Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.
Alles in Trümmern.


Otto Alm war abermals eingeschlafen und hatte ein Weilchen geschlummert, als er durch ein Gefühl des Erstickens geweckt wurde. Er vermochte aber nicht, Licht anzuzünden, denn das ganze Haus, das ganze Stadtviertel, ja vielleicht die ganze Stadt wurde von einem so heftigen Stoße erschüttert, daß das Auflaufen eines Fahrzeuges auf ein unterirdisches Riff wie ein sanfter, kleiner Ruck dagegen erscheinen mußte. Licht brauchte er diese Nacht überhaupt nicht mehr anzuzünden. Denn von den 150 Häusern der kleinen Stadt waren die allermeisten bei dem Erdbeben zusammengestürzt, und die Lichter und Lampen, die hier und dort um diese nächtliche Stunde das Lager eines Leidenden beleuchteten oder die angstvollen Gesichtszüge eines Opfers der Gewissensqual oder eine nächtliche Kneiperei oder das rosige Gesicht eines jungen Mädchens, das, in den Brief ihres Geliebten blickend, dasitzt, all' diese Lichter und Lampen fielen um und wurden zerschmettert, und einige von ihnen zündeten die in der Nähe befindlichen Gegenstände an. Die Spritzen kamen nicht. Das hatte seine guten Gründe. Die Häuser der Feuerwehrleute lagen nämlich mitten in den kleinen Gärtchen, welche fast jedes Haus in dieser idyllischen Stadt umgaben, und waren gleich Kartenhäusern zusammengestürzt, die von Kinderhand auf einer glatten Tischplatte umgeworfen worden sind. Die Augen des Branddirektors, eines Kaufmanns Möller, hatten sich für immer geschlossen, während ahnungslos seine junge Frau ihn erschrocken flüsternd fragte: »Ach, mein Gott, Karl, was ist passirt?« Und der Spritzenchef und der »Ordnungsmann« waren von herniederrasenden Balken getödtet worden, als sie zum letzten Mal ihre Köpfe zum Hause hinaussteckten und voll Entsetzen auf die alten, wohlbekannten, nun so ganz anders und fürchterlich erscheinenden Gassen von Naalköping herabblickten. Und andere, die nicht sogleich durch die furchtbare Katastrophe getödtet waren, taumelten auf die Gasse hinaus, gleich dem Spritzenmanne bei der Spritze Nummer 3, Landschreiber Otto Alm. Als sie aber die furchtbare Zerstörung sahen, die dort in dem hellen Schein einiger lichterloh brennender Häuser sich ihren Augen darbot, gaben sie jeden Gedanken an Pflichterfüllung auf, wurden von Todesangst ergriffen und fielen, wie von Schreck gelähmt, nieder. Otto Alm aber, der schon vorher von Fieberhitze verzehrt, schwach und wie sinnlos gewesen war und mehrere Stunden, ohne eine Ahnung von der entsetzlichen Katastrophe zu haben, dagelegen hatte, richtete seine letzten Gedanken auf die für ihn so zweifellose Wahrheit: »Nun ist der jüngste Tag hereingebrochen!«

Als er wieder zur vollen Besinnung gekommen war, merkte er einen stechenden, qualvollen, ekelhaften Geruch von unbeschreiblicher Stärke. Es war nicht nur ein Geruch, sondern ein Dunst, ein so dicker Nebel, daß er ihn mit dem Messer hätte durchschneiden können, wenn er gewollt hätte. Es war, als wenn alles, was seinem Geruchssinn während seines ganzen Lebens jemals widerwärtig erschienen war, sich vereinigt hätte und gleichsam mit 1000 multiplicirt wäre. Er fühlte deutlich, daß sein Leben in dieser Atmosphäre, wie das einer Ratte unter einer Luftpumpe, innerhalb zehn Minuten erlöschen mußte, und er sah sich mit jener Schärfe im Blick und in der Auffassung um, die uns Alle in der Todesstunde überkommt. Er war ein Stück von seiner Wohnung entfernt, in derselben Straße niedergestürzt. Er lag vor einem Hause, das eingestürzt, aber vom Feuer verschont geblieben war. Er kroch auf den Hof, wo seiner Erinnerung nach sich eine Kellerthüre befinden mußte. Diese Thür war durch den Einsturz des Hauses zusammengebrochen, aber dennoch konnte er in den Keller hinunterkriechen, er stapelte Lumpen, Stroh, Matten und alte Fässer vor der Oeffnung auf, um sich gegen die Dämpfe zu schützen, und fiel in der fernsten Ecke des Kellers nieder.

Das also war der Inhalt des inneren Erdkernes, dieses unerreichbaren, unerforschlichen Gebietes, zu dem die Menschheit seit vielen Jahrtausenden mit Bohrern und Hacken, mit Pulver und Dynamit in immer tieferen Grubenschächten hingestrebt hatte, ohne jedoch verhältnißmäßig tiefer einzudringen, als der weiche Nagel eines zarten Kindes einen Apfel zu ritzen vermag. Nun war die Erde vermuthlich in zwei oder noch mehr Theile zerspalten, die noch im Weltenraum herumschwebten – wer weiß, wie lange! – wie eine zerschnittene Kartoffel, und der Riese der Tiefe stieß seine giftigen Athemzüge durch die zum ersten Mal gesprengte Thür seines Gefängnisses aus.

Während diese und tausend andere Gedanken einige Stunden lang unter den flachsgelben, von der Todesangst schweißklebenden Haaren Otto Alms durcheinanderwirbelten, merkte er allmählich, wie seine Lungen alle brauchbare Luft in dem Keller verzehrt hatten, und wie dieser durch und durch erfüllt war von den schrecklichen Dämpfen von draußen. Da er zum zweiten Mal nahe daran war, zu ersticken, kroch er nach der Thüre, riß seine Barrikade, Stück für Stück, fort und kletterte an's Tageslicht hinauf, um zu entdecken, daß die Dämpfe sich vermindert hatten und daß alles in Trümmern lag.

Was das Feuer nicht vernichtet hatte, war wie ein von zorniger Hand zusammengedrückter Bogen Papier zerquetscht. Nicht eine ganze Fensterscheibe, nicht eine aufrechtstehende Thür, keine fünfzehn Meter Straße, zwischen tiefen Abgründen! Er erhob seinen Blick zum Solinger Walde, dessen herrliche, mächtige Fichtenstämme seit Jahrhunderten die schöne Hinterdekoration der kleinen Stadt gebildet hatten. Es war, als wenn mit scharfer Sense ein Saatfeld abgemäht worden wäre. Nur wo die Sense nicht recht hingetroffen hatte, stand noch hier und da ein Stamm bis zum dritten Theil seiner Höhe von über den Haufen gestürzten Gefährten umgeben.

Seine Gedanken stolperten über einander, als er sich auf diesem kleinen, ihm so wohlbekannten Platz zu orientiren suchte. Unmöglich! Er wußte nicht, wo dieses oder jenes Haus gestanden hatte!

Das Tageslicht und die Stille erzeugten bei ihm einen Funken von Hoffnung. War es nicht in jedem Fall thöricht zu glauben, daß die ganze Erde durch den Unglücksstoß vernichtet sein könnte? Vielleicht lebten die Menschen im großen und ganzen ruhig und froh, ungestört und glücklich, tugendsam oder lasterhaft ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nach, ohne eine Ahnung von dem Unglücksfall, der Naalköping betroffen hatte? Er mußte sich aufraffen und in's Bureau gehen! Es war hohe Zeit für ihn, wieder unter Menschen zu kommen. Und dann begann er zwischen den Ruinen seiner Geburtsstadt herumzuklettern. Mit der Hoffnung auf ein Leben, von dem er bereits glaubte, daß es sein Ende erreicht hätte, tauchte in seinem Herzen auch wieder ein Gefühl auf, das die Todesangst solange unterdrückt hatte, ohne es jedoch ganz ersticken zu können. Großer Gott! Auch sie, dieses holde, herrliche, unvergleichliche Weib war vielleicht zerschmettert, verbrannt oder erstickt in dieser fürchterlichen Orgie der Naturkräfte!

Aber war es nicht allzu übereilt, anzunehmen, alles Leben in der Stadt sei todt, weil er nichts davon vernahm? Konnte nicht auch jemand anderes, ebenso wie er selbst, gerettet sein?

Vier Stunden lang erschallte sein von Thränen ersticktes »Halloh!« durch die Gegend, in grausiger Weise die überall herrschende Stille und das Schweigen unterbrechend. Zuletzt vermochte er nur noch heisere Töne hervorzukrächzen, und als er auch diese nicht mehr herauspressen konnte, sank er ohnmächtig in einem Hinterhof nieder, völlig überzeugt, daß ihn nun der Wahnsinn ergreifen würde, wenn nicht der Tod dazwischenträte.

Er drückte den Kopf fest gegen den Boden, damit seine Blicke nicht mehr all die Todten gewahren sollten, die er auf seinem eiligen Marsche gesehen hatte und deren gläserne, angsterfüllte, für immer erstarrte Augen er auf sich gerichtet wähnte.

Wie lange er so gelegen hatte, wußte er nicht. Als er sich erhob, war er von neuem darüber erstaunt, daß er noch am Leben war und noch seine fünf Sinne beisammen hatte. Er brach in einen Keller ein, suchte sich einige Nahrungsmittel aus den durcheinandergewühlten Vorräthen heraus, die am wenigsten verunreinigt und übel zugerichtet waren, aß etwas davon, steckte einiges in seine Taschen und ging dann aus der Stadt hinaus, um Menschen zu suchen.

Was er während der nächsten vier Tage, die diese Wanderung andauerte, immer nur im Umkreis der Stadt, von der er noch niemals sich mehr als 25 Kilometer entfernt hatte, sah und empfand, vermag keine menschliche Feder zu schildern. Brand, Tod und Fäulniß! Gesichter, die das Gepräge des Schreckens noch fürchterlicher machte, als ihre zerschmetterten Körper. Kein Vogel auf den noch aufrecht stehenden Bäumen; hier in einem eingestürzten Kuhstall eine Kuh mit gebrochenen Beinen, aber noch lebend, die er mit einem Stein todtschlug; sonst nirgends eine Spur von Leben. Dort entdeckte er ein paar Schachteln Streichhölzchen, wieder wo anders im Keller eines verbrannten Hauses einen halb gebratenen Käse, mit dem er seinen Mundvorrath vermehrte, und dann begab er sich halb widerwillig, von Angst und von Abscheu erfüllt, zu den Ruinen zurück, wo er sein Heim gehabt hatte, wie von einer unwiderstehlichen Mahnung getrieben.

Alles Feuer war erloschen; die dicke, trostlose schwere Luft, die über der Stadt gelagert hatte, als er sie verließ, war nun leichten, hellen Sommerwolken gewichen, durch welche die strahlende Junisonne unverhüllt auf die Verwüstung herniederblickte. Die vernichtete Vegetation auf den Gartenfeldern begann sich wieder zu regen infolge des Erhaltungstriebes der Natur, und von dem widerwärtigen, unterirdischen Geruche merkte man keine Spur mehr. Hatte der Fürst des Abgrundes dort unten in der geborstenen Erde wirklich auf einmal seinen Geifer ausgespieen?

Als Alm über die Ruinen eines größeren Gebäudes hinüberkletterte, spürte er plötzlich einen anderen Geruch, einen, der seine Wangen erbleichen und seinen Körper wie im Frostschauer erbeben ließ – barmherziger Erlöser! Er wanderte ja auf einem Friedhof herum, auf dem kein Todtengräber seines Amtes waltete!

Von der Nothwendigkeit überzeugt, zu einem Platze hinzuflüchten, wo der Mordengel weniger reiche Ernte gehalten hatte, und wo er allein mit einiger Hoffnung auf Erfolg die gräßliche Arbeit unternehmen konnte, die allerfurchtbarsten Spuren wegzuräumen, wankte er über diese Todtenfelder zwischen den Ruinen dahin, wo sein durch die lautlose Stille und die namenlose Angst unnatürlich erregtes Gehör ihm die Athemzüge eines lebenden Wesens hatte vernehmen lassen.

Ganz dicht dabei und fast überschattet von einem gewaltigen, aus der Mauer eines Hauses herausgerissenen Steinblocke lag sie, schlafend oder besinnungslos, mit geronnenem Blut über den Wunden und Rissen an den kleinen, zarten Händen, mit feinen, weichen Wangen, die von Schmutz und Staub bedeckt waren, durch den die herabfließenden Thränen Streifen über das feine Gesicht bis ganz hinunter gezogen hatten, und noch in ihrem hellen Gesellschaftsanzuge, sie, der Inhalt seiner Gedanken, der Gegenstand seiner Sehnsucht, die Einzige, Unvergleichliche!

Seine Brust hob sich stürmisch, sein klopfendes Herz preßte einen stöhnenden Laut über seine weit geöffneten Lippen hervor.

Sie schlug die Augen auf.

Es ist merkwürdig, wie fest die konventionellen Fesseln den Menschen gebunden halten! Bei drohender Lebensgefahr, wenn man sich drängt, um von einem brennenden Schiffsbord in die Boote hinabzukommen, da tritt wohl das Thier in uns in all seiner egoistischen Wildheit hervor, aber sonst ist die Dressur des civilisirten Lebens eine ganz wunderbare. Ihre Kraft wirkte sogar jetzt in dieser unerhörten Situation und selbst auf ihn, der niemals ein gewandter Weltmann gewesen war.

Er stürzte nicht an ihre Brust und schluchzte, aus erschütterter Seele hervorjubelnd: »Ein Mensch!« Er nahm – ich lache, da ich es schreibe – sehr höflich seinen alten Hut vom Kopfe und sagte, wenn auch mit zitternder, stammelnder Stimme:

»Ach, mein Gott, sind Sie es, Fräulein Birkenblatt?«



 << zurück weiter >>