Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8. Konstantinopel.

Wenn dich dein Schicksal je zu dieser Perle unter den Städten der Erde führt, dann verliere dich nicht erst in ihre engen schmutzigen Gassen, sondern begib dich schleunigst auf die obere Plattform des hohen Turmes, der mitten auf dem halbinselförmigen Vorsprung Stambuls, des türkischen Stadtteils, emporragt. Eine Landschaft von unvergeßlicher Schönheit breitet sich vor dir aus.

Du schaust auf ein Meer dicht aneinandergedrängter Holzhäuser in den buntesten Farben. Aus dem Dächergewirr des alten Stambul erheben sich die schlanken Türme der Minaretts und die runden Kuppeln der Moscheen. Unmittelbar zu deinen Füßen liegt der große Basar der Kaufleute und weiter hinten die Hagia Sophia, die vornehmste Moschee. Gleich Rom ist Stambul auf sieben Hügeln erbaut; die Täler dazwischen sind gefüllt mit grünen Baumgruppen und schattigen Gärten. Hinten im Westen sind noch die Türme der alten Stadtmauer erkennbar; darüber winken die düstern Zypressenwipfel der Friedhöfe.

Von Norden her streckt sich dir eine Halbinsel in stumpfem Winkel entgegen. Sie trägt die Stadtteile Galata und Pera, wo die Europäer, Griechen und Italiener, Juden und Armenier und Angehörige benachbarter Volksstämme wohnen. Zwischen dieser Halbinsel und Stambul zieht sich eine tief eingeschnittene Meeresbucht nach Nordwesten; sie heißt das Goldene Horn, da auf ihren Fluten seit Urzeiten unermeßliche Schätze befördert wurden.

Nordöstlich siehst du eine Meerenge von gleichmäßiger Breite. Ihr Wasserspiegel ist saphirblau, und ihre Ufer umsäumt ein Rosenkranz von Dörfern und weißen Villen zwischen üppigen Hainen. Es ist der Bosporus, die Fahrstraße zum Schwarzen Meer. Auf der rechten Seite des Bosporus, gerade im Osten, zieht sich der dritte Hauptteil Konstantinopels, Skutari, vom Meeresufer hin bis auf die Gipfel niedriger Hügel.

Nun richte den Blick nach Süden. Du mußt deine Augen mit der Hand beschatten, denn große Wasserspiegel werfen das Sonnenlicht mit unvermindertem Glanze wieder zurück. Vor dir liegt das 200 Kilometer lange Marmarameer, ein seltsames Gewässer, weder See noch Meer, weder Bucht noch Meerenge, ein Glied zwischen dem Schwarzen und dem Ägäischen Meere, mit jenem durch den Bosporus, mit diesem durch die Straße der Dardanellen, den Hellespont, verbunden. Die schwimmenden Gärten dort, zwei Meilen nach Südosten, sind die Prinzeninseln, und hinter ihnen in blauer duftiger Ferne erheben sich die Gebirge Kleinasiens. Hier und da schimmert ein weißes Schiffssegel oder eine kleine Dampferwolke schwebt in der Luft. Und rings um den Horizont löst sich diese entzückende Landschaft in immer schwächere Farben auf, bis Land und Meer und Himmel ineinander verschwimmen.

siehe Bildunterschrift

Bosporus und Lageplan von Konstantinopel.

Unvergeßlich wird dir das Bild dieser gewaltigen, durch breite Wasserstraßen zerschnittenen Stadt. Dein Blick erfaßt zwei Weltteile und zwei Meere, und du überschaust klar den wichtigen Seeweg, der die Hauptstadt des Osmanischen Reiches durchquert. Täglich laufen unzählige Schiffe durch den Bosporus ins Schwarze Meer nach den Küsten Bulgariens, Rumäniens, Rußlands und Kleinasiens, und ebenso viele durch die Dardanellen in die Meere Griechenlands, den Archipelagus und zu den Küsten des Mittelmeers.

Nur ungern trittst du von dem die Plattform umgebenden Geländer zurück. Ist es Traum oder Wirklichkeit? Du stehst in Europa, aber an der Schwelle Asiens! Skutari da drüben in seinem Kranze dunkelgrüner Zypressenwälder liegt schon auf asiatischer Seite! Aber wenn du nun gerade unter dir hinabschaust in die von Türken wimmelnden Straßen, auf die schmalen weißen Boote, die über die Meeresarme hinschnellen, dann fühlst du dich bald mehr in Asien als in Europa. Ein unaufhörliches Rauschen ist um dich, es ist nicht der Wind, nicht das Lied der Wellen; es gleicht dem Summen eines Bienenschwarms. Dann und wann hörst du deutlich den Ruf eines Trägers, das Bellen eines Hundes, die Pfeife eines Dampfers oder die Glocke eines Straßenbahnwagens. Sonst aber verschmilzt die Stimme der Natur mit der der menschlichen Arbeit zu einem einzigen Ton, und dich umfängt das summende Schweigen, die unruhige Ruhe, die immer über den Schornsteinen großer Städte brütet.


 << zurück weiter >>