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X

Der Arzt und sein Patient

Der alte Roger Chillingworth war sein ganzes Leben hindurch von ruhigem Temperament, menschenfreundlichem, wenn auch nicht warmem Charakter, aber in allen seinen Verhältnissen zu der Welt ein reiner und rechtschaffener Mensch gewesen. Er hatte eine Untersuchung begonnen, und zwar, wie er sich vorstellte, mit der strengen gleichmütigen Lauterkeit eines Richters, der nur die Wahrheit erforschen will, und als ob die Frage nicht mehr in sich begreife, wie die luftigen Linien und Figuren eines geometrischen Problems statt menschlicher Leidenschaften und ihm selbst zugefügten Unrechts. Als er aber tiefer in die Sache eindrang, bemächtigte sich des alten Mannes ein entsetzlicher fesselnder Zauber, eine Art von grimmiger, dabei aber doch ruhiger Notwendigkeit und ließ ihn nicht eher wieder frei, als bis er ihre Gebote vollkommen ausgeführt hatte. Er wühlte jetzt in dem Herzen des armen Geistlichen wie ein nach Gold suchender Bergmann oder vielmehr wie ein Totengräber, der in einem Grabe vielleicht nach einem Juwel sucht, das auf der Brust eines Toten mit begraben worden war, der aber aller Erwartung nach nichts finden sollte als Moder und Verwesung. Wie unglücklich war aber seine eigene Seele, wenn dies das war, was er suchte.

Zuweilen schimmerte aus den Augen des Arztes ein Licht, blau und Unheil verkündend, wie der Widerschein eines Schmelzofens, oder sagen wir, wie das Aufscheinen jenes geisterhaften Feuers, das aus Bunyans furchtbarem Eingang im Hügel schoß und auf des Pilgers Gesicht flackerte. Der Boden, worin der düstere Bergmann grub, hatte ihm vielleicht Zeichen gegeben, welche ihn zum Fortfahren ermunterten.

»Dieser Mann«, sagte er in einem solchen Augenblicke zu sich, »hat, für so rein man ihn auch hält, so geistig er auch scheint, von seinem Vater oder seiner Mutter eine starke animalische Natur ererbt. Graben wir noch etwas weiter in der Richtung dieser Ader.«

Nach langem Suchen in dem nebelig trüben Innern des Geistlichen und vielfachem Umwühlen einer Menge kostbarer Materialien in Gestalt hoher Wünsche für das Glück seines Geschlechts, warmer Liebe der Seelen, reiner Gefühle, natürlicher durch Denken und Studium verstärkter und durch die Offenbarung erleuchteter Frömmigkeit – unschätzbares Gold, das dem Suchenden vielleicht nicht besser erschien als taubes Gestein, – wendete er sich entmutigt zurück und erneuerte seine Suche in anderer Richtung. Er schlich so leise, mit so vorsichtigem Tritt und so umsichtigem Blicke daher wie ein Dieb, der in ein Gemach kommt, wo ein Mensch halb im Schlafe oder vielleicht auch ganz munter daliegt, um den Schatz zu stehlen, welchen jener Mensch wie seinen Augapfel hütet. Trotz seiner wohlbedachten Vorsicht knarrte doch von Zeit zu Zeit der Fußboden, seine Gewänder rauschten, der Schatten seiner Gegenwart in verbotener Nähe fiel auf das Opfer. Mit anderen Worten: Dimmesdale, dessen Nervenreizbarkeit oft die Wirkung geistiger Intuition hatte, nahm unbestimmt wahr, daß sich etwas seinem Frieden Feindliches in erzwungene Verbindung mit ihm gesetzt hatte. Aber auch der alte Roger Chillingworth hatte ein fast intuitives Wahrnehmungsvermögen, und wenn der Prediger seine erschreckten Augen auf ihn warf, so saß der Arzt als gütiger, wachsamer, teilnehmender aber nie aufdringlicher Freund da.

Dimmesdale würde jedoch den Charakter dieses Menschen vollkommener erkannt haben, hätte ihn nicht eine gewisse Krankhaftigkeit, der verletzte Herzen oft ausgesetzt sind, gegen alle Menschen argwöhnisch gemacht. Da er keinem als seinem Freunde traute, so konnte er auch seinen Feind nicht erkennen, als dieser wirklich erschien. Er blieb daher im vertrauten Verkehr mit ihm und empfing den alten Arzt täglich in seinem Studierzimmer oder besuchte das Laboratorium und beobachtete zu seiner Erholung die Verfahrensweisen, durch welche Kräuter in kräftige Heilmittel verwandelt wurden.

Eines Tages sprach er, die Stirne auf die Hand und den Ellbogen auf die Brüstung des offenen Fensters gelehnt, das nach dem Gottesacker hinausging, mit Roger Chillingworth, während der alte Mann ein Bündel von unscheinbaren Pflanzen untersuchte.

»Wo«, fragte er mit einem über sie hingleitenden Blicke, denn es war eine Eigentümlichkeit des Geistlichen, daß er jetzt selten einen belebten oder leblosen Gegenstand gerade anschaute, »wo habt Ihr jene Kräuter mit dem dunkeln lappigen Blatte gesammelt, guter Doktor?«

»Auf dem Gottesacker hier vor uns«, antwortete der Arzt, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen. »Sie sind mir neu. Ich fand sie auf einem Grabe, welches außer diesen häßlichen Kräutern, die es übernommen haben, die Erinnerungen an den Toten zu erhalten, weder einen Leichenstein, noch ein anderes Denkzeichen besaß. Sie wuchsen aus seinem Herzen und bedeuteten vielleicht ein häßliches Geheimnis, das er besser getan haben würde, während seiner Lebenszeit zu bekennen.«

»Vielleicht«, sagte Dimmesdale, »hat er es ernstlich gewünscht, aber nicht gekonnt.«

»Und weshalb?« erwiderte der Arzt, »weshalb nicht, da alle Kräfte der Natur so eindringlich das Bekenntnis der Sünde verlangen, daß diese schwarzen Kräuter aus einem begrabenen Herzen entsprossen sind, um ein unausgesprochenes Verbrechen offenkundig zu machen.«

»Das ist nur eine Phantasie von Euch, Doktor«, entgegnete der Geistliche, »es kann, ahne ich recht, keine Gewalt, keine unter der göttlichen Gnade stehende Macht geben, die, sei es nun durch ausgesprochene Worte oder durch Zeichen oder Bilder, die mit einem menschlichen Herzen vielleicht begrabenen Geheimnisse offenbaren könnte. Das Herz, welches sich solcher Geheimnisse schuldig macht, muß sie bewahren bis zu dem Tage, da alles Verborgene offenbar werden soll. Auch habe ich die Heilige Schrift nicht so gelesen oder ausgelegt, daß ich der Meinung wäre, die Offenbarung menschlicher Gedanken und Taten, welche dort stattfinden soll, sei als ein Teil der Vergeltung zu betrachten. Das würde sicherlich eine seichte Ansicht von der Sache sein. Nein, diese Enthüllungen sollen, sofern ich nicht sehr irre, bloß dazu dienen, die intellektuelle Genugtuung aller verständigen Wesen zu befördern, die an jenem Tage dastehen und warten werden, um das dunkle Problem dieses Lebens sich aufklären zu sehen. Eine Kenntnis der menschlichen Herzen wird zur vollkommensten Lösung dieses Problems notwendig sein. Und ich bin übrigens der Ansicht, daß diejenigen Herzen, welche so unglückselige Geheimnisse enthalten wie das, von welchem Ihr sprecht, sie an jenem letzten Tage nicht mit Widerstreben, sondern mit einer unaussprechlichen Freude verkünden werden.«

»Warum wollen Sie diese dann nicht hier aufdecken?« fragte Roger Chillingworth mit einem ruhigen Seitenblicke auf den Geistlichen, »warum sollte nicht der Schuldige früher dieser unaussprechlichen Erquickung teilhaftig werden?«

»Es geschieht auch meistens«, sagte der Geistliche, indem er scharf nach seiner Brust griff, als ob ihm wieder ein lästiger Schmerz zu schaffen machte. »Gar manche arme Seele hat mir ihr Vertrauen geschenkt, nicht nur auf dem Sterbebett, sondern auch bei kräftigem Leben und gutem Ruf, und welche Erleichterung habe ich stets nach einem solchen Ausschütten bei jenen sündigen Brüdern wahrgenommen! Gerade wie bei einem, der endlich freie Luft einatmet, nachdem er lange in einem von seinem eignen verderbten Atem verunreinigten Zimmer gewesen ist. Wie kann es auch anders sein? Warum sollte ein Unglücklicher, der, sagen wir einmal, eines Mordes schuldig ist, es vorziehen, den Leichnam in seinem eigner Herzen zu begraben, statt ihn ohne weiteres von sich zu werfen und der Welt zu überlassen, sich seiner anzunehmen.«

»Und doch begraben manche Menschen ihre Geheimnisse auf diese Weise«, bemerkte der ruhige Arzt.

»Ja, es gibt solche Menschen«, antwortete Dimmesdale. »Ohne aber nicht am Tage liegende Gründe anzugeben, können wir glauben, daß sie gerade durch die Art ihrer Natur stumm erhalten werden. Oder können wir nicht das annehmen? – so sündig sie vielleicht auch sind, haben sie doch dessenungeachtet in ihrem Herzen Eifer für den Ruhm Gottes und das Wohlergehen des Menschen bewahrt und schrecken davor zurück, sich dem Auge der Menschen schwarz und kotbefleckt zu zeigen, weil von da an nichts Gutes mehr durch sie bewirkt, keine böse Tat der Vergangenheit durch bessere Handlungen wiedergutgemacht werden kann, so gehen sie zu ihrer eignen unsagbaren Qual unter ihren Mitmenschen umher und scheinen diesen weiß wie frischgefallener Schnee, während ihre Herzen von einer Schuld befleckt und besudelt sind, deren sie sich nicht entledigen können.«

»Solche Menschen betrügen sich selbst«, sagte Chillingworth mit etwas größerem Nachdruck als gewöhnlich und machte eine leichte Geste mit seinem Zeigefinger. »Sie fürchten, die ihnen mit Recht gebührende Schmach auf sich zu nehmen. Ihre Liebe zum Menschen, ihr Eifer im Dienst Gottes – diese frommen Triebe mögen oder mögen nicht in ihrem Herzen zugleich mit den sündigen Bewohnern vorhanden sein, denen ihre Schuld die Tür aufgeschlossen hat und die notwendigerweise eine Höllenbrut in ihrem Innern fortpflanzen müssen. Wenn sie aber Gott die Ehre geben wollen, so mögen sie ihre unreinen Hände nicht gen Himmel erheben! Wenn sie ihren Nebenmenschen dienen wollen, so mögen sie es dadurch tun, daß sie die Gewalt und das wirkliche Vorhandensein des Gewissens offenbar werden und sich zu bußfertiger Selbsterniedrigung zwingen lassen. Wollt Ihr, mein weiser und frommer Freund, mich überreden, daß ein solcher Schein besser und mehr zum Ruhme Gottes oder der Wohlfahrt des Menschen sein könne als die eigene Wahrheit Gottes? Glaubt mir, solche Menschen betrügen sich selbst!«

»Es mag wohl sein«, sagte der junge Geistliche gleichgültig, als mache er einer Diskussion, die er für nicht hierher gehörig oder unpassend halte, ein Ende. Er besaß in der Tat die Fähigkeit, mit leichter Mühe Gegenständen auszuweichen, die sein zu reizbares Temperament in Aufregung versetzten. »Jetzt aber möchte ich meinen geschickten Arzt fragen, ob er wirklich glaubt, daß ich von seiner freundlichen Sorge für diesen meinen schwachen Körper Nutzen gezogen habe?«

Ehe Roger Chillingworth noch antworten konnte, hörten sie das klare, wilde Lachen der Stimme eines jungen Kindes von dem benachbarten Begräbnisplatz her. Der Geistliche blickte instinktmäßig aus dem offenen Fenster, denn sie befanden sich im Sommer, und sah Esther Prynne und die kleine Perle auf dem Fußpfade schreiten, welcher die Einfriedigungen durchschnitt. Perle sah schön wie der Tag aus, war aber in einer jener lustigen und dabei ungehorsamen Launen, durch welche sie, so lange sie dauerten, völlig aus der Sphäre menschlicher Sympathie oder Berührung entfernt zu sein schien. Sie hüpfte jetzt unehrerbietig von einem Grabe zum andern, bis sie zu dem breiten, glatten, mit ausgehauenen Wappenschildern gezierten Grabsteine eines einst angesehenen Mannes – vielleicht Isaak Johnsons selbst – gekommen, darauf zu tanzen anfing. Auf das Gebot und die Bitte ihrer Mutter, sich geziemender zu benehmen, blieb Perlchen einen Augenblick stehen, um vor einer hohen Klettenstaude, die neben dem Grabe stand, die widerhalsigen Kletten zu pflücken. Von diesen nahm sie eine Handvoll und ordnete sie den Linien des Scharlachbuchstabens entlang, welcher den Busen ihrer Mutter dekorierte und an welchem die Kletten, ihrer Natur gemäß, fest hängen blieben. Esther streifte sie nicht ab.

Roger Chillingworth hatte sich jetzt dem Fenster genähert und lächelte trübe.

»In der Natur dieses Kindes ist kein Gesetz, keine Achtung gegen die eingesetzte Gewalt, keine Rücksicht auf menschliche Gebote oder Meinungen, auf Recht oder Unrecht vorhanden«, bemerkte er, zu sich selbst so gut gewendet wie zu seinem Gefährten. »Ich sah, wie sie neulich an der Viehtränke im Spring Lane den Gouverneur selber mit Wasser bespritzte. Was in des Himmels Namen mag sie sein? Ist der Kobold ganz und gar bös? Hat sie Gefühle? Läßt sich irgendein Prinzip ihres Daseins erkennen?«

»Keines – als die Freiheit eines gebrochenen Gesetzes«, antwortete Dimmesdale ruhig, als ob er den Punkt schon bei sich selbst in Betracht gezogen habe. »Ob sie des Guten fähig sein mag, weiß ich nicht.«

Das Kind hatte wahrscheinlich ihre Stimmen gehört, denn es blickte mit einem strahlenden, aber schelmischen Lächeln voll Lust und Verstand zu dem Fenster hinauf und warf eine von den stacheligen Kletten nach Dimmesdale. Der Geistliche schrak, von nervösem Schauder ergriffen, vor dem leichten Wurfgeschoß zurück. Als Perle seine Bewegung wahrnahm, klatschte sie mit dem überschwenglichsten Entzücken in ihre kleinen Hände. Esther Prynne hatte ebenfalls unwillkürlich hinaufgeblickt und diese vier Personen betrachteten einander schweigend, bis das Kind laut auflachte und schrie: »Komm fort, Mutter! Komm, sonst wird dich der alte schwarze Mann dort fangen. Den Prediger hat er schon. Komm mit, Mutter, sonst wird er dich fangen. Perlchen aber kann er nicht haschen!«

Hiermit zog sie ihre Mutter hinweg und hüpfte, tanzte und sprang phantastisch zwischen den Leichenhügeln umher, wie ein Geschöpf, das mit dem vergangenen und begrabenen Geschlechte nichts gemein hat und keine Verwandtschaft mit ihm anerkennt. Es war, als ob sie frisch aus neuen Elementen geschaffen sei und es ihr notwendigerweise gestattet werden müsse, ihr eigenes Leben zu leben und sich selbst Gesetz zu sein, ohne daß ihre Seltsamkeiten ihr zum Verbrechen angerechnet würden.

»Da geht ein Weib«, begann Roger Chillingworth nach einer Pause von neuem, »das, was auch seine Fehler sein mögen, doch nichts von dem Geheimnisse verborgener Sündhaftigkeit an sich hat, welches Ihr für so schwer zu tragen haltet. Denkt Ihr, Esther Prynne sei um jenes Scharlachbuchstabens auf ihrer Brust willen weniger elend?«

»Ich glaube es wirklich«, antwortete der Geistliche. »Dessenungeachtet kann ich nicht für sie antworten. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Pein, mit dessen Anblick ich gern verschont geblieben wäre. Dennoch aber denke ich, es würde für den Leidenden besser sein, seine Qual zeigen zu dürfen, wie jenes arme Weib, als sie in seinem Herzen zugedeckt halten zu müssen.«

Es entstand wieder eine Pause, und der Arzt begann von neuem, die Pflanzen, welche er gesammelt hatte, zu untersuchen und zu ordnen.

»Ihr habt vor einiger Zeit«, sagte er endlich, »mein Urteil über Eure Gesundheit verlangt.«

»Das habe ich getan«, antwortete der Geistliche, »und möchte es gerne erfahren. Ich bitte Euch, offen zu sprechen, sei es zum Leben oder zum Tode.«

»Also offen und ehrlich gesagt«, sprach der Heilkünstler, immer noch mit seinen Pflanzen beschäftigt, aber mit einem wachen Auge auf Dimmesdale, »die Krankheit ist eine seltsame; nicht sowohl an sich oder in ihren äußeren Kundgebungen – wenigstens so weit als die Symptome mir klar geworden sind. Da ich Euch täglich anseh, mein guter Herr, und Euer Äußeres jetzt seit einigen Monaten beobachtete, muß ich Euch wohl für einen sehr kranken Mann halten, aber nicht für so krank, daß ein gelehrter und wachsamer Arzt nicht noch mit Grund hoffen könnte, Euch zu heilen – aber – ich weiß nicht, was ich sagen soll – die Krankheit ist von einer Art, die ich zu kennen scheine und doch nicht kenne.«

»Ihr sprecht in Rätseln, gelehrter Herr«, sagte der blasse Geistliche, indem er seitwärts aus dem Fenster blickte.

»Dann muß ich deutlicher sprechen«, fuhr der Arzt fort, »und ich bitte für diese notwendige Deutlichkeit meiner Rede um Verzeihung – wenn sie der Verzeihung zu bedürfen scheinen sollte. Erlaubt mir zu fragen – als Euer Freund – als einer, dem nach der Vorsehung Euer Leben und körperliches Wohlsein anvertraut ist, – habt Ihr mir auch alle Wirksamkeit dieser Krankheit offen dargelegt und berichtet?«

»Wie könnt Ihr das in Frage ziehen?« fragte der Geistliche. »Es würde ja eine Kindertorheit sein, den Arzt herbeizurufen und dann die wunde Stelle zu verbergen.«

»Ihr wollt mir damit also sagen, daß ich alles wisse«, sagte Roger Chillingworth langsam und heftete sein von hoher konzentrierter Intelligenz strahlendes Auge auf das Gesicht des Geistlichen. »Es mag sein! Aber ich sage wieder: Der, welchem nur das äußere und physische Übel aufgedeckt wird, kennt oftmals nur die Hälfte der Krankheit, deren Heilung man von ihm verlangt. Eine körperliche Krankheit, die wir als ein Ganzes an sich selbst betrachten, kann am Ende doch nur ein Symptom eines Gebrestes unseres geistigen Teiles sein. Ich bitte Euch nochmals um Verzeihung, guter Herr, wenn meine Worte auch nur den Schatten einer Kränkung enthalten sollten. Ihr, Herr, seid von allen Menschen, die ich noch gekannt habe, derjenige, dessen Körper mit dem Geiste, dessen Werkzeug er ist, am engsten zusammenhängt und sich sozusagen identifiziert.«

»Dann brauche ich Euch nicht weiter zu fragen«, sagte der Geistliche, indem er sich etwas hastig von seinem Stuhle erhob. »Denn ich nehme nicht an, daß Ihr es mit Arznei für die Seele zu tun habt.«

»So hat eine Krankheit«, fuhr Roger Chillingworth mit unverändertem Tone und ohne auf die Unterbrechung zu achten, fort, indem er aber aufstand und sich mit seiner kleinen, dunklen, verunstalteten Figur vor den verhärmten und bleichgesichtigen Geistlichen hinstellte – »eine wunde Stelle in Eurem Geiste, wenn wir es so nennen wollen, sofort auch ihre geeignete Kundgebung in Eurem Körper. Wollt Ihr daher, daß Euer Arzt das körperliche Übel heile, so muß ich Euch darauf antworten, wie ist das möglich, wenn Ihr ihm nicht vorher die Wunde oder die kranke Stelle in Eurer Seele offen darlegt?«

»Nein! – weder Euch noch irgendeinem irdischen Arzte!« rief Dimmesdale leidenschaftlich und heftete seine Augen voll und schimmernd und mit einer Art von Heftigkeit auf den alten Roger Chillingworth. »Euch nicht! Wenn es aber eine Krankheit der Seele ist, dann empfehle ich mich dem einen Arzt der Seelen! Er kann, wenn es seinem Ratschlüsse entspricht, heilen oder töten. Er mag mit mir verfahren, wie es ihm in seiner Weisheit und Gerechtigkeit angemessen erscheint; aber wer bist du, daß du dich in diese Sache mischest? – daß du es wagst, dich zwischen den Leidenden und seinen Gott zu drängen?«

Er eilte mit einer Gebärde halber Raserei aus dem Zimmer.

»Es ist gut, daß ich diesen Schritt getan habe«, sagte sich Roger Chillingworth und blickte dem Geistlichen mit einem ernsten Lächeln nach. »Es ist nichts verloren. Wir werden bald wieder Freunde sein, aber sieh einer an, wie sich die Leidenschaft dieses Mannes bemächtigte und ihn außer sich bringt! Wie es sich mit der einen Leidenschaft verhält, so auch mit anderen. Der fromme Herr Dimmesdale wird wohl schon einmal etwas ganz Wildes getan haben.«

Es erwies sich nicht als schwierig, die Vertraulichkeit der beiden Gefährten auf demselben Fuße und in demselben Grade wie früher wiederherzustellen. Der junge Geistliche begriff nach einigen allein zugebrachten Stunden, daß seine Nervenreizbarkeit ihn zu einem unziemlichen Zornesausbruch getrieben hatte, der durch nichts in den Worten des Arztes entschuldigt werden konnte. Er wunderte sich in der Tat über die Gewaltsamkeit, womit er den freundlichen alten Mann zurückgestoßen hatte, als dieser ihm bloß den Rat anbot, welchen ihm zu geben seine Pflicht war und den er selbst ausdrücklich verlangt hatte. In diesem reuigen Gefühle brachte er ihm ohne Zeitverlust die umfassendsten Entschuldigungen dar und bat seinen Freund, die Fürsorge fortzusetzen, welche, wenn sie auch nicht imstande sei, ihm die Gesundheit wiederzugeben, doch aller Wahrscheinlichkeit nach bewirkt habe, daß seine schwache Existenz bis zu dieser Stunde verlängert worden sei. Roger Chillingworth willigte gern ein, setzte seine medizinische Obhut über den Geistlichen fort und tat für ihn alles, was er vermochte, verließ jedoch nach jedem ärztlichen Besuche des Patienten dessen Zimmer mit einem geheimnisvollen, rätselhaften Lächeln auf den Lippen. Dieser Ausdruck war in Dimmesdales Gegenwart unsichtbar, zeigte sich jedoch stets von dem Augenblicke an, wo der Arzt über die Schwelle trat.

»Ein seltsamer Fall!« sagte er zu sich selbst; »ich muß einen tieferen Einblick gewinnen; eine seltsame Sympathie zwischen Seele und Körper; ich muß der Sache auf den Grund kommen, wenn es auch nur um der Kunst willen wäre.«

Nicht lange nach dem berichteten Auftritte traf es sich, daß Dimmesdale am hellen Mittage und ganz ohne es zu bemerken, während er auf seinem Stuhle saß und einen großen, mit gotischen Buchstaben gedruckten Folianten vor sich geöffnet auf dem Tische liegen hatte, in einen tiefen Schlummer sank. Das Werk mußte ein Beispiel hohen Talentes in der einschläfernden Schule der Literatur sein. Die ungewöhnliche Tiefe der Ruhe des Geistlichen war um so merkwürdiger, als er sonst zu den Personen gehörte, deren Schlaf so leise, so launisch und so leicht verscheuchbar ist wie ein in den Zweigen hüpfendes Vögelchen. Sein Geist hatte sich jedoch jetzt bis zu einer so ungewöhnlichen Ferne in sich selbst zurückgezogen, daß er sich nicht auf seinem Stuhl bewegte, als der alte Roger Chillingworth ohne besondere Vorsichtsmaßregel in das Zimmer trat. Der Arzt ging sogleich auf seinen Patienten zu, legte seine Hand auf dessen Brust und schob das Kleidungsstück beiseite, welches diese bisher stets, selbst vor dem Auge der Wissenschaft, verborgen gehalten hatte.

Jetzt schauerte Dimmesdale in der Tat zusammen und bewegte sich leise.

Nach einer kurzen Pause wendete sich der Arzt von ihm ab.

Aber mit welchem wilden Blick der Verwunderung, der Freude und des Entsetzens! Mit welchem schauderhaften Entzücken, das zu mächtig war, um sich nur durch das Auge und die Züge des Gesichts ausdrücken zu lassen und daher durch die ganze Häßlichkeit seiner Gestalt hervorbrach und sich sogar lärmend in den ausschweifenden Gebärden kundgab, womit er seine Arme nach der Decke emporwarf und mit dem Fuße auf den Boden stampfte. Wer den alten Roger Chillingworth in jenem Augenblicke seiner Ekstase gesehen hätte, würde sich nicht zu fragen gebraucht haben, wie sich Satan benimmt, wenn eine kostbare Menschenseele dem Himmel verlorengeht und seinem Reiche gewonnen wird.

Was aber die Ekstase des Arztes von der des Satans unterschied, das war der Zug von Verwunderung, welcher sich darin kundgab.


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