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II.
Sind wir allein auf der Erde?


Seitdem seine alte Mutter starb, hatte Otto Alm nicht oft in einem weiblichen Auge einen Freudenstrahl über seinen Anblick aufleuchten sehen; aber nun strahlte ihm ein Strom von Licht aus dem schönsten Augenpaar auf Erden entgegen.

»Das schönste Augenpaar auf Erden!« Gab es denn noch ein weiteres Augenpaar, das seinem Blick begegnen konnte? So heiß, so schrankenlos war seine Leidenschaft, die sich plötzlich seiner für dieses Weib bemächtigt hatte, daß er eine bebende Freude seine beklemmte Brust durchströmen fühlte bei dem Gedanken, daß sie beide hier allein wären, ganz allein unter Schutt und Trümmern.

Thyra hatte wohl einen Augenblick überströmende Freude darüber empfunden, daß sie bei ihrem Erwachen aus der Betäubung des Schreckens, in der sie wie erstarrt gelegen hatte, ein lebendes, menschliches Wesen erblickte; aber dann wurde sie wieder von all dem Furchtbaren rings umher, von dem ganzen Jammer ihrer eigenen Lage überwältigt, und die Thränen stürzten abermals aus ihren wunderbaren Augen hervor.

Sie erhob sich mühsam, wankte auf ihn zu, streckte ihm ihre beiden Hände hin und schluchzte: »Lebe ich, oder bin ich todt? Schlafe ich oder bin ich wach? Ist dieses – dieses Fürchterliche Wirklichkeit – so drücken Sie doch meine Hände, damit ich zum vollen Bewußtsein erwachen kann, Herr – Herr – Wasser! Ich sterbe –«

Dann sank sie ohnmächtig in seine Arme.

»Wasser!« Wo sollte er das hernehmen? Die Wasserleitung der Stadt war natürlich zerstört, wie alles andere, und die wenigen seit ihrer Einführung noch vorhandenen Brunnen waren eingestürzt, davon hatte er sich bereits während seines verzweifelten Streifzuges durch den Ort überzeugt. Er hatte draußen auf dem Lande zwei Flaschen an einem See gefüllt und in seine Rocktaschen gesteckt; aber nun waren sie beide leer.

Sanft und behutsam legte er Thyra auf einen Schutthaufen nieder, nachdem er noch, während er sie in seinen Armen hielt, einige Ziegelsteine und Mauerreste mit dem Fuß zur Seite gestoßen hatte. Um in seiner Angst jedoch etwas für sie zu thun, kniete er nieder und begann ihre Handgelenke zu reiben.

Diese kleinen, feinen, schmalen Händchen! Zu schmal und zart, um wirklich schön zu sein, aber mit einer so weichen und durchsichtigen Haut, daß man die großen, blauen Adern deutlich darunter unterschied! Hier und da rothe Risse, kreuz und quer, und geronnenes Blut tropfenweise auf dem anmuthigen Unterarm. Was sie wohl auszustehen gehabt hatte, die arme Kleine? Es sah aus, als wenn sie mit ihrer schwachen Kraft sich aus Schutt und Trümmern hervorgegraben hätte. Noch im Gesellschaftsanzuge! Die frohen, jungen Leute waren wahrscheinlich von der Abendgesellschaft angeregt und belebt, noch lange, lange im Gesellschaftszimmer plaudernd, beisammen geblieben und dann – dann war dies Gräßliche geschehen.

Nun schlug sie die Augen auf, die entsetzt, in unnatürlichem Glanze leuchteten, und stammelte:

»Sind wir zwei allein auf der Erde?«

»Bevor ich Sie gefunden hatte, glaubte ich, ich wäre ganz allein. Die Anwesenheit eines menschlichen Wesens hat mir die Kraft wiedergegeben, klarer zu denken. Vielleicht hat die Vernichtung sich nur über einen kleinen Theil von Schweden erstreckt, vielleicht auch über unsere ganze Halbinsel. Die ganze Erde kann sie aber wohl nicht gut getroffen haben? Und in jedem Fall giebt es wohl auch noch anderswo Menschen. Sind nicht wir zwei nur in dieser kleinen Stadt gerettet worden?«

»Sonst niemand?«

»Ich glaube, versichern zu können: sonst niemand. Ich bin Tag und Nacht hier umhergestreift!«

Sie schloß die Augen, als wenn das Bewußtsein sie wieder verlassen wollte; aber nach einer Weile erhob sie sich schwankend und flüsterte:

»Wir müssen fort – weg von hier – und Wasser suchen – Wasser und Menschen. Ich bin eine gute Fußgängerin, ich habe große Fußpartieen gemacht!«

Als sie dies sagte, traten ihr abermals die Thränen in die Augen. Liebe, Angst, all das Furchtbare, Neue, Ungewöhnliche hatte seine Auffassungsfähigkeit und seine Intelligenz geschärft. Er las in ihrem Herzen, wie die Erinnerung diese Thränen hervorpreßte; die Erinnerung an frohe Sommerausflüge mit lustigen, jungen, schönen Mädchen wie sie selbst – nein nicht so wie sie – sie war über alle anderen auf der Welt erhaben – aber mit gleichalterigen, frohen, guten Kameradinnen in jedem Fall. Vielleicht auch mit Herren, jungen, sportsmäßig ausgerüsteten Herren in eleganten Touristenanzügen. Sonnen- und Sommertag! Scherz und Geplauder! Rosen auf den Wangen und freudeklopfende Herzen! Und nun – war es denn wunderbar, daß sie, die arme Kleine, Thränen vergoß! Ihre Gedanken irrten wohl zu den Freunden hin und fragten sich voll Angst, ob sie in diesem Augenblick alle, alle unter ihren zertrümmerten Wohnungen zerschmettert lägen oder von der Erde verschlungen wären.

Es dauerte einen halben Tag, bis sie Wasser fanden. Sie sahen zwar viele Seen, aber niedergerissene Wälder und gähnende Abgründe mitten im ebenen Felde hinderten sie, zu ihnen zu gelangen. Schließlich konnten sie ihre zwei sorgfältig aufbewahrten Flaschen austrinken und füllten sie an einem Bergsee mit warmem, ekelhaftem, grünlichem Wasser.

Zuletzt öffnete sie ihre Blouse oben am Halse, zog ein blutiges Schnupftuch aus ihrer schmutzigen, zerrissenen Kleidertasche hervor, tauchte es in's Wasser und wusch ihr Gesicht, dann löste sie ihre reichen dunklen Haare auf, kämmte sie, so gut sie konnte, mit ihren kleinen, weißen, verwundeten Fingern und flocht sie in einen langen, dicken Zopf. Auch in diesem Augenblick empfand die Evastochter es als einen Mangel, keinen Spiegel zu haben. Sie sah sich mit hilflosem Ausdruck um, ließ schließlich den Blick auf ihrem Begleiter ruhen und fragte mit einem schwachen Rest jener Koketterie, die bei dem Weibe erst mit dem Leben aufhört:

»Bin ich nun etwas weniger häßlich?«

Er vermochte nicht zu antworten, aber seine armen, blauen Augen sprühten Flammen, so hell sie konnten. Thyra schlug die Augen nieder, erröthete und erhob sich.

Es war nicht der Hunger und die Müdigkeit, die ihre Wanderung ihnen schwer erscheinen ließen. Oft stießen sie auf die aufregendsten Erinnerungszeichen an die wilde Orgie der Naturkräfte, die über die Erde hingebraust war. Verwesende Thierkörper – verstümmelte stinkende Menschenleiber. – Er sah, wie sie entsetzt vor diesem gräßlichen Anblick zurückschreckte, und seine Augen starrten im Voraus angestrengt umher, ängstlich bemüht, sie eher zu entdecken und dann ihre Aufmerksamkeit nach einer andern Richtung hinzulenken. Endlich blieb sie stehen, sah ihm in die Augen und flüsterte:

»Ich verstehe Sie. Ich danke Ihnen, aber machen Sie nicht so viele Umstände. Befehlen Sie nur: ›Sehen Sie nach rechts oder links!‹«

Sie hatten sich über einige umgestürzte Baumstämme zu einem kleinen Thal hindurchgearbeitet, in dem tiefe Erdrisse auf beiden Seiten den Weg versperrten, als sie ganz plötzlich, ohne daß er sie zu warnen vermochte, vor einem erkalteten Menschenleibe standen.

Aber war der Junge zu ihren Füßen wirklich auch todt? Sein kleines Gesicht sah noch so rund und lebend aus; er lag da, frei auf der Erde, als wenn er schliefe, und man merkte keine Spur von jenem furchtbaren Geruch, der die Lebenden vor der Nähe des Todes warnt.

Otto beugte sich nieder, – ja, der arme kleine Bursche war todt, aber hier hatte der Tod nichts Abschreckendes. Auch Thyra sah ihn ohne Grausen an. Schließlich fand sie, daß er eine gähnende, klaffende Wunde am Hinterkopf hatte, und das geronnene Blut zeigte deutlich, daß dieses junge Leben soeben erst erloschen war.

Er war beim Klettern über die Baumstämme gefallen und hatte sich todtgeschlagen, hilflos und einsam, nachdem er verzweifelt, wie sie selbst, umhergeirrt war. Noch vor wenigen Augenblicken war ihnen also ein lebendes Wesen nahe gewesen! O, es mußte wohl noch mehr geben!

Otto kniete noch einmal nieder und untersuchte die Taschen des Kleinen, bevor er Thyra folgte, die einige Schritte vorausgegangen war.

»Was machen Sie da?«

»Ich, ich? Nichts –«

»Was thun Sie?«

»Ich sehe nach, ob er nicht möglicher Weise einen Bissen Brot in seiner Tasche hat.«

Sie erbebte, als hätte sie einen Schlag bekommen, und murmelte:

»Glauben Sie denn wirklich, daß es sehr lange dauern kann, bis – bis –«

»– wir etwas zu essen finden? Nein, ich hoffe nicht. Aber was wissen wir von der Gegend, die vor uns liegt?«

Ein Stück Brot! Wie wenig, wenn man es hat! Wie werthlos, wenn es bei einer festlichen Mahlzeit den gefeierten Damen von ihren aufmerksamen Kavalieren hingereicht wird! Wie wenig geschätzt selbst von dem Armen, der nur in einem dürftigen Speiselokal sein Essen bezahlen kann. Aber so unendlich kostbar, sobald es einem auch nur die kürzeste Zeit fehlt.

Eine Hütte, die nicht so vollständig zerstört war, daß man in sie nicht hätte eindringen können, und nicht ganz niedergebrannt, sodaß man in der Asche im Keller einen Bissen Brot ausgraben konnte! Das Zwitschern eines Vogels in einem der noch aufrechtstehenden Bäume, ein einziger anderer Laut in der Welt, als zwei bebende Stimmen, das Plätschern der Wellen und das Sausen in den zerrissenen Baumkronen!

Die mißhandelte, verwüstete Natur war hart und unbeugsam, wie ein vom Unglück lange Verfolgter, dessen Herz sich schließlich verhärtet.

Die Sonne ging unter. Die Schatten senkten sich nieder. Die Tritte des jungen Mädchens wurden immer schwerer. Er blieb stehen und blickte sie an.

»Sie können nicht weiter. Wir müssen zu schlafen versuchen und auf Gott und den nächsten Tag hoffen.«

Seufzend sank sie auf der Wiese unter einer schützenden Hängebirke zu Boden.

»Ist unser Wasservorrath zu Ende?«

Er reichte ihr den Rest des lauen Wassers aus der Flasche, und sie leerte sie mit Wohlgeschmack, als wäre es perlender Champagner. Aber plötzlich fuhr sie zusammen und blickte nach seiner schweißigen Stirn und seinen fieberglänzenden Augen hin.

»Du großer Gott, Sie haben ja gar nicht getrunken, verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir!«

»Ich habe schon vorher getrunken, ich bin nicht im geringsten durstig.«

Die Müdigkeit machte ihr Recht geltend, und bald schlief sie mit dem Kopf auf einem Büschel Preißelbeerkraut ein. Er aber lag sechs Schritte von ihr entfernt, zu ihren Füßen, in Fiebergluth, wach, hungrig und fast verschmachtend vor Durst. Er führte die Zunge am Gaumen hin und her und erbebte in freudigem Entzücken darüber, daß er um ihretwillen vermehrte Qual erlitt.

Als die Morgensonne aufflammte, schleppte er sich still mit schmerzenden Gliedern so nahe zu ihr hin, daß er, auf die Ellenbogen gestützt, ihr Gesicht betrachten konnte. Es war bleich, aber ruhig, die Angst, die den ganzen gestrigen Tag darüber ausgebreitet gelegen hatte, war verschwunden. Sieh! Nun verzogen sich die rothen Lippen zu einem Lächeln, und es bildete sich in der feinen, leicht gebräunten Wange ein Grübchen! Arme Thyra! Nun weilte ihre Seele gewiß fern von dem gegenwärtigen Elend, weit von hier, im Lande der Träume, bei denen, die ihr lieb und theuer waren!

Höher und höher stieg die Sonne. Nun schützte sie das Laub nicht mehr, nun stach das strahlende Licht ihr gerade in's Gesicht. Sie ballte ihre kleine Hand und fuhr mit der Rückseite derselben zornig über das Gesicht hin, wie ein Kind, dessen Morgenschlummer von einer Fliege gestört wird.

Dann schlug sie die Augen auf, richtete sich in sitzender Stellung auf und stieß einen durchdringenden Schrei aus –

»Wo – –? Ach!«

Die fürchterliche Wirklichkeit stand plötzlich wieder klar vor ihren Augen. Sie sank nieder und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Er stand auf und sprach mild, wie eine Mutter zu ihrem kleinen Kinde:

»Weinen Sie nicht so, es thut mir so weh, wenn ich es sehe! Die Erde ist groß und Schweden ist lang bis nach Lappland hinauf. Ganz sicher werden Sie noch viele von Ihren Lieben wiedersehen und dann – dann – werde ich mich sogleich – ja, das werde ich – aber nun gestatten Sie mir wohl, mich ein wenig Ihrer anzunehmen.«

Sie nahm die Hände vom Gesicht und sprang auf.

»Verzeihen Sie mir, es ist ja unsere Pflicht, uns unsere fürchterliche Lage einander nicht noch schwerer zu machen. Aber Sie müssen Nachsicht mit mir haben, ich war ein Weib.«

»Sie waren ein Weib?«

»Ja, denn was ich nun bin, das weiß ich nicht. Ich habe ein Gefühl, als wäre ich zu Eis gefroren oder zu Stein erstarrt. Nun aber vorwärts, bis uns der Tod einholt! Es wäre bequemer gewesen, gleich dort in der Stadt sterben zu können –«

»Aber ich will leben – leben mit Dir«, murmelte er zwischen den Zähnen, indem er zurücktrat und sie an sich vorbeigehen ließ, während er gleichsam jedes Atom ihrer Gestalt mit seinen Augen verschlang.

»Sehen Sie ein bischen nach links! Seien Sie so gut, sehen Sie nach der Tanne dort! – Hier hinaus, bitte sehr!«

Auf diese Weise suchte er, gleich wie am Tage vorher, ihren Blicken all das Furchtbare auf ihrem Wege zu ersparen, indem er ihr an den beschwerlichsten Stellen seine Hand bot, aber er wagte nicht, ihren Arm in den seinigen zu legen, um sie dauernd zu stützen.

Sonderbar! Nun waren sie ein weites Stück auf einem betretenen Wege dahingeschritten, ohne vor Abgründen oder umgestürzten Baumstämmen ausweichen zu müssen.

Sie blickten umher! Die Spuren der Vernichtung wurden in westlicher Richtung immer seltener, in weiter Ferne aber gewahrte man wie früher, verheerten Wald und grausige Abgründe.

»Still! Lauschen Sie! Da schlug ein Vogel! Ein einziger!« War das Wirklichkeit oder nur eine Phantasie ihrer eigenen Sehnsucht nach Leben in der Einöde? »Einen Ton, nein nur einen einzigen Laut, Du kleines gefiedertes Mitwesen auf der verheerten Erde!« stöhnte sie mit angsterstickter Stimme, der die erwachende Hoffnung einen wundersam bebenden Klang verlieh. »Es war ein Vogel! Hörten Sie?«

»Es war mir so, als wenn ich es hörte« – stammelte er.

Sie standen wohl fünfzehn Minuten wie auf der Stelle festgebannt da. Sie gingen auf den Baum zu, von dem aus sie den wunderbaren Laut vernommen zu haben meinten. Sie riefen und warfen Reisig nach den Tannen empor. Aber der gefiederte Sänger war verschwunden; hatte er jemals wirklich existirt? Oder war er eine Phantasie des Hungers, der Müdigkeit, der Sehnsucht und der Angst? Mit einem schweren Seufzer setzte sie ihren Marsch fort, und er folgte ihr.

Gerade vor ihnen zur Linken erhob sich die mächtige Bergwand, die sich dort nach ihrer Meinung befinden mußte. Sie stieg gerade so, wie sonst, empor, als sie sie gesehen und bewundernd die Höhe bis zu ihrer Spitze gemessen hatten. Hatte der Schöpfer ihr Fundament und ihre Felsenmauern stark genug ausgebaut, daß sie allen beliebigen Kräften Widerstand zu leisten vermochten, oder hatte der Mordengel mit dem Schwert in der Hand und dem Sturm in seinen Schwingen hier an sich gehalten, von soviel Schönheit der Natur ergriffen?

Sie stillten ihren Durst an einer Wasserpfütze.

Schon eine ganze Weile versperrte kein Hinderniß ihnen den Weg, und sie hatten keine verstümmelten Reste mehr von vernichteten Menschenleibern erblickt. Sie hatten unverwandt nach der Spitze der Bergwand so lange emporgeschaut, daß, als sie nun den Blick senkten, sie wie versteinert stehen blieben bei dem Anblick eines Hausgiebels, der noch unbeschädigt war, und einer Gartenthür, die noch in ihren Angeln hing.

»Barmherziger Gott!« schrie Thyra auf und stürmte durch die Gartenthür hinein, über den Hof hin, hinauf auf die Veranda einer kleinen zierlichen Villa, welche, unberührt von all dem Furchtbaren, das über die Erde hereingebrochen war, dort stand.

Otto, der ihr anfangs einige Schritte gefolgt war, blieb verdrießlich stehen, und die Freude, die im ersten Augenblick auf seinem erstaunten Gesicht aufgeleuchtet war, erlosch. Schon! Schon zu Ende! Er hatte sicher um ihretwillen gehofft, daß sie früher oder später Rettung, die Kultur, die Menschen, die Welt wieder finden würden, so, wie sie vor diesem wunderbaren, märchenhaften Ereigniß war. Aber er fühlte auch, daß dieser Augenblick sie für ewig trennen mußte, daß er darnach kein Wort mehr aus ihrem Munde hören und ihn kein Blick dieses Augenpaares treffen würde, das für ihn das einzige auf der Welt war, ob sein Blick zugleich mit dem ihren einsam über die Erde hinflog oder dem von Millionen begegnete.

Das Gefühl, das Bewußtsein, nicht mehr die letzten Trümmer seiner schwindenden Kräfte aufbieten zu müssen, machte ihn völlig kraftlos. Wie ein Betrunkener taumelte er den Kiesweg entlang und in die Villa hinein.

Drinnen herrschte Todtenstille. Er wankte durch zwei oder drei Räume. Kein Mensch! In einem Lehnsessel auf einer Veranda, die vom Salon nach der Gartenseite hinausging, lag Thyra, bleich, mit geschlossenen Augen.

In einem unversehrten Hause, umgeben von allem Zubehör der Civilisation, wurde Otto Alm wieder von seiner ganzen ursprünglichen Schüchternheit ergriffen, die einigermaßen von der gemeinsamen Gefahr, dem Schreck und der unerhörten Eigenthümlichkeit ihrer Lage zurückgedrängt worden war. Hier drinnen hätte er um alles in der Welt nicht gewagt, sie nur mit »Sie« anzureden. Er nahm den Hut von seinem blonden Haar, fuhr verlegen mit den Fingern durch dasselbe hindurch und murmelte: »Wie – wie geht es Ihnen, Fräulein Birkenblatt?«

Sie war nicht ohnmächtig, sondern nur betäubt, vermuthlich infolge ihrer stürmischen, schnell wechselnden Gefühle, erst die Freude und dann die enttäuschte Hoffnung, hier Menschen zu finden. Denn auch hier schien kein lebendes Wesen vorhanden zu sein!

Aber dieselbe Umgebung, die ihn so schüchtern machte, gab ihr den größten Theil ihrer gewöhnlichen Sicherheit wieder. Sie wurde plötzlich eine ganz Andere in diesem modernen Raum mit seinen eleganten Möbeln, über welche die Mittagssonne durch die farbigen Gläser der Verandathür hinstrahlte. Auch in dem geschmackvoll angelegten Garten rings um das Haus kein Mensch! Nun wohl, sie waren wahrscheinlich geflüchtet und würden schon wiederkommen. Wenn nicht, dann gab es wohl noch mehr und noch stärkere Bergwände in Schweden, als diese majestätischen, die sie hier sahen, und in ihrem Schutz sicher noch viele unversehrte Heimstätten. Einige vielleicht in ihrer ganz unmittelbaren Nähe.

Er, der noch niemals die Gefühle eines Weibes gedeutet hatte, aus dem ganz einfachen Grunde, weil er es kaum gewagt hatte, dem Blick eines Weibes zu begegnen, las dieses klar in ihrem bleichen, stolzen Gesicht, als sie sich nun erhob und sagte:

»Hier ist zwar kein lebendes Wesen, aber Menschen können nicht fern sein. Suchen wir also! Kommen Sie!«

Sie wankte vor Kraftlosigkeit, merkte es aber selbst nicht in ihrem Eifer.

»Ja, wir wollen suchen, aber so vermögen Sie keine hundert Schritte zu gehen. Erst müssen wir etwas zu essen haben«, sagte er.

»Nein, nein wir müssen gehen« – rief sie eifrig; aber in demselben Augenblick wurde es ihr schwarz vor den Augen, und sie sank wieder in den Stuhl zurück.

Verwirrt blickte er umher. Hier war nichts. Da eilte er in's Wohnzimmer hinein. Dort hingen viele Schlüssel beim Kachelofen. Er ergriff ein halbes Dutzend loser Schlüssel und ein kleines Schlüsselbund, lief hin und her, und es glückte ihm schließlich, einen Schlüssel zu finden, der zu der Kellerthür unter dem Hause paßte.

Einige Minuten später führte er ein Glas Wein an ihre Lippen. Mehrmals wollte sie sich erheben, er hielt sie aber zurück und sagte ernst:

»Wenn Sie draußen auf dem Felde ohnmächtig zusammenbrechen, vermag ich nichts für Sie zu thun. Wir müssen mit Ueberlegung handeln, müssen uns mit einiger Nahrung stärken und einige Vorräthe mitnehmen. Wir werden vielleicht noch weiter gehen müssen, als Sie glauben.«

Sie wollte ihm nicht gehorchen, mußte es aber doch. Einige Tropfen Wein hatten die Erschöpfte ganz wirr im Kopf gemacht.

Er sprang in den Keller hinunter und raffte in Eile alles zusammen, was er zu fassen vermochte, riß einen alten, kostbaren Teller von der Wand-Dekoration der Wohnstube herunter, wischte den dichten Staub mit einem ebenfalls staubigen Gardinenzipfel ab und setzte dieses seltsame Service auf einen Fenstertisch, den er zu ihrem Stuhl hinschob. Er selbst hatte einige Bissen unten im Keller in den Mund gesteckt und kehrte nun dorthin zurück, um seinen schlimmsten Hunger zu stillen.

Als er wieder hinaufkam, lag Thyra in dem Stuhl zurückgelehnt und schlief sanft und ruhig. Sie hatte nur wenig gegessen, aber nach der Stillung des heftigsten Hungers hatte die Müdigkeit ihr Recht gefordert.

Er setzte sich nieder, und bald fiel auch sein Kopf im Schlaf schwer auf seine Brust herab. Als er nach zwei Stunden erwachte, schlummerte Thyra noch ebenso fest. Er rief sie an und legte sanft seine Hand auf ihre Schulter, aber sie rührte sich nicht. Die Unruhe trieb ihn hinaus, der Abend brach herein, und er konnte sie so nicht verlassen. Hinter dem Salon lag ein Schlafzimmer. Behutsam nahm er sie auf seinen Arm und trug sie dorthin. Da drehte sie sich unruhig herum und murmelte: »Kannst Du nicht schlafen, Auguste? Mache doch nicht solchen Lärm!« Die arme Kleine! Gott sei Lob, daß sie diesen Zufluchtsort gefunden hatten!

Er ging in das Schreibzimmer hinein, suchte ein Stück Papier hervor und schrieb darauf: »Beunruhigen Sie sich nicht, Fräulein! Ich bin nur hinausgegangen, um zu sehen, wie es in unserer Umgebung aussieht. Ich komme bald wieder!«

Er steckte eine Mettwurst und einigen Zwieback in seine Tasche, spülte die eine seiner lieben Wasserflaschen am Hofbrunnen aus und füllte sie dann mit klarem, frischem Wasser, woran hier kein Mangel zu sein schien. Aus dem Garten gelangte er auf eine Wiese mit frischem, üppigem Gras und kleinen Wasseransammlungen hie und da, bis er zuletzt einen kleinen, munteren Bach und – konnte er wohl seinen Augen trauen? – am Ufer desselben eine stattliche Kuh erblickte, die dort stand und in langen, tiefen Zügen trank. Nicht weit davon entfernt, entdeckte er in den Erlenbüschen weiter oben am Bachufer, daß sie noch zwei Gefährtinnen hatte, die ebenso hübsch und wohlgenährt aussahen, wie sie selbst.

Es war nun etwas über 7 Uhr. Ein paar Stunden hatte er noch Zeit. Er ging mehrmals im Kreise um das Gebiet der Villa herum, sich immer weiter von ihr entfernend. Nirgends ein lebendes Wesen, nirgends ein Laut! Dann marschirte er geradeaus in südwestlicher Richtung zum Fuß des Berges hin. Er wanderte tüchtig darauf los, sah die Nacht hereinbrechen, kümmerte sich aber nicht darum, bis umgefallene Baumstämme seinen Weg versperrten, Abgründe zu seinen Füßen gähnten und eingestürzte Häuser zeigten, daß das von der Zerstörung verschonte Gebiet nach dieser Seite hin zu Ende wäre.

Nur mit Mühe vermochte er den Weg zurückzufinden.

Wie dankte er Gott, daß seine alte, einfache, von seinem Vater ererbte Uhr in einer ganz merkwürdigen Weise mit ihm gerettet war.

Sie zeigte auf 2 Uhr in der Nacht. Aber wie war diese Uhr eigentlich gerettet worden, und wie war er in die Kleider gekommen? Hatte er sich denn wirklich noch während der Katastrophe anziehen können? Hatte er unbewußt, aus alter Gewohnheit, trotz all' des Schreckens die Uhr in die Tasche gesteckt?

Da lag nun die Villa mit ihren Nebengebäuden wieder vor ihm. Aus einem derselben vernahm er plötzlich einen Laut, der wie das Wiehern eines Pferdes klang. Otto eilte dorthin. Die Thür war zertrümmert. Im Mondschein gewahrte er Spuren der starken Pferdehufe. In einem der Stände stand ein großes Roß, mit dem Halfter um den Kopf, und von demselben hing ein abgerissenes, kurzes Stück des Halfterbandes herab.

Als Alm auf der Schwelle erschien, kam das Thier ihm entgegen und beschnupperte ihn, kehrte aber sogleich wieder mit gesenktem Kopf zu seinem Stand zurück, wie in enttäuschter Erwartung.

Das Pferd hatte hier offenbar angebunden gestanden, als die furchtbare Naturrevolution hereinbrach. Rasend vor Hunger und Durst hatte es sich nach einigen Tagen losgerissen, die Stallthür entzweigeschlagen und für sich selbst draußen auf der grünen Wiese gesorgt. Aber in den Nächten kehrte es aus alter Gewohnheit zu seinem Stand zurück, und als es nach langem Warten wieder die Schritte eines Menschen hörte, glaubte es, daß sein Herr wiederkäme, und daher wieherte es so fröhlich.

Ja, so mußte es sein! Aber dieser Herr! Wer war er? Und seine Familie und seine Leute? Waren sie durch die Angst und den Rauch der ringsum flammenden Feuer, in besinnungsloser Flucht von einem Heim fortgetrieben worden, das bewahrt geblieben war, nach einem andern Ort hin, wo sie den Tod gefunden hatten? Oder waren sie an einem Morgen erwacht und hatten gefunden, daß sie durch einen breiten Gürtel der Zerstörung von der Welt und den Menschen abgeschnitten waren, und waren nun hinausgezogen, um zu versuchen, sie wiederzufinden?

Unter vergeblichem Grübeln über die wahrscheinlichste Lösung dieser Frage schlief Otto Alm schließlich spät gegen Morgen auf einem Divan oben in einem Thurmzimmer der Villa ein.

Die folgenden Tage, von denen er so sicher die Antwort erwartet hatte, brachten sie auch nicht, ja sie brachten nicht die geringste Klarheit in irgend eines der Räthsel, die auf allen Seiten diese beiden so wunderbar geretteten Menschen umgaben. Morgens schlichen sie, jeder für sich, still und traurig in einen Vorrathsraum des Hauses, wo sie gesehen hatten, daß Nahrungsmittel vorhanden waren, aßen stehend an einem Regal, nahmen einige Mundvorräthe für den Tag mit und begannen still, ohne ein Wort des Uebereinkommens, selten mit einer Aeußerung der Hoffnung, ihre Tagesarbeit, ihr verzweifeltes, vergebliches Suchen nach Menschen, nach dem kleinsten Streifen unverwüsteter Erde, über den sie wieder zur Welt zurückkehren könnten. An den Abenden, wenn sie ihr Heim wiedererreichten – sie hatten sich bereits daran gewöhnt, es als dasselbe zu betrachten – belebten sich Thyra's Züge gleichsam von noch einer Hoffnung, und zwar, wie er vermuthete von der Hoffnung, daß die Besitzer der Villa von ihren ebenso fruchtlosen Forschungen, wie ihre eigenen, zurückgekehrt sein könnten. Aber nein! Nur das schöne, stattliche Roß hatte sich daran gewöhnt, mit munterm Wiehern sie am Garteneingang zu begrüßen, und weiter hinten gewahrten sie im Hag bisweilen »ihre« Kühe. Nach neun angstvollen Tagen, und nachdem sie die letzten Tage sich mehrmals verirrt und zeitweilig gefürchtet hatten, daß sie niemals ihre Freistatt wiederfinden würden, kehrten sie eines Abends mit der nicht ausgesprochenen Ueberzeugung zurück, daß in jedem Fall ein breiter, großer Wall der Vernichtung, der für ihre Kräfte nicht zu passiren war, sie von allen Seiten umgab und daß, wenn überhaupt noch Leben in Schweden oder auf der Erde existirte, die »Anderen,« die Ersehnten zahlreicher sein und größere Kräfte und reichere Hilfsmittel besitzen müßten, als sie selbst, damit sie einander finden könnten. Am folgenden Morgen, als Otto sich wie gewöhnlich, hinunterschleichen wollte, um etwas zu essen, etwas Proviant für den Tag zu nehmen und wieder dasselbe Suchen zu beginnen, um nicht ganz und gar ihren Muth mit einem Mal niederzuschlagen, rief sie ihn in den Salon hinein: »Kommen Sie her! kommen Sie her!«

Er trat in den Salon ein und auf die Veranda hinaus; aber da blieb er wie festgenagelt stehen, wie in Bronze gegossen, geblendet von dem Anblick, der sich seinen Augen darbot.

Thyra stand dort draußen mit schönaufgestecktem Haar und einem kleinen, feinen Hute auf den dunklen Zöpfen. Das alte, schmutzige, einmal hell gewesene Gesellschaftskleid war gegen ein einfaches, frisches Baumwollkleid und eine helle Schürze vertauscht. Sie erschien ihm als das wunderschöne Aschenbrödel, das sich heimlich zum Fest angekleidet hatte.

Auf die Veranda war ein Spieltisch hinausgesetzt, aufgeklappt, mit einem feinen, sauberen Damasttischtuch bedeckt und vollbesetzt mit Tellern und Schüsseln, auf denen sich allerhand Gottesgaben befanden, die Otto von seinen kulinarischen Streifzügen in den unteren Regionen des Hauses her kannte.

Er schaute überrascht mit verwirrtem Blick zu ihr empor.

Sie sah traurig, aber gefaßt aus.

»Ich halte es nicht länger aus, wie eine Wilde zu leben. Vielleicht werden wir uns noch dazu genöthigt sehen. Vielleicht kommt dieser Tag sogar bald. Aber bis dahin – und in jedem Fall heute, da ich diese fürchterliche, hoffnungslose Jagd nicht länger fortzusetzen vermag – wollen wir versuchen, eine schwache Erinnerung daran hervorzurufen, wie es war, bevor – bevor –«

Die Kräfte drohten sie zu verlassen, als die Erinnerungen auf sie einstürmten, die Erinnerungen daran, wie es damals war, als sie das letzte Mal zu einer gedeckten Tafel ging; denn er sah, wie sie zitterte, und ihre Augen sich mit Thränen füllten.

Sie setzten sich und aßen schweigend. Sie hatte sogar Kaffee gekocht. Da bekam Otto Alm ein teuflisches Gelüste. Er ging in den Keller hinunter und kam mit einer Flasche gelben Chartreuse wieder herauf. Den mochte sie nun zwar am wenigsten, aber sie wollte seinen Beitrag zur Tafel nicht ablehnen.

Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Nach ihrem derangirten äußeren Zustand der letzten Tage erschien sie ihm nun doppelt verführerisch.

»Sie betrachten meinen Anzug? Ja, diejenigen, denen dieses hübsche Haus gehört, müssen – falls sie noch leben – verzeihen, daß ich mir die Freiheit genommen habe, ebenso in ihre Garderobe einzubrechen, wie wir es bei ihrer Speisekammer gethan haben. Ich hielt es nicht länger in den schmutzigen Lumpen aus. Noth kennt kein Gebot!«

Otto senkte plötzlich die Augen und unterzog seine äußere Erscheinung schnell einer flüchtigen Prüfung. Er war doch schrecklich anzuschauen in den letzten Fetzen seines Gesellschaftsanzuges vom letzten Abend her und in diesem Alltagsüberrock, der mit Lehm und Schmutz beschmiert, naß vom Regen, zerdrückt und theilweise zerrissen war.

Die Mahlzeit war zu Ende. Es überkam ihn ein Gefühl tiefer Verlegenheit. Was sollten sie nun anfangen? Was erwartete sie nun von ihm? Bisher hatte jeder Tag seine bestimmte Aufgabe gehabt; nun, da sie bis auf weiteres auf die Hoffnung verzichtet hatten, Menschen zu finden, konnte sie von ihm verlangen, daß er das Seinige dazu beitrage, ihr Dasein so erträglich, wie möglich, zu gestalten.

Der gedeckte Tisch, das reine, gefällige Kleid, das Gespräch, bei dem sie mehr Worte gewechselt hatten, als bisher in einer Woche, alles hatte wohl für einige Augenblicke ihre Verzweiflung zum Schweigen gebracht und über ihre Wangen einen höheren Farbenton ergossen; aber der Rückschlag trat bald ein. Sie saß mit gebeugtem Kopfe da, und ihr Blick verfolgte die Risse der Diele der Veranda, ohne sie zu sehen. Als sie schließlich ihre Augen erhob, standen sie voll Thränen, und es klang wie ein erstickter Angstschrei, als sie murmelte:

»Sind wir denn wirklich ganz allein auf der Welt?«



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