Gerhart Hauptmann
Die Insel der großen Mutter
Gerhart Hauptmann

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Dank der mystischen Verbindung, die ein Gott, Dämon oder Genius mit der Kolonie geschlossen hatte, war sie, wie gesagt, allmählich in einen blühenden Zustand geraten.

Im Hause der Guten Hoffnung führte noch immer die Malerin das Präsidium, während die schöne Laurence, als oberste Priesterin allerdings, einen weitaus größeren Einfluß ausübte.

Nach einer Idee Rodbertens war seinerzeit eine geistige Inventaraufnahme durchgeführt worden. Danach hatte jede der Kolonistinnen einem Verhör vor dem Ausschuß standhalten müssen, dessen ausgeklügelte Fragen darauf abzielten, festzustellen, was an Fähigkeiten und Fertigkeiten, an Wissen und Erfahrung in ihr vorhanden war. Dies Verhör bedeutete aber nur den Anfang der Gesamtprozedur, die sich mit Unterbrechungen je nachdem auf ein Jahr und länger erstreckte und in einigen Fällen überhaupt nicht zu Ende geführt werden konnte.

Über jede der so Verhörten wurden gesonderte Akten angelegt, die bei einigen nach und nach ganz gewaltig anwuchsen, zuweilen bei solchen, von denen ein großer Ertrag am wenigsten zu erwarten war. Auf einen Ertrag aber war es vor allem abgesehen. Es handelte sich darum, alles das für die Gegenwart und Zukunft der Kolonie zu retten und nutzbar zu machen, was an Kulturgut in die Verbannung mitgebracht worden war.

Die gesamte Ernte fand in einem Raum der sogenannten Akademie Unterkunft, der wiederum das »Archiv« genannt wurde. Rodberte war seine Verwalterin. Hier war auf gleichmäßig geschnittenen, quadratischen Schiefertafeln die ganze Ernte niedergelegt. Ein Teil der Insel bestand aus Schieferton, und man hatte eine Stelle gefunden, wo man nach Herzenslust schöne Platten gewinnen konnte.

Die Ordnung in diesem Archiv war musterhaft. Die Schriftplatten hatte man auf starken Regalen untergebracht. Aus den Erinnerungen der Mütter an die Berufe und Beschäftigungen oder Handwerke der Eltern, Großeltern, Geschwister und sonstigen Anverwandten ergaben sich brauchbare Belehrungen, durch die sich Töpfer, Tischler, Stellmacher und mancherlei andre Künstler heranbilden konnten.

Eine ältere, bucklige Dame, Fräulein Auguste, hatte sich als Sekretärin Rodberten zur Verfügung gestellt, und ihrem nie ermüdenden Pflichteifer, ihrer regelmäßigen, liebevollen Arbeit im Archiv war es hauptsächlich zu danken, wenn sich die ganze Einrichtung zu hoher Bedeutung entwickelt hatte. Da es Analphabetinnen unter den Müttern von Île des Dames nicht gab, so hatte man jeder von ihnen nach dem ersten Verhör, dessen Protokoll den Stamm jedes Aktes bildete, die Niederschrift eines ausführlichen Lebenslaufes zur Pflicht gemacht. Sie wurde dem Stamme angefügt. Von nun ab wurde der Akt dem, den er betraf, jahraus, jahrein für Ergänzungen offengehalten. Wollte die Kolonistin etwas nachtragen – es kamen nur solche Erlebnisse äußerer oder innerer Art in Betracht, deren Zeitpunkt vor der Landung lag –, so brauchte sie es entweder nur aufzeichnen und die Platte der buckligen Archivarin einhändigen, oder sie konnte es ihr im Archivraum zu Protokoll geben. Der kleinste Gedanke ward dann gewissenhaft ihrem Akte zugeordnet.

So gelang es, unter den Buchstaben A bis Z ein äußerst wertvolles, äußerst nützliches Universallexikon zusammenzustellen, das über jeden Zweig der Wissenschaft und Kunst und über eine Unmenge praktischer Dinge leidlich gute Auskunft gab.

Unnötig zu sagen, daß Naturen wie Anni Prächtel, Tyson Page, Fräulein von Warniko, Rodberte Kalb, Miß War, die schöne Laurence und die Ärztin Egli ihre Sache selbst in die Hand nahmen und mit hohem moralischen Ernst durchführten. Sie erkannten sehr wohl, was sie sich selbst und noch mehr ihren Nachkommen schuldig waren. Zum Beispiel würde, wenn die Egli nicht nach und nach ihr noch frisches medizinisches Wissen auf Schiefertafeln gebracht hätte, die ärztliche Wissenschaft überhaupt eines Tages, und zwar am Todestage der Doktorin, auf Île des Dames ausgestorben sein. Ja, hätte man dieser Gefahr nicht beizeiten vorgebeugt, so wäre schließlich mit allen Bildungselementen der alten Männerkultur jede Erinnerung an sie überhaupt und somit an die gesamte Welt- und Menschheitsgeschichte außerhalb von Île des Dames verlorengegangen. Damit würde nach Ansicht der führenden Frauen das geistige Leben der Insel, die man jetzt meist als ›Insel der Großen Mutter‹ bezeichnete, und mit dem geistigen Leben auch ihr welterneuernder Gedanke zum Tode verurteilt gewesen sein.

Die Wirkung der Akademie und besonders ihres Archivs, ihrer Bibliothek sowie ihrer allzeit lebendigen Zuflüsse und Abflüsse war in ungeahnter Weise segensreich. Wenn man die Manifestation des zeugenden Gottes, Dämons oder Genius als das erste große Geschenk, und zwar ein Geschenk des Himmels an die armen Verschlagenen bezeichnen mußte, so war dies ein zweites großes Geschenk, das einen mehr irdisch vernünftigen Ursprung hatte: demnach konnte man es als gleichwertig mit dem göttlichen zwar nicht einschätzen, aber nach ihm als das höchste nur mögliche. Mit ihm begann die eigentliche Verwurzelung, die eigentliche Fundamentierung, das geschlossene, runde, volle und reiche Wachstum der Kolonie.

Wie von geistigen Bienen wurde dem Stocke der Akademie das Geistige unermüdlich zugetragen, um Andersgeistiges ausgetauscht, das man dafür forttragen und, mehr noch, fortpflanzen durfte. Es war ein soziales Zentrum geschaffen, das ein eminent sozialer Gedanke aus Rodbertens Haupt begründet hatte: gleichsam ein geistiger Bienenstock, der aber darin einem wirklichen unendlich überlegen war, daß man den in seinen Zellen aufgestapelten Honig nur vermehren, nicht aber, so viel man dessen auch wieder davontrug, vermindern konnte. Dieser immer steigende, unverminderbare Gesamtbesitz, an dem mit geschaffen zu haben selbst die geringste der Kolonistinnen sich rühmen durfte, stellte bereits eine für den einzelnen nicht mehr übersehbare Fülle des Wissens dar, eine zweite und weite, auch im Fremdesten menschlich vertraute Welt, in der die Grenze von Île des Dames überhaupt nicht bestand.

Es war eine Lust, zu sehen, mit welcher vorsehenden, vorsorgenden, echt mütterlichen Freude und Geschäftigkeit die fast durchweg fruchthaft warmen und schönen Inselmütter geistige Nahrung für ihre Kinder zutrugen. Alles, was sie in dieser Beziehung taten, entsprang aus der innigen Freude des Aufbauenden. Hatten sie immer wieder geduldig geboren und mit inbrünstiger Schaffensfreude und Lebensliebe Kinder an die gesegneten Milchquellen ihrer Brüste gelegt, so brachten sie jetzt, von ebendemselben Triebe bewegt, gleichsam das Blut ihrer Seelen herbei, damit es in Zukunft die vor geistigem Tode behüte, die sie einst unterm Herzen getragen. Sie taten es aber, wie das meiste, was sie taten, bei aller Wärme mit einem Gefühl von Erhabenheit, denn sie waren sich durchweg bewußt, unter den rätselhaftesten Umständen eine Welt wie ein Werk von Grund aus neu zu erbauen.

Die mystische Zeugung, das heiliggesprochene Geheimnis von Île des Dames, hatte eine neue Moral hervorgebracht, durch die zum Beispiel das Wunder der zeugenden Liebe für jede der Mütter auf ein oder höchstens mehrere Tage, die Zeit der mystischen Hochzeit, beschränkt wurde. In dieser Beziehung herrschten Gebräuche, die man seltsamerweise in beinahe wortloser Übereinstimmung festgesetzt hatte, auf deren Befolgung die Gesamtheit aber mit eifersüchtiger Strenge hielt. In jeder anderen Beziehung war Strenge sowohl als Eifersucht aus dem Verkehr der Mütter untereinander fast gänzlich ausgeschaltet: teils weil kein Mann zugegen war, teils weil das paradiesische Klima und die natürliche Lebensart einer wohligen Harmonie des Daseins in hohem Grade förderlich waren. Die gemeinsame Not, die gemeinsame Rettung, die gemeinsame Auserwählung, der Emporstieg zu einer neuen Gesellschaftsform, vom Patriarchat zum Matriarchat, schloß alle, wie durch Familienbande, zusammen.

Leider verlor mit dem Zuwachs an Kindern der Zustand des Matriarchats seine Selbstverständlichkeit. Die führenden und die denkenden Frauen sahen Gefahren für den Bestand ihres Paradieses mit jeder Knabengeburt heraufdämmern. In diesem Eden war allerdings zuerst das Weib erschienen und dann erst, von dem unsichtbaren Demiurgen gleichsam aus der Rippe des Weibes gemacht, der Mann, Bihari Lâl. Aber auch hier schien irgendwo der Versucher, schien die Schlange verborgen zu sein und hie und da bedrohlich ihr Haupt zu erheben.

Man wollte dem Unfug beizeiten steuern, weil man begreiflicherweise nicht Lust hatte, etwa diesmal durch Adam, wie damals durch Eva und die Schlange, um den Garten Eden betrogen zu werden. Es fanden zwischen der edlen Laurence, der Präsidentin, Rodberte und Doktorin Egli deshalb geheime Beratungen statt, in denen von diesen gewitzigten Frauen alle möglichen Arten, der Gefahr zu begegnen, durchgesprochen wurden. Es war natürlich, daß Doktorin Egli mit der Grausamkeit und Hilfsbereitschaft die Frage anfaßte, wie sie der Hand eines Chirurgen unerläßlich ist, und daß sie die radikalsten Vorschläge machte.

Was Malthus anriet, konnte in diesem Falle nicht in Betracht kommen, da ja der unsichtbaren göttlichen Zeugungskraft keine Vorschrift zu machen war. Eigentlich hätte ja wohl der lebenzündende Genius, Zeus oder sonstige Olympier wissen müssen, was er, man verzeihe den Ausdruck, seinem Harem schuldig war, und etwa höchstens auf hundert Mädchen eine Knabengeburt folgen lassen müssen. Entweder daß in dieser Beziehung sein Einfluß nicht zureichte, weil vielleicht die Frage, wie ein Knabe, wie ein Mädchen bewußt hervorzubringen sei, unter den Göttern ebensowenig als bei der heutigen medizinischen Wissenschaft ihre Lösung gefunden hatte, oder aber er hatte kein weiteres Interesse an diesem Frauenstaat, als er es ihm tatsächlich bewies: weshalb auch die beratenden Mütter darüber hinweggingen.

Ehrenhalber, ist einzuschalten, wurden auch die Präsidentin, Rodberte und Fräulein Auguste Mütter genannt.

Das Mittel Lykurgs, der kranke und irgendwie überzählige Kinder im Taygetos aussetzte, und noch ein andres, wobei der Patient am Leben blieb und nur eine etwas hohe, oft köstliche Singstimme sein Leben lang beibehielt, wurde von Doktorin Egli in Vorschlag gebracht. Aber die kluge, entschlossene Frau konnte nicht durchdringen. Laurence, Rodberte und auch die Prächtel wandten sich mit Erfolg gegen sie, und man war auch gewiß, vor dem Plenum der Mütter würde ihr eine gleiche Niederlage beschieden sein.

Dies war in der Tat nicht zuviel gesagt, trotzdem der Einfluß, den Doktorin Amanda Egli auf die Inselmütter hatte, begreiflicherweise ein ungeheurer war. Wenn auch das schwere Geschäft des Gebärens hier leichter als anderswo vonstatten ging, so war doch dabei die Doktorin nicht zu entbehren. Dies ernste Geschäft aber war auf Île des Dames das verbreitetste und das wichtigste. Amanda Egli hatte sich bereits einen Stab von Assistentinnen herangebildet und eigentlich jede der Mütter bis zu einem gewissen Grade medizinisch belehrt, aber sie blieb doch die höchste Autorität und tat bei allem die Hauptsache. Ihr Arbeits- und Pflichtenkreis war so groß, zudem da sie selber Kinder gebar, daß vielleicht sie allein von dem glückseligen Dämmerzustand auf Île des Dames nicht umnebelt wurde.

Wie gesagt, ihr Einfluß war groß, aber sie hätte sich doch nicht mit ihrem Vorschlag herauswagen dürfen. Wenn sie auch allen Müttern notwendig war und sich jegliche unter ihnen verpflichtet hatte, würden bei der allgemein erwachten Mütterlichkeit ihre grausamen Absichten einen Sturm des Entsetzens verursacht haben.

In dieser Entwicklungsphase der Kolonie, wo die ältesten Kinder das fünfte Jahr nicht überschritten hatten, herrschte noch durchaus der still-inbrünstige Rausch der Mütterlichkeit. Sie war als ein vollkommen neues Erlebnis in diesen Frauen aufgeblüht. Ohne die Gegenwart eines Mannes, also ganz unter sich, konnte sich alles rein Weibliche ungestört auswirken und steigern. Den Säugling an den offenen Brüsten, fühlten sich diese Mütter seltsam verändert und erneut und mit dem Sinn ihres Daseins eins geworden. Fast vollkommen sättigte sich auf diese Art ihre Sinnlichkeit. Männer würden in dieser Welt und um diese Zeit, als vollkommen fremde Wesen, peinlich störend empfunden worden sein. Neben der mütterlichen Wärme entwickelte sich gleichzeitig geschlechtliche Frigidität. Das Naturhafte aller Zustände hatte gleichsam die Moral reiner Tierheit herrschend gemacht, in der sich bekanntlich das Bedürfnis des Weibchens nach dem Männchen auf eine engbegrenzte Zeitspanne beschränkt.

Es war hauptsächlich dem idealen Willen und dem Wirken Laurencens zu verdanken, wenn eine edle Ordnung ganz Mütterland auszeichnete. Ville des Dames war nur noch eine historische Stätte. Man hatte an höher gelegenen, gesunden Plätzen, auf grasigen Hügelungen, in lieblichen Hainen, an Bächen und Quellen leicht gezimmerte, lustig und luftig gebildete Unterkünfte angelegt, die, einander genügend nah und fern, harmonisch verteilt waren. Sie widerhallten von Lebensfreudigkeit. Zu entwickeln, wie leicht hier die Arbeit, wie vielfältig mit der wachsenden Kinderschar der Tag sich gestaltete, würde ein lockendes Unternehmen sein. Zugleich mit der Vermehrung, mit dem Wachstum des neuen Geschlechts, das eine andre Welt als Île des Dames nicht gekannt hatte, verflüchtigte sich bei den Müttern mehr und mehr das Gefühl der Verlassenheit. Und welch köstliche, lebenstrotzende Wesen sah man heranwachsen! Es bestand, Gott weiß vermöge welcher heimlichen Auslese, allgemeine Wohlgeborenheit. Die Rassen Europas schienen sich zu einem neuen, höheren Typus zusammenzuschließen. Alle diese dämonisch-strotzenden Kreaturen verband, bei aller Verschiedenheit, etwa in der Farbe des Haars und der Augen, eine unverkennbare Ähnlichkeit.

Es ist hier zu erwähnen und einzugestehen, daß die farbige Ballung des Werdens und Wachsens auf Île des Dames nicht ohne einige dunkle Flecken war. Man hatte die schöne Mulattin Alma ungefähr um das Jahr Eins nach Bihari Lâl erhängt aufgefunden. Drei oder vier unter den Schiffbrüchigen hatten im Laufe der Zeit auf verschiedene Art ein trauriges Ende genommen, weil sie, was sie auch immer anstellten, von der zeugenden Macht nicht berührt wurden. Einige wurden aus ebendem Grunde wahnsinnig. Gerüchte, die nicht zu bannen waren, brachten Mutter Amanda Egli mit diesen Vorgängen in Zusammenhang.

Schließlich war es auch Mutter Amanda zuzuschreiben, wenn trotz allem eines Tages energisch gegen die Gefahr eingeschritten wurde, welche das Matriarchat durch den unablässigen Zuwachs an Knaben lief. Bei dieser Gelegenheit fanden wiederum wie vorzeiten heftige Kämpfe statt, die aber, Gott sei Dank, den fruchtbaren Frieden im Reiche der Mütter nur sehr vorübergehend trübten und durch Einigkeit unterdrückt wurden. Zufolge dieser Einigkeit wurden die Knaben von fünf Jahren in einen besonderen, entfernten Distrikt abgeschoben. Diese Maßregel entbehrte zwar jeder blutigen Grausamkeit, aber sie legte doch immerhin davon Zeugnis ab, daß die Durchführung einer Idee, über einen gewissen Punkt hinaus, ohne große Härte nicht denkbar ist. Es wurden bei diesem Auszug nicht von denen, die davongingen, wohl aber von den zurückbleibenden Müttern naturgemäß viele Tränen vergossen, es wurden Seufzer, ja Schreie gehört. Schließlich faßte man sich jedoch und kam über diese Schwächen hinweg.

Diese Bengels, welche die strotzende Kraft, die dämonische Wildheit mit auf die Welt gebracht hatten, waren ja in der Tat zur Plage geworden. Jede Ermahnung, alle Erziehung zur Sanftmut fruchtete nichts. Wo immer Verwirrung, Störung der Ordnung, Unfug die Mütter aufregte, waren diese Lümmels die Ursache. Oft fragte man sich, wie man zu solchen Sprößlingen hatte kommen können, solchen Halbtieren, die Tatzen und Tigerzähne zu haben schienen, mit denen sie nicht nur einander, sondern auch die Mütter nicht selten anfielen. Paukten sie doch zuweilen mit Fäusten rücksichtslos auf diese heiligen Frauen ein, und es konnte vorkommen, daß selbst die erhabenste unter den Müttern mit solch einem Knirpse nicht fertig wurde.

Für eine Trennung der Geschlechter bot Île des Dames mit seiner Formation die beste Gelegenheit. Die Insel legte sich um den weiten ›Golfe des Dames‹ herum, den nur im Westen ein schmales Felsentor mit dem Meere verband. Im Osten des herrlichen Binnenmeers wurden die beiden umschließenden Arme der Insel durch einen schmalen und felsigen Isthmus verbunden. Über ihn wurden die Knaben von Süden nach Norden geführt und am nördlichen Ufer des Golfs angesiedelt, was allerdings ohne Hilfe und Bewachung dazu auserkorener Frauen zunächst nicht möglich war.

Es war in der Tat recht ergreifend, als der erste Knabenschub, von dem buckligen Fräulein Auguste, reitend auf einer Zebukuh, über den Isthmus geführt wurde und von den dazugehörigen Müttern Abschied nahm. Wie die Jungens belehrt waren, konnten sie ihre Unternehmung nur etwa wie einen Schulspaziergang auffassen. Die Tränen und Schreie der Mütter begriffen sie nicht. Ja, jede von diesen mußte ihren Sprößling zum letzten Abschied bald gleichsam mit dem Lasso, bald am Kragen, bald an den Haaren herbeiholen. Mancher aber verhalf weder eine hingehaltene Banane noch ein verlockend präsentiertes Stück Wurst oder dergleichen dazu, ihren wilden Halbaffen von einer Felsspitze oder einem Palmbaum herabzukirren.

Im neugeschaffenen Mannland nahmen sich, außer dem buckligen Fräulein Auguste, Mucci Smith und vor allem Phaon der Ausgestoßenen an.

Die ganze Maßregel wurde von Mutter Egli und einer gewissen Mutter Philomela Schwab als eine Unzulänglichkeit angesehen. Sie sagten, es werde durch sie etwas leider endgültig Versäumtes nur ganz unvollkommen nachgeholt. Ein kleiner Knabe, Bianor genannt, bewies ihnen noch höchst überflüssigerweise, daß sie recht hatten, indem er sie und die anderen Mütter beim Abschied fast ununterbrochen anspuckte.

Auf der Mütterseite oder in Mütterland ging von nun an alles seinen ruhigen und geregelten Gang. Während nahezu einem Jahrzehnt fand keine wesentliche Störung statt, dagegen eine bemerkenswerte allgemeine Entwicklung. Automatisch wurden Jahr um Jahr die fünfjährigen Knaben abgestoßen, Buben mit wilden Augen, blanken Gebissen, kräftigem Thorax, prächtigem Bizeps, in bronzener Schönheit spielenden Arm- und Beinmuskeln, mit Waden wie bronzene Treppentraljen, mit Glutäen wie blanke Kürbishälften. Und als die schönen, im Wachstum aufblühenden Himmelstöchter Knaben nur immer fünfjährig sahen, bekamen sie keinen Begriff davon, was diese Wesen im ausgewachsenen Zustand darstellten.

In einer offnen, mit dickem Palmstroh bedachten Halle erteilten die dazu geeigneten Lehrkräfte den nachfolgenden Generationen Unterricht. Sie wurden, wie alle Mütter, von den Mädchen, die das zehnte Jahr überschritten hatten, und allen, die für erwachsen gelten wollten, mit ›Heilige Mutter‹ angeredet. Auch außerhalb der Akademie, hier und dort, wurde Schule gehalten. Der gesamte Lehrstoff wurde im wesentlichen zwischen der edlen Laurence, der Präsidentin und Rodberte festgestellt. Das Triummulierat hatte sich dahin geeinigt, in der Zuteilung von Finstermannland-Wissen sparsam zu sein und eine sorgsame Auswahl walten zu lassen. Der Name Finstermannland für Europa und seine Kultur hatte sich auf der Insel eingebürgert. Was man lehrte, mußte den Ideen des Matriarchats und der übernatürlichen Zeugung förderlich sein. Es durfte auch nicht die Geister der Mädchen durch Belastung verwirren und in ihrem naturhaften Wachstum beeinträchtigen. An sich war dieses fruchthafte Aufquellen an Körper und Geist auf Île des Dames eine überraschend herrliche Macht, die allenthalben sichtbar zutage trat. Hier helfe es nichts, hatte die edle Laurence gesagt, man müsse die Uhr der Kulturgeschichte auf eine frühe Stunde zurückstellen. Der künstlich herbeigeführte Anfangszustand verlange, mit größerem Recht als irgendein greisenhafter der Finstermannland-Kultur, Anpassung. Nach diesen Grundsätzen wurde gehandelt.

Im Unterricht der Doktorin Egli erschien der Mann nicht mehr, geschweige daß Mann und Mensch hier dasselbe bedeutet hätte. Der Mensch war für Doktorin Egli das Weib, und damit auch bei den übrigen Lehrkräften. In Finstermannland war ja der Mann der Mensch, das Weib im höchsten Falle ein Mensch, was hier bei dem Manne – ob er nämlich als ein Mensch zu bezeichnen sei – überhaupt nicht erörtert wurde. Die Doktorin verstand sich zu dieser physiologischen Unterschlagung nicht etwa, weil ihr die Zeus- oder Mukalinda-Zeugung sympathisch war, die sie höchstens als leider unumgängliches Übel betrachtete, sondern nur, weil ihr der Mann unsympathisch war. Heimlich war in ihr das Gefühl zu einem physiologischen Haß ausgeartet.

Rodberte, die gelehrteste Frau und der umfassendste Geist der Kolonie, die Präsidentin und die edle Laurence gaben selbst keinen Unterricht. Sie würden am wenigsten fähig sein, wie sie fühlten, die gebotenen Grenzen einzuhalten. Sie luden ihr ganzes Wissen in Gesprächen untereinander und vor allem auf Phaon ab, der, inzwischen zum Manne herangereift, jede Gelegenheit suchte, sich zu belehren.

Mit Dagmar-Diodata, die inzwischen Künstlerin im Teppichweben geworden war, verband ihn noch immer eine seltsame Schwärmerei. Er schien dieses Mädchen in ehrfürchtigem Abstand anzubeten. Miß War war gestorben. Sie war seiner Mutter nachgegangen. Statt ihrer galt ihm Laurence in allerlei Sorgen und Kämpfen des Gemüts als Beraterin. Der Malerin Anni Prächtel pflegte er seine tolle, humoristische, oft zynische Eigenart zuzukehren. Nachdem er das Wissen Rodbertens gleichsam in sich aufgesaugt hatte, gestand sich Rodberte nicht selten bewundernd, wenn sie Stunde um Stunde mit ihm disputiert hatte, einen seltenen, ihr weit überlegenen Geist sich gegenüber zu sehen. Aber Phaon suchte auch oft die sonderbare Babette auf, die nahe dem Gipfel des Mont des Dames noch immer am Schlangensee ihre Einsiedelei hatte. Er pflegte ihr stundenlang zuzuhören, wenn sie, gleichsam sibyllenhaft, Märchen, Weissagungen, Träume und mystische Erlebnisse aller Art aus dem Born ihrer ewigkeitstrunkenen Seele heraufholte. Alles und alles drehte sich übrigens bei ihr um ihren erstgeborenen Sohn Bihari Lâl, in dem sie nichts Geringeres als den Gott Krischna sah, der sich in ihm inkarniert hatte.

Von Babettens Einsiedelei und dem Tempelbezirk der edlen Laurence ging ein immerwährendes mythisches und mystisches Weben aus, das mit den natürlichen Weihrauchdüften dieser Tropeninsel gemeinsam die Gemüter entzündete und verzückte, wobei das Naturhafte, Ungestörte und nur wenig Belehrte dieser Gemüter dem Vorgang entgegenkam. Rodbertens nüchtern forschender Geist konnte das Anwachsen einer Gespensterwelt, eines selbstverständlichen Wunder- und Aberglaubens auf Île des Dames feststellen. Aus dem Meer, das die Insel umgab, aus dem Krater des Mont des Dames, der im Wachen und im Traume immer gleichen Vorstellung, stiegen Geister empor, welche Zeit und Raum nicht kennen und wiederum viel dazu beitrugen, das Gefühl der Verlassenheit unter den Verschlagenen aufzuheben.

Es handelt sich nur um wenige Einzelheiten, wenn gesagt wird, daß die in ihrer Scheingestalt wandernde Seele Ritas auf der Insel heimisch war, daß Miß War, obgleich verstorben, die heiligen Mütter besuchen kam, daß die tote Mulattin fast in jeder Nacht irgendeine der Mütter in voller Sichtbarkeit ängstete. Viele Knaben in Mannland unterschieden Traum und Wachen nicht, so belebten Gestalten der Wirklichkeit ihren Traum, die Wirklichkeit aber Traumgestalten.

Die Idee außerirdischer Begattung hatte im Bezirk der edlen Laurence, auf den Namen Mukalindas geweiht, ihren Tempel erhalten. Die Vorhalle oder das Prytaneion wurde von dem dahinterliegenden Allerheiligsten durch einen von Dagmar-Diodata gewebten Teppich abgeteilt. Im Prytaneion mußte ein ewiges Feuer unterhalten werden. Auf dem Teppich war dargestellt, auf welche Weise dieses reine Feuer alljährlich am Johannistage vom Kraterrande des Mont des Dames geholt wurde. Zwölf auserwählte Knaben brachten es in Gestalt von zwölf brennenden Fackeln aus Kukuinuß, mit welchen sie in gewaltigen Sprüngen den Berg hinabrannten. Diese zwölf Lichtbringer und ihren Fackellauf hatte Dagmar, die Arachne von Île des Dames, in ihr Kunstwerk hineingewebt.

Die Erhaltung des Feuers wurde nach wochenlangem Hin- und Herreden schließlich ebendiesen zwölf Lichtbringern anvertraut. An ihrer Spitze stand Bihari Lâl. Ihm folgten in der Rangordnung Alexander, Answalt und Ariel. Die auserlesen schönen Knaben, bald schon Epheben, wurden damit im Tempelbezirk heimisch gemacht und in der nahe dem Tempel gelegenen Halle der Lichtbringer einquartiert. Es mußten gewichtige Gründe vorhanden sein, diesen scheinbaren Bruch des Matriarchats zu rechtfertigen. Er war indes durch den Dreiweiberrat einschließlich der Doktorin Egli zum Beschluß erhoben worden. Es wurde für diese zwölf Ausnahmen von der Regel überdies ein sorgfältig durchdachter Erziehungsplan aufgestellt. Die Bewohner von Mannland sanken mehr und mehr zum Range von Çudras herab. Diese Zwölfzahl männlicher Wesen indes ward ausdrücklich zum Range von Himmelssöhnen emporgehoben. Sie wußten es und glänzten förmlich vor Göttlichkeit. In Bihari Lâl sah man, durch Babettens scheinbar ganz entschiedenes Wissen angesteckt, indes noch mehr.

Ein gewisses großes Tabu um den Tempelbezirk durfte nur auf ausdrücklichen Ruf des Dreifrauenrates an eine der heiligen Mütter durchbrochen werden. Nur einmal im Jahr, am Tage der Geburt Bihari Lâls, wurde die Gesamtheit in den Bezirk zugelassen. Was die einzelnen, wenn sie gerufen wurden, darin zu verrichten hatten, ist leicht gesagt. Unmöglich dagegen, zu erklären, wie das Wunder zustande kam, vermöge dessen sie meist neun Monate nach dem Besuch einen kleinen Insulaner zur Welt brachten.

Die einzelne heilige Mutter wurde gerufen zum sogenannten Tempelschlaf. Die edle götternahe Laurence hatte diese sakrale Einrichtung aus den Gebräuchen der Alten herübergenommen. In vielen Tempeln Griechenlands wurde der Tempelschlaf ausgeübt. Unfruchtbare Mütter erlangten dabei die gesuchte Empfängnis, Kranke träumten etwa das sichere Heilmittel.

Nicht nur die Hindus kennen den Lingakult. Auch in der christkatholischen Kirche treten Frauen noch heute Wallfahrten zu gewissen Heiligen an und üben Gebräuche, die von denen der Vorzeit wenig abstechen. Überhaupt, wer es sich zur Aufgabe machen würde, festzustellen, ob in Polynesien oder in Europa eine größere Ansammlung abergläubischer Vorstellungen stattfinde, würde wahrscheinlich das fortgeschrittene Europa auch hierin der Inselwelt Polynesiens und Mikronesiens weit überlegen finden.

Was beim Tempelschlaf mit den heiligen Müttern geschah, wissen wir nicht. Überhaupt nicht, was in den Nächten geschah, die sie im Hause Mukalindas zubrachten. War es eine Art Lingakult, den sie ausübten? Beteten sie ein Lichtlinga an, wie die Hindus in Benares, und stellten sich Vischveschvara, den Herrn des Alls, darunter vor? Der Mukalindatempel enthielt nichts Anstößiges, und einen dem Linga ähnlichen Gegenstand sah man nicht. In Cidambara, im Süden Indiens, ward aber ein unsichtbares Ätherlinga verehrt. War im Mukalindatempel das Linga unsichtbar, so konnte es immerhin trotzdem verehrt werden. Bescheiden wir uns; wir wissen nicht, welche Bewandtnis es damit hat.

Jedenfalls ward im Mukalindatempel das heilig-offenbare höchste Geheimnis der Insel symbolisiert. Er wurde mit allgemeiner Ehrfurcht, ja mit heiligen Schauern betrachtet, erneute sich doch das Wunder von Île des Dames immer wieder in ihm.

»Wir haben jetzt alles, was wir brauchen«, so äußerte sich die Präsidentin oft im Dreifrauenrat, »den zündenden Funken der übernatürlichen Realität, eine aufs engste damit verbundene Idee, die Idee des Matriarchats, und zu dritt eine Mission: das Matriarchat, die Herrschaft der Mutter, über die ganze Erde auszubreiten. Wenn man nur einen Glauben, eine Idee und eine Mission besitzt, so kann man es schon eine gute Weile auf dem Kietz aushalten. Himmlischer Glaube, irdisches Ideal, eine Mission können lange die besten Dienste tun, auch ohne daß man auf ihre Realisierung Aussicht hat.«

Wir wissen, wie eine solche Auffassung nicht nach dem Sinne der götternahen Laurence sein konnte. Ihr Glaube war stark, ihre Idee beherrschte sie, und an dem einstigen Gelingen der Mission ließ sie Zweifel nicht aufkommen. Sowohl im Bona-Dea- als im Mukalindatempel fungierte sie mit einem unantastbaren Ernst als Oberpriesterin. In den Gedanken, in die Idee des Matriarchats war sie gleichsam mit Inbrunst hineingewachsen. Seit jener Rede, die sie bei ihrem Abschied aus Notre-Dame des Dames, jenem ersten kleinen Bambusheiligtum, gehalten hatte, blieb sie fest verknüpft mit dieser Idee. »Töchter der Erde und des Himmels«, hatte sie damals zum erstenmal die Inselfrauen angeredet. Sie hatte gesagt: »Wir wollen geistliche Mütter sein.« Sie hatte Kritik an der Weltkultur geübt und gesagt, die römisch-katholische Kirche sei an ihrer Verachtung des Weibes zugrunde gegangen. Das bedeute Verachtung der Grundlagen des Lebens, von denen doch alles abhängig sei. »In welche Paradiese wir immer auch künftig einzugehen hoffen«, sagte sie, »stets wird es durch das Tor des Lebens gewesen sein.« Und weiter hatte sie erklärt: nie könne in einer durch die Mutter getragenen Zivilisation der Lärm der Dreschflegel, die leeres Stroh dreschen, und das betäubende Geklapper der Redemühlen, die Spreu mahlen, so überhandnehmen wie in einer Männerzivilisation. Selbst Jesus Christus sei vom Weibe geboren. Seine Lehre der Nächstenliebe würde in einem Weltreich der Mütter längst restlos verwirklicht sein. Auch die Liebe sei ja vom Weibe geboren. Nicht nur, weil es alles gebäre und so auch in den Knaben die Liebe eingebiert, sondern weil es den werdenden Menschen neun Monate in sich verborgen trage und hege und weil in diesem Verhältnis vor der Geburt die Menschenliebe zum ersten Male überhaupt wirksam sei.

Dies, wie wir wissen, war damals der Fall der edlen Laurence. Sie trug Rukminî unter dem Herzen, welche sie sechs oder sieben Monate nachher gebar und die sich zur herrlichsten Mädchenblume entwickelt hatte.

Den Namen Rukminî hatte ihr Babette erteilt, weil sie in ihr die künftige Hauptgemahlin Bihari Lâls, die inkarnierte Gemahlin des inkarnierten Gottes Krischna sah.

Laurence, wie man weiß, war Philosophin und Dichterin. Sie hatte seinerzeit einige Füllfederhalter, eine Menge Bleistifte und einige tausend Bogen Papier gerettet. Ein Farbstoff, den man auf der Insel gefunden hatte, diente ihr als Tintenersatz. Ihr Waldbuch enthielt den philosophischen Teil ihrer Schriftstellerei. Der dichterische ward in einem Epos niedergelegt, das, ungefähr bis zur Hälfte gediehen, eine Art Äneide, ins Weibliche übertragen, darstellte. An Stelle des Retters, Führers und Begründers der Stadt Rom, Äneas, stand eine Frau.

Leicht zu erraten, welcher Stoff diesem Epos zugrunde lag. Das Gegründete war der Mütterstaat von Île des Dames, das zu Gründende das Weltreich der Mutter.

So ging denn alles eine lange und glückliche Zeit hindurch auf Île des Dames seinen stillen Werdegang. Mit den Kindern wuchsen die Stammütter gleichsam auf pflanzliche Weise mehr und mehr in das zauberisch-selige Mikroklima ihres Tropeneilands hinein. Ein Tagesplan des Lebens ward überall festgehalten, aber ihn zu erfüllen war eine Sache spielender Leichtigkeit. Die Zebuherden ernährten und vermehrten sich selbst. Sie wurden von Müttern, wurden von Himmelstöchtern auf der Weide gemolken, und es war, als ob nun wirklich nach den Vorahnungen der edlen Laurence die Rinder des Sonnengottes von hesperischen Nymphen gemolken würden. Man sah diese Nymphen mit schöngeformten roten Tongefäßen auf den Köpfen heimgehen und wurde an die schönsten aller Karyatiden erinnert. Das Unschuldsvoll-Bukolische hatte sich hier mit einer seltsamen Würde und Größe vermählt, die kindlich und zugleich göttlich war. Tiere und Menschen in friedsamer Einigkeit schienen hier ebensowohl auf dem Boden der Tierheit als der Gottheit verbunden.

Wenn dann etwa die junge Iphis, Tochter der einstigen Miß Tyson Page, auf ihrem Zebustier, den Speer in der Hand, durch die Herde ritt, mußte man meinen, unter die Himmlischen selbst geraten zu sein. Und jedesmal, wenn die edle Laurence durch Zufall eines solchen Anblickes teilhaftig ward, bebte sie vor Erschütterung und konnte im Auge bei so viel Schönheit ein diamantnes Aufblitzen nicht zurückhalten.

Das Zebu oder Buckelrind wurde vornehmlich im Inselbereich der Knabenwelt gefangen und gezähmt. Diese hatten ein brauchbares Zugtier und Reittier daraus gemacht. Mütterland hatte davon erfahren, als eines Tages unerlaubterweise der freche Knabe Bianor auf einer Zebukuh dort eingedrungen und in Ville des Dames erschienen war. Bald danach hatte man dann das Buckelrind auch in Mütterland allgemein heimisch gemacht.

An dem herrlichen Binnenmeer, Golfe des Dames genannt, gab es einen beliebten Badestrand, der von den heiligen Müttern zuweilen gemeinsam, besonders des Abends, benutzt wurde. Da war es, wenn der bleiche Mond bereits über dem ozeanischen Tore stand, die schwache Wolke des Mont des Dames sich rötete, die Sonne aber nur noch mit dem letzten Strahl über den Isthmus hereinblitzte, wo sich mehrmals ein ganz besonderes Wunder ereignet hatte. Übereinstimmend sagten die Mütter aus, daß in diesen Fällen Mukalinda in Gestalt eines übernatürlichen Mannes auf den Felsen über ihnen erschienen sei und schrecklich, gleich einem Löwen, gebrüllt habe. Trotzdem aber hatte der Ruf für die heiligen Mütter nichts Furchtbares. Im Gegenteil, es ergriff sie ein Rausch, der alle bewog, den herrlichen Dämon bei Namen zu rufen und ihm die Arme entgegenzustrecken. Da war er wie ein Löwe, Tiger oder Bär, jedenfalls wie ein übergewaltiges Raubtier herabgebrochen und hatte das eine Mal Tyson Page, das andre Mal Rosita, die ehemalige Kunstreiterin, über die Schulter geworfen und fortgeschleppt.

Phaon war mittlerweile zu einem athletisch-schönen Manne herangereift. Da er die Räume der Akademie nur nachts betrat und die Verbindung mit Laurence, der Präsidentin und Rodberte, vor allem aber mit Dagmar-Diodata nur im verborgenen aufrechterhielt, war seine Person in Mütterland fast vergessen worden. Er hielt sich meist in Mannland auf, das sich bereits ganz allein verwaltete und wo allerdings das bucklige Fräulein Auguste, die einzige unter den Frauen, die noch ein Interesse an diesem Teil der Insel nahm, ihn öfters sah.

Die Reize der Einsamkeit seien dem Leben eines Wilden vergleichbar, das kein Europäer, der es einmal gekostet, wieder verlassen habe, sagt irgendein bedeutender Schriftsteller. Wir überlassen ihm für diesen Satz die Verantwortung. Phaon jedenfalls, der in einem lebendigen Wirken mancherlei genoß, genoß am tiefsten und vollsten ebendiese Reize der Einsamkeit. Gesellig mit den Knaben und Jünglingen im Mannlandbereich, gesellig mit dem Dreierrat und besonders mit Arachne-Dagmar-Diodata, war er doch immer wieder überraschend in Einsamkeit untergetaucht. Zwei hauptsächliche Zustände also waren es, die sein Dasein ausmachten, von denen der eine, der gesellige, jener war, in dem er sich verschwendete, der andere, einsame, jener, in dem er von der Welt Besitz ergriff.

Ein Dampf von Freude quoll mit jedem Morgen aus den Tiefen und Weiten von Île des Dames. Vom Smaragde seliger Wiesen, aus nektartriefenden, rauschenden Tälern, wo Märchen in Gestalt zauberisch gefärbter Vögel umherflatterten und plapperten, aus Hügelungen und Hainen löste sich in Wolken köstlicher Wohlgeruch und wallte steigend zu den geblähten Nüstern Phaons empor, die sie mit machtvollem Zug in die selig-geräumigen Lungen saugten. Phaon dachte: das Leben ist auf den fünf Sinnen und dem Bewußtsein aufgebaut. Aber Sinn und Sinn ist vielerlei, und auch dessen ist vielerlei, was als Nahrung der Sinne gelten kann. Das Leben ist eine Empfindung, nichts mehr: eine, in der sich die Sinnesempfindungen des Gesichts, des Gehörs, des Gefühls, des Geruchs und des Geschmacks unteilbar vereinigt haben. Dieses Daseinsgefühl wird im Bewußtsein wahrgenommen. Es kann in verschiedenen Menschen so verschieden wahrgenommen werden wie reiner, süßer, feuriger Wein oder Wasser einer fauligen Pfütze.

Phaon besaß um diese Zeit vielleicht unter allen lebenden Menschen das umfassendste und köstlichste Daseinsgefühl. Es mischte sich in ihm Weite und Größe mit dem allerseligsten Pulse der Körperlichkeit. Wohl wußte er, es war ihm eine solche Begnadung des Seins, trotz seines günstigen Horoskops, nicht an der Wiege gesungen worden. Er wußte, trotzdem er sie nur als glückliches Kind gekannt hatte, daß die Welt der europäischen Zivilisation das Lebensgefühl nicht zu annähernd gleicher Höhe zu entwickeln vermochte. Sie war ein allzu riesenhaftes, allzu kommunistisches System, weitaus kommunistischer, als es dem Durchschnittsmenschen und der Gesamtheit zum Bewußtsein kam. Von dieser Gesamtheit saugte der einzelne, aber er wurde weit mehr von ihr ausgesogen. Irgendeine Bewegung irgendwo in diesem weltumspannenden Netz machte das ganze Netz und somit den einzelnen, der, eine Mücke, darin haftete, erzittern. Nein, er glich einem lebendigen winzigen Knötchen in diesem Netz, das mit unzähligen Fäden nach allen Dimensionen in ihm verwoben war. So wurde er schmerzhaft ausgespannt, allerdings auch sicher auf seinem Platze gehalten. Zwecklos, sinnlos, überflüssig und tot war dieses lebendige Knötchen, wenn man es aus dem Netze schnitt. Aber auch in der Verknüpfung war seine Eigenbewegung gleich Null gewesen.

Aber man mußte auch hier, in der Freiheit von Île des Dames, darauf achten, daß man blieb, der man war. Man lebte, ohne in das Netz der Weltkultur verwoben zu sein. Aber dies war ein Netz, das polypenartig seine Myriaden von Fäden gierig nach allem Lebendigen ausstreckte, um es in sich zu ziehen. Ich habe, dachte er, möglicherweise ihm gegenüber schon viel zu viel gewagt, indem ich Rodbertens Belehrungen so eifrig gesucht habe. Beschäftigen mich nicht schon heut höchst überflüssige Finstermannland-Probleme aller Art? Drohen nicht schon die Finstermannland-Gesetze, die Finstermannland-Moral, die Finstermannland-Wissenschaft in meine glückliche Freiheit, meine selige Unverantwortlichkeit, meine göttliche Unbescholtenheit täglich hinein? Und hat es nicht außerdem etwas Lockendes? Sehnen sich nicht Millionen abgerissene Fädenenden, vernarbte Schnitte juckend nach dem alten Netz zurück?

Solche Gedanken und viele andere bewegten Phaon in seiner Einsamkeit. Ich stehe, dachte er weiter, sozusagen allein in der Welt außerhalb der großen Zivilisation, außerhalb auch des Mütterstaates von Île des Dames. Auch mit Wildermannland bin ich nur oberflächlich verbunden. Meine Kraft ruht in dieser Alleinigkeit. Darum muß ich sie mir erhalten.

Nach diesem Grundsatz handelte Phaon. Hatte er auch noch so viele Berührungen an einem Tage gehabt, er stellte zuletzt seine Unabhängigkeit, seine Alleinigkeit, seine Einsamkeit wieder her.

 

Die geistige Atmosphäre von Île des Dames war mit Zaubern getränkt. Es ist gesagt worden, durch welche Kanäle sie damit gesättigt wurde. Eros aber, der größte Zauberer, er und kein anderer war es, der sie vornehmlich hervorbrachte.

Geliebkost und von sanftem Wachstum durchglüht, fühlten die Insulanerinnen täglich erneut, nächtlich erneut Schönheit um sich und in sich aufblühen. Bei den meisten von einer Art, der es genügte, sich selbst zu genießen.

Von dieser Atmosphäre einen Begriff geben hieße das Wesen, hieße die Seele, hieße den Sinn von Île des Dames darstellen. Scharfe Intellekte, wie Rodberte, wie die Präsidentin, fühlten schließlich ihren schummrigen Rausch im Blut und wußten mitunter nicht, ob sie nicht etwa schon gestorben seien, körperlos mit Paradiesesräumen und -düften vereint.

So sagte auch Phaon oft zu sich selbst: Die einzige Realität, von der ich weiß, ist der Geist, seine Geburten von Bildern, Empfindungen und Gedanken. Als Knabe schon hatte er drei verschiedene Arten zu träumen unterschieden: das Wachen als Traum, den im Wachen willkürlich erzeugten Traum, den unwillkürlichen Traum im Schlummer. Scherzweise hatte bereits sein Vater Erasmus ihn auf die bedenklich schwere Faßbarkeit äußerer Realität hingewiesen. Oft war er schweigend durch das Zimmer gegangen, früh, wenn Phaon noch im Bette lag, hatte sich ebenso schweigend wieder entfernt und war gleich darauf mit gespielter Lebhaftigkeit, als ob er ihn zum ersten Male sähe, mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« wieder eingetreten. Wenn Phaon ihm dann erklärte, er durchschaue recht wohl seinen Scherz, der Vater stelle sich nur so, als sähe er ihn an diesem Morgen zum erstenmal, und sei in Wahrheit soeben dagewesen, verlangte der Vater Beweise dafür. »Ich habe dich gesehen«, sagte Phaon. – »Und wenn du mich noch dazu gehört hättest, das kann ich dir glauben und auch nicht glauben.« – »Ich habe dich ganz genau gesehen und gehört«, sagte Phaon. Aber der Vater wiederholte: »Beweise es mir! Zwinge mich, es zu wissen, daß ich dagewesen bin! Zwinge alle Welt, es zu wissen! Sie muß dir glauben, sofern du es nicht imstande bist.« – »Warum sollte ich lügen?« sagte Phaon. – »Es gibt ja Täuschungen«, sagte der Vater, »und warum solltest du schließlich nicht lügen, da du ja schon öfter gelogen hast?«

Eigentlich wußte Phaon damals schon von diesem wunderlichen Unvermögen des Geistes, aus sich herauszutreten. Er sah sich, etwa fünfjährig, eines Tages im Spiegel an. Das bist du, sagte er zu sich selbst, also: Du bist! Nehmen wir an, dies sei montags gewesen. Am Dienstag tat er es wiederum. Das bist du, sprach er wiederum in den Spiegel hinein und weiter zu sich selber: Du bist. Habe ich, fragte er sich dann, nicht gestern schon dasselbe getan? Es kann sein, ich glaube es, war die Antwort. Er vermochte nicht, es sich zu beweisen.

So unbeweisbar schien ihm auch manchmal das ganze umfassende Gestern, ja mitunter sogar das Heut von Île des Dames. Ihm schien, er stand mit der ganzen Schöpfung im engsten Zusammenhang. Allein, er konnte es sich nicht beweisen. Sobald der Eigensinn, es sich beweisen zu wollen, ihn packte und er Île des Dames als nackte Realität begreifen wollte, erreichte er nur das Gegenteil. Er sah die Insel als eine Phantasmagorie, eine irreale Luftspiegelung. Sie wurde dagegen sofort eine Wirklichkeit, wenn er sich ihrem Zauber, ihrer Magie gläubig und ohne zu denken überließ.

Durfte man nicht an ihr Gestern denken, so durfte man nicht an ihr Morgen denken. »Liebe edle Laurence«, sagte Phaon einst im Gespräch mit der Oberpriesterin, »was hier bestand und entsteht, kann ich nur als Selbstzweck ansehen. Entweder es ist als solcher gerechtfertigt, oder es ist nicht gerechtfertigt. Hat hier eine Erhöhung des Lebens zu harmonischer Schönheit stattgefunden, widerhallen die Inseltäler und ‑höhen von Freude und Lust, so haben wir darin jede Rechtfertigung. Statt Freude und Lust will ich lieber Schmerz und Lust in jener verschieden dosierten, aber untrennbaren Mischung setzen, welche sich zu allen höchsten und erhabenen Genüssen des Gefühls zu steigern vermag. Ich habe nichts zu schaffen mit eurem Matriarchat, sofern es sich über das Morgen der ganzen Welt ausbreiten soll. Stillstand auf irgendeiner Stufe organischer Entwicklung ist ja übrigens ausgeschlossen. Ist etwas vollendet, so kommt sein Verfall, und das wäre das Los einer Mütter-Weltkultur.« – Aber Phaon konnte auch anders sprechen. Manchmal griffen die Polypenarme des weltumfassenden Netzes, das oft Gegenstand seines Denkens war, von jenseit der Weltgewässer herüber. Der Finstermannland-Ehrgeiz packte ihn an, den vor allem die edle Laurence in ihm genährt hatte. Dann wollte er Kämpfer, wollte er jener große Weltreformer sein, der den Gedanken der edlen Laurence verwirklichte und die Große Mutter von Île des Dames zur höchsten Herrscherin über Finstermannland erhob.

Auch Rodberte hatte ihm oft gesagt: »Was sind dies doch für kleinliche Reformationen und Revolutionen gewesen, wovon die Lutherische nichts bedeutet als einen äußeren, einen inneren Bildersturm, die Französische Revolution, wie man sagt, die Befreiung des dritten Standes und die neuerliche des vierten. Gar nichts ist durch all das erreicht worden, weil das Umgewälzte selbst zu geringfügig ist. Das Verhältnis der beiden menschlichen Hauptparteien, der weiblichen Welt und der männlichen Welt, ist dabei nicht berührt worden. Und was heut in Europa mit ›Frauenbewegung‹ bezeichnet wird, ist leider nichts als eine Lappalie. Dieser Ozean von Leben, Liebe, Selbstlosigkeit und Schöpferkraft, der im heut unterdrückten Weltreich der Frauen herrscht, müßte einmal von Grund aus bewegt werden. Und dann würden durch ein ganz andres, urgewaltiges Naturphänomen als jene Reformatiönchen und Revolutiönchen ganz andre Massen von Schutt und Unrat aus der Welt geräumt werden.«

Es verhielt sich mit diesem Morgen bei Phaon wie mit Île des Dames. Gläubig und ohne tiefes Nachdenken konnte er die Idee des Welt-Matriarchats zur Realität verdichten, für die sich sein Ehrgeiz entflammte und fortgesetzter leidenschaftlicher Kampf bis zum Tode verlockend schien. Je eigensinniger er sich jedoch seine Richtigkeit, Wichtigkeit, Notwendigkeit und Realität beweisen wollte, je mehr wurde er ihm zur bloßen Phantasmagorie.

Fünfzehn Jahre waren verflossen, und dies Alter hatte die schöne Iphis erreicht, als sie das erstemal, reitend auf ihrem Zebubullen, Phaons einsamen Weg im Gebirge kreuzte. Sie war in der Furcht Mukalindas erzogen worden. Man hatte ihr auch erzählt, wie dieser Inseldämon oder göttliche Genius zuweilen die Gestalt eines gewaltigen, wilden Mannes anzunehmen pflege. Wenn sie, unternehmend und abenteuerlustig wie sie war, weite Ritte in die entlegensten Gebiete der Insel ausführte, so kam ihr auch wohl dabei der Gedanke, einmal der mysteriösen Macht zu begegnen.

Iphis war eine der stolzesten Freuden der Kolonie. Phaon seinerseits glaubte ein Wesen zu sehen, das nicht zu den Himmelstöchtern gehöre, als ihm die Zebureiterin, die in göttlicher Nacktheit auf ihrem Tiere saß, unvermutet entgegenkam. Ihr safranfarbenes Haar, in einem gewaltigen Knoten gleichsam aufgeschürzt, fiel trotzdem bis auf den silbernen Rücken des Tiers herunter, hinter dessen Höcker sich die kräftigen Schenkel der Reiterin anschmiegten. Sie schien mit dem edlen Tiere verwachsen zu sein. Unverwandt, wie an die Erde gewurzelt, hatte Phaon das Mädchen und dieses Phaon angeblickt, voll Grauen und Neugier an ihm vorüberreitend.

Nach einigen Wochen begegnete Phaon der schönen Iphis und ihrem Bullen zum andernmal. In diesen abgelegenen Höhen des Mont des Dames hatte er wohl etwa einmal eine der heiligen Mütter, niemals aber bis jetzt eine der Himmelstöchter angetroffen, denen übrigens dies obere Mont-des-Dames-Gebiet gradezu verboten war. Als dieser helle Zusammenklang, das zarte Rosa in den Nüstern des Tiers, das zuckende Silber des glänzenden Fells, das köstliche Kupfer des Mädchenkörpers, das grünliche Meeresauge, der Safran des Haars, wie ein Lichtknäuel wiederum aus dem Dunkel der Wälder brach, führte Phaon unwillkürlich mit der Rechten eine Bewegung aus, als ob sein Auge geblendet würde.

Da Phaon, wie man genötigt ist anzunehmen, das entsagende Leben eines Mönches führte, wird man ermessen, in welche Versuchung er so geführt wurde. Um so mehr, als das Auge der stolzen und spröden Iphis ihn das zweitemal furchtlos und mit dem Ausdruck jenes nixenhaften Hohnes heimsuchte, der eigentlich sagt: Besiege mich! – aber zu sagen scheint: Nimmermehr wirst du mich besiegen!

Es fand eine dritte Begegnung statt. Phaon war wieder einmal besonders tief in die Grüne der Wälder, die den Feuerberg zum großen Teile bedeckten, eingedrungen, sich an den Verzweigungen und Verschlingungen der Rhizophoren, der riesigen Feigenbäume, mit ihrem Netz von Stämmen und Luftwurzeln voll Staunen ergötzend, als durch die Säulenhallen vieler Palmenarten, über Farnkräutern, die smaragdgrün dem Zebu bis an den Bauch wedelten, Iphis geritten kam. Es war wohl ein Bachlauf, den sie benützt hatte, in diese verborgene Welt einzudringen, denn es zischte und rauschte von Bambusrohr um sie her. Der Bulle stand still, als er Phaon sichtete, und Iphis zog ihre Brauen zusammen.

Umwuchert von Lianenketten und köstlichen Orchideen, umhaucht vom Dufte des Wassers, unzähliger aromatischer Blumen und Blätter, hätte das Mädchen für eine Waldnymphe gelten können, hätte sie nicht einen Speer geführt und hätte ihr nicht der spröde und stolze Blick Penthesileens angehaftet, der Phaon in ähnlicher Weise traf, wie er einst Achillen getroffen hatte. Dieser Blick war Herausforderung.

Was jetzt geschah, wurde niemals ganz aufgeklärt. Phaon vermochte es diesmal nicht ganz, sich im Zaum zu halten. Er hatte sich nämlich, angekränkelt durch Finstermannland- Moral, gegenüber den Himmelstöchtern eine unübersteigliche Schranke gesetzt. Mit Recht oder nicht, sicher war damit die Leichtigkeit, Freiheit, Unmittelbarkeit und Glückseligkeit, ja die Unschuld seines Handelns verlorengegangen. Von diesem Augenblick an hatte ein gewisser Zersetzungsprozeß angefangen, der Phaon nach und nach für das Leben auf Île des Dames und die Freuden von Île des Dames verderben sollte. Hier aber hätte nicht viel gefehlt, da Phaon die Schranke an sich schon übersprungen hatte, daß er, durch Bruch seines eigenen Willens in Finstermannland-Schuld verstrickt, für Île des Dames gerettet gewesen wäre.

Einen Speer, den Iphis nach ihm geschleudert hatte, hielt Phaon – er fing ihn auf wie im Traum – in seiner rechten Faust. Dann saß er hinter der Reiterin auf dem Zebustier, sie mit der Linken wie mit einem eisernen Bande umschlingend. Erst knickte der Stier beinahe zusammen, dann fühlte er einen allmächtigen Druck und Sporn und jagte mit seiner doppelten Last durch die Stämme. Plötzlich wurde es licht, als Phaon eben, seiner nun kaum mehr mächtig, daran dachte, das Tier zum Stehen zu bringen. Er tat es, aber er schleppte nicht, wie er soeben noch gewollt hatte, seine Beute davon, um seine peinvolle Glut an ihr zu kühlen, sondern er schritt gleichmütig, wie es schien, die Reiterin und das Tier sich selbst überlassend, vom Waldrand, der erreicht war, entlang dem Ufer des rauchenden Schlangensees davon.

Eine vierte Begegnung war für Iphis und Phaon noch merkwürdiger.

Man nähert sich, wenn man von diesem Geheimnis berichten will, scheinbar dem Gebiet des Märchens an. Und doch, sofern irgendeine Wahrheit auf Erden ist, so ist sie gewiß auch hier zu finden. Für Phaon war es die höchste Wahrheit, in sein tiefstes Geheimnis gehüllt, das Allerheiligste seines Herzens.

Eines Tages war Iphis zum soundsovielten Male in eine bestimmte, verwilderte Inselniederung gelangt, deren Anblick ihr jedesmal erst Befremden, dann Schauer erregte, weil etwas Unerklärliches in ihr zu liegen schien. Aus senkrecht steigenden Felsbastionen trat ein jetzt wasserarmes Flußbett hervor, dessen Wasser in der öden, nur von Buschwerk bedeckten Ebene ein Delta gebildet hatte. Es lockte Iphis, in diesem Flußbett, zwischen zwei nahe zusammentretenden ungeheuren Felswänden, die der Fluß wie mit einer Säge getrennt hatte, vorwärtszudringen. Der Zebubulle schnaubte und zögerte leicht, als sie ihn durch das furchtbare Tor in die finstre, leise rauschende Kluft einzwängte und weiter und weiter mit seinen gespaltenen Hufen über Geröll und seichte Rinnsale zu schreiten veranlaßte.

Auch Iphis hatte bei ihrem Vordringen ins Innere der Erde Schauder um Schauder zu überwinden gehabt. Sie konnte, wenn sie über sich sah, zwischen den oberen Rändern der Schlucht den freien Himmel mehr ahnen als sehen, da sie dort nur einen weißen, geschlängelten Faden sah. Ein Raubvogel hatte sich in die Kluft verirrt. Er stieß mit dem Kopf und den Flügeln gegen die Wände, an denen er manchmal tief herabrutschte. Wie weit nun auch Iphis auf diesem Pfade des Gruselns gekommen war, sie erreichte die Stelle, wo das Zebu ihren Gedanken erriet und selbständig umkehrte. Es nahm eine nach Möglichkeit schnelle Gangart an, die der Reiterin aber weitaus zu langsam dünkte.

Es war nicht der panische Schrecken allein, der das Mädchen mit Gewalt überfiel, sie wollte, wie sie später öfter erzählte, nie vernommene Choralgesänge aus dem Innern der Felsmauern gehört haben. Auch Rufe und Echos aller Art, die von oben herabdrangen. Der Mut war der schönen Reiterin, sobald sie das Freie wieder erreichte, zurückgekehrt.

Nun aber hatte sie plötzlich die Ahnung von etwas in hohem Grade Wunderbarem erfaßt, das man vielleicht hier entdecken könnte. Ihr Hunger nach solcher Kost war keineswegs durch das ihr selbstverständliche und natürliche Wunder von Île des Dames befriedigt worden. Den Nimbus eines Wunders, wie sie es erleben wollte, hatte das Allgemeine nicht. So ritt sie denn forschend längs der äußeren Felswände, ihren oberen Rand mit den weittragend scharfen Augen absuchend. Erst als sie zu wiederholten Malen ihre topographische Untersuchung unterbrochen und wiederaufgenommen hatte, war sie, rund um die Felsenmasse herum, an das Flußdelta zurückgelangt und wußte nun, daß diese, überall gleich unzugänglich, eine rätselhafte Hochfläche in den Himmel hielt. Iphis empfand sie als rätselhaft, weil, wie sie meinte, an ihrem Rande allerlei Wunderliches und Rätselhaftes vor sich ging.

Zum Beispiel erblickte sie Schwärme von Vögeln, die Edelsteine erblassen machten. Nie war ihr dergleichen bei ihren Streifereien vorgekommen, obgleich sie des Schönen übergenug entdeckt hatte, geschweige in der um den Fuß der Felsinsel verbreiteten sumpfigen Ödenei. Nie flogen diese gefiederten und beschwingten Juwelen in ihren Kreisen weit über den Rand der oberen Welt hinaus. Sie glichen Tauben, die dort irgendwo ihren Schlag hatten. Und was über diese schließlich nur seltsamen, aber doch natürlichen Umstände hinausreichte, diese Vögel sangen gemeinsam im Flug, und zwar auf eine Weise, die Iphis an Chorgesänge erinnerte, ja, ihrer Beschreibung nach, Ähnlichkeit mit einer Musik hatte, wie sie eine Finstermannländer Harfe hervorzaubern kann.

Auf dieser unzugänglichen Hochfläche nun lag Phaons Paradiesvogelsee. Seine Entdeckung durch ihn zu erzählen würde ebenfalls eine Geschichte der Lockungen, des Zauderns, des Schauderns und rätselhafter Vorgänge sein. In einem ähnlichen Alter wie das, in dem Iphis heute stand, war er, von der Finsternis angezogen, erst in die schreckliche Kluft, hernach aber unter die Zauberbestrahlung aller Geheimnisse der oberen Fläche gelangt. Ein Jahr und länger darum bemüht, hatte er eines Tages die Hoffnung hinaufzugelangen ganz aufgegeben. Die Gegend, die ganze unzugängliche Felsmasse geriet schließlich bei ihm in Vergessenheit. Es war dies die Zeit, wo ihn unzählige schöne andre Abenteuer beschäftigten. Eines Abends von einem solchen Abenteuer zurückkehrend, befiel sein Gemüt eine seltsame Traurigkeit. Es kam ihm vor, als ob er von irgend etwas hoffnungslos und für immer ausgeschlossen wäre. In diesem Zustand achtete er des Orts und der Stunde nicht. Er sah die Sterne der südlichen Hemisphäre an der verdunkelten Himmelskuppel hervortreten. Er wanderte ziellos, wanderte schweigend und in Sinnen verloren durch die Nacht. Manchmal kam es ihm vor, als ob er bergab ginge, manchmal stieg er, gleichgültig wo er enden würde, bergauf. Leuchtkäfer, Glühwürmchen schwebten in Wolken um ihn. Er war schließlich müde und legte sich nieder.

Als er am hellen Morgen aufwachte, lag er am See der Paradiesvögel. Und nachdem er eines von diesen Farbenwundern gefangen hatte, trat er arglos den Rückweg an.

Seiner außergewöhnlichen Beute froh und im Wandern begriffen, prallte er mit einem Male jäh vom äußersten Rande eines Abgrunds zurück. Der Meinung, einen Abstieg zu finden, schritt er dann längs des Randes hin, aber schreitend und schreitend und immer noch schreitend, als eine seltsame Sonne im Mittag stand, fand er sich noch immer auf dieser der Inselfauna und -flora gänzlich entrückten Hochfläche, dieser im Raume schwebenden andren Insel, die man nur mit einem Sprung von ihrem Rande ins Nichts verlassen konnte. Am späten Nachmittag war er um das ganze Lufteiland herum- und an seinen Ausgangspunkt zurückgekommen.

Dabei erlitt sein Gemüt eine sonderbare Veränderung. Er glaubte mitunter genau zu wissen, er träume, obgleich jeder Blick in die Zauber seiner Umgebung, jeder Schritt ihn zu widerlegen schien. Aus einem Bach, der schließlich über den Rand hinab den Sprung riskierte und in Schleier zerstäubte, erhob sich ein großer indigoblauer Fisch und schwamm, als sei Luft sein Element, klingend um Phaons Haupt herum. Da wußte Phaon sofort, daß er der kleinen Dagmar-Diodata den Paradiesvogel schenken würde.

Phaon hatte den Gedanken der Rückkehr für diesen Tag aufgeben müssen, da ja an einen Abstieg im Dunkel nicht zu denken war. Auch zog ihn eigentlich nichts als Dagmar-Diodata auf den Boden von Île des Dames zurück. Ja, auch diese hätte er lieber hier oben gesehen. So erlebte er denn, außer der allgemeinen Magie dieses Ortes, außer einer Unmenge zauberischer Wunderlichkeiten, nach Paradiesvogel und blauem Fisch ein drittes, das weitaus tiefste der Wunder.

In einer Allee zypressenartig schwarzer Bäume, die von Götter- oder von Menschenhänden gepflanzt schienen und die von Tausenden sperlingartiger, purpurner, blutstropfenartiger kleiner Vögel wimmelten, schritt gelassen und hier und da eine Blume zwischen schlanken Fingern aufnehmend eine edle Frauengestalt. Sie lebte hier im allerseligsten Frieden, wie es schien, stiller Betrachtung hingegeben, deren hohen und himmlischen Gegenstand ein leises, süßes Lächeln verriet.

Phaon begriff, daß man diese liebliche, hohe, von dunklen Gewändern umrauschte Frau bei Strafe des Todes nicht ansprechen durfte. Nein, man hätte damit sich eines überhaupt unsühnbaren Verbrechens schuldig gemacht. Man würde nicht nur eine überirdische Harmonie zerstört, entehrt, beschmutzt, entheiligt, sondern man würde die Seele der eigenen Mutter vernichtet haben.

So groß aber auch das Verbrechen war, größer noch war für Phaon die Aufgabe, die Worte dieser Frau gegenüber zurückzuhalten, die sich, wilde Böen eines inneren Sturms, gegen das Wehr seiner Lippen andrängten. Und trotzdem diese Rita, die Mutter, war, durfte er selbst das Wort Mutter nicht aussprechen.

Nicht einmal ihn sehen, wie Phaon fühlte, durfte sie. Und seine ganze unendliche Liebe in Selbstüberwindung umsetzend, schlich er, tränengebadet, tausende Male und tausende Male das Wort: Mutter! Mutter! in sich gebärend und erstickend, von Baum zu Baum sich versteckend, hinter ihr her. Bis sie sich einmal umwandte und leise den Kopf schüttelte.

Von diesem Augenblick an war in Phaon eine Umwandlung eingetreten und ein gewisser, ganz bestimmter Entschluß zur Reife gelangt.

Vierzig Tage und vierzig Nächte war Phaon von niemand erblickt worden, als er Dagmar-Diodata bleich und mit tief verändertem Wesen den Paradiesvogel übergab.

Es war Iphis ähnlich wie Phaon ergangen. Als ihr das rätselhafte Treiben an den oberen Felsrändern ein gewohntes Wesen geworden und jede Hoffnung des Emporstieges aufgegeben war, sah sie eines Abends, ob in Wirklichkeit oder im Traum, hätte sie nicht zu sagen gewußt, als sie wieder einmal in der Nähe der Kluft weilte, ein gewaltiges menschenähnliches Wesen darin verschwinden. So kurz sie dies Wesen auch nur erblickt hatte, sie hatte eine Art Blitzschlag durch den ganzen Körper gespürt, sie konnte nicht anders, sie mußte ihm nacheilen.

Seltsam, ihr Zebubulle, der wiederkäuend neben ihr lag, schien den gleichen Gedanken zu haben und sprang auf die Läufe. Im nächsten Augenblick fühlte er schon die Last seiner Herrin und den Druck ihrer Schenkel an den Flanken. Wie mit Hämmern wurden seine Weichen von ihren Fersen zerpocht. Seltsamerweise war diesmal bei ihm kein Antrieb vonnöten. Ungezügelt und ungepeitscht drang das Tier diesmal vor in der Kluft, auch dann, als die Dämmerung schwarze Nacht wurde, auch dann, als die schöne Iphis mit wildem Herzpochen die fürchterliche Gefahr eines verwegenen Aufstiegs im Dunklen erkannte, und auch dann, als ihr der Rückweg schaudernd so rätlich als unmöglich erschien. Schließlich machte die Angst und die Anstrengung die Reiterin fast besinnungslos. Sie hörte nur noch, wenn Gestein in die Tiefe abkollerte, sie hörte nur noch das Schnauben des Stiers, der nach etwas, das ihm scheinbar voranschritt, witterte.

Als sie erwachte, und zwar ganz wie Phaon am Paradiesvogelsee, neben ihr graste der Zebustier, sah sie nicht wie Phaon zuerst einen Paradiesvogel. Vielmehr erblickte sie etwas, das ihr zugleich das größte Staunen erregte und irgendwie in die Seele schnitt. Sie sah ein Tier, das größer und schlanker war als das grasende Zebu ihr zur Seite, vor der Stirn ein gewundenes Horn, so lang und so gerade wie ein Speer. Auf diesem Tier aber, das, wie es heißt, nur eine Jungfrau zähmen kann, saß, nicht rittlings, sondern seitlich bequem, wie auf einem Stuhl, eine junge Frau, die der Reiterin Iphis seltsam, wenngleich nicht besonders schön vorkommen wollte, und neben ihm ging, kaum bekleidet, lang wallenden Haars, jener Mensch oder Gott, auf dessen Fährte ihr der Aufstieg gelungen war.

Iphis hielt die Begegnung lange geheim, sowie die ganze wundervolle Begebenheit. Auch die Empfindung, welche sie, wie manchmal im Traum geschieht, zu einem übermäßigen Ausbruch hingerissen hatte. Solche Ausbrüche von Gefühl im Traum sind mitunter seelischen Eruptionen ähnlich, die ein Gemisch von Empfindungen unter Weinen und Schreien ausschütten, ja hervorschleudern. Sie erblickte den Mann, sie erblickte das fabelhafte, mit gespaltenen Goldhufen versehene Tier, sie erblickte es zweimal, in der Luft und so im Wasser als Spiegelbild. Sie erblickte seine lebendige Last, und sie schritt bis zum Knie, bis zur Brust in den Paradiesvogelsee, weinend und rufend, die Arme über das Wasser nach dieser Dreieinigkeit ausstreckend. Es war ihr, als ob in diesem Nu etwas schwer Vermißtes für sie gefunden und auf ewig verloren sei.

Phaon, Iphis und Diodata erinnerten sich dieses traumhaften Abenteuers, nachdem es geschehen war, lange nicht. Es tauchte in allen dreien zugleich empor, als Iphis einst im Tempelbezirk den Raum betrat, in welchem Dagmar-Diodata-Arachne webte und ihr Phaon dabei auf die Hände sah. Es ging eben ein Teppich aus diesen Händen hervor, so überaus reich, daß er eher von Pallas Athene selbst als von Menschenhänden zu stammen schien. Er stellte in farbigem Durcheinander und dennoch in reiner Harmonie fast unübersehbares Bildwerk dar. Blaue Fische, die um Zypressen schwebten und um immer den gleichen wiederkehrenden Enakssohn. Wolken purpurfarbener Sperlinge, denen Musiknoten, Gesang verbildlichend, aus den offenen Schnäbeln hervortraten. Eine ebenfalls immer wiederkehrende, ebenfalls zwischen Zypressen wandernde Frau. Aber vor allem Paradiesvögel.

Dies alles beherrschte ein unbeschreiblich köstliches Landschaftsbild, das unsäglichen Zauber aushauchte. Es war ein See, dessen Wasser alle Farben der Paradiesvögel, die über ihm flogen, wiedergab, an dessen Ufer ein seltsames Fabeltier, das Einhorn, schritt, einem Pferd, einem Hirsch oder, zottigen Fells, einer riesigen Ziege nicht unähnlich, mit einer singenden Frau, die auf seinem Rücken saß. Und wiederum ging dem seltsamen Tier, der singenden Frau der schweigende Enakssohn zur Seite.

Unter den seltsamen Rätseln das seltsamste war schließlich eine Jägerin, eine Diane, eine schlanke Jungfrau, in das Bild hineingewebt, so, als sei sie im Jagdeifer mit gespanntem Bogen und aufgelegtem Pfeil in den See vorgedrungen, und man mußte wohl annehmen, daß entweder das Einhorn oder der Mann oder die singende Reiterin das Ziel ihres Schusses war. Die nicht leicht zu domestizierende Iphis, so scheu im Verkehr als verwegen in der freien Natur, zum erstenmal im Tempelbezirk, war von ungefähr – oder was zog sie etwa an? – in die Werkstatt Diodatens getreten. Sie sah den Teppich, blickte Phaon, starrte die Weberin an, und im selben Nu erkannte sie, was das Bild, der Mann und das Weib ihrer Seele bedeuteten und was jedes von diesen drei Stücken ihr war. Und wie es ihr ging, so ging es den anderen. Die Jägerin war aus dem Teppich lebendig hervorgetreten.

Man ist sich bewußt, durch die Beschreibung von einer Art Wolkenkuckucksheim gesteigerten Anspruch an Leichtgläubigkeit gestellt zu haben und außerdem ein wenig abseits und ins Besondere geraten zu sein: ein Besonderes zwar, das für das Allgemeine scheinbar unwichtig ist. Es ist dieser Wunderinsel gleichsam eine zweite Wunderinsel übergeordnet worden, was vielleicht als zuviel des Wunders erscheinen kann. Die edle Laurence würde das bestreiten. Sie würde sagen, jeder Mensch lebe in einer doppelten Realität. Es gebe eine doppelte Realität oder gar keine. »Es sind zahllose Götter, die um ein einziges menschliches Haupt tumultuieren.« Sie würde diesen Satz ebenso ausgesprochen haben wie Cicero, wenn sie ihn nicht gekannt hätte. Und man hörte es oft von ihr im Gespräch mit Rodberte und Anni Prächtel, die ja schließlich bei scharfem Verstande und trockenem Witz immerhin Künstlernaturen waren, daß Menschen, die sich bei jeder Gelegenheit über Unwahrscheinlichkeiten beklagen, besser über die eigene Geistesenge klagen sollten. Das ganze Weltall, unser Sonnensystem, unsre Erde, wir selbst seien schlechthin Unwahrscheinlichkeiten. Ja, es sei unter allen großen Menschen bisher noch nicht einer geboren, fähig, die ganze Unwahrscheinlichkeit des Daseins als solche auch nur entfernt zu begreifen. Der nüchterne Denker Herbert Spencer sagt, mit der Erklärung selbst aller Erscheinungen des Universums in Ausdrücken des Stoffes und der Bewegung und damit der Kraft sei nicht mehr als eine Zurückführung der zusammengesetzten Denkprodukte auf die einfachsten Symbole erreicht. Und über die Natur des Universums könne nichts gesagt werden, als daß Subjekt und Objekt nur Zeichen sind für eine unbekannte, unerkennbare Realität.

Es bleibt dabei, das Einhorn war auf Île des Dames in Erscheinung getreten. Der Umstand gehörte nicht unter die Zeichen, welche man als allzu günstig für den Bestand der Kolonie deuten konnte. Bald trat auch die götternahe Laurence in seinen Bann.

Einst begab es sich, daß Phaon, wie ja nicht allzu selten geschah, der Oberpriesterin einen Besuch machte. Er fand sie mit ihren Papieren beschäftigt. Ein Aufblicken und ein mildes Lächeln bedeutete einen Gruß für ihn.

»Ich wußte, du würdest kommen, mein guter Phaon«, sagte sie dann, »ich hatte es bestimmt im Gefühl.« – »Und ich kann dir bestätigen«, Phaon darauf, »daß ich plötzlich, in einer ganz anderen Richtung gehend, wie auf Anruf kehrtmachte, um geradeswegs dich aufzusuchen.« – »Nun, und was hätten wir nun miteinander zu reden, mein Freund?« – »Ich denke«, Phaon nun wiederum, »es könnten nur solche Worte und Gedanken sein, die außerhalb oder oberhalb von Île des Dames liegen.« – »Etwa auf einem Metakosmion?« – »Meinethalben auf einem Metakosmion«, sagte Phaon. – »Wo das Einhorn ist und der See und der Paradiesvogel und . . .?« – Phaon sprach: »Auch dort, meine heilig geliebte Mutter Laurence.«

Lange blickte Laurence ihren einstigen Helios, Sohn Hyperions, mit schweigendem Ernste an.

»Warum sollen wir es uns länger verbergen, mein schöner Phaon, daß in uns beiden etwas wie Abschied lebendig geworden ist. Abschied . . . Abschied«, wiederholte im Tone des Seufzers Laurence, als Phaon nicht antwortete. »Oder weißt du es anders? Sind wir nicht innerlich dieser farbigen Welt, die wir aufbauen halfen, schon ein wenig abtrünnig?«

»Wir dürfen nicht beide zugleich das Schiff verlassen«, sagte Phaon.

»Auch nicht beide zugleich ins Boot steigen?«

»Nein, auch das nicht, geliebte Laurence.«

Darauf sagte die Anglo-Holländerin:

»Und doch habe ich manchmal so etwas gehofft, lieber Phaon. Ich verschweige das nicht, denn ich habe beschlossen, bei Aufstellung meiner Schlußbilanz nicht nur ehrlich, sondern auch offen zu sein.«

Sie fuhr fort, als Phaon nicht antwortete: »Ich habe mit Iphis gesprochen, Phaon. Das spröde Kind, das dir schließlich ja wie die andern nahesteht, hat mir ziemlich wirre Dinge erzählt. Kannst du mir sagen: wer hat auf dem Einhorn gesessen?«

»Dagmar-Diodata hat auf dem Einhorn gesessen.«

»So ist es mir wenigstens lieb«, sagte Laurence, »zu wissen, daß ich dein Schicksal in Gestalt eines wimmernden Säuglings von den kalten Brüsten einer toten Mutter gerettet habe.«

»Dafür muß ich dir noch im Tode dankbar sein.«

»Deine Dankbarkeit«, sagte Laurence, »ist wie ein Dorn, den man in eine Wunde stößt. Laß uns von andern Dingen reden.«

Der Ernst, die Bewegung im Wesen der edlen Laurence näherte sich nun mehr und mehr einem Höhepunkt. Sie erhob sich am Ende von dem Stuhl, der aus leichtem Rohr gebildet war, und trat mit dem ihr eignen schmerzlich-süßen Ausdruck im Gesicht, der wie eine Melodie Beethovens Wehmut und Lächeln vermischte, auf Phaon zu.

»Komm einmal her, Phaon«, sagte sie, »ich will dir etwas ins Ohr flüstern.«

Phaon war gewohnt, zu tun, was die geliebte heilige Mutter von ihm verlangte. Er sah, wie ihr auch im Schweigen sprechender Mund ins Zucken geriet. Mütterlich nahm sie den Mann an die Brust.

Und als sie eine Weile nahe an seinem Ohr geflüstert hatte, mußte sie öfters innehalten, um gleichsam etwas hinabzuschlucken. Aber es ließ sich nicht hinabwürgen. Die Stimme entgleiste gleichsam hier und da in einen hörbaren Ton. Das Hörbare aber verriet, daß es vorher in Tränen gebadet worden war. Die Stimme ward lauter, in Ton und Wort lag etwas von Unaufhaltsamkeit, und alles endete schließlich in einem einzigen Schluchzen und einem langen wortlosen Tränenstrom.

In diesen kurzen Minuten hatte die stolze Frau Phaon ihr Herz ausgeschüttet. Hunderte Male vielleicht hatte sie Phaon das eine weltbekannte Wort zugeflüstert, wodurch die Liebe sich zu gestehen pflegt. Phaon erfuhr und sollte erfahren, daß alles, was diese Frau geplant und durchgeführt hatte, nur um seinetwillen geschehen war. Eine mit unendlicher Entsagungskraft ausgestattete große und geheiligte Liebe war am Werk gewesen. Sie hatte sich im wesentlichen gesättigt durch Kontemplation. Sie hatte sich in der Betrachtung eines herrlich wachsenden Wesens und Wertes genuggetan. Der Besitz Rukminîs, dieser einen göttlichen Liebesfrucht, war dazugekommen. Sie hatte verhindert, daß diese Art zu lieben allzusehr als ein Darben empfunden wurde. Andrerseits stellte das Werden und Wachsen Dagmar-Diodatas neue und schmerzliche Aufgaben. Nur ihr gegenüber fühlte Laurence die Qualen der Eifersucht. Sie hatte erkannt und verfolgt, welche Macht schon das kleine Kind Diodata auf Phaon ausübte. Aus Hunderten kleiner Züge erkannte sie, daß der Jüngling ihm gegenüber genau wie sie selbst dem Jüngling gegenüber empfand. Sie wußte, Phaon würde, wenn es sein müßte, um Dagmar-Diodata Liebe abzulocken oder sie auch nur zu erfreuen, Mütterland wie Mannland, ganz Île des Dames zum Schemel ihrer Füße erniedrigen. Das nämliche hatte Laurence für Phaon getan. So sagte sie auch: »Um deinetwillen, mein Liebling, bin ich wie oft, wie oft am Mütterstaat zum Verräter geworden.«

Noch eine andere Rivalin war Laurence in Rukminî, eine dritte in Iphis herangewachsen. Aber mit diesen beiden verstand sie sich gut, da sie zu gleicher Entsagung verurteilt waren. Es kam, daß sie am Mittag die spröde Iphis, am Abend die süße Rukminî an ihrem Busen wehe Bekenntniszähren ausweinen sah.

Dies kurze Gespräch beleuchtete den langen Dulderweg einer Leidenschaft. Und eigensinnige Leidenschaften sind es, die sich nicht nur in Iphis, in Phaon und Laurence, in der stillen Weberin Diodata, sondern auf ganz Île des Dames bereits insgeheim ankündigten oder betätigten. Die große Resignation, welcher die edle Laurence schon beim Betreten von Île des Dames verfallen war und mit der sie hier sechzehn und mehr Jahre gekämpft hatte, lag nun wieder in voller Stärke über ihr. Außer Phaon war niemand, den sie die Tatsache merken ließ. Sie fand ihren Ausdruck darin, daß sie eine fast unzugängliche Einsiedelei unten am Felsen, nahe dem sogenannten Kochtopf der Anachoreten, bezog und selbst im Tempelbezirk nur noch selten gesehen wurde.

Seltsam, ein großes und allgemeines Fest, das in Aussicht stand, warf weniger sein Licht als seinen Schatten voraus und setzte einen Teil der meist nur schwelenden Leidenschaften in Flammen. Der Zwist brach über demselben Zankapfel aus, der ihn schon einmal vor Jahren entfesselt hatte. Nachdem er damals durch den Abtransport der fünfjährigen Knaben sein Ende fand, hatte er geruht, bis nun wieder einmal die Frage der Suprematie von Mütterland und somit auch die Mannlandfrage brennend wurde.

Mehrere hundert Inseljungfrauen waren so weit herangewachsen, daß die äußerste Grenze erreicht war, innerhalb deren die Natur sie noch im Stande der Jungfrauenschaft belassen wollte oder konnte. Es sollte nun jener Schritt getan werden, der ein entschieden neues Zeitalter auf Île des Dames initiieren mußte. Eingerissen war allbereits ein gewisses ungebärdiges Wesen, welches sich am lautesten an den Ufern des Golfe des Dames austobte, natürlich auf der Seite von Mütterland, aber doch im Angesichte des gegenüberliegenden Strandes, wo die Mannländer Jungens Unfug trieben und besonders viele Rufe ausstießen, die als Mannland-Schreie in Mütterland berüchtigt waren. Sie wollten den Löwenruf Mukalindas nachahmen, konnten es aber meist nur so, wie ein winziges, heiseres Misthähnchen einen prunkenden, mit gewaltiger Stimme begabten Dorfkönig nachahmen kann. Trotzdem hörten die Himmelstöchter diese Schreie sogar im Traum, fanden also vor ihnen im Schlaf keine Ruhe.

Darum war es nun an der Zeit, um Ärgernis zu vermeiden, diese Ernte reifer Menschenblumen Mukalinda zuzuführen, ihm gleichsam als Bräute zu vermählen. Das große Fest, die große, heilige Feierlichkeit, in der es geschehen sollte, ward vorbereitet. Nicht nur dem Dreifrauenrat, nicht nur der Doktorin Egli und einem Kreis, der sich um sie gebildet hatte, sondern auch Phaon machte das herannahende Fest Kopfzerbrechen, ja Kopfschmerzen, und zwar allen auf eine besondere Art.

Mukalinda hatte in den letzten anderthalb Jahren sein Patronat über die Insel nicht mehr mit dem alten Feuereifer ausgeübt. Ob dies an den älter gewordenen Müttern lag, deren Schönheit den sicherlich verwöhnten Gott nicht mehr in alter Weise bestricken konnte, oder ob man ihn erzürnt hatte, wußte man nicht. Nun waren ja in der Tat seine zwölf Söhne, die Flammenbringer und Flammenschwinger, da. Aber man zögerte immer noch, jenen Schritt zu tun, wodurch der Schlangen- und Inselkönig ja eigentlich gezwungen wurde, abzudanken und an seine zwölf Söhne die Herrschaft abzutreten. Religionen haben ihr Esoterium und ihr Exoterium, wenn auch bei manchen das Esoterium nur ein Augurenlächeln oder der Plunder hinter den Kulissen eines Puppentheaters ist. Die Esoteriker von Île des Dames wußten also nicht, ob sie gleichsam die Fackeln dieser nur mit Mühe noch zu bändigenden Lichtbringer in die friedlichen Hütten von Mütterland werfen sollten. Sie waren nicht sicher, inwieweit der entfachte Brand noch irgendein Dach unversehrt ließe.

Je näher das Fest herannahte, um so inniger schloß sich Phaon an Dagmar-Diodata an. Es war für Laurence ersichtlich, wie sich zwischen diesen beiden irgend etwas im Geheimnis vorbereitete. Es stand irgendwie mit dem kommenden Fest im Zusammenhang. Durch diesen Umstand wuchs in der Seele Laurencens der Ernst, ja die Traurigkeit. Aber auch in der Seele ihrer Tochter, der schönen Rukminî, wuchs die Traurigkeit, die sie oft an der Brust der Mutter ausweinte. Und in dem Herrn und Fürsten der Lichtbringer, in dem ersten Gottesgeschenk, Bihari Lâl, wuchs die Traurigkeit, da er sah, daß Rukminî traurig war, und, weshalb sie es war, erkannte. Viele Seufzer mußten wohl in der Stille von Phaon gehört werden, aber von allen am tiefsten drangen in seine Seele die der edlen Laurence, nächst ihren aber die der schönen Iphis und Rukminîs ein.

Äußerlich aber nahmen sie ihm nichts von seiner Sicherheit, seiner Heiterkeit.

Die Frage, um die sich der Streit entfaltete, war durch eine Deputation aus Wildermannland in Fluß gebracht worden, die eines Tages im Tempelbezirk, von einem Jüngling, Bianor, geführt, sich dem Dreifrauenrat vorstellte. Bianor drückte den an Forderung grenzenden Wunsch der Mannländer aus, an dem sogenannten Feste der Brautweihen teilzunehmen. Ihm wurde nur erklärt, daß man die Wünsche Mannlands zur Kenntnis der heiligen Mütter bringen werde.

Von diesen wurden sie dann mit einem Sturm der Entrüstung abgelehnt.

Für Phaon ward dieser Spruch und das Verhalten der heiligen Mütter eine Quelle unendlicher Heiterkeit. Es stellte sich bald heraus, daß die orthodoxeste Form des Matriarchats, vertreten durch Amanda Egli, die heilige Mutter Philomela Schwab und deren Partei, diesen harten Spruch durchgesetzt hatte. Es wurde durch ihn sowohl in Mannland als auch in Mütterland eine Erregung hervorgerufen, die auf der Insel nicht ihresgleichen gehabt hatte.

Selbst die heilige Urmutter Babette an ihrem Schlangensee ward aus ihrer Ruhe herausgerissen. Sie erschien eines Tages im Tempelbezirk und ersuchte die edle Laurence, die Präsidentin, Rodberte sowie die zwölf Lichtbringer, im Prytaneion des Mukalindatempels eine Offenbarung entgegenzunehmen, die ihr geworden sei. Da man ihr jeden Willen tat, waren kurze Zeit darauf nicht nur die Gerufenen, sondern auch einige Auserwählte, darunter Phaon, Diodata, Lolo Smith und die heilige Mutter Egli, am festgesetzten Ort versammelt.

Die seltsam in sich verzehrte Urmutter Babette hatte, mit den Jahren immer seltsamer, sich für ihren Zweck eine Art Dreifuß zurechtgemacht. Sie hatte irgendein unschuldiges, aber recht wohlriechendes Kraut hineingelegt, das, entzündet, während sie auf dem Dreifuß saß, Dämpfe um sie verbreitete. Ihr Aussehen war nicht lächerlich. Früh gealtert, gleichmäßig an Haut und Haar gebleicht, war sie zu einem alten, ehrfurchtgebietenden Weibchen zusammengetrocknet, so daß sie für eine Zauberin, eine Sibylle, eine Norne wohl gelten konnte. Hinter dem Vorhang der Lichtbringer waren auf ihr Geheiß einige Zebupauken aufgestellt, die mit einem leisen und dumpfen Geräusch ihren Vortrag begleiteten. Bei alledem zuckte es doch ein wenig um den mokanten Mund der alten Malerin, und Rodbertens Antlitz wurde durch einen auffällig finsteren Ausdruck gleichsam im Zaume gehalten. Der arme, abgemagerte Leib der Prophetin war durch ein dünnes graues Gewebe sichtbar gemacht und so auch die eigentümlichen Brüste, die von allen, auch von den Lichtbringern, mit Ehrfurcht betrachtet wurden.

»Mich besucht«, begann sie sehr leise, »wie man weiß, mehrmals wöchentlich der fromme Geier Jatayus. Sein Nest ist das Innere des Mont des Dames. Wer auf unsrer begnadeten Insel sah ihn nicht schon mitunter weiß aus dem Krater hervorschießen und zum Schlangensee herabfahren, wo meine Wohnung ist. Alle Flamingoschwärme erheben sich dann von den rauchenden Ufern des Sees, um ihn zu begrüßen und ihn zu umkreisen, bis er bei mir ist.

Wer wüßte nicht, wie ich vor allen heiligen Müttern dieser gebenedeiten Insel begnadet worden bin. Ich hatte wohl immer den Eindruck, einen Heiland geboren zu haben. Wen ich aber geboren habe, weiß ich durch den frommen Geier Jatayus.«

Bihari Lâl, der Führer der Lichtbringer, wurde unruhig.

Babette fuhr fort: »Es ist Krischna selbst, den ich geboren habe unter dem Namen Bihari Lâl.«

Hier unterbrach Bihari Lâl, allerdings ein Wunder an Schönheit, seine Mutter, wobei er purpurrot wie ein Mädchen ward. Er sagte mild und bestimmt: »Ich bin nicht mehr und will nicht mehr sein als ein einfacher junger Mensch, liebe Mutter.«

»Mag sein«, war die Antwort. »Aber auch Krischna wußte in vielen seiner menschlichen Inkarnationen nicht, daß er Krischna war. Du bist es und brauchst es trotzdem nicht zu wissen. Krischna bist du, der einzige Lichtbringer. Die übrigen elf bedeuten nichts. Du bist als Bihari Lâl herniedergestiegen, um mit den Hirtinnen dieser glückseligen Insel zu tändeln. Aus der Hülle Mukalindas ist Krischna nun ganz in dich übergegangen. Vorher lebte er in dir, Mukalinda und vielen anderen Gestalten zu gleicher Zeit.

Jede Hirtin hör' ich girren:
Mich allein umflicht der Süße.
Seine Seufzer hör' ich irren,
klingen seine Silberfüße.«

Und sie fuhr fort: »Als Bihari Lâl, was soviel als ›Spielender Liebling‹ heißt, gibt sich Krischna als Herr der Hirtinnen. Unter seinen unendlichen göttlichen Spielen beliebt ihm einmal dies. Frohlocket, frohlocket, heilige Mütter!

Krischna selber ist gekommen,
hat von euch Besitz genommen.
Eure Kinder wird er segnen,
Himmelsmanna niederregnen.«

»Liebe Mama«, unterbrach sie abermals mit ein wenig bebender Stimme Bihari Lâl, »ich muß dir sagen, daß ich nichts weiter als unter elf lieben Kameraden der zwölfte bin.« Er setzte hinzu: »Wenn ich dich nicht so lieben und verehren müßte, meine liebe und heilige Mutter, würden mir die Worte, die du hier sagst, geradezu peinlich sein.«

Babette ließ sich nicht irremachen: »Du sprichst nur als Krischnas Hülle zu mir«, sagte sie, »der Gott in dir wird dich bald widerlegen. Wie Krischna wirst du einst sechzehntausend Frauen haben, außer Rukminî, und von ihnen einhundertachtzigtausend Kinder.«

Rukminî, die Tochter Laurences, machte eine Bewegung des Schreckens, als sie dies vernahm, und entfernte sich bald danach unauffällig.

Die Präsidentin indessen flüsterte: »Armes Jungchen, das dürfte dir schwer werden.«

»Ich verkünde, belehrt von dem frommen Geier Jatayus, eine andere Gottesinkarnierung auf Île des Dames. In der Tochter der götternahen Laurence, Rukminî, hat sich Rukminî, die Gemahlin Krischnas, inkarniert. So herrscht über uns –

Gemahl und Gemahl,
Rukminî und Bihari Lâl.«

Da man die gute Mutter Babette allzusehr liebte und verehrte, war die Unruhe nur wenig bemerkbar und wurde von ihr selbst nicht gespürt, die hier einsetzte. Ungestört konnte die Seherin fortfahren. »Noch nicht zwanzig Jahre werden Bihari Lâl und Rukminî in ungestörter Glückseligkeit auf Île des Dames geherrscht haben, kaum ein Drittel der einhundertundachtzigtausend Kinder Krischnas werden geboren sein, da wird das große Erdbeben der Seelen auf Île des Dames und bald danach der furchtbare Ausbruch des Mont des Dames eintreten. Was Krischna diesmal auf Erden will, darüber hat mir der fromme Geier Jatayus keinen Zweifel gelassen. Seine Kinder werden diesmal nicht wie früher vornehmlich Söhne, sondern es werden Töchter sein. Diese wird er wieder zu Müttern machen, und mit ihnen wird er, nachdem er alle Finstermannland-Dämonen besiegt und verjagt haben wird, das Menschengeschlecht, die ganze Welt Finstermannlands erneuern.«

Anni flüsterte Rodberte zu, das habe er eigentlich schon immer getan.

Aber Babette beanspruchte jetzt durch eine grandiose Schlußfabelei besondere Aufmerksamkeit. Sie erzählte viel von einem Affenkönig und seinem Minister Hanumân. Vor dem Untergang von Île des Dames – denn die Insel müsse durch und mit dem Feuerberg untergehen – werde dieser Affenminister aus dem Affenkönigreich, das irgendwo zwischen dem zwanzigsten Grade westlicher und dem vierzigsten östlicher Länge, dem siebzigsten und dem vierzigsten nördlicher Breite liege, – er werde also mit einem gewaltigen Sprunge Asien und den Stillen Ozean überqueren, auf Île des Dames Fuß fassen und sich Bihari Lâl zur Verfügung stellen. Dann sei es aus mit dem Hirtentum, Bihari Lâl werde sein Inkognito gänzlich abwerfen, den Purpurmantel Krischnas um- und das Schwert zur Hand nehmen, um Île des Dames zu verlassen und gegen die Dämonenheere Finstermannlands zu ziehen.

Das werde sich folgendermaßen zutragen: Ein unermeßliches Affenheer, das an Zahl ungefähr der ganzen Menschheit entsprechen werde, schlüge auf Wink des Ministers Hanumân und auf Befehl Krischna-Bihari Lâls in zwei oder drei Tagen von jenseits nach Île des Dames eine Brücke über den Stillen Ozean. Wenn dann Krischna mit seinen heiligen Müttern und Kindern über die Brücke gezogen sei, stelle er sich an die Spitze des Affenheeres und liefere den Dämonenheeren von Finstermannland jene Schlacht, deren Entscheidung, durch einen vollständigen Sieg von ihm herbeigeführt, die Herrschaft der Mutter auf Jahrmillionen, ja bis ans Ende aller Zeiten begründen werde.

Diese Erklärung der armen Babette konnte natürlich die Lage nicht klären, sie verwirrte sie nur noch mehr. Mütterland wie Mannland zeigten sich bald gleichermaßen darüber aufgebracht, daß Bihari Lâl die elf anderen Lichtbringer, beziehungsweise alle anderen Männer von Mannland verdrängen sollte; insbesondere empörte sich Mütterland außerdem über seine Erhebung zum Herrscher und König und Rukminîs zur Herrscherin und Königin über Île des Dames. Und übrigens hatte die Offenbarung Babettens ihrem Sohn einen erbitterten Feind in jenem Bianor zugezogen, welcher die Abordnung von Wildermannland geführt hatte.

Unter den Zwölf waren bald durch das schlichte Betragen und die kameradschaftliche Güte Bihari Lâls sowie durch Phaons Dazwischenkunft alle üblen Folgen der Offenbarung ausgetilgt. Es war auch nicht anders möglich, als daß diese zwölf in jeder Beziehung wohlgeborenen Jünglinge, die sowohl an Körperschönheit, Körperkraft, Adel des Fühlens und Denkens einander ebenbürtig als in Liebe miteinander verbunden waren, sich einigten. Viel zu leicht, viel zu selig pulste ihr Blut, viel zu gewaltig durchdrang sie das Himmelsfeuer einer unaussprechlichen Vorfreude, jener erwartungsvollen Vorfreude der Jugend, die allerhöchstes Glück bedeutet und mit der Jugend verlorengeht. Dieser strahlende Männerbund verdichtete in sich die Kraft, den Glanz und den Rausch der Jugend. Man mußte die farbige Patina dieser Körper, mußte das köstliche Spiel ihrer Muskeln sehen, wenn die Lichtbringer auf ihren Spiel- und Ringplätzen im Tempelbezirk sich mit dem Speer- und Diskuswurf, mit Wettlauf, Wettsprung, Ringkampf und allen möglichen Spielen auslebten. Hier geschahen Wunder an Kraft, Sicherheit des Auges und Geschicklichkeit. Und wenn die stählerne Spannkraft dieser Jünglingsglieder sich im vollen Rausch gesunden Lebensgenusses, sich im gemeinsamen Tanz entlud, so konnte man meinen, das Gesetz der Schwere sei aufgehoben.

Etwas Seltenes freilich geschah, wenn Phaon sich gelegentlich einmal an den Spielen beteiligte. Als Odysseus dies auf der Insel der Phäaken tat, muß der Eindruck ähnlich gewesen sein. Noch zeigte sich diesen prächtigen jungen Leuten gegenüber, die ihn Vater nannten, im Sinne von Waisenvater oder Turnvater zu verstehen, seine Überlegenheit.

Im übrigen schien er unter ihnen in jedem Übermut und jeder Tollheit einer der Ihren zu sein. Die Tollheit aber, der Übermut erstreckte sich nicht nur auf Dinge der Körperlichkeit. Nicht nur Diskusscheiben, Pfeile, Speere und Bälle mußten für jede Laune der Jünglinge herhalten, sondern es gab unzählige Dinge auf Île des Dames, die ihrem gesunden Spotte nicht ausweichen konnten. Dies Schicksal ereilte das gesamte Affenheer und vor allen den Affenminister Hanumân. Es ging nicht mehr ohne Hanumân. Es gehörte zu seinem Pflichtenkreis, fortan täglich, manchmal stündlich, recht respektlose Lachkrämpfe auszulösen.

Das Fest der Brautweihe näherte sich. Es war auf den Sommersonnwendtag verlegt worden. Aber die Zeichen dafür, daß sein Verlauf gestört werden könnte, wurden drohender. So berichtete eines Tages Phaon dem Dreifrauenrat, es werde ihm täglich schwerer, das sogenannte Wildermannland im Zaume zu halten. In einer der Versammlungen, denen auch die Lichtbringer hätten beiwohnen müssen, denen man ein gewisses Solidaritätsgefühl mit Mannland nicht abgewöhnen könne, habe man den Beschluß gefaßt, im Fall man von dem Feste ausgeschlossen bleibe, gesamterhand feindlich in Mütterland einzubrechen. Phaon, er selbst, den man drüben Vater heiße, habe diesen Beschluß nicht zu hindern vermocht.

Mutter Egli, Philomela Schwab und andre ausgezeichnete heilige Mütter, mit denen man die neugeschaffene Sachlage durchberiet, mußten schließlich mit einem Vorschlag des Dreierrats einverstanden sein, der dahin ging, den Stand der Gesinnung, sozusagen die Qualifikation Wildermannlands für dieses heilige Fest durch eine Mütterkommission untersuchen zu lassen, bevor man es endgültig und mit letzter Entschiedenheit in seine Grenzen verwies.

 


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