Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII

Der Aufzug

Ehe Esther Prynne ihre Gedanken zu sammeln und zu überlegen vermochte, was sich in dieser neuen und unerwarteten Lage der Dinge tun lasse, hörte man den Klang der Militärmusik aus einer nahen Straße herankommen. Er bezeichnete das Näherrücken des Aufzuges der Amtspersonen und Bürger auf ihrem Wege nach dem Versammlungshause, wo einem schon früh eingeführten und seither stets beobachteten Brauche gemäß der ehrwürdige Herr Dimmesdale die Wahlpredigt halten sollte.

Bald darauf bog die Spitze der Prozession mit langsamem stattlichem Schritt um eine Ecke und bewegte sich quer über den Marktplatz. Zuerst kam die Musik. Sie umfaßte eine Menge verschiedenartiger Instrumente, die vielleicht wohl nur unvollkommen zueinander paßten und mit eben nicht großer Geschicklichkeit gespielt wurden, aber doch den Hauptzweck erreichten, zu welchem sich die Harmonie der Trommel und Trompete an die Menge wendet, dem vor dem Auge vorübergehenden Schauspiele ein erhabeneres und heroischeres Aussehen zu verleihen. Anfangs klatschte Perlchen in die Hände, verlor aber dann für einen Augenblick die rastlose Aufregung, welche sie den Morgen über in beständiger Bewegung gehalten hatte, blickte schweigend darauf hin und schien gleich einem schwimmenden Seevogel auf den langen Wellen der Töne dahingetragen zu werden. Der Schimmer des Sonnenscheines auf den Waffen und der Rüstung der hinter der Musik marschierenden und die Ehrenbegleitung des Zuges bildenden Soldatenkompanie brachte sie indes wieder zu ihrer alten Laune zurück. Diese Truppe von Soldaten, welche immer noch Teil unseres Vereinswesens ist und mit altehrwürdigem Ruhm aus den vergangenen Jahrhunderten in unsere Zeit marschiert ist, bestand nicht aus käuflichem Material. Ihre Reihen rekrutierten sich aus Männern von Stand, welche von martialischem Treiben begeistert waren und eine Art von Waffenkollegium zu errichten suchten, wo sie wie in einem Ritterorden die Wissenschaft und, soweit es eine friedliche Übung gestattete, auch die Praxis des Krieges lernen wollten. Die hohe Achtung, in welcher damals der militärische Charakter stand, war in der stolzen Haltung jedes einzelnen Mitgliedes dieser Kompanie zu erkennen. Einige hatten überdies durch ihre Dienste in den Niederlanden und auf anderen europäischen Schlachtfeldern ihr Recht auf den Namen und den Pomp des Soldatentums erworben. Der ganze in polierten Stahl gekleidete Zug, mit seinen über die glänzenden Helme nickenden Federn, machte einen prächtigen Eindruck, dem keine moderne Schaustellung nahekommen kann.

Und doch verdienten die Männer von Auszeichnung im Zivilfache, welche unmittelbar hinter der militärischen Eskorte kamen, eher die Berücksichtigung eines nachdenkenden Beobachters. Selbst in ihrem äußeren Benehmen ließen sie eine Majestät erkennen, welche den hochmütigen Schritt des Kriegers gemein, wo nicht abgeschmackt erscheinen ließ. Es war eine Zeit, als das, was man jetzt als Talent bezeichnet, weit weniger Beachtung fand als heute, die massiven Materialien, welche Stabilität und Würde des Charakters erzeugen, dagegen bedeutend mehr. Das Volk besaß durch erbliches Recht noch die Fähigkeit der Ehrerbietung, welche, wenn überhaupt noch bei seinen Nachkommen vorhanden, heute in geringerem Maße existiert und bei der Auswahl der Schätzung öffentlicher Männer mit sehr verminderter Kraft wirkt.

Die Veränderung mag nun zum Guten oder Bösen sein und ist zum Teil wahrscheinlich beides. Zu jenen alten Zeiten, da der englische Ansiedler der rauhen amerikanischen Küsten König, Adel und alle Rangstufen hinter sich gelassen, aber die Fähigkeit und Notwendigkeit der Ehrerbietung noch in starkem Maße bewahrt hatte, übertrug er sie auf das weiße Haar und ehrwürdige Antlitz des Alters, auf lange geprüfte Rechtschaffenheit, auf solide Weisheit und ehrfurchtgebietende Erfahrung, auf Gaben der ernsten und gewichtigen Art, welche die Idee der Dauer erzeugt und mit dem allgemeinen Ausdruck der Respektabilität bezeichnet wird. Diese Staatsmänner der ersten Stunde – Bradstreet, Endicott, Dudley, Bellingham und ihresgleichen –, die durch die Wahl des Volkes zur Macht erhoben wurden, scheinen daher nicht glänzende Talente besessen, sondern mehr durch eine gewichtige Nüchternheit als durch Tätigkeit des Verstandes sich ausgezeichnet zu haben. Sie besaßen Standhaftigkeit und Selbstvertrauen und erhoben sich für das Wohl das Staates in Zeiten der Schwierigkeit oder Gefahr wie eine sich gegen die stürmische See anstemmende Klippenreihe. Diese Charakterzüge wurden durch die massigen Gesichter und die starke physische Entwicklung der neuen kolonialen Obrigkeit gut dargestellt. Was ein Benehmen voll natürlicher Würde betraf, hätte sich das Mutterland nicht zu schämen brauchen, diese ersten Männer einer verwirklichten Demokratie in das Haus der Pairs oder den Staatsrat des Souveräns aufzunehmen.

Zunächst hinter der Magistratsperson kam der junge, ausgezeichnete Geistliche, von dessen Lippen man die religiöse Ansprache des Jahrestages erwartete. Sein Stand war zu jener Periode derjenige, in welchem sich weit mehr intellektuelle Befähigung zeigte als im politischen Leben, denn er bot – von höheren Beweggründen ganz abgesehen – durch die fast anbetende Ehrfurcht der Gemeinde Beweggründe genug, um selbst den kühnsten Ehrgeiz für seinen Dienst zu gewinnen. Selbst politische Macht – wie im Falle von Increase Mather – lag im Bereich eines angesehenen Priesters.

Die, welche jetzt den Pastor Dimmesdale erblickten, machten die Feststellung, daß er, seit er seinen Fuß zum ersten Male auf die Küste von Neu-England gesetzt, nie solche Energie in Gang und Miene gezeigt hatte wie jetzt, da er in dem Zuge einherschritt. Man bemerkte keine Schwäche des Ganges wie zu andern Zeiten; sein Körper war nicht gebeugt, seine Hand ruhte nicht auf seinem Herzen. Wenn man aber den Geistlichen recht betrachtete, so zeigte es sich, daß seine Kraft nicht die des Körpers war. Vielleicht war sie geistlicher Art und ihm durch dienende Engel erteilt, vielleicht bestand sie in der Anregung durch jenes mächtige Stärkungsmittel, welches nur in der Schmelzofenglut ernsten und lange anhaltenden Denkens destilliert wird; vielleicht wurde auch sein reizbares Temperament von der lauten durchdringenden Musik gekräftigt, die zum Himmel emporstieg und ihn auf ihre Wogen hob. So zerstreut war jedoch sein Blick, daß sich bezweifeln ließ, ob Dimmesdale überhaupt die Musik hörte. Sein Körper bewegte sich mit ungewohnter Kraft vorwärts. Aber wo war sein Geist? Fern und tief in seinen eigenen Regionen und mit übernatürlicher Tätigkeit geschäftig, einen Zug von majestätischeren Gedanken zu ordnen, welche bald ans Licht treten sollten. Und so sah und hörte und wußte er nichts von dem, was um ihn vorging, aber das geistige Element nahm den schwachen Körper und trug ihn, ohne die Last zu merken, dahin und machte ihn zu einem Teil seiner selbst.

Männer von ungewöhnlichen Verstandeskräften, welche krankhaft geworden sind, besitzen diese Fähigkeit gelegentlicher, mächtiger Anstrengungen, in welche sie das Leben vieler Tage werfen und dann ebenso viele andere hindurch leblos sind.

Esther Prynne blickte den Geistlichen unverwandt an und fühlte, daß über sie ein Trübes kam. Woher und weshalb wußte sie jedoch nicht, außer daß jener von ihrem eigenen Kreise so entfernt und so gänzlich außer ihrem Bereich zu sein schien. Sie hatte sich vorgestellt, daß doch wenigstens ein Blick des Erkennens zwischen ihnen gewechselt werden müsse. Sie dachte an den dunkeln Wald mit seinem Tälchen voller Einsamkeit und Liebe und Pein und den bemoosten Baumstamm, wo sie Hand in Hand sitzend neben dem melancholischen Murmeln des Baches ihr trauriges und leidenschaftliches Gespräch hatten. Wie genau hatten sie sich dort gekannt! Und war dies der Mann? Sie erkannte ihn kaum wieder. Ihn, der so stolz, gewissermaßen von der rauschenden Musik umhüllt, mit dem Zuge majestätischer und ehrwürdiger Väter vorüberschritt; ihn, der in seiner weltlichen Stellung und mehr noch in dem fernen Reiche seiner teilnahmslosen Gedanken, durch welche sie ihn jetzt erblickte, so unerreichbar war. Ihr Mut sank in dem Gedanken, daß alles ein Blendwerk gewesen sein müsse und daß, so lebhaft sie auch geträumt, kein wahres Band zwischen dem Geistlichen und ihr bestehen könne. Und Esther hatte so viel Weibliches an sich, daß sie ihm kaum verzeihen konnte – am wenigsten aber jetzt, da der schwere Schritt ihres Schicksals zu hören war, wie er näher, näher, näher rückte. Daß er sich so vollkommen aus ihrer beiderseitigen Welt zurückziehen konnte, während sie im Finstern tastete und ihre kalten Hände ausstreckte und ihn nicht fand.

Perle sah und teilte entweder die Gefühle ihrer Mutter oder fühlte selbst die Ferne und Unfaßbarkeit, welche sich um den Prediger gelegt hatte. Während der Aufzug vorüber ging, war das Kind unruhig und flatterte auf und ab wie ein Vogel, der im Begriff steht emporzufliegen.

Als alles vorbei war, blickte sie in Esthers Gesicht auf.

»Mutter«, sagte sie, »war das derselbe Mann, der mich am Bache küßte?«

»Sei ruhig, liebes Perlchen«, flüsterte ihre Mutter, »wir dürfen auf dem Marktplatze nicht immer von dem sprechen, was uns im Walde begegnet.«

»Er sah so fremd aus, daß ich nicht gewiß war, ob er es sei«, fuhr das Kind fort; »ich wäre sonst zu ihm hingelaufen und hätte ihn gebeten, mich vor aller Welt zu küssen, wie er dort unter den finstern alten Bäumen tat. Was würde der Prediger gesagt haben, Mutter? Würde er die Hand auf das Herz gelegt und mich finster angeblickt und mir befohlen haben zu gehen?«

»Was sollte er sagen, Perle«, antwortete Esther, »außer daß es keine Zeit zum Küssen sei und daß auf dem Marktplatz keine Küsse gegeben würden? Gut für dich, törichtes Kind, daß du ihn nicht anredetest.«

Eine andere Schattierung desselben Gefühles in bezug auf Dimmesdale wurde von einer Person ausgedrückt, welche ihre Exzentrizität – oder ihr Wahnsinn, wie wir es jetzt nennen würden – bewog, das zu tun, was wenige von den Bewohnern der Stadt gewagt haben würden: ein öffentliches Gespräch mit der Trägerin des Scharlachbuchstabens zu beginnen. Es war die alte Hibbins, die prächtig gekleidet mit einer dreifachen Krause, einem gestickten Mieder, einem schweren Sammetkleide und einem goldbeknopften Stocke ausgegangen war, um den Aufzug zu sehen. Da diese alte Dame in dem Rufe stand – welcher sie später einen nicht geringeren Preis als ihr Leben kostete –, eine Hauptrolle in allen den Werken der Zauberei zu spielen, welche beständig vorkommen, machte ihr die Menge Platz und schien die Berührung ihres Gewandes zu fürchten, als trage es die Pest in seinen schweren Falten. Als man sie in Gesellschaft Esther Prynnes erblickte, verdoppelte sich, so freundlich auch das Gefühl war, welches jetzt viele gegen Esther hegten, die durch die Hibbins eingeflößte Furcht und verursachte eine allgemeine Entfernung von dem Teile des Marktplatzes, wo die beiden Frauen standen.

»Wer hätte es denken sollen!« flüsterte die alte Dame Esther vertraulich zu; »jener göttliche Mann, jener Heilige auf Erden, wie ihn die Leute nennen und wie – das muß ich schon sagen – er auch wirklich aussieht! Wer, der ihn in dem Zuge vorübergehen sah, hätte gedacht, vor wie kurzem er noch aus seinem Studierzimmer ging, wobei er sicher einen hebräischen Bibelspruch kaute, um im Walde Luft zu schöpfen. Ah, wir wissen, was das zu bedeuten hat, Esther Prynne! Es wird mir aber wahrhaft schwer zu glauben, daß er derselbe Mann ist. Ich habe gar manches Gemeindemitglied hinter der Musik gesehen, das mit mir in der gleichen Figur getanzt hat, als ein gewisser Jemand aufspielte und vielleicht ein indianischer Pauwau oder ein lappländischer Hexenmeister mit uns herumsprang. Das ist nur eine Kleinigkeit, wenn man als Frau die Welt kennt, aber dieser Prediger! Weißt du gewiß, Esther, daß er derselbe Mann ist, der dir auf dem Waldpfade begegnete?«

»Madame, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, antwortete Esther Prynne, welche fühlte, daß Frau Hibbins labilen Geistes war, aber doch durch die Zuversicht, womit sie sich auf eine persönliche Verbindung zwischen so vielen Personen und dem Bösen berief, seltsam erschreckt und verschüchtert wurde. »Es ziemt mir nicht, leichtfertig von einem gelehrten und frommen Prediger des Worts, wie der ehrwürdige Herr Dimmesdale, zu sprechen.«

»Pfui, pfui, Weib!« rief die alte Dame, indem sie ihren Finger gegen Esther schüttelte. »Denkst du, daß ich so viele Male im Walde gewesen bin, ohne beurteilen zu können, wer sonst noch dort gewesen ist? Wahrlich, auch wenn kein Blatt von den Girlanden, die sie beim Tanzen trugen, mehr in ihrem Haare ist! Ich kenne dich, Esther, denn ich erblicke das Zeichen. Wir können es alle im Sonnenschein sehen und im Finstern glüht es wie eine rote Flamme. Du trägst es offen, wir brauchen also nicht weiter davon zu sprechen. Aber der Prediger! Ich will dir etwas in das Ohr flüstern. Wenn der schwarze Mann sieht, daß einer von seinen gezeichneten und besiegelten Dienern zu scheu ist, sich zu dem Bunde zu bekennen, wie Ehrwürden Dimmesdale, so weiß er es so einzurichten, daß das Zeichen den Augen der Welt am hellen Tage offenbart wird. Was ist es, das der Prediger beständig mit auf das Herz gelegter Hand zu verbergen sucht? Sag mir das, Esther Prynne!«

»Was ist es, gute Frau Hibbins?« fragte Perlchen begierig. »Hast du es gesehen?«

»Kümmere dich nicht darum, mein Herzchen«, antwortete Frau Hibbins mit einer tiefen Verbeugung gegen Perle. »Du wirst es selbst noch einmal sehen. Man sagt, Kind, daß du von dem Fürsten der Luft abstammst. Willst du einmal, wenn es eine schöne Nacht ist, mit mir reiten und deinen Vater besuchen? Dann wirst du erfahren, weshalb der Prediger seine Hand auf das Herz hält.«

Mit einem Lachen, das man über den ganzen Marktplatz hören konnte, entfernte sich die grausliche alte Dame.

Jetzt war in dem Versammlungshause das einleitende Gebet vorüber, und man vernahm die Stimme Dimmesdales, welcher die Wahlpredigt begann. Esther wurde durch ein unwiderstehliches Gefühl festgehalten. Da das ehrwürdige Gebäude zu sehr von Menschen angefüllt war, um weitere Zuhörer aufzunehmen, stellte sie sich dicht neben dem Gerüste des Prangers auf. Es war nahe genug, um die ganze Predigt in Gestalt eines undeutlichen, aber wechselvollen Murmelns, der eigentümlichen Stimme des Predigers, zu ihren Ohren zu bringen.

Dieses Organ war an sich schon eine reiche Begabung, so daß ein Zuhörer, selbst wenn er nichts von der Sprache verstand, in welcher der Prediger redete, doch durch den bloßen Fall und Ausdruck des Tones bewegt werden mußte. Wie jede andere Musik atmete er in einer dem menschlichen Herzen, wo es auch erzogen sein mochte, angeborenen Zunge Leidenschaft und Pathos, Hohn oder zarte Empfindungen. So sehr auch der Ton auf seinem Wege durch die Kirchenmauern gedämpft wurde, lauschte Esther Prynne doch mit solcher Aufmerksamkeit und nahm so starken Teil daran, daß die ganze Predigt von Anfang bis zu Ende eine von ihren unverständlichen Worten völlig gesonderte Bedeutung für sie besaß. Wenn sie die Worte deutlicher gehört hätte, so würden sie vielleicht ein gröberes Vehikel des Verständnisses gewesen sein und die geistige Bedeutung eher gehemmt haben. Jetzt vernahm sie den leisen Unterton, als ob der Wind zur Ruhe gehe, er stieg dann an und erhob sich durch allmähliche Abstufung voller Lieblichkeit und Gewalt, bis sein Volumen sie mit einer Atmosphäre von feierlicher Großartigkeit zu umhüllen schien. So majestätisch die Stimme zuweilen wurde, besaß sie doch stets einen wesentlich klagenden Charakter, einen lauten oder leisen Ausdruck der Pein, das Flüstern, oder wenn man es so nennen wollte, den Schrei der leidenden Menschheit, welcher in jeder Brust eine gleichgestimmte Saite in Bewegung setzt. Mitunter war dieser tief rührende Ton alles, was sich vernehmen ließ, und auch dies nur mit Mühe, und schien seufzend in einer öden Stille zu verklingen. Aber selbst wenn die Stimme des Predigers laut und gebietend wurde, wenn sie unwiderstehlich emporquoll, wenn sie den äußersten Umfang und die höchste Gewalt annahm und die Kirche so überflutete, daß sie sich einen Weg durch die festen Mauern bahnte und in der freien Luft ausbreitete, selbst dann konnte der aufmerksame Zuhörer, wenn er darauf achtete, denselben Schmerzensschrei darin entdecken. Was war es? Die Klage eines schmerzbeladenen, vielleicht sündigen Menschenherzens, welches sein Geheimnis der Sünde oder des Kummers dem großen Herzen der Menschheit offenbarte und in jedem Augenblicke, in jedem Tone, und nie vergebens, um dessen Teilnahme oder Verzeihung flehte. Dieser tiefe, fortwährend anhaltende Unterton war es, der dem Geistlichen seine eigentliche Macht verlieh.

Die ganze Zeit über stand Esther statuengleich am Fuße des Prangers. Hätte die Stimme des Geistlichen sie nicht dort festgehalten, so würde dessenungeachtet ein unwiderstehlicher Magnetismus in der Stelle gewesen sein, von welcher sie die erste Stunde ihres Lebens der Schmach datierte. Sie hatte eine Empfindung, zu undeutlich umgrenzt, um für einen Gedanken zu gelten, die aber schwer auf ihrem Geiste lastete, daß ihr ganzes früheres wie späteres Leben mit dieser Stelle als dem Punkte, welcher ihm Einheit verlieh, verknüpft sei.

Perlchen hatte unterdessen die Seite ihrer Mutter verlassen und spielte nach ihrem Belieben bald hier, bald dort auf dem Marktplatz. Sie machte durch ihren kometenartigen Glanz die dunkle Menge heiter, wie ein buntgefiederter Vogel einen ganzen düsterbelaubten Baum dadurch erhellt, daß er halb sichtbar und halb versteckt in der Dämmerung des dichten Laubes hin und her schießt. Sie hatte eine wellenförmige, zuweilen aber auch eine eckige und unregelmäßige Bewegung an sich. Sie verkündete die rastlose Lebhaftigkeit ihres Geistes, welcher heute dadurch doppelt unermüdlich in seinem Spitzentanz wurde, daß die Unruhe ihrer Mutter darauf spielte und ihn in vibrierende Bewegung setzte. Wenn Perle etwas sah, wodurch ihre stets lebendige, umherschweifende Neugier erregt wurde, so flog sie darauf zu und bemächtigte sich sozusagen des Menschen oder Dinges, soweit sie es wünschte, als ihres Eigentums, ohne aber auch nur den geringsten Grad von Herrschaft über ihre Bewegungen zu gestatten. Die Puritaner blickten ihr nach und waren, wenn sie auch lächelten, doch nichtsdestoweniger geneigt, das Kind für einen Dämonensprößling zu erklären, so unbeschreiblich war der Zauber der Schönheit und Exzentrizität, welcher ihre kleine Gestalt durchleuchtete und in ihrer Lebhaftigkeit funkelte. Sie lief auf den wilden Indianer zu und blickte ihm ins Gesicht, und er erkannte in ihr eine wildere Natur als seine eigene. Dann flog sie mit angeborener Dreistigkeit, dabei aber mit einer ebenso charakteristischen Zurückhaltung mitten in eine Gruppe von Seeleuten – den dunkelwangigen Wilden des Ozeans, wie die Indianer die des Landes waren –, und sie schauten verwundert und voller Bewunderung auf Perle, als ob die Schaumflocke des Meeres die Gestalt eines kleinen Mädchens angenommen habe und mit einer Seele von dem Seeufer begabt sei, welches bei Nacht unter dem Bug aufblitzt.

Der Schiffskapitän, der mit Esther Prynne gesprochen hatte, war von Perlens Anblick so angetan, daß er den Versuch machte, sie zu packen, um ihr einen Kuß zu rauben. Da er es jedoch ebenso unmöglich fand, sie zu erfassen, wie einen Kolibri in der Luft zu fangen, so nahm er die um seinen Hut geschlungene Kette von diesem ab und warf sie dem Kinde zu. Perle schlang sie augenblicklich mit so glücklicher Geschicklichkeit um ihren Hals und Leib, daß sie, einmal dort gesehen, zu einem Teile von ihr wurde, und man sie sich kaum noch ohne diese vorstellen konnte.

»Deine Mutter ist jenes Weib dort mit dem scharlachroten Buchstaben?« sagte der Seemann. »Willst du ihr von mir eine Botschaft überbringen?«

»Gern, wenn mir der Auftrag gefällt«, antwortete Perle.

»So sag ihr«, entgegnete er, »daß ich wieder mit dem griesgrämigen, verwachsenen alten Doktor gesprochen habe, und daß er versprochen hat, seinen Freund, den Herrn, von dem sie weiß, an Bord mitzubringen. Deine Mutter soll sich also um nichts weiter als um sich und dich kümmern. Willst du ihr das sagen, du kleine Hexe?«

»Frau Hibbins sagt, mein Vater sei der Fürst der Luft«, rief Perle mit ihrem schelmischen Lächeln. »Wenn du mich bei dem garstigen Namen rufst, so werde ich es ihm sagen, und er wird dein Schiff mit einem Sturme verfolgen.«

Das Kind lief im Zickzack über den Marktplatz, kehrte zu seiner Mutter zurück und teilte ihr das, was der Seemann gesagt hatte, mit. Esthers kräftiger, ruhiger, standhaft duldender Geist wurde fast gänzlich zu Boden gedrückt, als sie das finstere, grausige Antlitz eines unvermeidlichen Schicksals bemerkte, welches sich gerade in dem Augenblicke, wo sich für den Prediger und sie ein Ausweg aus ihrem Labyrinthe des Elends zu zeigen schien, mit einem unbarmherzigen Lächeln mitten auf ihren Pfad stellte.

Während ihr Geist von der entsetzlichen Not gepeinigt wurde, in welche sie die Nachricht des Schiffskapitäns versetzt hatte, mußte sie sich noch einer andern Prüfung unterwerfen. Es waren viele Leute aus dem umliegenden Lande zugegen, die oft von dem Scharlachbuchstaben gehört und denen er durch Hunderte von falschen oder übertriebenen Gerüchten zu einem Schreckbilde gemacht worden war, die ihn aber noch nie mit ihren leiblichen Augen erblickt hatten. Nachdem diese alle übrigen Belustigungen erschöpft, stellten sie sich jetzt mit roher, bäuerischer Zudringlichkeit um Esther Prynne auf. Unverfroren wie diese waren, kamen sie doch nicht naher als bis zu einem Umkreis von einigen Metern heran. In dieser Entfernung blieben sie stehen, fixiert von der zentrifugalen Kraft des Abstoßes, die das mystische Symbol ausstrahlte. Auch die Matrosen, die das Zudringen der Zuschauer bemerkt und die Bedeutung des Scharlachbuchstabens erfahren hatten, kamen und steckten ihre sonnenverbrannten Räubergesichter in den Kreis. Selbst die Indianer wurden von einem gewissen kalten Schatten der Neugier des weißen Mannes ergriffen, glitten durch die Menge und hefteten ihre schwarzen Schlangenaugen auf Esthers Busen, indem sie vielleicht glaubten, daß die Trägerin dieses glänzend gestickten Zeichens eine Person von hoher Wichtigkeit unter ihrem Volke sein müsse. Endlich kamen die Bewohner der Stadt, deren eignes Interesse an dem abgenutzten Gegenstande sich durch die Teilnahme an dem, was sie andere fühlen sahen, allmählich wieder belebte, müßig in dieselbe Gegend geschlendert und quälten Esther vielleicht mehr als alle übrigen durch ihren kaltblütigen, vertraulichen Blick auf das ihnen längst bekannte Zeichen der Schmach. Esther sah und erkannte die Gesichter der Gruppe von Matronen, welche sie vor sieben Jahren beim Herauskommen aus der Gefängnistür erwartet hatten. Sie waren alle hier bis auf eine, die jüngste und einzig mitleidige von ihnen, deren Leichenkleid sie seitdem gefertigt hatte. In der letzten Stunde, wo sie den glühenden Buchstaben alsbald beiseite werfen sollte, war er seltsamerweise zum Mittelpunkte einer noch aufmerksameren Betrachtung und Aufregung geworden und brannte sich so peinvoller als zu jeder Zeit, seit jenem ersten Tage, als sie ihn anlegte, in ihre Brust ein.

Während Esther in jenem Zauberkreise der Schmach stand, in welchen sie die ausgeklügelte Grausamkeit ihres Urteilsspruches für immer gebannt zu haben schien, blickte der treffliche Prediger von der geweihten Kanzel auf eine Gemeinde herab, deren Innerstes völlig von seinen Worten beherrscht wurde. Der einem Heiligen gleiche Priester in der Kirche, das Weib mit dem Scharlachbuchstaben auf dem Marktplatze – welche Phantasie würde unehrerbietig genug gewesen sein, zu vermuten, daß auf beiden das gleiche versengende Brandmal haftete?


 << zurück weiter >>