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Ich gedachte des Wortes vom »guten moralischen Magen«, mit dem Manfred die Unterhaltung über Ödipus beschlossen hatte, und schnell wählend las ich folgende Stelle vor:
»»Neapel, den i. Juni 1787. Die Ankunft des Marquis Lucchesini hat meine Abreise auf einige Tage weiter verschoben, ich habe viel Freude gehabt ihn kennen zu lernen. Er scheint mir einer von denen Menschen zu seyn, die einen guten moralischen Magen haben, um an dem großen Welttische immer mitgenießen zu können. Anstatt daß unser einer wie ein wiederkäuendes Thier ist, das sich zuzeiten überfüllt und dann nichts wieder zu sich nehmen kann …;«« Manfred lachte: »Haha, Lucchesini, der letzte Vertraute des bösen Friedrich, kommt vom Sarge des preußischen Voltaireschülers, um den tugendhaften deutschen Dichter und Zögling der Frau von Stein zu vergiften. O weh, daß Goethe sich einen guten moralischen Magen anschaffen wollte, um an dem großen Welttische immer mitgenießen zu können, das ist gerade, was seine gestrenge Freundin ihm nicht verzeihen konnte.«
Manfred erbat sich den Band – es war die Julius Petersensche Ausgabe – und las aus dem Anhang die Worte vor, welche die erbitterte Frau von Stein in ihrem Drama »Dido« dem treulosen Dichter in den Mund legt: »»... ich war einmal ganz im Ernst an die Tugend in die Höhe geklettert, …; aber es bekam meiner Natur nicht, ich wurde so mager dabei: jetzt, seht mein Unterkinn, meinen wohlgerundeten Bauch, meine Waden, sieh ich will dir freimütig ein Geheimnis offenbaren; erhabene Empfindungen kommen von einem zusammengeschrumpften Magen.««
Manfred lachte aufs neue: »Arme Frau von Stein! Welch schreckliche Selbstentlarvung! Ob wohl Hugo von Hofmannsthal die Verfasserin der »Dido« ebenso hätte retten können, wie er die Prinzessin des »Tasso« gerettet hat?«
Und immer lachend rief Manfred mit schauspielerischem Nachdruck: »Allmächtiger Goethe! der aus ärmlichem Lehm Marmorbilder schuf! Unselige Dichterin, die es versuchte, selbst den Erhabenen in den Staub zu ziehn.«
Dann blätterte Manfred in dem Briefwechsel und sagte: »Hören Sie dies, aus der Zeit vor der italienischen Reise: »25. Juni 1786. Ich korrigiere am Werther und finde immer, daß der Verfasser übel gethan hat sich nicht nach geendigter Schrift zu erschiesen. Heute Mittag ißt Wieland mit mir, es wird über Iphigenien Gericht gehalten …;« Damals ahnte Goethe noch nicht, daß das große Gericht über Iphigenie erst in Rom abgehalten und daß ihr ein Todesurteil auf den Rücken gezählt werden würde, in »des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand«!«
Wir mußten lachen über diese Verdrehung des Verses aus den Elegien; aber Manfred fuhr fort: »Die Römischen Elegien sind zum Teil vielleicht gleich nach dem Zusammentreffen mit Lucchesini gedichtet worden.« Und er las wieder aus Goethes Briefen vor: »»In ihm hab ich einen rechten Weltmenschen gesehen und recht gesehen warum ich keiner seyn kann.« Das ist Schwarzseherei, die abzuschütteln Goethe gleich darauf in Rom ernsthaft versucht hat.« »Goethe kein Weltmann?« fragte ich ungläubig und erinnerte an seinen Kölner Albumvers:
... mit Sturm und Feuerschritten:
Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten.
Manfred: »Ja damals! da meinte er noch alle Arbeiten des Herkules verrichten zu können. Er entdeckte aber bald, daß selbst in Weimar die Bäume nicht in den Himmel wachsen, nachdem ihm dort eine neue Auffassung vom Weltmann aufgegangen war, und besonders nachdem er dann in Rom auch dieses neue Wunschbild als noch weit unter dem stehend erkannt hatte, was seinen besten Kräften gemäß gewesen wäre. Ich will Ihnen etwas Beachtenswertes mitteilen, was sonst vielleicht noch wenige bemerkt haben. Ich hatte vor Jahren einmal Gelegenheit, Auszüge zu machen aus den unveröffentlichten Tagebüchern eines Berliner Höflings der friderizianischen Zeit. Was glauben Sie, dieser Graf Lehndorff war der Tischnachbar Goethes bei dessen Besuch in Berlin!«
Hegemann: »Gab es denn in Berlin Höflinge zur Zeit Friedrichs des Großen?«
Manfred: »Gewiß doch! Was war denn Lucchesini anderes als ein Berliner Höfling? Außerdem, vergessen Sie nicht, der Philosoph von Sanssouci hatte auch eine Frau; und nicht nur die hatte einen Hofstaat, sondern auch beim Prinzen Heinrich und seinen Brüdern wurde nicht wenig Hof gehalten und viel über Friedrich geschimpft. Auch der Thronfolger, Friedrichs Neffe, widmete sich damals schon fleißig seinen eigenen und anderen Frauen. In dieses Berlin kam Goethe, im Augenblick, wo Friedrich II. wieder einmal zu einem seiner Bürgerkriege, dem »Kartoffelkriege«, gegen das Deutsche Reich zog. Mit dem Herzog von Weimar speiste Goethe beim Prinzen Heinrich, und nach Tisch, während Goethe an Frau von Stein schrieb, schrieb sein Tischnachbar in sein Tagebuch: über Goethe, schrieb – auf französisch natürlich – was »der berühmte Verfasser des Werther und des Götz von Berlichingen« ihm für einen Eindruck gemacht hat. Ich habe die Abschrift auf meinem Zimmer, ich will es Ihnen vorlesen, es ist ausgezeichnet! ausgezeichnet!«
Manfred führte mich auf sein Arbeitszimmer. Von einem Analektenberge, den ihm die Versteigerung eines Gelehrtennachlasses ins Haus gebracht hatte, nahm er einen Sammelband und las bald übersetzend vor: »»Es ist ein prächtiger junger Mann, der etwas so Liebenswürdiges an sich hat, daß jeder ihm wohlwill. Er hat ohne Frage viel Geist, und besonders besitzt er den feinen Umgangston, der auf die Umgebung so bestechend wirkt. Alle unsere alten Generale haben ihn gern, wie natürlich auch unsere jungen Frauen. Er sieht sehr interessant aus und tanzt zum Entzücken«. Und damit nicht genug; hier ist noch eine Auslassung über ein zweites Zusammentreffen: »Ich habe noch keinen jungen Mann kennengelernt, bei dem so viel vortreffliche Eigenschaften vereint gewesen wären. Er verbindet die Weisheit eines Nestor mit der Anmut und dem Zauber der Jugend selbst. Auf allen Gebieten ist er zu Hause, und nachdem er über Politik, über Kriegskunst und über ganz abstrakte Gegenstände sich verbreitet hat, spielt er noch Blindekuh mit mehr Gewandtheit als jeder andere.««
Manfred sah mich strahlend an; ich stimmte bei: »Wirklich, eine meisterhafte Schilderung; Goethe, wie er leibt und lebt, man glaubt, man höre Wieland über Goethes erstes Erscheinen in Weimar. Da haben Sie auch gleichzeitig den besten Beweis dafür, daß Goethe der geborene Weltmann war!«
Manfred schien sich über das Gelingen eines harmlosen Scherzes zu freuen. »Halt,« rief er, »ich habe Ihnen da irriger Weise nicht Graf Lehndorffs Urteil über Goethe vorgelesen, sondern die auf derselben Seite gegebene Beschreibung des »jungen Grafen Noailles, Sohnes des Herzogs von Mouchy und Urenkels Ludwigs XIV. und der Frau von Montespan, der in Windeseile aus Frankreich nach Berlin gereist ist, um als Freiwilliger mit der preußischen Armee gegen Österreich zu ziehen«. – Sie verstehen, das in Schulden und anderen Nöten steckende Frankreich hatte mit der Hilfe gezögert, die der große Friedrich auch 1778 wieder zum Kampfe gegen den deutschen Kaiser von den Franzosen erbeten hatte; aber der junge Graf Noailles wollte es seinem Vater und Großvater, den Marschällen, gleichtun, die beide schon als Friedrichs Bundesgenossen für Frankreich gegen den Kaiser gekämpft hatten. Doch hier, auf derselben Seite, ist Lehndorffs Schilderung Goethes, der gleichzeitig mit dem französischen Grafen beim Prinzen Heinrich zu Gast war; hier ist also Gelegenheit, die Wirkung zu vergleichen, die der beste Deutsche und ein vornehmer Franzose an jenem Abend erzielten. Hier erzählt Lehndorff vom »berühmten Verfasser des Werther und des Götz von Berlichingen, den der Herzog zum Geheimen Rat gemacht hat. Dieser beherrscht ihn jetzt, nachdem er den früheren Hofmeister, den Grafen Goertz, verdrängt hat«. Graf Goertz, vergessen Sie nicht, das Urbild des Tasso-feindlichen Antonio, ist von Weimar, wo Goethe ihn »verdrängt hat«, in den Dienst Friedrichs II. getreten und hat eine bedeutsame Rolle in Friedrichs neuen Ränken gegen den Kaiser gespielt. Er ist derselbe Goertz, der von Wieland unter das »Geschmeiß« gerechnet wurde und der die Berliner »Freuden des jungen Werther« von Nicolai bewunderte und nach eigenem Geständnis gern ihr Verfasser gewesen wäre; und derselbe Goertz, der, plötzlich in die Gunst Friedrichs II. aufgenommen, gerade im bayrischen Erbfolgehandel von 1778, man kann beinahe sagen: Goethes Gegenspieler wurde. Später, nachdem Goertz in dieser Sache seinem neuen Herrn, Friedrich II., erfolgreich gedient – ihm geradezu geholfen hatte, Goethes Fürstenbund-Plan zu durchkreuzen – wurde er als preußischer Gesandter zur »Semiramis des Nordens« nach St. Petersburg geschickt, in die größere Welt, in die einst Goethe seinem Freunde Merck in Gedanken sehnsüchtig gefolgt war.«
Hegemann: »Wovon reden Sie? Goethes Fürstenbund-Plan?«
Aber Manfred, der auf diese Frage später so ausführlich geantwortet hat, schien sie vorläufig noch zu überhören und fuhr fort:
»Aber vernehmen Sie weiter, was Graf Lehndorff über Goethe zu sagen hat:
»»Dieser Herr Goethe ist bei der Tafel mein Nachbar. Ich tue mein möglichstes, ihn zum Sprechen zu bringen, aber er ist sehr lakonisch. Er dünkt sich augenscheinlich zu sehr Grandseigneur, um noch als Dichter zu gelten. Das ist im allgemeinen der Fehler der Deutschen von Bildung, daß sie, sobald sie die Stellung eines Vertrauten erlangen, unerträglich hochmütig werden. Prinz Heinrich fragt Herrn Goethe, ob sich in den Archiven von Weimar nicht Briefe von dem berühmten Bernhard von Weimar fänden. Der junge Herzog behauptet, daß es solche gebe. Dieser große Gelehrte weiß davon aber nichts. Das macht auf mich einen recht schlechten Eindruck. Da das eine der ruhmreichsten Epochen für das herzogliche Haus ist, so müßte er wohl damit vertraut sein.««
Manfred fuhr fort: »Gleichzeitig berichtete auch die von Friedrich II. verachtete Berliner Dichterin Karschin, welcher Goethe einen freundlichen Besuch gemacht hatte, an Gleim über den Eindruck, den Goethe in der Berliner Gesellschaft hinterließ: »Goethe ist Eines Tages bey Einem Baron auffm Concert gewesen und da hatt ihm die ganze Versammlung sehr stolz gefunden, weill er nicht bückerling und handkuß Vertheiltte, man spricht, daß ihm der Kayser baronisiren wird.« Auch auf den Grafen Lehndorff machte Goethe also »einen recht schlechten Eindruck«! Wie sich das alles ergänzt! diese Äußerung des Tischnachbarn Goethes muß man zusammenhalten mit dem, was Goethe gleichzeitig an Frau von Stein schrieb: »Ich dacht heut an des Prinzen Tafel dran, daß ich Ihnen schreiben müßte, es ist ein wunderbarer Zustand, eine seltsame Fügung« und so weiter im Wertherton. Er dachte an Charlotte von Stein, statt mit dem gräflichen Tischnachbarn zu plaudern und mit den Generalen, die er »halbdutzendweis gegenüber gehabt«. Der Stolz, in solcher Gesellschaft getafelt zu haben, hinderte Goethe nicht, die Hofgesellschaft Friedrichs des Großen zu durchschauen: Ich »hab über den großen Menschen seine eigenen Lumpenhunde raisonnieren hören.«« Ich mußte lachen: »Lumpenhunde! man muß es dem Grafen Lehndorff gönnen; er hat wahrlich nicht verdient, neben Goethe zu sitzen.«
Manfred: »Ist es nicht lächerlich? der Graf nennt Goethe »unerträglich hochmütig«, und Goethe nennt die adligen Herren Lumpenhunde und schwört, »keine Zote und Eseley der Hanswurstiaden ist so ekelhaft als das Wesen der Großen, Mittlern und Kleinen durcheinander«.«
Hegemann: »Wirklich, das geschieht den Kerls recht!«
Manfred: »Wem geschieht was recht? Der Dichter hat recht, aber der Hofmann hat auch recht.
Zwei Männer sind's, ich hab es lang gefühlt,
Die darum Feinde sind, weil die Natur
Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte.
»Goethe möchte dieser eine Mann sein und sich dann mit Stolz einen Weltmann nennen. Wenn er nach der Berliner Reise am 5. August 1778 an Merck schrieb: »... ich hab in preußischen Staaten kein laut Wort hervorgebracht, das sie nicht könnten drucken lassen. Dafür ich gelegentlich als stolz etc. ausgeschrieen bin«, so schilderte er damit vielleicht nicht nur seine notwendige Anpassung an die unfreie Berliner Luft, die zum zweitenmal zu betreten er zeitlebens vermied, und vielleicht nicht nur die Besorgnis, seine »Verschwörung« gegen Friedrich II. hätte in Berlin ans Licht kommen und ihn dort dasselbe Schicksal ereilen können, wie etwa gleichzeitig den Verfasser der geistvollen antifriderizianischen Schrift »Matinées du roi de Prusse«, der unbesonnen Preußen betreten und bis zu seinem Lebensende in Spandau die friderizianische Pressefreiheit »niedriger hängen« mußte. Nein, Goethe hat bitter empfunden, daß etwas in dem ungünstigen Urteil berechtigt war, das Graf Lehndorff und Leute verwandten Schlages über ihn fällen mußten. Er hat sogar den Verweis wegen seiner Unkenntnis über Bernhard von Weimar ernst genommen und sich im folgenden Jahre mit den Vorarbeiten zu einer Lebensgeschichte Bernhards von Weimar beschäftigt. Nichts ist Goethes Wesen schließlich fremder, als mit Frau von Stein in sittlicher Entrüstung über die »Zoten« der menschlichen Hanswurstiaden den Kopf zu schütteln. Er möchte viel lieber ein Weltmann sein mit dem »gesunden moralischen Magen« Lucchesinis und sagen, wie hier im Briefe an Frau von Stein vom 9. Dezember 1777 (Manfred las vor): »Die Menschen streichen sich recht auf mir auf, wie auf einem Probierstein, ihre Gefälligkeit, Gleichgültigkeit, Hartleibigkeit und Grobheit, eins mit dem andern macht mir Spaß – Summa Summarum es ist die Prätension aller Prätensionen, keine zu haben.««
Manfred fuhr fort: »Wir sind heute geneigt, Goethe hauptsächlich als Dichter und Gelehrten, und Weimar als seinen passendsten Aufenthaltsort anzusehen; für Goethe war das 1786 noch nicht so eindeutig festgestellt. Noch 1823 (23. IX.) und 1827 (3. V.) klagte er bitter, wie kümmerlich der Boden für Dichtkunst und weltmännische Bildung doch in Weimar sei, verglichen etwa mit Paris. In Straßburg hatten seine Lehrer seine Begabung für »Geschichte, Staatsrecht und Redekunst« erkannt, und er hatte von einer Stellung in der »deutschen Kanzlei in Versailles« geträumt. Er hat sich dann schnell in die deutsche Reichshauptstadt begeben, denn das war ja Wetzlar, wenigstens in Rechtsfragen, zur Zeit Goethes. Seit Goethes Anwesenheit in dieser Reichshauptstadt haben ja auch die Herzen aller Empfindenden des Römischen Reiches und des abgefallenen Restes der Welt nach dieser Stadt Werthers gedrängt. Aber so oft hat seit alters die Höhe einer Kultur dem Grade ihrer Zentralisierung in ihrer größten Stadt entsprochen, daß es natürlich ist, wenn führende Geister in größere Städte als Wetzlar oder Weimar, ja in die größten Städte ihres Sprachgebietes drängen …;
»Was Goethe den Deutschen ist, war Voltaire in Frankreich; Goethe nennt ihn »den höchsten unter den Franzosen denkbaren Schriftsteller« und sagt von ihm: »Auf tätiges und geselliges Leben, auf Politik, auf Erwerb im Großen, auf das Verhältnis zu den Herren der Erde und Benutzung dieses Verhältnisses, damit er selbst zu den Herren der Erde gehöre, dahin war von Jugend auf Voltaires Wunsch und Bemühung gewendet …; Katharina und Friedrich die Großen, Gustav von Schweden, Christian von Dänemark, Poniatowski von Polen, Heinrich von Preußen, Karl von Braunschweig bekannten sich als seine Vasallen.« Voltaire war in der Tat der geistige Herr Europas; genug, um den nacheifernden Ehrgeiz eines jungen Dichters zu entflammen, dessen Geist nicht weniger umfassend war als der Voltaires. Milton, Ariost, Dante und Plato waren politisch tätig; ich kann mir nicht denken, daß Goethe nach seiner politischen Niederlage nicht ein wenig gefühlt hat wie Tasso, als er seinen Dichterkranz zum eingebüßten Degen legte und klagte:
Geselle dich zu diesem Degen,
Der dich leider nicht erwarb.«
Hegemann: »Sie spielen wieder auf eine poliitische Tätigkeit Goethes an?« Aufs neue schien Manfred Ellis meine Frage zu überhören und fuhr fort:
»Wieviel gibt die Stellung, die der Weimarer Graf Goertz und der Italiener Lucchesini bei Friedrich II. bis zu dessen Tode eingenommen haben, zu denken! Wenn Goethe in seinem Briefe an Frau von Stein den Marchese Lucchesini als Weltmann bewundert, und wenn er von seiner eigenen Unfähigkeit spricht, ein Weltmensch zu sein, klingt es nicht gerade, als ob er sagte: ihr habt mich zwar gründlich umgewandelt in Weimar, aber was ihr mich gelehrt habt, hat mich nicht tauglich gemacht für das Spiel und die Geschäfte der großen Welt? Goethe ist kein »armer Edelmann, der schon das Ziel von seinem besten Wunsch erreicht, wenn ihn ein« kleiner »Fürst zu seinem Hofgenossen erwählen will und ihn der Dürftigkeit mit milder Hand entzieht«. Daß Goethes Herz in größere Welten als Weimar drängte, beweist das Glück, das er beim Aufenthalt in den Großstädten Rom und Neapel empfand. Als Goethe nach dem Tode der innig verehrten Kaiserin Ludovica, den er nie verwand, an Metternich schrieb, gestand er, daß er (wie vor ihm Leibniz, Gottsched, Wieland, Klopstock, Lessing) hoffend auch nach Wien geblickt hatte, um »diejenigen Gaben, welche Natur und Bildung mir verliehen, zu bedeutenden Zwecken treulich zu verwenden«. Auf Napoleons Einladung hin hat Goethe mit Talma Pariser Reisepläne erwogen. Aber der Kaiser, den Goethe – nach dem Sturze der Habsburger – »meinen Kaiser« nannte, mußte die Weltherrschaft, dank Preußen, an England und Rußland abtreten, bevor er seinen »Monsieur Goeth« in den Tuilerien begrüßen konnte. Für Goethe war Weimar kaum das letzte Ziel der Wünsche. Nach Berlin zurückzukehren hat er zwar nie für ratsam gehalten. Dennoch: als Lucchesini aus dem Allerheiligsten des »Riesen« von Sanssouci erzählte, mag Goethe mit den verzehrenden Augen der Sanvitale gelauscht haben:
Wie sehnlich wünscht' ich jene Welt einmal
Recht nah zu sehen!
»Lucchesini konnte mit seinen Aufschlüssen über den
... Greis, den würdigsten, dem eine Krone
Das Haupt belastet …;
wahrscheinlich auch weiter gehen als Antonio-Goertz in den Berichten, die er aus der größeren Berliner Welt zurück ins kleine Weimar zu Lebzeiten Friedrichs II. hatte machen dürfen. Da Goethe die Besuche bei Lucchesini eingestandenermaßen zwecks Einholung politischer Auskünfte erstattete, liegt es nahe, die eigentümliche Bemerkung über den »gesunden moralischen Magen« des Besuchten zum großen Teil damit zu erklären, daß Lucchesini über preußische Verhältnisse mit derselben Unbekümmertheit gesprochen hat, die das Lesen seines Tagebuchs heute so unterhaltsam macht. Lucchesini, der dem großen König für Gesandtschaftszwecke zu gut schien, {Verw. auf Anmerkung} war unter Friedrichs II. rücksichtsloserem Nachfolger preußischer Gesandter geworden – er weilte in Italien, um endlich den seit 1701 noch vorsichtig widerstrebenden Kirchenstaat zur Anerkennung der preußischen Königswürde zu bewegen; die Päpste kannten bis 1787 nur Markgrafen von Brandenburg. Der Vatikan mußte sich in der Tat beeilen, wenn er nicht zu spät kommen wollte; hat doch Friedrich der Große das Erlöschen der preußischen Königswürde nach seinem Tode vorhergesehen. {Verw. auf Anmerkung} Er ahnte nicht, daß ein Bismarck sie noch einmal für ein Weilchen würde galvanisieren können ( – genau wie ein Bonaparte die sinkende Monarchie Ludwigs XV. und XVI. noch einmal für ein Weilchen zu anspruchsvollem Leben erwecken konnte).
»Lucchesini wird kaum in der Art Mirabeaus vom jungen preußischen Hofe haben sprechen dürfen; aber da die neue teutschtümelnde Regierung in gewolltem Widerspruche zu der mit Friedrich II. dahingegangenen Franzosenherrschaft stand – die französische Steuer-Regie, das französische Theater, Französisch als ausschließliche Hofsprache waren vom Nachfolger abgeschafft; sogar zur preußischen Akademie war Deutschen nach Friedrichs II. Tode der Zutritt verstattet worden; für eine Weile nahm nur Prinz Henri noch Geldgeschenke vom Pariser Hofe – so hat es Lucchesini vielleicht nicht für unanständig gehalten, über die vielberufenen friderizianischen › Capricen‹ etwas von dem auszukramen, was in seinem Tagebuch stand und was bis 1885 der deutschen Öffentlichkeit unbekannt geblieben zu sein scheint – die übrigens aber gleich genug ›guten moralischen Magen‹ bewies, um das Mitgeteilte ohne Schaden für den Ruhm des Weisen von Sanssouci zu verdauen, › digérer avec la sagesse de Minerve‹ lautet eine der anmutigen Floskeln, die Friedrich der Große in seiner dissertation sur la littérature allemande erfunden hat, in der er Goethe Unterricht im guten Geschmack erteilte.«