Moritz Heimann
Wintergespinst
Moritz Heimann

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2

Inzwischen war ihr Mann – Kaps hieß er – ins Dorf gegangen. Was er gesehen hatte, reichte an sich schon aus, seine Wut herauszufordern; und obendrein, da der Junge schon zwölf Jahre alt war und in den Konfirmandenunterricht ging, mußte es nichts Geheures sein, was dahinter steckte. Er wollte es herausbekommen, aber ohne zu fragen.

So humpelte er die Straße entlang, mit der sachlichen, ehrbaren Miene, die er immer aufsteckte, wenn er davor war, auf ein paar Tage oder Wochen aus der Ehrbarkeit zu fallen. Nur als eine große Frau, gegen die Kälte schlecht verwahrt, mit flatternden Röcken an ihm vorbeirannte, wurde er unbefangen und rief ihr einen gutmütigen Zynismus nach. Sie kehrte sich nicht daran und eilte weiter; er traf den Schmied vor der Tür unter der kahlen Kastanie, wies hinter der kräftig Laufenden her und sagte: »Ist kaltes Wetter, Bertold; da merkst du nicht, wer faul, wer fleißig ist; sie rennen alle.« Der Schmied sah aufmerksam nach dem Wirtshaus hinüber, wo eben ein großer Schlächterwagen abfuhr. Zerstreut wandte er sich zu Kaps und fragte, was er bringe; ob die Kette entzwei sei und ob die Arbeit gleich gemacht werden müsse? »Es hat Zeit, Bertold«, antwortete Kaps stotternd, »morgen früh«, er zwinkerte, »morgen früh«, und steuerte dem Wirtshaus zu.

Die Neigung, Unfug zu treiben, rumorte ihm in den Gliedern, aber die Trinkstube war leer, und es blieb ihm nichts übrig, als sich still hinzusetzen und zu warten. Er wählte seinen Platz in der Hölle, dem bequemen breiten Raum zwischen Ofen und Wand. Der Wirt schlief hinter dem Schenktisch auf seinem Stuhl wieder ein, und geduldig wartete Kaps, fast ohne sich zu regen.

Es war schon Dämmerung in der Stube, als der Wirt erwachte. Er gähnte, räkelte seine untersetzte Gestalt und strich sich den dichten, roten Vollbart zurecht. Dann ging er in das Wohnzimmer und holte sich seinen Vesperimbiß. Er goß allerlei Getränk zusammen, wobei er sich zuweilen unterbrach, um breite Zwiebelscheiben auf ein Butterbrot zu schneiden, von dem er dann große Happen mit Salz bestreut in den Mund schob und gründlich kaute. Er tat so, als ob er so seines Gastes nicht sonderlich achte, und jedenfalls nicht verwundert sei, ihn um diese Zeit im Krug statt bei der Arbeit zu sehen. Und das tat er in der abgründigen Verlogenheit seiner Natur, um sich ein gutes Gewissen vorzuschwindeln: denn eigentlich war es ihm verboten, dem Kaps, der öffentlich als Trinker gebrandmarkt war, einzuschenken. Er war es vor Jahren gewesen, der Kaps so grob vor die Tür geworfen hatte, daß der Trunkene sich das Bein brach; stöhnend blieb er damals fast eine Stunde lang liegen, ohne daß man ihm half. Die polizeiliche Untersuchung, die eingeleitet wurde, verflüchtigte sich, niemand wußte wie. Aber das wußten alle, daß, falls er hatte Geld zahlen müssen, der Wirt es wohl verstanden haben würde, die Summe auf ein lächerlich geringes Maß zusammenzudrücken. Und nicht einmal auf Kapsens Kundschaft hatte er lange zu verzichten gebraucht; der kam ihm von selber wieder, bat, bettelte, trank und ließ sich wieder hinauswerfen; und der Wirt hatte dabei noch die Genugtuung, ihm das Getränk verweigern oder gewähren zu können, je nachdem es ihm beliebte, sich der Polizeivorschrift zu erinnern oder nicht.

Heute vergaß er sie, und als Kaps, mitten in dem verständigen Gespräch, das er angefangen hatte, sich wie beiläufig und mit einer sanften Selbstverständlichkeit Schnaps erbat, setzte er ihm das gewünschte, ungefüge Maß vor. Sie unterhielten sich wie ehrsame Leute, und Kaps holte sich, aus seinem warmen Sitz hinauslangend, ein Maß nach dem andern vom Schanktisch.

Langsam erblindete das Haus in der frühen Winterdämmerung, zitterte an Mauern und Fenstern, wenn ein Wagen vorüberfuhr, und wurde nach jedem Zittern schweigsamer und toter. Die Stimmen der beiden Männer versuchten unwillkürlich in heimlicherem Klang zu ertönen, dem Flüstern nahe; am Ende schwiegen sie. Der Wirt unterschied kaum noch des Trinkers fahles Gesicht.

Allmählich wurde es draußen vollends dunkel; ein paar Fuhrwerke waren heimgekommen, die Schulkinder klapperten nach Hause, und durch die feuchten Scheiben sah man schon Licht verzerrt aus dem gegenüberliegenden Haus herstrahlen. Da hob sich der Wirt von seinem Stuhl und bequemte sich, die Lampe anzuzünden, die armselig und ohne Glocke von der Decke niederhing. In dem Licht blinzelte der Trinker stark und schüttelte sich; der Wirt sah ihn an und bemerkte auf seinen Backenknochen feuerrote Flecken. »Na«, sagte er, »Albert, nun hast du wohl genug?« »Gib mir noch einen«, bat überredend Kaps und schob, wie er es jedesmal getan hatte, das Geld hin. Der Wirt gab schweigend das Verlangte her.

Sie waren wieder stille, nur unbehaglicher, ungeduldiger und wartend. Das Dorf meldete sich mit keinem Laut; es glitt von dem Schlummer des Tages nach der kurzen Vesperunterbrechung in den Schlummer der Nacht hinüber.

Endlich, gegen sechs Uhr, klang die Glocke an der Ladentür; ein Handwerksbursche trat ein, bot die Zeit und setzte sich an einen der Tische. Es war ein Mensch von ungefähr vierzig Jahren, mit einem hageren und blassen Gesicht, sonst aber, auch was seine Kleidung anging, nicht schlecht im Stande. Er forderte Schnaps und fragte, was er zu essen bekommen könne. Der Wirt schlug Pellkartoffeln und Heringe vor, worauf der Handwerksbursche sich eine Portion bestellte.

Kaps in seiner Ecke wurde kribbelig. Es trieb ihn, mit dem Fremden anzubandeln, aber er wußte den Anfang nicht. Es machte ihm keinen Spaß, die Leute geradezu auszufragen, sondern er wollte sie ertappen, und er hatte sich eine kunstvolle Art ausgebildet, die Menschen aufzuziehen, indem er es vorzog, sie nicht bei offenbaren wunden Stellen ihrer Existenz anzurühren, was ein einfaches Verfahren mit Hieb und schnellem Gegenhieb gewesen wäre; sondern er tippte am liebsten dort an, wo er keine Schande, sondern leichte Scham und Verlegenheit annehmen konnte; etwa den Beruf bei Lehrern, die sich ärgerten, wenn man sie Schulmeister hieß; oder die Religion, wenn er den Verdacht hatte, daß ein jüdischer, geschniegelter Reisender nicht gerne daran erinnert wurde.

Bei dem Fremden wußte er nicht einzuhaken. Der saß anständig und unbefangen da und wie einer, der noch einen Groschen Geld in der Tasche hat. Aber Hunger hatte er, und als ihm das Essen aufgetragen wurde, machte er sich eifrig darüber her. Kaps, der ihn beobachtete, sah, wie er jedesmal das Messer kräftig in die Kartoffel schlug und immer mit demselben übertriebenen Schwung das Stück der Schale abzog. Und mit einem Male wußte er Bescheid. Er erhob sich aus seiner Hölle und setzte sich, sein Glas mit sich führend, an den Tisch des Handwerkers, ihm immer auf die Hände schauend. Jener sah mit Selbstbewußtsein strafend auf, merkte aber, wes Geistes Kind er vor sich habe, und gab sich zufrieden. Kaps grinste und begann das Gespräch: »Sie suchen wohl Arbeit?« Er bekam keine Antwort. Kaps ließ sich nicht irre machen. »Sie, wenn Sie Arbeit suchen, dann gehen Sie zu Jakoben.« Der Wirt lachte laut auf. Der Handwerksbursche begann ärgerlich zu werden, zumal er von dem Wirt auf seinen fragenden Blick nur ein erneutes Gelächter einheimste.

Da wollte es der Zufall, daß ein hageres Männlein hereinkam, mit einer jämmerlich knarrenden Stimme sich ein Fläschlein füllen ließ und so schattenhaft verschwand, wie es gekommen war. Der Wirt lachte noch einmal auf, und Kaps setzte sein Verfahren mit steigender Lustigkeit fort. »Wissen Sie, wer das war? Das war Jakob.«

Dem Handwerksburschen begannen die Bissen im Schlund zu quirlen, er schlug das Messer auf den Tisch und schrie sein Gegenüber an: »Lassen Sie mich in Ruhe! Verstanden? Saufkopp!« Da stand Kaps auf und entlud eine gut gespielte Entrüstung in großen Bewegungen seiner rechten Hand. »Was, Saufkopp? Jakob! Jakob ist ein Meister, und Sie sind kein Meister. Und Jakob ist der Schneider im Dorf, und Sie sind auch ein Schneider!« – und nun gab es kein Halten mehr. Er war über den toten Punkt hinaus, und der Trunk und die zurückgestaute Aufregung raubten ihm die Gewalt über sich, das absichtliche Spielen schwand aus seinem Betragen. Indem er auf dem gesunden Bein zu stehen versuchte, aber immer das kranke zu Hilfe nehmen mußte und mit den Armen fuchtelte, tobte er gegen den Handwerker: »Was? Du bist kein Schneider? Jedem ist anzusehen, ob er ein Schneider ist. Ziehst die Pelle von der Kartoffel lang wie einen Faden, wie einen Heftfaden ziehst du, und willst kein Schneider sein? Mäh, mäh!« Da aber stand der entlarvte Schneider auf, sprang um den Tisch und packte den trunkenen Mann in die Weichteile; er hob ihn hoch, trug ihn bis zum Ofen und stauchte ihn kräftig auf seinen früheren Sitz nieder. Schneider werden gemeinhin verleumdet: sie sind zum größern Teil kräftige Leute.

»So, da bleib!« bestätigte er die Exekution, und schnaufte mehr aus Stolz als von der Anstrengung. Dann setzte er sich wieder an seinen Tisch, aber essen konnte er doch nicht mehr. Kaps verhielt sich still; der Schneider war still; dann sagte der Wirt: »Ruhe im Lokal! Keine Stänkerei! Wer sich in meinem Lokal unanständig beträgt, fliegt raus!« »Geben Sie mir noch einen Schnaps«, sagte der Schneider, und der Wirt brachte ihn. Eine Weile später kamen ein paar Leute, holten sich Zigarren und gingen wieder, oder setzten sich zu Bier und Schnaps an die Tische. Jedesmal, wenn einer kam, humpelte Kaps auf, näherte sich dem Schneider, ließ sich aber von dessen drohendem Blick zurückscheuchen, ohne einen Angriff zu versuchen. Aber still war er nicht mehr in seiner Ecke. Er brummelte vor sich hin, machte mit Hand und Kopf beweisende Gesten und wurde immer aufgeregter.


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