Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII

Die Vigilie des Geistlichen

Gewissermaßen in Traumesschatten dahinschreitend und vielleicht auch wirklich unter dem Einflüsse einer Art von Somnambulismus erreichte Dimmesdale die Stelle, wo vor jetzt so langer Zeit Esther Prynne ihre erste Stunde der öffentlichen Schmach durchlebt hatte. Unter dem Balkon des Versammlungshauses stand noch dasselbe Gerüst, schmerzlich und von dem Sturm und Sonnenschein sieben langer Jahre gefärbt und von den Schritten der vielen Sünder, welche seitdem hinaufgestiegen waren, ausgetreten. Der Geistliche erstieg die Stufen.

Es war eine dunkle Nacht zu Anfang des Monats Mai. Der ganze Himmel war vom Zenit bis zum Horizont von einer ununterbrochenen Wolkendecke verhüllt. Wenn jetzt dieselbe Volksmenge, welche Augenzeuge der Strafe Esther Prynnes gewesen war, hätte herbeigerufen werden können, so würde sie auf dem Gerüste kein Gesicht, ja in dem dunklen Grau der Mitternacht kaum die Umrisse einer menschlichen Gestalt wahrgenommen haben. In der Stadt schlief jedoch alles, es war keine Gefahr der Entdeckung. Der Geistliche konnte, wenn es ihm beliebte, dort stehen bleiben, bis der Morgen sich im Osten rötete, ohne weitere Gefahr zu laufen, als daß die feuchte, kalte Nachtluft in seinen Körper drang und seine Glieder mit rheumatischer Steifheit erfüllte und seine Kehle durch Katarrh und Husten heiser machte und dadurch die erwartungsvolle Gemeinde um das Gebet am nächsten Morgen und die Predigt brachte. Kein Auge konnte ihn erblicken, außer dem stets wachenden, welches ihn in seinem Gemach die blutige Geißel hatte schwingen sehen. Warum war er aber dann hierhergekommen? War es bloß die Parodie eines Bußaktes? Allerdings eine Parodie, bei der seine Seele ihrer selbst spottete, eine Parodie, über welche Engel erröteten und weinten, während Teufel mit höhnischem Gelächter jubelten. Er war von der Macht der Reue, die ihn überall verfolgte und deren Schwester und engverbundene Gefährtin die Feigheit war, welche ihn stets mit ihrer zitternden Hand zurückzog, wenn ihn der andere Impuls bis zur Grenze eines Geständnisses gedrängt hatte, hierher getrieben worden. Der unglückliche Mann! Welches Recht hatte eine Schwäche, wie die seine, sich mit einem Verbrechen zu belasten? Das Verbrechen ist für mit eisernen Nerven Begabte, welche die Wahl haben, es entweder zu tragen oder, wenn es zu schwer lasten sollte, ihre wilde, wütige Kraft zu einem guten Zwecke anzuwenden und es mit einem Male von sich zu werfen! Dieser schwache und von seinen Gefühlen beherrschte Geist konnte keines von beiden tun, und doch tat er beständig eines oder das andere, was die Qual dem Himmel trotzender Sünde und vergebliche Reue zu dem gleichen unauflöslichen Knoten verschlang.

Und während Dimmesdale in dieser eitlen Nachäfferei der Sühne auf dem Gerüste stand, bemächtigte sich seiner ein tiefer Schrecken des Geistes, als blicke die ganze Welt auf ein scharlachrotes Zeichen auf seiner nackten Brust gerade über dem Herzen. An dieser Stelle befand sich in der Tat und schon lange der nagende, giftige Zahn körperlichen Schmerzes. Ohne eine Anstrengung seines Willens, ohne Kraft, sich zurückzuhalten, schrie er laut auf, daß es durch die Nacht hallte und von einem Hause gegen das andere geworfen wurde und von dem Hügel im Hintergrund antwortete, als ob eine Gesellschaft von Teufeln so großes Elend und Entsetzen in dem Laute entdeckt habe und ihn zu ihrem Spielwerk gemacht hätte und scherzend hin und her schleudere.

»Es ist vollbracht«, flüsterte der Geistliche und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Die ganze Stadt wird erwachen und herbeieilen und mich hier finden!«

Aber dem war nicht so. Der Schrei war vielleicht mit weit größerer Kraft, als er wirklich besaß, in seinen eigenen erschreckten Ohren erklungen. Die Stadt erwachte nicht, oder wenn sie es tat, so hielten die müden Schläfer den Schrei entweder für einen furchtbaren Traum oder für den Lärm der Hexen, deren Stimmen man zu damaliger Zeit oft über die Niederlassungen und einsamen Hütten hinziehen hörte, wenn sie mit Satan durch die Luft ritten. Da der Geistliche kein Zeichen einer Störung seiner Einsamkeit wahrnahm, entfernte er die Hand, womit er sein Gesicht bedeckt hatte, von den Augen und blickte um sich. An einem von den Kammerfenstern des Herrschaftshauses des Gouverneurs Bellingham, welches in einiger Entfernung in der Linie einer andern Straße stand, bemerkte er die Gestalt des alten Magistratsherrn selbst mit einer Lampe in der Hand, einer weißen Nachtmütze auf dem Kopfe und einem langen, weißen Nachtgewande, das seine Figur einhüllte. Er sah aus wie ein zur unrechten Zeit aus dem Grabe heraufbeschworener Geist. Der Schrei hatte ihn offenbar aufgeschreckt. An einem andern Fenster desselben Hauses zeigte sich überdies die alte Hibbins, die Schwester des Gouverneurs, ebenfalls mit einer Lampe, die selbst in so weiter Ferne den Ausdruck ihres versäuerten, unzufriedenen Gesichtes erkennen ließ. Sie streckte ihren Kopf aus dem Fenster und blickte aufmerksam in die Höhe. Ohne allen Zweifel hatte die ehrwürdige Hexendame Dimmesdales Schrei gehört und ihn mit seinen zahlreichen Widerhallen und Echos für den Lärm der Dämonen und Nachtgespenster gehalten, mit welchen sie bekanntlich Ausflüge in den Wald machte.

Als die alte Dame den Schimmer der Lampe des Gouverneurs Bellingham bemerkte, löschte sie schnell ihr Licht aus und verschwand. Vielleicht fuhr sie hinauf in die Wolken. Der Prediger sah von ihren Bewegungen weiter nichts. Der Gouverneur zog sich nach einigen in die Dunkelheit hinausgeworfenen Blicken, die ihn jedoch nicht tiefer in diese dringen ließen wie in einen Mühlstein, vom Fenster zurück.

Der Geistliche wurde etwas ruhiger. Seine Augen bemerkten jedoch bald ein kleines schimmerndes Licht, welches anfänglich eine weite Strecke entfernt die Straße entlang herankam. Es warf einen Strahl des Erkennens hier auf einen Pfosten, dort auf einen Gartenzaun, da wieder auf eine Fensterscheibe und dann auf einen Brunnen mit seinem vollen Wassertroge und hier endlich auf eine gewölbte, eichene Tür mit einem eisernen Klopfer und einem behauenen Klotze statt der Schwelle. Dimmesdale bemerkte alle diese kleinen Einzelheiten, selbst während er fest überzeugt war, daß das Strafgericht seiner Existenz in den Schritten, die er jetzt hörte, heranschleiche, und daß in wenigen Augenblicken der Strahl der Laterne auf ihn fallen und sein lange verborgen gehaltenes Geheimnis enthüllen würde. Als das Licht näher kam, erblickte er in dem erhellten Kreise seinen Kollegen oder genauer gesagt, seinen geistlichen Vater und hochgeschätzten Freund, den ehrwürdigen Herrn Wilson, der, wie Pfarrer Dimmesdale jetzt vermutete, am Bette eines Sterbenden gebetet hatte. So war es auch. Der gute alte Pfarrer kam direkt aus dem Sterbezimmer des Gouverneurs Winthrop, der in eben jener Stunde die Erde mit dem Himmel vertauscht hatte, und nun begab sich, wie die Heiligen des Altertums mit einer Strahlenglorie umgeben, die ihn mitten in dieser düsteren Nacht der Sünde erhellte, als ob ihm der dahingeschiedene Gouverneur seine Herrlichkeit zum Erbteil zurückgelassen, als ob auf ihn selbst der ferne Glanz des himmlischen Jerusalems gefallen sei, während er emporblickte, um den triumphierenden Pilger in dessen Tore eingehen zu sehen – jetzt begab sich der gute Vater Wilson nach Hause, indem er seine Schritte nach dem Scheine einer Laterne lenkte. Deren Licht gab dem Dimmesdale diese Gedanken ein und er lächelte, ja er lachte sogar fast über sie und fragte sich dann selbst, ob er nicht wahnsinnig werde.

Als der ehrwürdige Pastor Wilson unter dem Gerüst vorüber ging und sein Genfer Mäntelchen mit der einen Hand dicht um sich schlang, während er mit der andern die Laterne vor seine Brust hielt, konnte der junge Geistliche sich kaum des Sprechens enthalten.

»Guten Abend, ehrwürdiger Vater Wilson. Ich bitte Euch, kommt herauf und bringt mit mir ein angenehmes Stündchen zu.«

Lieber Himmel! Hatte Dimmesdale wirklich gesprochen? Einen Augenblick glaubte er, daß diese Worte über seine Lippen gegangen seien, sie waren aber nur in seiner Phantasie ausgesprochen worden. Der ehrwürdige Vater Wilson schritt ruhig weiter, blickte vorsichtig auf den schmutzigen Weg zu seinen Füßen und wendete den Kopf nicht ein einziges Mal der Schandbühne zu. Als das Licht der Laterne gänzlich verschwunden war, bemerkte der Prediger an der Schwäche, die sich seiner bemächtigte, daß die letzten Augenblicke eine Krisis furchtbarer Angst gewesen waren, wiewohl sein Geist eine unwillkürliche Anstrengung gemacht hatte, sich durch eine Art von gewitterschwüler Scherzhaftigkeit zu erleichtern.

Bald nachher schlich sich das gleiche grauenhafte Gefühl für das Komische wieder unter die ernsten Phantome seiner Gedanken ein. Er fühlte, wie seine Glieder von der ungewohnten Kälte der Nacht steif wurden, und bezweifelte, daß er imstande sein würde, wieder die Stufen des Prangers hinabzusteigen. Der Morgen mußte bald anbrechen und ihn dort finden. Die Nachbarschaft würde anfangen sich zu ermuntern. Der am zeitigsten Aufstehende würde aus dem trüben Zwielicht auftauchen und eine undeutliche Gestalt hoch auf dem Schandplatz stehen sehen, halb irre zwischen Angst und Neugier von Tür zu Tür eilen und klopfen und alle Bewohner herausrufen, damit sie das Gespenst – denn dafür mußte er ihn halten – eines verstorbenen Sünders anschauen könnten. Ein trüber Tumult würde seine Schwinge von einem Hause zum andern schwingen, dann würden mit dem stärker werdenden Morgenlichte alte Patriarchen hastig in ihren Flanellröcken und Matronen, ohne sich zum Ablegen ihrer Nachtgewänder Zeit zu nehmen, herauseilen. Alle jene anständigen Personagen, die sich bisher noch nie mit auch nur einem verkrümmten Haare ihres Hauptes hatten sehen lassen, würden mit einer Verstörung wie vom Alpdrücken vor die Augen der Menge treten. Der alte Gouverneur Bellingham würde finster und mit verkehrt umgebundener Krause herauskommen, und am Saume des Gewandes der Hibbins würden noch einige Zweige des Waldes haften und jene selbst sauertöpfischer denn je aussehen, da sie nach ihrem nächtlichen Ritt kaum einen Augenblick hätte schlafen können. Auch der gute Vater Wilson würde, nachdem er die halbe Nacht an einem Sterbebette gewesen, sich nicht gern so früh aus seinen Träumen von den Heiligen im Himmel stören lassen. Hierher würden ferner die ältesten der Kirche Dimmesdales und die Jungfrauen kommen, die ihren Prediger so vergötterten und ihm Altäre in ihren weißen Busen errichtet hatten, die sie sich jetzt in ihrer Eile und Verwirrung kaum Zeit gelassen haben würden, mit ihrem Brusttüchlein zu bedecken. Kurz, die ganze Stadt würde aus den Häusern stolpern und ihre erstaunten und entsetzten Gesichter zu dem Pranger erheben. Wen würde man dort mit dem roten Morgenlicht auf seiner Stirn entdecken? Wen anders als Seine Ehrwürden, den Arthur Dimmesdale, der halb erfroren, von Scham niedergedrückt dastand, wo einst Esther Prynne gestanden hatte.

Von dem grotesken Grausen dieses Bildes mit fortgerissen, brach der Prediger unwillkürlich und zu seinem eigenen unendlichen Schrecken in lautes Gelächter aus. Diesem antwortete augenblicklich ein leichtes, lustiges, kindisches Lachen, in welchem er mit einem Beben des Herzens, von dem er nicht wußte, ob er es unendlicher Pein oder ebenso großer Freude zuschreiben sollte, die Stimme Perlchens erkannte.

»Perle, Perlchen!« rief er nach einer momentanen Pause, und dann mit gedämpfter Stimme: »Esther! Esther Prynne! Bist du da?«

»Ja, es ist Esther Prynne«, antwortete sie im Tone des Erstaunens, und der Geistliche hörte, wie sich ihre Schritte von dem Bürgersteig her, auf welchem sie gegangen war, näherten. »Ich bin es mit meiner kleinen Perle.«

»Woher kommst du, Esther?« fragte der Prediger. »Was bringt dich hierher?«

»Ich habe an einem Sterbebette gewacht!« antwortete Esther Prynne, »an Gouverneur Winthrops Sterbebette und ihm das Maß zu einem Leichenkleid genommen, und gehe jetzt heim nach meiner Wohnung.«

»Komm herauf, Esther, du und Perlchen!« sagte Dimmesdale. »Ihr seid beide schon hier gewesen, aber ich war nicht bei euch. Kommt noch einmal herauf, und wir wollen alle drei beisammenstehen.«

Sie erstieg schweigend die Stufen und stellte sich, mit Perlchen an der Hand, auf die Bühne. Der Geistliche faßte nach der andern Hand des Kindes und nahm sie. In dem Augenblicke, wo er dies tat, kam, wie es ihm schien, eine brausende Flut neuen Lebens, anderen Lebens als das seine, wie ein Bergstrom in sein Herz und jagte durch alle seine Adern, als ob Mutter und Kind seinem halb erstarrten Körper die Lebenswärme mitteilten. Die drei bildeten eine elektrische Kette.

»Prediger«, flüsterte Perlchen.

»Was willst du, Kind?« fragte Dimmesdale.

»Willst du morgen mittag mit der Mutter und mir hier stehen?« fragte Perle.

»Nicht so, mein Perlchen«, antwortete der Geistliche, denn mit der neuen Energie des Augenblicks war die ganze Furcht vor öffentlicher Schmach, die so lange die Qual seines Lebens gewesen war, zurückgekehrt, und er zitterte bereits über die Lage, in welcher er sich, wenn auch mit einer seltsamen Freude, gegenwärtig befand.

»Nicht so, mein Kind, wir werden in der Tat noch eines Tages beisammenstehen, aber nicht morgen.«

Perle lachte und versuchte, ihre Hand hinwegzuziehen; der Geistliche hielt diese aber fest. »Einen Augenblick noch, mein Kind!« sagte er.

»Willst du mir versprechen«, sagte Perle, »morgen mittag meine und meiner Mutter Hand zu nehmen?«

»Morgen nicht, Perle«, sagte der Geistliche, »aber ein anderes Mal«.

»Welch anderes Mal?« fragte das Kind von neuem.

»Am großen Tage des Gerichtes!« flüsterte der Geistliche. Und seltsam genug trieb ihn das Bewußtsein, daß sein Amt das eines Lehrers der göttlichen Wahrheit sei, an, dem Kinde so zu antworten. »Dann müssen vor dem großen Richterthrone deine Mutter und du und ich beisammen stehen! Aber das Tageslicht dieser Welt soll unsere Vereinigung nicht bescheinen.«

Perle lachte von neuem.

Ehe aber Dimmesdale noch zu Ende gesprochen hatte, strahlte weit und breit ein Licht über den ganzen bewölkten Himmel hinweg. Ohne Zweifel kam es von einem jener Meteore, welche der die Nacht Durchwachende so oft in den leeren Regionen der Atmosphäre verglühen sieht. So mächtig war sein Strahlenglanz, daß er die dichten Wolken zwischen dem Himmel und der Erde völlig erleuchtete. Das große Gewölbe hellte sich auf wie die Glocke einer ungeheueren Lampe; es zeigte die bekannten Gegenstände der Straße mit der Deutlichkeit des Mittags, aber auch mit der Schauerlichkeit, welche bekannten Gegenständen stets durch ein ungewohntes Licht erteilt wird. Die hölzernen Häuser mit ihren hervorspringenden Stockwerken und wunderlichen Giebelspitzen, die Türstufen und Schwellen, um welche das Frühlingsgras aufsproßte, die Gartenbeete, auf welchen schwarz die frisch umgestürzte Erde lag, das wenig benutzte Wagengleise, zu dessen beiden Seiten selbst auf dem Marktplatze grüne Ränder zu sehen waren. Alles dies war sichtbar, aber mit einer Eigentümlichkeit, welche den Dingen dieser Welt eine andere moralische Bedeutung zu verleihen schien, als sie je vorher besessen hatten. Und da stand der Geistliche mit der Hand auf dem Herzen und Esther Prynne mit dem auf ihrem Busen schimmernden und gestickten Buchstaben und Perlchen, selbst ein Symbol und das Verbindungsglied zwischen jenen beiden. Sie standen in der Mittagshelle jenes seltsamen feierlichen Glanzes da, als ob er das Licht wäre, welches alle Geheimnisse offenbaren, und der Morgen, welcher alle, die zueinander gehören, vereinigen soll.

In den Augen Perlchens lag ein zauberhafter Ausdruck, und ihr Gesicht ließ, als sie zu dem Geistlichen hinaufblickte, das schelmische Lächeln wahrnehmen, welches seinen Ausdruck oftmals so elfenartig gemacht hatte. Sie zog ihre Hand aus der Dimmesdales und deutete über die Straße hin. Aber er faltete beide Hände auf seiner Brust und richtete seine Augen zu dem Zenit empor.

Es gab in jener Zeit nichts Gewöhnlicheres, als daß man alle meteorischen Erscheinungen und andere Naturphänomene, die sich mit weniger Regelmäßigkeit als das Aufgehen der Sonne und des Mondes ereigneten, als Offenbarungen einer übernatürlichen Macht auslegte. So verkündete ein glühender Speer, ein Flammenschwert, ein Bogen oder ein Bündel Pfeile, welches man am mitternächtlichen Himmel sah, Krieg mit den Indianern. Man wußte, daß eine Pest durch einen Regen von Purpurlicht im voraus angezeigt worden war. Wir zweifeln, ob in Neu-England von der ersten Kolonisation an bis zur Revolutionszeit je ein bedeutendes, gutes oder schlimmes Ereignis vorgefallen ist, welches nicht den Einwohnern voraus durch irgendein Schauspiel dieser Art angezeigt worden wäre. Nicht selten war es von einer Menge von Menschen gesehen worden; häufiger jedoch beruhte seine Glaubwürdigkeit auf dem Worte eines einzelnen Augenzeugen, der das Wunder durch das gefärbte, vergrößernde und entstellende Mittel seiner Einbildungskraft erblickte und ihm in seinen späteren Gedanken eine bestimmtere Form gab. Es war gewiß ein majestätischer Gedanke, daß das Schicksal von Nationen in dieser feurigen Hieroglyphe am Himmelsgewölbe offenbart werde. Man konnte eine so weit gefaßte Schriftrolle nicht für zu ausgedehnt halten, als daß die Vorsehung das Schicksal eines Volkes darauf nicht verzeichnen dürfte. Es war ein Lieblingsglaube unserer Vorväter, da er zu verstehen gab, daß ihr jugendlicher Staat unter einer himmlischen Obhut von besonderer Intimität und Strenge stehe. Was sollen wir aber sagen, wenn ein Individuum eine an sich allein gerichtete Offenbarung auf jenem Ungeheuern Aktenbogen entdeckt? In einem solchen Falle konnte es nur ein Symptom von einem in große Unordnung geratenen Geiste sein, wenn ein durch langen, tief einschneidenden geheimen Schmerz krankhaft selbstbeschaulich gewordener Mensch seine Egozentrik über die ganze Ausdehnung der Natur entdeckt hatte, bis das Firmament selber ihm als nicht mehr als ein Blatt zur Aufzeichnung der Geschichte und des Schicksals seiner Seele erschien.

Wir schreiben es daher nur der Krankheit in seinem eigenen Auge und Herzen zu, daß der Geistliche, als er zum Zenit empor sah, dort die Erscheinung eines Ungeheuern Buchstaben, den Buchstaben A in Linien eines matten roten Lichtes erblickte. Vielleicht zeigte sich der Meteor an jenem Punkte und glühte düster durch die verschleiernden Wolken, aber er besaß keine Gestalt wie die, welche ihm seine sündige Phantasie zuschrieb, oder mindestens eine so wenig scharf umgrenzte, daß ein anderer Schuldiger ein anderes Symbol darin hätte sehen können.

Ein sonderbarer Umstand charakterisierte Dimmesdales psychologische Verfassung in diesem Augenblicke. Während er zu dem Zenit emporblickte, wußte er doch ganz sicher, daß Perlchen mit dem Finger nach dem alten Roger Chillingworth deutete, der in geringer Entfernung von der Bühne stand. Der Geistliche schien ihn mit demselben Blicke zu sehen, welcher den wunderbaren Buchstaben erkannte. Das meteorische Licht erteilte seinen Zügen, wie allen andern Gegenständen, einen neuen Ausdruck; vielleicht gab sich auch der Arzt in diesem Augenblicke nicht wie sonst stets die Mühe, die Bösartigkeit, womit er sein Opfer betrachtete, zu verbergen. Als der Meteor den Himmel entzündete und die Erde mit einer Furchtbarkeit, welche Esther Prynne und den Geistlichen an den Tag des Gerichts denken ließ, enthüllte, konnte Roger Chillingworth ihnen wohl als der Erzfeind gelten, der mit einem Hohnlächeln dastand, um sein Eigentum zu fordern. So lebhaft war der Ausdruck oder so heftig die Wahrnehmung des Geistlichen davon, daß er noch in die Finsternis gemalt zu bleiben schien, nachdem der Meteor mit einem Effekt verschwunden war, als ob die Straße und alles andere mit ihm zur gleichen Zeit vernichtet worden sei.

»Wer ist jener Mann, Esther?« stöhnte Dimmesdale vom Schrecken überwältigt. »Er bringt mich zum Beben. Kennst du den Mann? Ich hasse ihn, Esther!«

Sie erinnerte sich ihres Eides und schwieg.

»Ich sage dir, meine Seele erbebt vor ihm«, flüsterte der Prediger von neuem. »Wer ist er? Wer ist er? Kannst du nichts für mich tun? Ich habe ein namenloses Entsetzen vor dem Manne!«

»Prediger«, sagte Perlchen, »ich kann dir sagen, wer er ist.«

»Dann schnell, Kind«, sagte der Geistliche und neigte sein Ohr dicht an ihre Lippe. »Schnell! und so leise du flüstern kannst.«

Perle murmelte etwas in sein Ohr, was allerdings wie eine menschliche Rede lautete, aber nur solcher Unsinn war, wie der, mit welchem man Kinder sich oft stundenlang unterhalten hören kann. Auf alle Fälle war es, wenn es auch geheime Mitteilungen in bezug auf den alten Roger Chillingworth enthielt, in einer dem gelehrten Geistlichen unbekannten Sprache und erhöhte nur die Verwirrung seines Geistes.

Das Elfenkind lachte laut auf.

»Verspottest du mich noch?« sagte der Geistliche.

»Du warst nicht mutig! Du warst nicht treu!« antwortete das Kind; »du wolltest nicht versprechen, morgen mittag mich und die Mutter bei der Hand zu nehmen.«

»Hochwürdiger Herr«, sprach der Arzt, der jetzt an den Fuß des Gerüstes gekommen war. »Frommer Herr Dimmesdale! seid Ihr es wirklich? Nun, nun, wahrhaftig! Wir Gelehrten, die wir den Kopf in unsern Büchern haben, müssen scharf beaufsichtigt werden! Wir träumen in unsern wachen Augenblicken und wandeln in unserm Schlafe. Kommt, guter Herr und lieber Freund, ich bitte Euch, laßt Euch heimgeleiten.«

»Woher wußtest Ihr, daß ich hier sei?« fragte der Geistliche voll Furcht.

»Wahrhaftig«, antwortete Roger Chillingworth, »ich habe von der Sache nichts gewußt. Ich hatte den größten Teil der Nacht am Bette des wackern Gouverneurs Winthrop zugebracht und getan, was meine geringe Geschicklichkeit vermochte, um ihm Erleichterung zu gewähren. Nachdem er zu einer bessern Welt heimgegangen war, befand ich mich ebenfalls auf dem Heimwege, als dieses seltsame Licht so zu scheinen begann. Kommt mit mir, hochwürdiger Herr, ich bitte Euch inständig, sonst werdet Ihr nur schlecht imstande sein, morgen Eure Sonntagspflichten zu erfüllen. Ja, ja, seht nur, wie sie den Kopf verwirren, die Bücher! die Bücher! Ihr solltet weniger studieren, guter Herr, und Euch etwas Zeitvertreib machen, sonst werden Euch diese nächtlichen Launen auch am Tage überfallen.«

»Ich werde mit Euch nach Hause gehen«, sagte Dimmesdale.

Er gab mit eisiger Trostlosigkeit wie einer, der, aller Fassung bar, aus einem häßlichen Traum erwacht, den Bitten des Arztes nach und wurde weggeführt.

Am folgenden Tage, dem Sonntag, hielt er eine Predigt, welche für die schönste und gewaltigste und von himmlischen Einflüssen durchdrungenste gehalten wurde, welche je über seine Lippen gekommen war. Es hieß, daß mehr als eine Seele durch die Kraft dieser Predigt zur Wahrheit gebracht worden sei und sich gelobt habe, ewig eine fromme Dankbarkeit gegen Dimmesdale zu hegen. Als er aber die Kanzeltreppe herabkam, trat ihm der graubärtige Küster mit einem schwarzen Handschuh entgegen, welchen der Prediger als den seinen erkannte.

»Er ist diesen Morgen auf dem Gerüste gefunden worden, wo Missetäter zur öffentlichen Schande stehen müssen«, sagte der Küster. »Der Satan wird ihn wohl dorthin gelegt haben, um einen unehrerbietigen Scherz gegen Euer Hochwürden zu machen. Er ist aber blind und töricht gewesen, wie er stets und immer ist; eine reine Hand bedarf zu ihrer Bedeckung keines Handschuhs!«

»Ich danke Euch, mein guter Freund«, sagte der Prediger ernst, aber im Herzen erschrocken, denn sein Gedächtnis war so wirr, daß er sich fast überredet hatte, die Ereignisse der vergangenen Nacht als einen schweren Traum zu betrachten. »Ja, es scheint wirklich mein Handschuh zu sein.«

»Und da Satan es für angemessen erachtet hat, ihn zu stehlen, so muß ihn Euer Hochwürden von nun an ohne Handschuhe bekämpfen«, bemerkte der alte Küster mit einem grimmigen Lächeln. »Hat Euer Hochwürden aber von dem Zeichen gehört, welches vergangene Nacht zu sehen war? Ein großer roter Buchstabe am Himmel, der Buchstabe A, welchen wir als Angelus auslegen, denn da unser guter Gouverneur Winthrop diese vergangene Nacht zu einem Engel geworden ist, so hat man es oben ohne Zweifel für passend gehalten, eine Notiz davon zu nehmen.«

»Nein«, antwortete der Prediger, »davon hatte ich noch nichts gehört.«


 << zurück weiter >>