde.

Im Flur redete Kathrin mich plötzlich an: »O gnä' Fräulein, nur ein Wort, gnä' Fräulein!« Sie stand in der Küchentür und winkte verstohlen. Ich ging ganz verwundert zu ihr und fragte, was sie wünsche.

Der Schein der Lampe fiel auf ein ganz verweintes Gesicht; sie stand da mit niedergeschlagenen Augen, den Schürzensaum in der Hand, wie das schämige Mädchen aus dem Volkslied.

»O gnä' Fräulein,« stieß sie endlich hervor, »es is man bloß wegen die Neue, man bloß daß Sie auch 'ne Ordentliche kriegen, weil for dies Haus nicht jede paßt. Die ollen Deerns sind ja jetzt alle rein tippelig, man bloß Staat machen und nichts tun, kaum noch daß eine bei's Scheuern hinknieen will; und gnä' Frau is das nich gewöhnt und ärgert sich darüber und nachher wird sie wieder elend – es is mich ein schrecklicher Gedanke.« Und dabei tropften ihr die schweren Tränen über die Backen, die so schmal geworden waren.

»Ja, ja, Kathrin!« sagte ich gerührt, »ich werde darauf sehen, daß eine Ordentliche antritt. Es ist schade, Kathrin, daß die Sache so kam, aber –«

»Ach nee! Nee! Ich sehe ja ein – ich zieh' – freilich, ich zieh'! Aber wenn man bloß eine kommt, die gnä' Frau zu nehmen versteht! Wenn's eine is, die leicht aufmuckt, daß sie sich man bloß nich krank ärgert, die gnä' Frau; und – 'ne Ehrliche, gnä' Fräulein. Die Ekels können ihr ja alles fortschleppen, weil doch gnä' Frau noch immer erbärmlich is und die Speisekammerschlüssel aus die Hände geben muß, wenn sie ihr Kopfweh hat. Wenn ich daran denk', daß so'n Balg sie bemopsen tät' – –«

»Na, Kathrin, ängstigen Sie sich nur nicht vorher. Haben Sie denn schon einen Dienst in Aussicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab' noch keine Zeit gehabt – –«

»Nun, dann kann ich Sie vielleicht empfehlen bei der Mietsfrau? Großmutter wird Ihnen ja doch sicher ein gutes Zeugnis geben.«

50 Sie antwortete nicht, sie biß sich nur auf die Lippen, um einen erneuten Tränenerguß zu verhindern, und endlich sagte sie, sich umwendend und ihre Arbeit, das Messerputzen, wieder aufnehmend: »Ich danke schön, Fräulein, aber mich is alles egal, ich habe keine Lust mehr zu mich, nich ein bißchen.«

Und nun sprach sie kein Wort weiter, obgleich ich sie mehreres fragte; sie begnügte sich, mit dem Kopf zu nicken oder zu schütteln, wobei sie wieder leise weinte; und wenn ihr eine Träne auf die fleißige rasche Hand fiel, dann wischte sie dieselbe mit einer ärgerlichen Bewegung an der blauen Schürze ab.

Ich verließ sie endlich und stieg in den Wagen, mir im stillen vornehmend, für sie nach einer guten Stelle zu suchen. Die dicke Kathrin tat mir gar zu leid.

In nächster Zeit fand ich denn wirklich eine Neue für Großmutter, die, den Zeugnissen nach, zu passen schien, und nach längerem Hin- und Herschreiben fuhr ich mit der Erkorenen nach Lenkwitz, um sie persönlich vorzustellen. Sie war, im Gegensatz zu Kathrin, dürr wie ein Zaunspfahl, sah älter aus als sie war, und sie näherte sich doch schon den Vierzigern. Großmutter brauchte dem Anschein nach nicht besorgt zu sein, daß ein Kürassier dieser Schönheit wegen den weiten Weg von der Stadt nach Lenkwitz unternehmen werde. Kathrin sah mit ihren vierunddreißig Lenzen neben jener ungefähr aus wie eine eben erblühte Rose neben einer Hagebutte.

Kochen sollte die Neue gut, ebenso die Wäsche verstehen, auch etwas Kenntnisse der Geflügelzucht und des Gartenbaues besitzen, dazu sollte sie »etwas Behägliches« haben, wie im Atteste einer Witwe besonders hervorgehoben war, die sich »Amelia Nommel« unterschrieben hatte. Auf die Frage, warum Auguste – so hieß die Neue – denn diesen Dienst verlassen habe, erwiderte sie, daß die alte Frau Nommel zu ihrem Sohn nach Magdeburg gezogen sei, und daß sie, Auguste, dorthin nicht mitgewollt habe – eine durchaus befriedigende Antwort.

Großmutter Anita war schließlich nur noch bedenklich wegen der kurzen Dienstzeit, die Auguste bei den verschiedenen Herrschaften zugebracht hatte; einmal waren es sogar drei neue Stellen 51 in demselben Jahre gewesen. »Man hat mitunter Unglück,« meinte Auguste, »und es kommt doch auch vor, daß man sich gegenseitig mal nicht zusagt, und zweimal kamen Todesfälle vor und einmal ließ sich eine scheiden von ihrem Mann, ich bin aber immer gut auseinander gegangen mit den Herrschaften.«

Großvater saß in der Sofaecke, rauchte und räusperte sich ob dieser Antwort. Großmutter wiederholte nur fragend: »Gegenseitig nicht zusagt? Hm! Na, ich werd's mit dir versuchen, mein Kind, und sollten auch wir uns ›gegenseitig nicht zusagen‹, so – wir sind ja nicht verheiratet miteinander – so werde ich dir das unverhohlen mitteilen.«

Auguste empfing acht Groschen Mietsgeld und empfahl sich mit Zurücklassung ihres Dienstbuches und der Versicherung, Frau Oberförsterin werde gewiß mit ihr zufrieden sein, und vierzehn Tage vor der bestimmten Zeit komme sie gern, weil sie grad stellenlos sei wegen Versetzung ihrer letzten Herrschaft. Als sie aber das Zimmer verlassen hatte, schickte Großmutter mich hinterher, ich sollte doch lieber noch fragen, ob sie etwa einen Schatz habe, denn man könne ja nicht wissen, ob – trotz ihrer Vierzig.

Im Flur scheuerte Kathrin grad die Fliesen, sie lag auf den Knieen, und zwar dicht vor den Stufen, die zu dem Zimmer 52 emporführten, aus dem die Neue eben trat. Kathrins Gesicht in diesem Moment hätte ganz gut zu dem Modell einer Furie dienen können, nur die Schlangen fehlten, die um den Kopf züngeln; dafür hatte sie ein Tuch turbanartig umgeschlungen, wie immer Sonnabends beim Reinmachen, und darunter hervor blitzten ihre Augen die Nachfolgerin an voll tödlichsten Hasses, und just als diese ihren Fuß auf die Fliesen setzte, nahm Kathrin ihren Eimer und goß ihn platsch! nach der Richtung aus, wo Auguste stand, die sich mit einem Aufkreischen und im Sprunge zur Seite rettete, während Kathrin noch ein paar Hände voll Sand in die entstandene Pfütze pfefferte und dann wie wahnsinnig zu scheuern begann.

Ich kam nicht mehr dazu, den delikaten Auftrag Großmutters auszuführen, denn Auguste war mit einem zweiten Sprung schon vor der Haustür und schrie durch diese zurück: »So 'ne flegelhafte olle Kröte!« worauf sie verschwand. Kathrin sandte ihr aber einen stummen Wutblick nach.

»Liebe Kathrin, das wird ja allem Anschein nach recht erbaulich werden, wenn Sie mit der ›Neuen‹ noch vierzehn Tage zusammen sind!« sagte ich ärgerlich.

»So'n Spatzenschüchter! So 'ne Schlumpe! Und das miet't sich gnä' Frau!« machte Kathrin jetzt ihrem Herzen Luft. »So 'ne Essigbutte, so 'ne giftgrüne Kreuzspinne, un daß die maust, das seh' ich ihr all an die Nase an.«

»Kathrin, sie maust Ihnen ja nichts!«

»Un ich seh' schon meine Küche, wie die aussieht nach vier Wochen, wie ein Sweinestall! Un lang' hält's Frau Oberförsterin auch nich aus mit die, un dann paßt das ja ganz gut, dann kann sie ja am ersten Mai wieder abziehen, direkt auf'm Besenstiel nach'm Blocksberg, wo sie hingehört, die Hexe infamige!«

»Wenn Sie etwa glauben, Kathrin, durch so ein ungehöriges Betragen Ihr Abgangszeugnis zu verbessern, so irren Sie sich,« tadelte ich empört. »Nehmen Sie sich in acht, daß die Frau Oberförster Ihre Rede nicht hört; ich bitte recht dringend um anständige Aufführung, solange Sie noch hier sind.«

Sie senkte den Kopf, schwieg und scheuerte weiter, aber ihr 55 Gesicht trug plötzlich wieder jenen gramvollen Zug um den Mund, der aus einem durch und durch erschütterten Herzen stammte.

Ich wandte mich um und ging ins Zimmer zurück; hinter mir schollen leise demütige Worte: »Ach, Fräulein, sagen Sie doch man nichts zu Frau Oberförsterin.«

Das verweinte Gesicht des Mädchens hatte mich sanfter gestimmt, und Nachmittags, ehe ich fort fuhr, fragte ich sie wiederum, ob sie schon einen Dienst habe.

Sie schüttelte den Kopf. »Nee!«

»Aber es ist doch schon in vier Wochen Ziehzeit, Kathrin!«

»Ich habe noch keine Zeit gehabt, mich umzutun, gnä' Fräulein.«

»Hören Sie, Kathrin, die Frau Pastor Wernicke sucht ein tüchtiges Mädel. Stellen Sie sich dort vor; bitten Sie Großmama, vielleicht erlaubt sie es Ihnen, mit mir zu fahren, – zurück können Sie mit der Post –«

»Nee! Ich hab' keine Zeit – Frau Oberförster ihre Hauben muß ich waschen, sie hat man noch zwei reine, und ich will sie doch alles ordentlich hinterlassen.«

»Aber nachher stehen Sie da und wissen nicht wohin, Kathrin! Die Hauben können Sie ja morgen waschen.«

»Nee! Da fang' ich an mit's große Reinemachen; die ›Neue‹ soll sonst wohl sagen, sie sei in Dreck und Speck gekommen, un überhaupt – zu Wernickens zieh' ich nich.«

»Warum denn nicht? Kennen Sie die Herrschaften denn?«

»Nee – hab' auch gar kein Verlangen nich –«

»Na, dann helfen Sie sich allein,« erklärte ich ärgerlich und fuhr davon.

56 So an die vierzehn Tage kam ich nun nicht wieder hinaus zu den Großeltern, erst als der Zeitpunkt nahte, zu dem meine Schwester erwartet wurde mit den Kindern, beorderte mich Großmutter zur Hilfe. Meine Schwester wollte nämlich, bevor sie zu uns in das Elternhaus kam, ihren Besuch mit den Urenkelchen bei den alten lieben Leuten abmachen, sie fand es praktischer als umgekehrt, aus Gründen, die mir heute nicht mehr gegenwärtig sind; besonders aber galt es Großvaters Geburtstag.

Ich fand das Forsthaus im Zeichen der Unruhe, selbst Großmütterchen schaffte wieder fleißig umher, in ihrem unmittelbaren Gefolge die ›Neue‹, die schon im Hause war.

»Kathrin hat erklärt, wenn ihr Auguste in die Küche komme, stehe sie nicht ein für ein ordentliches Essen,« berichtete Großmutter mir mit einem Seufzer, »und,« fügte sie hinzu, »ich fürchte, dieses Ungetüm läßt meuchlings den Braten anbrennen und die Mehlspeise zusammenfallen, wenn ich es erzwingen wollte, und schiebt dann alles auf die ›Neue‹. Ich lasse sie lieber in Ruhe, dann kommen wenigstens gut zubereitete Gerichte auf den Tisch. Die Zeit wird ja wohl vergehen bis zum ersten April.«

So herrschte denn trotz der »Neuen« Friede im Hause – ob aber auch in Kathrinens Herzen, das war die Frage. Sie sah zum Gotteserbarmen aus, antwortete kaum Ja und Nein, und sobald sie nur die Stimme von der »ollen Kreuzspinne«, wie sie die andere nannte, hörte, wurde sie grünlichgelb im Gesicht und zitterte vor Aufregung. Kam meine Großmutter in Sicht, so hielt sie in ihrer momentanen Beschäftigung inne und starrte der hübschen alten Frau nach mit vorwurfsvollen, in Tränen schimmernden Augen, schüttelte den Kopf und murmelte irgend etwas vor sich hin. Eine Stelle hatte sie noch nicht, wie mir der Kutscher verriet, der bedauernd hinzusetzte: »Ik glöw, sei nimmt sek dat tau Kopp un makt dumm Tüg.«

In den Zimmern und Schlafstuben waltete die »Neue« bereits ihres Amtes. Großmutter sei riesig eingenommen von ihr, vertraute mir Großoater, was aber ihn beträfe, so käme Auguste ihm vor wie ein Schaf mit Drehkrankheit; sie käme nämlich 57 immer wieder auf den nämlichen Punkt zurück trotz Belehrung eines Bessern. Er habe schon seine stillen Betrachtungen gemacht, und es solle ihn nur wundern, wie lange die Geduld seiner Anita vorhalte.

Nach einem Weilchen hatte ich Gelegenheit, mich von der Wahrheit dieser Beobachtungen zu überzeugen. Auguste sollte den Tisch allein decken; es war ihr schon zweimal gezeigt. Großmutter saß strickend und sie dabei beobachtend auf dem Fenstertritt und verfolgte jede ihrer Bewegungen mit den Augen. Ich, ihr gegenüber, häkelte und tat, als ob ich weiter nichts im Auge hätte als den herrlichen Hyazinthenflor zwischen den Doppelfenstern.

»Auguste,« begann Großmutter plötzlich sanft, »ich sagte dir gestern, daß die Suppenlöffel oben quer vor dem Teller, an dessen Seite nur Messer und Gabel liegen sollen.«

Auguste hielt inne, wandte ihrer Herrin ihr geistreiches, sommersprossiges Antlitz zu und sagte nach einem Weilchen: »Bei Nommels Großmutter mußte ich die Löffeln immer neben die Gabeln legen.«

»Das glaube ich dir gern, aber bei uns liegt der Löffel oben, ich bin Stettens Großmutter.«

Auguste tat zögernd, wie ihr geheißen, und als die Suppe auf dem Tische stand und Großvater gerufen war, vermißte die alte Dame die kleinen silbernen Löffelchen zu den Salzfässern. Auf ihr Klingeln trat Auguste an.

»Die silbernen Salzlöffelchen, Auguste!«

»Ich – ich weiß nicht –« stotterte sie.

»Suche auf dem Büfett.«

Sie kramte umher, fand dieselben, legte sie auf den Tisch und sagte: »Nommels Großmutter nahm immer das Messer dazu – entschuldigen, Frau Oberförsterin.«

Ich verbiß mir das Lachen, Großmutters Augen blitzten ärgerlich die »Neue« an, aber sie schwieg.

»Wer, um Gottes willen, ist denn ›Nommels Großmutter‹?« fragte der Hausherr.

»Nun fange du auch noch an von Nommels Großmutter!« 58 rief die alte Dame gereizt. »Wenn du nur ahntest, wie oft mir diese Person schon als Muster aufgestellt worden ist! Übrigens,« beruhigte sie sich selbst, »rührt mich diese Anhänglichkeit an die alte Frau.«

Nach dem Vesper, so um vier Uhr, stiegen Großmutter und ich zu den Logierstuben hinauf, die den letzten Schliff erhalten sollten für unsere lieben Gäste. Auguste folgte uns mit einem Korb voll seiner lawendelduftiger Wäsche, mit Nadelkissen, Kerzen und Seife. Es gab nichts Trauteres als Großmutters Fremdenstuben im Giebelgeschoß, so reizend altmodisch, so behaglich, zumal jetzt, wo neben dem großen Bette zwei uralte kleine Gitterbettchen standen, in denen schon unsere Eltern und später wir geschlummert, und in denen nun die »herzigen Krabben«, wie die alte Dame ganz stolz ihre Urenkelein nannte, schlafen sollten.

Bald war denn auch alles hergerichtet, blendend weiß bauschten sich die Betten, die Spitzeneinsätze der Bezüge ließen die grüne Seide der Kissen durchschimmern, überall zierliche Deckchen, und in einem Winkel des angrenzenden, zweiten Zimmers, das als Wohnstube gedacht war, damit der Lärm der kleinen Krabauter den alten Großpapa nicht störe, harrten Spielsachen auf dem Tischchen, die noch aus Großmutters Kinderzeit stammten, der künftigen kleinen Besitzer: ein Steckenpferd und ein Baukasten für den dreijährigen Buben und ein Gummipüppchen für das Kleinste.

Auguste sah sich das alles schweigend an; einigemal verriet sie ihre Unkenntnis mit Gegenständen feinerer Haushaltungen, im übrigen ging's so leidlich.

»Immer fragen, Auguste, wenn du etwas noch nicht kennst,« ermunterte Großmutter sie, »in jedem Haushalt ist's anders, also fragen!«

Auguste erwiderte nichts, aber als sie endlich fertig war, tippte sie mit dem Zeigefinger auf einen gestickten Ofenschirm, der Goldschmieds Töchterlein mit dem Ritter darstellte, und sagte: »So'n Dings hatte Nommels Großmutter auch.«

Die alte Dame zuckte ein wenig zusammen und meinte: 59 »Du kannst nun hinuntergehen und anfangen, das Silber zu putzen. Salmiak und Schlämmkreide laß dir von Kathrin geben, ebenso Lederlappen und Leinentücher.«

»Bei Nommels Großmutter tat ich's immer mit Seife und Spiritus – –«

Sie verstummte, so hastig hatte die alte Dame sich herumgewandt. Auguste verschwand schleunigst hinter der Tür und mein gutes Altchen fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen. »Gott steh' mir bei, diese Nommels Großmutter bringt mich noch um!« sagte sie halblaut. Erst auf mein herzliches Lachen ward ihr Gesicht wieder freundlich, und schon im nächsten Augenblick stand sie an dem größeren Bettchen und streichelte liebevoll die kleinen Kissen.

»Wie ich mich freue auf den Jungen, wie ich mich freue, Kind, er soll ja Stetten so ähnlich sehen. Hab' acht, das kleine Kropzeug macht deine alte Großmutter noch einmal wieder jung. Nun wollte ich nur, es wäre schon morgen um diese Zeit und das Wetter schön, damit sich die Kleinen nicht erkälten bei der Herfahrt; und übermorgen, dann sind alle da, alle, die ich lieb habe, deine guten Eltern und die Geschwister, der Lenkwitzer Onkel und Flickdorchen – o lieber Gott, was gibt es für reine, schöne Freuden auf dieser Welt!« Und wieder streichelte sie die kleinen Kissen, als läge der Urenkel schon darinnen. »Weißt du, Liesel,« fuhr sie fort, »es ist gar hübsch, alt zu sein; früher habe ich mich gefürchtet vor dem Alter, jetzt finde ich es so 60 schön. Hab's gestern erst noch zu Stetten gesagt: weiter nichts wünschte ich mir, als noch ein paar friedliche Jahre hier auf Erden miteinander, und dann sterben – so Hand in Hand auf dem Sofa sitzend, in der Dämmerstunde eines Frühlingsabends. – Ja und ihr müßtet alle hier sein, eure Stimmen, euer Lachen müßte aus dem Garten zu uns herein schallen – so möchte ich sterben, Lieschen. Aber das wäre ja wie ein Märchen, das wäre zu schön!«

Ich umfaßte die alte liebenswürdige Frau gerührt und strich ihr über die noch immer klare Stirn. »Das hat noch Zeit, Herzensaltchen, und erst mußt du dich noch freuen über die Urenkelchen. Ich denke mir den Nachkommen vom tollen Reinecke einfach reizend, und sollte er dessen Anlagen als Courmacher ererbt haben, so prügelt ihm Gretchen sicher beizeiten dieses gefährliche Talent aus, und wir, Großmütterchen, helfen ihr dabei; er darf nur in ein Paar Augen zu tief gucken, der Junge, und das sind deine.«

»Schmeichelliese!« sagte die alte Frau.

Und nun waren mehrere Tage vergangen und Schwester Gretchen war mit ihren Kindern eingetroffen. Sie hatte eine ungeheuerlich dicke alte Kinderfrau mitgebracht, die das drei viertel Jahr alte Jüngste kaum aus den Armen ließ und so tat, als ob kein anderer damit umzugehen verstehe. Wir durften es überhaupt nur besehen, aber ja nicht anfassen, selbst der eigenen Mutter gönnte sie es kaum. Den Jungen, den Schwerenöter, aber gab sie gern ab, den prachtvollen dreijährigen Bengel, dem der dicke blonde Lockenschopf so köstlich in das rosige Gesichtchen fiel und dessen blaue Schelmenaugen unsere sämtlichen Herzen im Sturm eroberten.

Natürlich hieß er »Hans« wie sein Vater; Großmutter nannte ihn »Hänschen«, Großvater »Mordskerl«, »Teufelsjung« und dergleichen, und da er schrankenlos in der Stube der alten Leute toben und mit den Hunden sich am Boden wälzen durfte, so war er einfach in der Kinderstube droben nicht zu halten und wollte immer nur bei »Großma« sein. Er hatte die alte Dame beständig am Rockzipfel, sie mochte gehen wohin sie wollte; in 63 Küche und Keller, in alle Zimmer trippelte er neben ihr, und auf dem Gesicht der liebenswürdigen Frau lag ein glückseliges Leuchten. Nichts wurde ihr zuviel für das Kind, sie bewunderte jeden seiner Einfälle, auch wenn sie gar nicht zum Bewundern waren; sie wehrte dem Tadel seiner Mama, obgleich Schwester Gretchen händeringend klagte, daß er auf Lebenszeit in Grund und Boden verzogen werde. Aber Großmutter Stetten, die sonst so Gestrenge, war taub und blind für alles, ausgenommen den Liebreiz des kleinen Wichtes.

Wenn die Sonne warm schien, ging sie mit ihm auch zuweilen in den Garten, und dabei erzählte sie ihm allerhand Geschichten und Schnurren. Ich traf die beiden Liebesleutchen eines Tages Hand in Hand an der niedrigen Gartenmauer spazierend, hinter welcher die Inne entlang schäumte. Sie erzählte dem kleinen Kerl gerade, daß nun bald der Osterhase kommen werde, um in dem Garten schöne bunte Eier zu legen für das artige Hänschen.

»Wo kommt er her?« fragte das Kind.

»Von den Bergen drüben, schnurstracks hier über die Mauer,« sagte Großmutter.

»Durch das Wasser?«

»Ei, der kann schwimmen, so ein Osterhase kann alles, Hänschen.«

»Aber dann wird er ja naß, Großmama?«

»Schadet nichts; die Ostersonne trocknet ihn wieder.«

»Hm! Wie viel Eier legt er denn, Großma?«

»Nun – wie viel möchtest du denn haben, Herzchen?«

»Hundert!« sagte das Kind, und sein Gesichtchen wurde ganz rot vor Entzücken.

»Das ist wohl zuviel,« meinte die alte Dame, »du mußt weniger fordern, sonst kommt er nicht; wie kann so'n armer Hase gleich hundert Eier legen?«

»Nun, dann tausend!« sagte der Kleine, »dann bloß tausend!« und dabei streckte er die Ärmchen gegen mich aus und wollte hoch gehoben sein, um den Fluß fehen zu können, durch den der Osterhase schwimmen werde.

64 Ich nahm ihn hoch und er machte große Augen, als er das schäumende gurgelnde Wasser sah, das mit rapider Schnelligkeit über das Wehr schoß. Auch Großmutter blickte hinüber.

»Es hat zu rasch getaut in den Bergen, Liesel,« sagte sie, »hoffentlich steigt die Inne nicht noch mehr, es könnte mich sonst meine Hyazinthenrabatten kosten.«

In diesem Augenblick, ich hielt den Kleinen noch auf dem Arm, kam die »Neue«, wie sie noch immer hieß, mit zwei gefüllten Eimern durch das Pförtchen in der niedrigen Mauer vom Fluß herauf und ging dem Hause zu. Sie dachte nicht daran, die Tür wieder zu schließen, von welcher einige Holzstufen zur Schöpfstelle hinunter führten, deren zweite bereits vom Wasser bespült wurde.

Großmutter blieb stehen und rief ihr nach: »He – du – Auguste, schließe die Tür,« und einen besorgten Blick auf den Liebling werfend, der noch immer von meinem Arm herab das tosende Wasser anstaunte, setzte sie hinzu: »Noch dazu jetzt, wo Kinder im Hause sind. Vergiß es nicht wieder, hörst du?« Und in ihrer alten Schalkhaftigkeit, die sie immer so jung erscheinen ließ, rief sie: »Nommels Großmutter hat auch stets die Tür zugemacht.«

Die »Neue« wurde dunkelrot, knallte die Pforte zu, ergriff ihre Eimer und ging stolz wie ein Spanier von dannen.

Wir lachten beide, und das Kind, das dies bemerkte, schrie vor Vergnügen, nur weil es seine Urgroßmutter lachen sah. Es war auch so ansteckend, dieses Lachen der alten Frau, so herzensgut, so harmlos, fast kindlich. »Paß auf, Liesel,« meinte 65 sie schalkhaft, »nun habe ich bei Auguste ins Fettnäpfchen getreten.«

Kathrin hatte indessen lediglich ihrer Küche gelebt. Über all unserem Jubel, den Familienbesuchen, dem Spielen mit den Kindern hatte ich es ganz vergessen, sie noch einmal zu fragen, ob sie nun eine Stelle habe oder nicht. Großmutter, die ich darum anging, wußte nichts und behauptete, Kathrin lege es darauf an, zu bleiben, denn sie habe mit ihrer Pfiffigkeit längst weg, daß die »Neue« hier nicht passe.

»Findest du das wirklich, Großmama?« fragte ich, innerlich ein wenig lächelnd.

»Ja, Kind, ach ja! Aber ich lasse es mir nicht merken – Stettens wegen nicht, der am liebsten Kathrin behielte. Aber, Kind, ich will sie nicht mehr, ich kann sie kaum noch sehen seit der Frechheit damals. Wäre unser Besuch nicht hier, ich zahlte ihr Lohn und Kostgeld aus und schickte sie lieber heute als morgen fort.«

»Ach, Großchen,« bat ich, »sie hängt so an dir, sie hat dich so nett gepflegt, als du krank warst –«

Aber die alte Dame machte plötzlich eine eiskalte Miene, und ich wußte nun, daß Kathrins sämtliche Intrigen, alle ihre 66 noch so fein oder grob gesponnenen Ränke, die darauf hinausliefen, ihr Bleiben zu bezwecken, aussichtslos waren; daß ihre Frikassees, ihre Schleie mit Dillsauce und ihre großartigen Puddings verlorene Liebesmüh bedeuteten.

So kam Ostern heran. Die ganze Familie wurde ja erwartet, und es gab furchtbar viel im Hause zu tun, schon allein das Kuchenbacken! Der erste April fiel auf den dritten Feiertag, an diesem sollten nicht nur Schwester Gretchen, die Kinder und ich wieder fort, es war auch der Abschiedstag für Kathrin. Der Lenkwitzer Onkel hatte uns alle zum zweiten Feiertag gebeten; am ersten sollte sich, wie immer, die Tafelrunde bei den Großeltern zusammenfinden, eine Menge Menschen, denn allenthalben waren Kinder und Enkel zugereist, auf dem Gute und in der Stadt. Gretchen erwartete ihren Mann, den großen Hans, am Ostersonnabend, und Flickdorchen war bereits am Stillen Freitag angelangt.

Sie und ich hatten das Färben der Eier übernommen und Kathrin hatte uns wortlos ihre blitzblanke Küche zur Verfügung gestellt.

Es war am Ostersonnabend nach dem Mittagessen, Großmutter und Großvater schliefen, Gretchen war in die Stadt gefahren, um ihren Mann abzuholen, die mürrische dicke Kinderfrau weilte mit ihren Pflegebefohlenen im Garten, unter den Linden. Sie saß strickend auf der Bank, das Kind lag im Wagen und schlief; Hans galoppierte, angetan mit einem roten Jäckchen und einem Kürassierhelm mit seinem Steckenpferdchen auf dem Platze umher. Die »Neue« war irgendwo beschäftigt, ich ahnte nicht womit, glaubte aber, sie werde wohl im großen Zimmer die Tafel für das morgende Mahl decken. Dorchen und ich achteten gar nicht weiter auf Kathrin, sondern vertieften uns ganz in unsere roten, grünen und blauen Eier; sie schaffte umher am Fenster bei der Aufwaschbank, dann ging sie hinaus mit den schweren messingbeschlagenen Wassereimern aus Eichenholz, und Dorchen sagte ihr nachschauend: »Man kennt sie ja gar nicht mehr wieder, die dicke Kathrin! Sie ist ganz abgekommen, mager und sieht aus wie ein Gespenst mit den 69 großen Augen. Meiner Seel, Fräulein Liesel, wenn sie sich so grämt, ist's ja auch kein Wunder. – Dauern tut sie mich doch sehr –«

In diesem Augenblick hörte ich vom Flur meiner Großmutter Stimme: »Frau Wabe! Frau Wabe!« Es lag etwas ungewohnt Schrilles darin, und mit zwei Sprüngen war ich aus der Küche und bei ihr. Sie stand in der geöffneten Haustür und rief noch immer: »Frau Wabe! Frau Wabe!« in den Garten hinaus, und die ganze zierliche Gestalt bebte vor Aufregung.

Unter der Linde saß die dicke Kinderfrau und schlief den Schlaf des Gerechten, das Kleine im Wagen schlief auch noch immer, und sonst war niemand auf dem Platze, niemand – nichts als das verlassene Steckenpferdchen.

»Hans!« sagte ich. »Wo ist Hans?«

»Wo ist Hans?« stammelte die alte Frau mir mechanisch nach, und ihre Lippen zitterten.

»Hans! Hänschen!« rief ich lauter und lief angstvoll hinunter und schüttelte die Schlafende an den Schultern und rief in einem fort: »Hans! Wo ist Hans?«

Sie fuhr empor und sah sich erschreckt um, und just in diesem Augenblick ließ sich ein lauter Hilferuf von der Inne her vernehmen, der grell das Rauschen des Wassers übertönte: »Hilfe! Hilfe!«

Ich stürzte den Gang hinunter der Mauer zu, und als meine Augen über die gelblich schimmernde Flut irrten, da erblickten sie mitten in den Wirbeln des stark angeschwollenen Flusses – Kathrin, die bis an den Hals drinnen watete und wankte und mit beiden hochgestreckten Armen etwas Rotes, Kleines, Lebloses, unser Hänschen, über den Wogen hielt, und ich sah, wie sie wankte unter dem Anprall des tosenden Wassers, und erkannte ihr in Todesangst verzerrtes Gesicht. Und wieder erscholl ihr verzweifeltes »Hilfe! Hilfe!«

Ein einziger Fehltritt in eines der Löcher am Boden des Flußbettes, eine jener tiefen Stellen, wie sie das Wasser so häufig reißt, ein kurzes Nachlassen ihrer Kräfte – und sie trieb 70 auf den Wogen dahin, verloren, und mit ihr unser Liebling, unser Hans.

Das alles ging mit der Schnelligkeit eines Blitzes durch meinen Kopf, während ich ein paar Sekunden lang wie gelähmt stand. Erst als Großmutter mich an der Schulter rüttelte und, eine Stange vom Boden raffend, dem Mauerpförtchen zulief mit der Behendigkeit einer Zwanzigjährigen, sprang ich ihr nach und, bis über die Knie im Wasser stehend, hielten wir die Stange dem mit den Wellen kämpfenden Mädchen entgegen, die, immer das Kind über den Kopf haltend, mit fast übermenschlicher Kraft das Ufer zu gewinnen versuchte. Ein paarmal wankte sie, einmal stieß sie einen furchtbaren Schrei aus und verschwand einen Augenblick unter Wasser, und dann tauchte sie doch wieder auf mit ihrer triefenden Last und schob sich langsam der Stange zu, und endlich, das Kind nur noch mit einer Hand tragend, hatte sie dieselbe erfaßt und so, mit dieser Hilfe gewann sie mühsam die Treppe, an der wir ihr die Hände entgegenstreckten, um das Kind zu nehmen.

Großmutter riß das leblose Würmchen an sich und eilte dem Hause zu, Kathrin aber, das große starke Geschöpf, lag auf den umspülten Stufen, den Unterkörper noch im Wasser, wie bewußtlos. Ich bemühte mich, sie emporzuziehen, aber der kräftige Körper war mir viel zu schwer, und schon öffnete ich den Mund, um Hilfe herbeizurufen, da raffte sie sich auf, kroch die Stufen empor, ohne meine dargebotenen Hände zu beachten, stand plötzlich aufrecht und ging mit schwankenden Schritten, ohne nach rechts und links zu sehen, den Gang entlang.

Ich stürzte an ihr vorüber; Kathrin lebte ja, was ging sie mich in diesem Augenblick noch an? Meiner ganzen Seele hatte sich Angst um das Kind bemächtigt – ist es tot? Wird es wieder leben? Ich sah den Kutscher aus dem Hause stürzen, der zum Arzt reiten sollte, ich sah die »Neue« mit rasenden Sprüngen den Weg zum Lenkwitzer Herrenhause nehmen, um den Onkel zu holen. – – Im Wohnzimmer waren sie um das Kind beschäftigt, die Großmutter und Flickdorchen; die Kinderfrau lag im Winkel der Stube vor einem leeren Rohrstuhl und wimmerte und schrie.

71 »Hierher, Liesel,« kommandierte Großmutter, »hilf mir, wir müssen künstliche Atmungsversuche machen. Geh zur Seite, Stetten, setze dich, du kannst nichts helfen. – Siehst du, so – Liesel – und so –« Und die alte Frau führte mit leichter, aber fester Hand die vorschriftsmäßigen Hilfen aus, die sie als geübte und erfahrene Landbewohnerin kannte, und so gut es meine zitternden Hände verstanden, half ich ihr, während Dorchen wollene Decken und Wärmflaschen herbeitrug.

Alle hatten wir denselben entsetzlichen Gedanken beim Anblick des kleinen, furchtbar bleichen Gesichtes, um das die nassen Haare klebten: was werden die Eltern sagen, wenn ihr Kind nicht mehr am Leben ist, die Eltern, die so ahnungslos hier ankommen werden heute abend, die ihr Kind von uns zu fordern das Recht haben?

»O Gott im hohen Himmel,« jammerte die Kinderfrau, »straf mich nicht so hart für das bißchen Schlaf, laß das Kind nicht tot sein, ich muß mir ja sonst selbst das Leben nehmen!« Dorchen führte sie fast gewaltsam hinaus, und nun war es unheimlich still um uns fieberhaft beschäftigten Menschen. Großmutters Gesicht werde ich nie vergessen: wachsbleich mit perlenden Schweißtropfen auf der Stirn, so furchtbar ernst und starr die Augen.

»Laß es, Anita,« flehte Großvater endlich, »es ist zu spät – komm, mein armes, armes Herz!«

Aber sie stieß ihn zurück und, ihre müden Arme sinken lassend, beugte sie sich zu dem Liebling nieder und, Mund auf Mund legend, begann sie, ihm Atem einzublasen. – Minute auf Minute 72 verrann, nichts rührte sich in dem Zimmer, nur das tiefe laute Atemholen der alten Frau, die, ohne Aufhören, unermüdlich fortfuhr, dasselbe zu tun, unterbrach die Stille; mir schien es fast unheimlich, wie das Gebaren einer Wahnwitzigen.

Und da auf einmal hob ein kurzer Atemzug die Brust des Kindes.

»Großmutter!« schrie ich.

Aber sie hörte nicht, sie fuhr unbeirrt fort – und wieder das kurze Atmen und endlich ein regelmäßiges leises Luftschöpfen. Und nun hielt sie inne, denn die bläulichen Lippen des Kleinen röteten sich wieder. »Warme Tücher,« sagte sie todmatt, »Bürsten – reibe ihn, bürste ihn, bis er schreit –« und sie sank wie ohnmächtig in die Arme Großvaters, der sie zum Sofa führte; und dort saß sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt, wie gebrochen.

Im Nu war der Befehl ausgeführt, das erstarrte Körperchen in wollene Decken gehüllt, und ein leises ärgerliches Weinen verkündete das zurückgekehrte Leben. Als der Doktor kam, fand er nichts mehr zu tun bei dem kleinen Patienten, nur bei Großmama, die fiebernd und weinend im Bette lag mit kalten Kompressen auf dem Herzen, und das ganze Zimmer roch nach Baldrian.

Hänschen befand sich in seinem Bettchen oben und sollte möglichst schwitzen; die Eltern des Kindes waren noch nicht zurück, auch vor Abends zehn Uhr nicht zu erwarten, da Schwager Hans zunächst meine Eltern begrüßen wollte, und so herrschte nach den entsetzlichen paar Stunden eine große Stille im Hause. Nur Kathrin wirtschaftete in der Küche umher, als sei nichts geschehen. Ich war bei ihr gewesen, hatte ihr unter Tränen die Hand gedrückt und gedankt, war aber gar nicht angekommen damit.

»Was ist denn da weiter?« sagte sie.

»Kathrin, Sie konnten ja mit ertrinken!«

»Wäre mir grad recht gewesen, dann hätt' ich's nu überstanden.«

»Sprechen Sie nicht so, Kathrin! Sagen Sie, haben 73 Sie denn etwas Warmes getrunken? Spüren Sie auch keinen Frost?«

»Ich, nee, Gott soll mich bewahren! – Haben Sie sich man nich, Fräulein, das schad't mich nichts.«

»Wie ist's denn gekommen, Kathrin? Sagen Sie doch nur!«

»Die alte Kreuzspinne hat natürlich die Schuld daran,« stieß sie endlich hervor, »hat bei's Badewasserschöpfen die Pforte aufgelassen – so 'n Döskopf wie sie is! Und das kleine Wurm hat mit seiner Gerte 'ne tote Katze ans Ufer bringen wollen, die im Weidengestrüpp hängen geblieben war. Und was der Döskopf is – erzählte ja unter Lachen dem Christian, daß das Jungchen schon ein paarmal mit ihr nach der Inne hinuntergelaufen sei, und wie er das tote Vieh gesehen, habe er geschrieen, der Osterhase sei ins Wasser gefallen, sie solle ihn herausholen. Na, dann hat sie nicht weiter auf das Kind gepaßt, die olle Waben hat geschlafen, und da wird er jawoll, wie er die Tür offen gesehen, den Osterhasen selber haben retten wollen, hat 's Übergewicht gekriegt und war weg wie nischt! Als ich hinkam, sah ich da was Rotes mitten im Wasser, da bin ich eben gleich hinein. – 's is ja weiter nichts, man bloß die ollen tiefen Löcher, wo einem der Boden unter den Füßen weg is mit einmal, und weil ich man einen Arm frei hatte und das Wasser so 'n arg Gefälle hat beim Wehr.«

»Kurz und gut, Kathrin, Sie haben unsern kleinen Liebling gerettet mit eigener Lebensgefahr.«

»Nu, was is da weiter? Das is doch all eins!« wiederholte sie bitter und ihre Stimme schwankte, »all eins!« Und sie schritt an mir vorüber mit zwei großen Schüsseln Hundefutter. »Die ollen Köters sollen doch, solange ich hier bin, wenigstens noch ihr Recht haben,« setzte sie hinzu, »hernach können sie sich man allmählich das Fressen abgewöhnen, die ›Neue‹ kann sie nich ansehen, die armen Kreaturen.«

Sie dachte ans Geringste, selbst an diesem Tage und in dem Hause, das sie fortan meiden sollte. Draußen auf dem Hofe umwedelten sie die Hunde; sie liebte die Tiere; überhaupt alles Vieh, und das war immer so nach Großvaters Herzen gewesen. 74 Der »Neuen« traute er nicht in diesem Punkt, er hatte einmal gesehen, wie sie nach der alten halbblinden Juno getreten, und er klagte es mir damals; wahrscheinlich habe Nommels Großmutter die Hunde auch nicht leiden mögen, setzte er wie im Scherze hinzu, um seinen grimmen Ärger etwas zu verbergen.

Ich blieb am Küchenfenster stehen und dachte, daß es doch unbegreiflich sei von meiner Großmutter, dem Mädchen nicht einmal zu danken, und daß ich, trotz des Kürassiers, so viel Treue, so viel Hingebung aus meinem Hause nimmer gehen lassen würde, zumal heutzutage nicht, wo echte Anhänglichkeit immer seltener wird. Ich will Gretchen bitten, sie mitzunehmen, gelobte ich mir, und ich war überzeugt, daß das warmherzige Frauchen alles tun werde, um der Retterin ihres Kindes dankbar zu sein.

Aber würde Kathrin das wollen, Kathrin, deren ganze Welt sich in Großmutter und deren Wirtschaft verkörperte?

Zum ersten Male fühlte ich, daß ich Großmutter nicht verstand, daß auch sie nicht ohne Fehler sei. Ich fand ihr Benehmen kleinlich, und das drückte mich tiefer zu Boden, als ich beschreiben kann. Ganz niedergeschlagen ging ich in mein Zimmer hinauf, nachdem ich vorher noch einmal in der Kinderstube nachgesehen hatte. Der Kleine lag in heilsamem Schweiß und schlief, die Kinderfrau saß, noch immer schluchzend, am Fenster und schrieb einen Brief. »Gnä' Frau wird mich ja nicht behalten,« erklärte sie, »o Gott! o Gott! und ich habe die Kinder doch so lieb!«

An das Abendessen dachte heut niemand. Es wurde mählich finster, und ich saß noch immer an meinem Fenster; hinter den Bergen wurde der Mond sichtbar, eine schmale Sichel, halb verschleiert von Wolken. Ich konnte über den Garten hinweg den Fluß sehen, und es überkam mich ein Grauen ohnegleichen. Wie entsetzlich rasch kann ein trauriges Schicksal über uns ohnmächtige Menschen hereinbrechen! Die Sonne geht auf, und wir lachen dem neuen Tag entgegen, der uns Glück und Freude bringen soll, und wann er scheidet, haben wir Furchtbares erlebt, und Hoffen und Glück sind gebrochen, vielleicht auf ewig. – –

Und doch, wie dankbar müssen wir alle heute sein, da uns das Schwerste gnädig erspart worden!

75 Wenn nur die Aufregung ohne böse Folgen an der alten Frau vorübergehen möchte; sie war stark in Gefahr, und wenn die Spannung nachließ, würde nicht die zarte Gesundheit dafür büßen müssen? Mir schlug plötzlich das Gewissen: ich war ein wenig grollend von ihrem Bette fortgegangen und hatte mich während mehrerer Stunden nicht um sie bekümmert.

Im nächsten Augenblick schon war ich auf dem Wege zu ihr. Als ich in das Wohnzimmer trat, brannte die Lampe noch nicht, aber ich sah schattenhaft die Gestalt der Großmutter inmitten des Raumes stehen.

»Bist du aufgestanden?« fragte ich, »wie geht es dir denn?«

»Gut!« antwortete sie kurz. »Wo steckt ihr nur alle?« schalt sie dann, »kein Mensch ist zu finden, einzig und allein die Kathrin war 'mal wieder auf dem Platze.«

»Warst du in der Küche, Großmutter? Hat dir Kathrin – hast du mit ihr gesprochen?« stotterte ich. »Denke doch, ohne sie, Großmutter – liebe Großmutter –«

»Was willst du denn eigentlich?« fragte sie laut, »was denkst du denn? Ich habe ihr gesagt: ›Kathrin,‹ habe ich gesagt, ›du wirst doch nicht fort wollen von mir? Gelt, Kathrin, wir zwei können uns doch gar nicht trennen?‹ und dann, als sie dagestanden hat wie Loths Weib, da bin ich –« Großmutter schluckte ein paarmal, als habe sie etwas in der Kehle – »da habe ich meine Arme um ihren Nacken gelegt und habe sie geküßt. – Kind, lache mich nicht aus, ich konnte nicht anders, wirklich nicht –« und ihre Stimme erstickte in Tränen.

»Großmutter!« schrie ich entzückt, »du bist ein Engel – du bist – so etwas gibt's gar nicht mehr!« Und ich küßte sie so ungestüm, und dann stürzte ich hinunter in die Küche und tat, was Großmutter getan.

»Kathrin, Sie bleiben bei uns, Sie bleiben!« jubelte ich, und Auguste stand dabei und machte ein saures Gesicht.

»Fräulein,« begann sie, »ich wollte nur bitten, sagen Sie doch der gnädigen Frau, wenn ihr's recht ist, ziehe ich zum ersten Mai wieder ab; ich habe heute einen Brief gekriegt von – –«

»Von Nommels Großmutter?« rief ich.

»Nee, nich von Nommels Großmutter – von meinem Schatz, ich tu' heiraten,« erklärte sie empfindlich.

»Schön, Auguste; ich bin überzeugt, daß Großmutter Ihrem Glück nicht im Wege stehen wird.«

»Fahren Sie man ab mit gutem Winde,« erklärte Kathrin, deren Wut auf die »Neue« jetzt nicht mehr einzudämmen war, »for meinswegen heute abend noch.«

»Sie haben hier gar nichts zu sagen! Spielen Sie sich man nich auf, als ob Sie Wunder was bei der Gnädigen gelten täten!« rief Auguste.

Da stellte sich Kathrin in ihrer ganzen Massigkeit vor die »Neue« hin, die Arme in die Seite gestemmt. »Ob ich hier was gelten tue?« rief sie, »na, ich dächte doch! Hat Ihnen Ihre Herrschaft denn schon geküßt? Ich meine, eine von Ihren Madams? Das hat sicher nich 'mal Nommels Großmutter getan. Denn ihr halte ich for eine ganz vernünftige Frau, weil daß sie Sie nicht behalten hat im Dienst. Na also, und nun machen Sie man keine Fisimatenten und drücken Sie sich gefälligst aus meiner Küche. Und zur Hochzeit brauchen Sie mich auch nich einzuladen, weil, daß ich zu eine angehende Mörderin doch nich 77 komme; und Sie können man Gott danken, daß das Kind nich an Ihrer offen gelassenen Türe gestorben is – Sie – Sie –«

»Kathrin!« rief ich entsetzt, »wenn Großmutter Sie hörte!«

»Kann mich hören, Fräulein, gnä' Frau kann mich hören, sie weiß, wie ich's meine, denn jetzt kennt sie mir, und auf diese Welt kann uns nichts mehr trennen, ausgenommen, ich müßte heiraten. Nee, Fräulein, nu stecken Sie sich man lieber nich zwischen Ihre Großmutter und mir, wir beide sind einig for immer.«

Und so war's auch. Kathrin hat der alten Frau in guten und bösen Tagen beigestanden; sie ist bei ihr gewesen, als Großvater so plötzlich starb, und hat ihr selbst die Augen zugedrückt, als sie uns im hohen Alter entrissen ward. Großvater hatte Kathrin die Rettungsmedaille verschafft; sie trug dieselbe an allen hohen Festtagen, auf ihrer eigenen Hochzeit, bei Begräbnissen und Taufen in unserer Familie und wenn sie zum heiligen Abendmahl ging. In ihren letzten Lebensjahren äußerte sie noch einen Wunsch, den sie immer wiederholte. Sie lebte in einem sogenannten Spittel, hatte dort ein nettes Stübchen und ruhte, Strümpfe strickend und Kaffee trinkend, aus von ihrem arbeitsvollen Leben, und wenn ich sie besuchte, dann sprach sie gern von ihrem Tode, und endlich kam auch der Wunsch: einen recht feinen Sarg und einen schönen Nachruf im Wochenblättchen! Wenn 78 sie das sicher wüßte, dann könnte sie sich doch noch auf etwas freuen auf dieser Welt. Ich versprach es ihr.

Und als sie heimgegangen war, da stand im Wochenblatt zu lesen, daß Kathrin So und So, geborene Zeugler, Inhaberin der Rettungsmedaille, die treueste Seele gewesen, nicht nur als Dienerin, sondern auch als Freundin, die mit Gefahr ihres eigenen Lebens ihre Herrschaft vor großem Schmerz bewahrte. Unterschrieben: Die dankbaren Familien v. Stetten und v. Reinecke.

Meine Schwester Gretchen stiftete den Sarg; ihr Sohn, der Leutnant v. Reinecke, einen herrlichen Kranz, und seine niedliche Braut am Arm wanderte er beim nächsten Urlaub hinaus auf den Friedhof zu Kathrins Grab.

Ja, ja, wenn diese Kathrin nicht gewesen wäre, diese ungeschlachte, ungebildete Kathrin, die dennoch das Beste besaß, was es auf der Welt gibt: ein treues Herz!


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