Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

55. Das neue China.

Im Reich der Mitte herrschen noch Bräuche und Laster, welche die Ordnung einer neuen Zeit ausrotten muß. Am schlimmsten ist das Opiumrauchen, das ungefähr 150 Millionen der Bevölkerung vergiftet. Seit tausend Jahren ferner herrscht die greuliche Sitte, die Füße kleiner Mädchen gewaltsam durch feste Binden am natürlichen Wachstum zu verhindern und in kleine Stümpfe zu verwandeln. Die Schuhe der chinesischen Frauen sehen daher aus, als ob sie für Puppen bestimmt seien. Dieses Einzwängen verursacht während des Heranwachsens beständigen Schmerz, aber trotzdem will kein Mädchen das Zusammenschnüren unterlassen, denn wenn es keine kleinen Füße hat, bekommt es keinen Mann!

Eine barbarische Sitte, die jetzt auch schon verschwindet, ist das Aussetzen neugeborener Kinder seitens der Armen, denen die Mittel zur Erziehung der Kinder fehlen. Einmal sah ich im Graben außerhalb einer Stadtmauer die Leiche solch eines armen Geschöpfes liegen. Und doch behandeln die Chinesen ihre Kinder mit der größten Liebe. In Pautu in Nordchina wohnte ich bei einem schwedischen Missionar, der einmal ein kleines, eben ausgesetztes Kind gerettet hatte. Seine Gattin pflegte es mit der größten Zärtlichkeit, und das Kind war, als es ein paar Jahre bei ihnen gelebt hatte, ein niedliches, allerliebstes Geschöpf geworden. Da kamen die Eltern mit der flehentlichen Bitte um Rückgabe ihres Kindes, eine Bitte, die ihnen selbstverständlich gern erfüllt wurde. –

Die Strafen, die an Verbrechern vollzogen werden, sind unseren Begriffen nach unmenschlich. In Ostturkestan lassen die chinesischen Beamten dem Angeklagten flache silberne Nadeln unter die Nägel zwängen, um ihm ein Geständnis abzupressen! Eine gewöhnliche Strafe ist der große, viereckige Halsblock, der sich mit einem Schlosse öffnen und schließen läßt. Sein rundes Loch umschließt den Hals des Schuldigen, und das schwere Holz schleppt er auf den Schultern. Man läßt ihn dann mit diesem Block, der ihn an jeder Tätigkeit hindert, frei umhergehen.

Die Ehe ist bei den Chinesen eine ehrlich eingehaltene und ehrbare Institution; die Gattin ist ihrem Manne fast gleichberechtigt und steht ebenso gut wie er unter dem Schutz des Gesetzes. Der Obrigkeit erweist der Chinese die größte Ehrerbietung, und doch wird er von den Mandarinen aus eine Weise gequält und herumgehetzt, die in Europa schon längst blutige Revolutionen hervorgerufen haben würde. Daß dies in China erst jetzt geschehen ist, bewirkt die vieltausendjährige Sitte. Die Chinesen murren nicht, sie sind geduldig, fleißig und mit dem, was zum Lebensunterhalt genügt, zufrieden; sie begehren nicht mehr. Daß aber auch ihnen einmal die Geduld reißt, beweisen die überraschenden jüngsten Ereignisse. Im Jahre 1897 hörte ich in Nordchina von verheirateten Männern erzählen, die nur zwanzig Mark Jahreslohn erhielten! Jedenfalls lebten sie nur von dem Reis, den ihnen der Arbeitgeber schenkte; aber auch dann begreift man nicht, wie sie sich durchschlagen können. Und dennoch klagen solche Arbeiter nie. Sie sind heiter, freundlich und höflich, und dabei arbeiten sie vielleicht bei einem Teehändler, der viele Millionen besitzt. Die Arbeit an und für sich und die Menschenkraft werden also sehr niedrig bewertet. Die Waren befördert man viele hundert Meilen weit auf Menschenrücken. In Nordchina benutzt man dazu auch Maulesel, Kamele und zweiräderige Karren, aber im übrigen sind Straßen und Wege so schmal und schlecht, daß nur Fußgänger sie passieren können. An den Flüssen und an der Küste bedient man sich daher zur Warenbeförderung der Wasserstraßen.

Alle Freunde Chinas freuen sich über den Lichtstrahl, der in den letzten Jahren über diesem bewunderungswürdigen Lande und seinem gewerbfleißigen, vortrefflichen Volke aufgegangen ist. Allerdings konnte nur Gewalt den Widerstand der Chinesen brechen. Eisenbahn, Telephon, drahtlose Telegraphie machen keinen sonderlichen Eindruck auf einen Chinesen; die Eisenbahn findet er überflüssig, da man ja Beine zum Gehen und Flüsse zum Fahren hat; Telephon und Telegraph sind ebenso unnötig, man kann ja Eilboten schicken! Daß dies unvergleichlich viel länger dauert, macht in China gar nichts aus. Hier hat man es nie eilig; wenn nur alles gleichmäßig langsam geht, treten ja keine Störungen ein. In einer Gegend, wo gerade eine neue Telegraphenlinie in Betrieb genommen wurde, erklärten mir meine chinesischen Diener, das Papier, worauf das Telegramm geschrieben sei, laufe mit verzweifelter Geschwindigkeit in den Telegraphendrähten nach seinem Bestimmungsort, und die Isolatoren der Stangen seien kleine Häuser, in denen es bei Regen Unterkunft finde!

Vor etwa dreißig Jahren legten die Engländer von Schanghai aus versuchsweise eine kleine, nur 20 Kilometer lange Eisenbahn an. Als sie fertig war, wurde sie von der chinesischen Regierung angekauft; jedoch nicht um in Betrieb genommen, sondern nur um wieder zerstört zu werden! Schwellen und Schienen wurden aufgerissen und samt Wagen und Lokomotiven ins Meer geworfen. Jetzt allerdings haben sich die Chinesen in das Schicksal, das die Europäer und Japaner ihnen aufzwangen, finden müssen. Mehrere Bahnlinien durchschneiden das Land und andere sind teils im Bau, teils geplant. Die Chinesen bauen sogar nun selber einige Eisenbahnen. Die Linie zwischen Peking und Kanton überschreitet die beiden großen Flüsse, und die über den Gelben Fluß führende Eisenbahnbrücke ist achteinhalb Kilometer lang, also die längste Eisenbahnbrücke, die irgendeinen Fluß auf Erden überspannt!

Dies »Erwachen Chinas« wird von fortschrittlich gesinnten Männern geleitet, die europäische Verbesserungen einführen wollen, um dem Lande zu nützen. Denn die Erfahrung hat sie gelehrt, daß sie gegen Europa wehrlos sind, und sie wissen, daß die Großmächte schon darüber beraten haben, China unter sich zu teilen. Sie wissen, daß sie die Weißen nicht hindern können, sich gerade der Häfen zu bemächtigen, nach denen es sie gelüstet. Im Jahre 1894 kam es zwischen China und Japan zu einem Krieg, und China wurde völlig besiegt, weil seine Verteidigung zu schlecht organisiert war. Damals eroberten die Japaner die Insel Formosa und Port Arthur. Nachher dehnte Rußland sich nach dem fernen Osten aus, besetzte Port Arthur und legte in der Mandschurei Eisenbahnlinien an; 1898 verpachtete China an Deutschland für 99 Jahre Kiautschou. –

siehe Bildunterschrift

Tempel des Himmels in Peking.

Die Chinesen haben jetzt gelernt, daß ein Land ohne Kriegsheer, Flotte und Festungen zur Verheerung und Zerstückelung verurteilt ist, und sind nun endlich aus ihren alten Irrtümern erwacht. Heute besitzt China schon eine immer größer werdende Flotte und ein Heer von mehr als hunderttausend Mann, das mit den neuesten Gewehren bewaffnet ist und von japanischen Offizieren gedrillt wird.

Jetzt reisen junge Chinesen nach Europa und Amerika und studieren zu Zehntausenden an den Hochschulen Japans. China hat selbst viele Universitäten nach europäischem Muster gegründet, und es hat Zeitungen, in denen die Tagesfragen besprochen werden. In der Tiefe ihrer Seele denken gewiß die meisten Chinesen: »Laßt uns die Kriegskunst der Europäer gründlich erlernen, denn nur mit ihren eigenen Waffen können wir uns ihrer erwehren!«

Mit dem Jahre 1916 wird nun auch das Opiumverbot in Kraft treten. Die Chinesen, eine so kräftige, zähe und gutgewachsene Menschenrasse, werden dann noch mehr an Kraft und Gesundheit zunehmen. Sie werden ihr Land gegen fremde Eindringlinge und Eroberer zu verteidigen wissen. Die Europäer säen also jetzt Drachenzähne im Reich der Mitte! Aber einst wird der Drache sich erheben und seinen Erziehern die Krallen in die Brust drücken! Man spricht in Europa schon jetzt von der »gelben Gefahr«; man fürchtet eine neue Völkerwanderung von Osten her, unübersehbare Chinesen- und Japanerscharen, die Europa überschwemmen und den Weißen die Herrschaft über die Erde entreißen werden. Aber so schlimm wird es wohl nicht werden. Hoffen wir nur, daß die Chinesen verstehen werden, das zu verteidigen, was ihr Erbe und ihr Eigentum ist. Ein viertausendjähriges Erbe!


 << zurück weiter >>