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III.
Sie und er.


Ich nenne sie fortan nur noch: sie und er.

Er wußte keine Antwort auf ihre Frage; indem er aber den Gedanken, etwas zu ihrer Behaglichkeit beizutragen, weiter verfolgte, fand er schließlich, es müßte ihr angenehm sein, ihn nicht mehr in so derangirter äußerer Erscheinung um sich zu sehen. Er erhob sich, als hätte er Befehle von ihr erwartet, und es fehlte nicht viel, so hätte er sie gefragt, wie er es bei seinem alten Vorgesetzten zu thun pflegte: »Was soll ich nun vornehmen?«

Auch er hatte einmal von einem eigenen Heim geträumt, wenn er die Alterszulage bekommen haben oder es ihm geglückt sein würde, einen höheren Posten zu erhalten. Ein eigenes Heim und ein nettes Frauchen! Und dann hatten seine Gedanken auch von Stunden stiller Ruhe und Familienglück geträumt, nur sie beide allein, von den Mahlzeiten im tête à tête und einem gemüthlichen, stillen und friedlichen Beisammensein. Diese Nebelbilder tauchten wieder vor seiner Erinnerung in seiner jetzigen Lage auf. Wie schon so oft in dieser wunderbaren Zeit, kniff er sich in den Arm und nahm allerhand kleine Manipulationen vor, um zu ermitteln, ob er wirklich wache. Schließlich sagte er in einem Ton, der die Mitte hielt zwischen dem eines männlichen Beschützers und dem eines Bedienten:

»Ich komme in einigen Stunden wieder, wenn Sie etwas wünschen sollten.«

Er ging in das Schreibzimmer hinein, verschloß hinter sich die Thüre und drehte den Schlüssel in dem großen Kleiderschrank in der Ecke herum.

Er hatte weniger Glück, als sie. Während es ihr geglückt war, Kleider von einem jungen Weibe zu finden, das annähernd ihre eigene Figur hatte, sah er, der unter Mittelgröße und ziemlich hager war, hier nur Kleidungsstücke für einen Mann von hundertundzwanzig Kilo. Solche waren allerdings in reicher Auswahl vorhanden, und nach kurzer Wahl sah er sich in einem Oberhemde, das ihm am Halse drei Zoll zu weit war, in handbreit aufgekrempelten Beinkleidern, die gut drei paar solcher Beine, wie die seinigen, hätten aufnehmen können, in einer Weste, die in unzähligen Falten um ihn herumhing und in einem blauen Rock, der zweimal um ihn hätte herumgeschlagen werden können, mit aufgeschlagenen Aermeln, vor dem Spiegel stehen. Eine leichte Kopfbedeckung fand er dort auch nicht; daher nahm er auf's Geradewohl einen blanken, gut gebürsteten Cylinderhut, legte einige Bogen Löschpapier unter den Schweißriemen und drückte das stattliche Bekleidungsstück auf seinen Kopf. Weiter, als bis zu den Ohren, konnte es in jedem Fall nicht herabrutschen.

Das war freilich keine Ausstaffirung, um hinauszugehen und sich ihr sogleich zu zeigen. Es mußte einige Zeit vergehen, bis sie sich wiedersahen. Immerhin war es ein behagliches Gefühl, reine und ganze Kleider anzuhaben, und »bequem« waren sie auch. Inzwischen war in ihm ein Entschluß herangereift. Er durchschritt die Küche und Vorrathskammer und suchte an den Wänden und auf den Regalen. Schließlich nahm er, fast zögernd, eine große blauweiße Suppenschüssel und begab sich damit zum Hag unten am Bach hinaus.

»Komm, mein Kuhchen! Komm, mein Kuhchen!« erschallte dann seine Stimme weit umher, wie er auf dem Lande die Mädchen hatte die Kühe rufen hören. Bald fand er auch die ruhigen Thiere, die erstaunt die Mäuler emporhoben und seine Person untersuchten. Es war eine leichte Sache für ihn, sie nach Hause zum Kuhstall hinzutreiben, wo sie selbst ihren gewöhnlichen Stand aufsuchten, sowie auch jeder die Halfter um den kräftigen Hals zu legen. Aber dann wurde es schwieriger, und voll Verzweiflung ging er von einer Kuh zur anderen und zog an den Eutern, ohne daß es ihm glückte, einen Tropfen herauszupressen.

Er war eigentlich kein unpraktischer Mann, und ihm fiel sogleich ein, daß Zeiten vorkommen, in denen eine Kuh keine Milch giebt, sowie daß das Euter vielleicht in Folge der seit einigen Wochen mangelnden Entleerung nicht richtig funktioniren konnte. Aber der Gedanke, mit einer Schüssel schäumender Milch und herrlichen Rahmes das Seinige für die Wirtschaft beizusteuern, war doch zu verlockend, als daß er so beim ersten Mißlingen sich hätte ergeben sollen, und bald hatte er denn auch die Befriedigung, auf einem Schemel zu sitzen, die Suppenschüssel fest zwischen die Kniee gedrückt, den Cylinderhut zärtlich an die Flanke der Kuh gelehnt, während die Hände emsig thätig waren, die Milch in die Terrine herabrieseln zu lassen.

Alles wäre gut abgelaufen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick etwas Unerhörtes eingetreten wäre, etwas, das seit vielen Tagen auf Erden nicht geschehen war: ein frisches, schallendes Lachen ertönte, und in staunender Bestürzung ließen seine Kniee die blauweiße Terrine los, sodaß der kostbare Inhalt derselben sich in den Stand und über den Stallboden hin ergoß.

Er erhob sich mit dem lebhaften Gefühl, daß er, trotz seines eifrigen Bemühens, eine besonders komische Rolle spielte, und noch einmal durchfuhr ihre kleine Gestalt, die mitten in der Stallthüre stand, ein heftiger Lachanfall. Das Blut stieg ihm zum Gesicht empor.

»Verzeihen Sie mir, o verzeihen Sie mir! Aber wenn Sie wüßten, wie das mein armes, bedrücktes Herz erleichterte, so würden Sie mir deshalb nicht böse zu sein vermögen!«

Das vermochte er auch nicht.

Endlich fand sich im Keller ein Eimer, und seit dem Tage hatten sie immer Milch und Rahm auf dem Tisch. Zwei Kühe gaben zwar wirklich keine Milch, aber die dritte versah sie reichlich für ihren Bedarf.

Ihre Streifzüge in die Umgebung hörten auf. Aber oft bat sie ihn, sie auf die höchste Spitze des Bergkammes zu begleiten. Dort mußte er dann auf den Wipfel einer hohen Tanne hinaufklettern und ausspähen, ob nicht Befreier kämen, ob keine Spur von menschlichem Leben zu entdecken wäre, soweit das Auge reichte.

Alles vergebens!

Eines Tages entdeckte sie einen guten Feldstecher in einer Schublade. Da mußten sie sogleich wieder hinauf. Es fand sich kein Leben und keine Spur von Menschen, aber man konnte deutlicher, als sonst, ringsum den Gürtel der gräßlichen Zerstörung sehen, die sie auf allen Seiten umgab.

Wieder überkam sie das Gefühl ihrer Verlassenheit und trieb sie in Angst zu einander hin. Sie lachte nicht mehr über ihn, und er hatte längst wieder begonnen, sie höflich »Fräulein Birkenblatt« anzureden.

Bisweilen verloren sie völlig den Muth und brachten den ganzen Tag in träger Ruhe zu, nahmen ihre alte Gewohnheit, daß jeder für sich unten im Keller und in der Speisekammer sich mit Nahrung versah, wieder auf, sprachen nicht mit einander, und jeder lag auf seinem Sopha, in seinem besonderen Zimmer und schlummerte, während der Staub auf Tischen und Stühlen zunahm.

Bisweilen rafften sie sich auch wieder auf. Er schweifte dann unten am Bach umher und suchte mit einer Angelschnur, die er auf dem Boden gefunden hatte, etwas Abwechselung in ihren Speisezettel hineinzubringen. Sie fegte und putzte in den beiden Zimmern, die der Gartenveranda zunächst lagen, bereitete ordentliche Mahlzeiten und nahm ein Buch aus einem der beiden großen Bücherschränke im Schreibzimmer.

Die Bücher vermögen, wie nichts anderes, für Augenblicke völliges Vergessen hervorzurufen, diese Erfahrung machte auch er; aber das rächte sich grausam. Sie riefen ihnen auch zugleich die Welt in's Gedächtniß zurück, die einst existirt hatte, mit Menschen, Leidenschaften, Mühsal und Kämpfen; – man lebte sich in das wirkliche Leben hinein – und fühlte sich doppelt verlassen in der Einsamkeit, sobald das Buch fortgelegt wurde.

Seine plötzlich emporgeloderte Leidenschaft für sie reifte, wuchs und nahm zu. Seine ganze Kraft sammelte sich in dem Bestreben, sie nicht zu beunruhigen oder zu erschrecken, ihre ohnehin schon schwere Last nicht noch dadurch zu vergrößern, daß sie vor dem einzigen menschlichen Wesen, das ihr übrig geblieben war, Furcht empfinden mußte.

Er grübelte darüber nach, wie er ihr Dasein erträglicher gestalten könnte, und forschte überall, im Keller wie auf dem Boden, nach Mitteln dafür, hatte aber nur eines entdecken können, und dieses eine bereitete ihm äußerst viel Kopfzerbrechen. Er hatte auch alle Nebengebäude durchsucht und war dabei in einen Wagenschuppen mit drei guten Fuhrwerken hineingekommen. Ob er versuchen sollte –? Aber er war niemals ein Sportsmann gewesen, hatte kaum je einen Zügel in seiner Hand gehalten, und das schöne Pferd, das sein sorgenfreies Dasein genoß und ein- und ausging, wie es ihm behagte, sah so munter und muthig aus.

Er begann sich häufiger mit dem Thiere zu beschäftigen, es mit Zucker zu füttern, zu klopfen und zu streicheln. Eines Tages versuchte er ihm eines der feinen Geschirre anzulegen, die in einem Verschlage neben dem Stall hingen. Seine Begriffe darüber, wie ein solches angelegt werden müßte, waren äußerst unklar, aber ein Pferd zu zäumen konnte schließlich für einen ernst forschenden Geist in einem nicht allzu unpraktischen und ungeschickten Körper doch kaum ein ganz unlösbares Mysterium bleiben. Nach mehrtägigen Versuchen brachte er es denn auch so weit, daß er völlig davon überzeugt war, das Geschirr im großen Ganzen dem Thiere ungefähr so angelegt zu haben, wie es sein sollte. Die Spangen waren an den alten Zugösen befestigt, und die verschiedenen Riemen gewährten nicht mehr diesen verdrehten, beängstigend seltsamen Anblick, wie im Anfang; sie hingen und saßen nun ganz hübsch, richtig und glatt.

Eines Abends spät, als sie eingeschlafen war, ging er heftig klopfenden Herzens auf den Stall zu, zog einen leichten, offenen Wagen aus dem Wagenschauer heraus, schirrte das Pferd an und bekam es zu seiner unaussprechlichen Freude und zu seinem Erstaunen ohne weitere Schwierigkeit in die Gabeldeichsel hinein.

Er vermochte noch nicht recht zu glauben, daß alles richtig wäre, und wenn es auch der Fall war, würde das Pferd vermuthlich sofort durchgehen. Er wagte daher nicht, auf den Wagen zu steigen, sondern ergriff ängstlich die Zügel, erdreistete sich nach langem Zögern ein leises Schnalzen mit der Zunge und war auf das Schlimmste gefaßt.

Das Pferd aber, das ein frommes, gut eingefahrenes Thier war und durch Umherspringen im Hag seine überflüssige Wildheit sich ausgelaufen hatte, ging ruhig weiter – und der Wagen folgte. Ein Weilchen später wagte der neue Fuhrmann sich auf den Wagen hinauf. Da warf das Pferd, in der Meinung, daß es sich nun in eine raschere Gangart setzen sollte, munter den Nacken zurück und flößte hierdurch seinem jetzigen Herrn den lebhaftesten Schrecken ein; aber dann ging es in ruhigem, gleichmäßigem Trab auf der Landstraße entlang. Auf einem ganz ebenen Platze von genügendem Umfange gelang es ihm erstaunlich gut umzuwenden, und er fuhr, stolz wie ein Gott, heim.

»Wollen Sie so gut sein, Fräulein, und ein Weilchen hier warten; ich habe etwas ausgedacht, das ich Ihnen gern zeigen möchte«, sagte er am folgenden Tage nach ihrer ersten Mahlzeit.

Sie neigte den Kopf und sah ihn ein wenig erstaunt an.

Nach einer guten Stunde fuhr sie mit heftigem Angstschrei über einen wohlbekannten Laut empor, der ihr jetzt jedoch völlig neu war, den des Rollens von Wagenrädern. Das heißt – davon sah er nichts, aber er sah sie mit funkelnden Augen und offenem Munde auf die Hofveranda hinausstürzen, als er mit der Equipage vorfuhr.

Es that ihm weh, zu sehen, wie der Freudenstrahl in ihren Augen erlosch, als sie ihn und »Bruno« – so hatten sie das Pferd genannt – wiedererkannte – und er fragte mit leiser Stimme und niedergeschlagenen Augen:

»Vielleicht mögen Sie gar nicht – aber ich dachte – «

»O, gewiß – das war wirklich sehr nett von Ihnen!«

Und dann sprang sie auf und setzte sich neben ihn.

Er hatte das bestimmte Gefühl, daß er sich jetzt, wie er so, mit dem Cylinder im Nacken, einen Zügel in jeder Hand, mit auseinandergereckten Armen und zum Wagenschirm vorgestreckten Händen dasaß, vielleicht ebenso komisch ausnahm, wie an »Lieses« Seite – sie hatten auch den Kühen Namen gegeben – mit der Suppenschüssel zwischen seinen Knieen.

Aber sie lachte jetzt nicht. Dachte sie vielleicht an ihre letzte Ausfahrt? – Am Tage vor dem fürchterlichen Ereigniß hatte er sie im Kreise ihrer jungen Verwandten und einiger bekannter junger Mädchen plaudernd und lachend in einem großen Char à banc mit Fouragekorb auf das Land hinausfahren sehen.

Wie viel schwerer war nicht ihr Geschick, als das seinige! Er besaß nicht viel freudige Erinnerungen. In seinem Vaterhause ging es ärmlich zu, und alles Interesse drehte sich nur um die Möglichkeit, sich durchzuschlagen. Als Schuljunge Freitische, sonst nur Entbehrungen und Demüthigungen! Auf seiner Lebensbahn Armuth, Niedrigkeit und Uebersehenwerden! Einmal hatte er eine Lehnsmannsverfügung draußen auf dem Lande zu überbringen gehabt, zweimal hatte er mit der Vereinigung »Frohe Brüder« auf Leiterwagen Landausflüge mitgemacht; das war alles, worauf er sich von Spazierfahrten in Sonnenschein und an Sommertagen besinnen konnte!

»Sollen wir vielleicht umkehren?« fragte er mit der heimlichen Besorgniß, daß sie bejahend antworten würde.

»Nein, nein, nur weiter – weiter, so weit das Pferd kann und Sie sich wagen –«

Ihm wurde kalt um's Herz. Er wollte die Fahrt verlängern, um ihr nahe, ganz nahe sitzen und in ihr entzückendes Gesicht blicken zu dürfen. Sie wollte weiter und weiter, von der Angst und demselben Gefühl getrieben, das einen eben erst gefangenen Vogel veranlaßt, sich am liebsten dicht am Gitter des Bauers aufzuhalten, so nahe der Außenwelt, als nur möglich.

Zusammengestürzte Ruinen, umgebrochene Bäume, der Weg hatte ein Ende. Wie groß war wohl das verschonte Gebiet Erde, das zu finden ihnen geglückt war? Ganz sicher wenig über vier Kilometer in einer Richtung.

Sie fuhren von nun ab fast täglich spazieren. Drei Wege waren befahrbar. Er war so stolz und glücklich darüber, er meinte wenigstens auf einem Gebiet ihr überlegen zu sein, er besorgte und lenkte die Equipage, ohne ihn hätte sie dieser Abwechselung entbehren müssen.

Da sagte sie plötzlich eines Tages:

»Vielleicht sind Sie müde?« und nahm ihm die Zügel aus der Hand, ohne seine Antwort abzuwarten.

»Nehmen Sie sich vor Bruno –«

Er hielt mitten im Satz inne und sah nur nach ihr hin. Sie führte geschickt beide Zügel in der linken Hand, ohne sich vorzubiegen, ohne daran zu zucken oder zu ziehen. Bruno spitzte die Ohren und beschleunigte sogleich seinen Lauf, als hätte er sagen wollen: »Siehst du, so muß es sein!«

»Sie – Sie haben wohl schon früher kutschirt?«

»O, schon oft, seit vielen Jahren; das macht viel Vergnügen.«

»Sie – können dann wohl auch ein Pferd anspannen?«

Sie blickte ihn an.

»Ja, natürlich, sehr gut.«

Nun hatte seine größte Freude am Fahren ein Ende. Er wünschte immer, daß sie fahren sollte, und wurde sehr verlegen, wenn er selbst einmal genöthigt war, die Leine in die Hand zu nehmen. –

Scheinbar gleichzeitig erwachte bei ihnen beiden der lebhafte Wunsch, etwas über das Heim, das Gott ihnen geschenkt hatte, und über diejenigen zu erfahren, denen er es genommen hatte.

»Haben Sie noch niemals den Schreibtisch geöffnet?« fragte er.

»Nein«, erwiderte sie, und dann blickten sie einander fragend an.

Ohne jedes weitere Wort holte er das Schlüsselbund, und sie folgte ihm schweigend.

Nein, keiner der Schlüssel paßte, und andere Schlüssel waren nicht vorhanden. Offenbar hatte der Hausherr die Schlüssel zum Schreibtisch in seiner Tasche gehabt, als er zum letzten Mal sein schönes Heim verließ.

Sie hatten in einem andern Raum einen Handwerkskasten gesehen. Er holte einen Meißel, einen Hammer und eine Kneifzange. Bald lag eine der Schubladen offen vor ihnen. Sie war mit Papieren angefüllt. Als er nach denselben griff, hielt sie seinen Arm zurück und flüsterte:

»Ich schäme mich!«

»Freuen Sie sich dieses Gefühls! Es beweist, daß die Hoffnung in Ihnen noch nicht ganz erstorben ist. Oder würden Sie sich auch schämen, wenn Sie ganz sicher wüßten, daß wir zwei ganz allein auf der Welt wären?«

Sie lasen und brachen auch die andern Schubladen auf und lasen auch die Papiere in diesen.

Sie befanden sich auf »Agnesruh«, das dem Konsul Gustav Brink gehörte und seiner Frau, einer geborenen Fahlberg. Der Konsul hatte ein Geschäft in Allköping, und man wohnte nur im Sommer hier draußen.

Ein Brief:

 

»Meine Agnes!

Ich habe einen entzückenden Platz am Fuß des Kullingberges gefunden. Ich habe hier einige »Tonnen« Land gekauft, so daß es für Bauplatz, Park und Viehhag ausreicht. Unser Sommerheim soll nach meinem Liebling »Agnesruh« heißen. O, möchtest Du dort Ruhe, Stille und Glück bei mir und unserm Kinde finden, wenn Du nach beendeter Badekur gesund und frisch heimkehrst!«

*

Arme Agnes! Wo sie nun wohl schließlich Stille und Ruhe gefunden hatte?

»Geliebte Mama und Papa!

Nun zähle ich schon die Tage und bald die Stunden und Sekunden bis zu dem schönen Augenblick, da unser vorzügliches Konservatorium für Musik seine Pforten hinter mir schließt, und Euer Töchterchen heim eilen darf in Eure Arme nach unserm lieben Agnesruh. O wie herrlich, wenn –«

Von wann war der Brief datirt? Vor einem Jahre! Großer Gott, welch' fürchterliches Ende hatten die Träume dieses jungen, frohen Mädchenherzens genommen!

Sie sah zu ihm empor.

»Hab– haben Sie noch eine Mutter?«

»Nein, sie ist vor mehreren Jahren gestorben, gleich nach meinem Vater.«

»Meine Eltern sind auch todt. Gott sei Lob! Ich hatte niemand, der mir näher stand, als meine armen Verwandten dort in der Stadt, Sie wissen ja –«

Mehrere Tage hinter einander verbrachten sie täglich einige Stunden beisammen am Schreibtisch mit den Papieren der Familie Brink. Es war etwas anderes, zum mindesten noch etwas mehr, als die einfache Neugier, was sie hierzu antrieb. Dieser Zusammenhang mit Menschen, die sie selbst nicht kannten und die sie niemals sehen würden, war ihnen wie ein Verbindungsband mit der Welt. Wenn man die Rechnungen von diesem Jahr, die Briefe über Unternehmungen, die noch in diesem Herbst in Angriff genommen werden sollten, die Scheine über eingeschriebene Briefe, die erst kürzlich auf einem gewaltigen Eisenbahnnetz von einem großen, wohlorganisirten Beamtenstande befördert waren, sah, dann vergaß man die Gegenwart, deren Fürchterlichkeit entschwand, wie die Nebel vor dem grauenden Tage; es war, als wenn man das alles nur geträumt hätte.

Aber wenn sie die Papiere wieder fortlegten, diese Schubladen zuschoben, einander anblickten und nach den Wänden hinstarrten, die niemals von anderem, als von den Stimmen und Schritten zweier Menschen widerhallten, dann war es ihnen, als wären sie mitten aus dem lebendigen Leben in ein Grabgewölbe hinabgestiegen.

Doch nein – in der Tiefe seines Herzens, Seite an Seite mit der Angst vor kommenden Tagen und der Theilnahme an ihrem Schmerz – wohnte eine Furcht vor dieser Welt, die sie verlassen hatten, diesen Verhältnissen, welche zerrissen waren, diesem Heim, das zusammengebrochen, diesen Menschen, die, falls noch welche am Leben waren, von ihnen durch eine in Trümmern liegende Welt getrennt wurden. Die schmalste Brücke hinüber zur Menschheit, und er würde für sie nicht mehr sein, als der Staub unter ihren Schuhsohlen.

Und dann lag er in den lichten Sommernächten da und freute sich unbewußt mit halber Seele über dies Furchtbare, das sie zusammenband, während die andere Hälfte über ihr Leid mittrauerte, sich mit ihrer Hoffnung mitsehnte und vor der Zukunft erbebte, wenn der Winter kam, die Vorräthe zu Ende gingen und sie ohne die Hilfsmittel, die sie von dem zu Grunde gegangenen Geschlecht geerbt hatten, der kargen Natur und der nordischen Erde gegenüberstanden, die nichts umsonst giebt, die grausam das Wort zur Erfüllung bringt: »wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.«

Sie fühlten sich mehr und mehr zu einander hingezogen. Nicht durch seine Liebe, denn die hielt ihn immer zurück und wandte seinen Fuß zur Flucht, sondern durch das Unerhörte ihrer Lage, durch die Angst, die darum keine geringere war, daß sie sich allmählich von dem Geschehenen ab und dafür dem Kommenden zukehrte.

Die Schranken der Schüchternheit und Konvenienz nützten sich nach und nach ab, brachen und fielen, sie empfanden ein Bedürfniß, nicht nur mit einander, sondern auch von einander zu sprechen, den andern wissen zu lassen, was für eine Art Mensch der wäre, der ihm oder der ihr in dieser gräßlichen Lage aufgezwungen war.

Das Gefühl der Verantwortung, Verpflichtung und Gerechtigkeit drängte sich ihnen so lebhaft auf, daß sie von einander Arbeit und Dienste forderten und begehrten, sich gegenseitig ohne Umstände Beschäftigungen gaben und ihre Bemerkungen machten über die Art und Weise, in der die beiderseitigen Wünsche erfüllt wurden.

Und noch hatte die verheerte Erde keinen vollen Monat todt dagelegen!

Es war an einem herrlichen Juliabend. Er hatte seine Runde bei den Thieren gemacht und die Milch in den tiefen, kühlen Keller hinuntergestellt. Still betrat er den Salon und sah sie auf der Gartenveranda sitzen, den Blick unverwandt auf einen einzigen Punkt hingerichtet. Er schlich näher zu ihr hin. Da kehrte sie sich plötzlich nach ihm um und legte zum Zeichen, daß er schweigen sollte, den Finger auf den Mund, einen Mund, der lachte! Aber in ihrem Auge glänzte eine Thräne, und er sah ihrem ganzen Verhalten an, daß sie tief gerührt war.

Dann vernahm man plötzlich von dem Baum, den sie so eifrig betrachtete, einige helle, jubelnde Töne, und als er seinen Blick schärfte, vermochte er den kleinen gefiederten Sänger auch zu sehen.

Er sank auf einen Stuhl an ihrer Seite nieder, und unwillkürlich falteten sich seine Hände. Das war ein neuer Gruß von der zertrümmerten Welt, von dem verflossenen Leben. Hatten sie also recht gehört, als sie auf dem Wege hierher meinten, Vogelgezwitscher im Walde zu vernehmen? Wie dem auch sein mochte, einer der armen, erschreckten kleinen Sänger hatte sich wieder hierher gewagt, und vielleicht würden bald noch mehr kommen.

Träumend schweifte ihr Blick nach dem Gipfel des Berges hinauf, und sie ergriff, unbewußt, seine Hand, drückte sie und flüsterte:

»Möge Gott unsern Verstand bewahren, bis alles zu Ende ist oder die Rettung kommt! Wer weiß, was das alles zu bedeuten hat?«



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