Gerhart Hauptmann
Die Insel der großen Mutter
Gerhart Hauptmann

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Etwa vierzehn Tage nach diesen Ereignissen wurde ein neues Versammlungshaus eingeweiht, dessen Grund- und Aufriß von Thorgerd Grimm stammte, die von der Kunst- und Gewerbeschule her einige Fertigkeit im architektonischen Zeichnen besaß. Der unter Leitung der Malerin ausgeführte Pavillon war nicht übel ausgefallen, da man sich einen andern zum Vorbild nahm, den der Malerfürst, Miß Hobbemas Vater, in seinem Garten zu London errichtet hatte und dessen Photographie die Miß besaß. Hauptsächlich durch Mucci Smith, die Gärtnerin, aber auch durch ziemlich allgemeine Erinnerung aus der Schulzeit wußte man, welcher Wert der Kokospalme als Kulturpflanze innewohnte. Und da man bald entdeckt hatte, daß sie da und dort auf der Insel wuchs, so trank man nicht nur die Milch der dreikantigen, menschenkopfgroßen Kokosnuß, sondern war auch daran gegangen, die übrigen Eigenschaften des Baumes auszubeuten. Man gewann den Gummi, aß den Palmkohl und wußte auch bald den Palmwein zu bereiten. Und nun war man endlich so weit gelangt, sich des Kokosstammes als Bauholz zu bedienen.

Man hatte, wie gesagt, in den Rettungsbooten gut versehene Werkzeugkästen vorgefunden, so daß die Säge, der Hobel, der Bohrer, außer dem Beil und der Axt, hinreichend vorhanden war. Auch Nägel und mancherlei von dem, was dem Tischler, dem Zimmermann unentbehrlich ist. Und so hatte man rüstig Bäume gefällt, hatte zersägt, behauen, gehobelt, Pfähle in die Erde gerammt, Wasserwaage und Lot angewendet, Querbalken gelegt und ineinandergefügt, Pfeiler gestellt, und immer so fort, bis, eigentlich überraschenderweise, ein leichter, aber immerhin ziemlich geräumiger und recht gefälliger Bau fertig war. Man nannte ihn bei der Einweihungsfeier »Maison de la Bonne Espérance«.

Unter anderem sagte die Präsidentin bei ihrer Ansprache:

»Der Himmel hat es auch mit uns gut gemeint, als er die von uns allen geliebte Frau wenigstens nicht vor der Vollendung unseres Werks sterben ließ. Ich fürchte, es wäre sonst unterbrochen und vielleicht niemals beendet worden. Denn ich habe mit Schmerzen gesehen, daß der tätige, eifrige, zuversichtlich freudige Gemeingeist, dem wir die Entstehung dieses Rathauses verdanken, einer Gleichgültigkeit, einer schwächlichen Niedergeschlagenheit gewichen ist. Das muß anders werden, Freundinnen. Ich beschwöre euch, wieder die alten, will sagen, die unverwüstlich jugendfrischen Jungen zu sein.

War es nicht wundervoll zu erleben, welcher Geist über uns kam, als der kühne Plan dieser Stiftshütte auftauchte? Haben wir nicht im Verhältnis unsrer Mittel und unserer Zahl zu ihren Mitteln und ihrer Zahl mindestens so viel getan wie die Kinder Israel?« – Und die Rednerin schilderte nun den freudigen Eifer, mit dem jede der Frauen und Mädchen ihr Scherflein zum Gelingen des Ganzen beigetragen hatte. »Wie herrlich«, sagte sie, »klang die Axt von Miß Laurence! Wie flogen die Splitter unter dem weit ausholend geschwungenen Beil der olivenfarbenen Alma, die in ihren straffen und schlanken Formen doch so viel Geschmeidigkeit und Weichheit zeigt und deren Sehnen von Eisen zu sein scheinen. Wie tüchtig und überall gegenwärtig war unsre prächtige Warniko als Zimmerpolier! Die schwindelfreie Rosita, die weltberühmte Sylphide der Luft, wie thronte sie zwischen Himmel und Erde, schritt heiter und gerade die Balken entlang, als der Dachstuhl gerichtet wurde! Ich könnte nicht enden, wenn ich jedes Verdienst jeder unsrer Kolonisten im einzelnen würdigen sollte. Lolo Smith hat sich als ein kunstgewerbliches Genie offenbart, und die gefälligen und bequemen Bambusstühle, auf denen Sie sitzen, meine Damen, verdanken wir ihr. Und es ist Lady Lambert, wie gesagt werden muß, die gezeigt und gelehrt hat, wie aus der Faser des Kokosblattes das weiche, dauerhafte und elastische Geflecht der Sitzflächen hergestellt werden konnte. Frau Rosenbaum, unsre Proviantverwalterin, hat dabei für Ihrer aller leibliches Wohl gesorgt. Sie fanden die Tafel stets gedeckt. Sie genossen Bananen, roh, gekocht, gebacken, in Zucker gewälzt, gebratenes Fleisch, Geflügel nach Herzenslust und ein Schlückchen Palmwein zu seiner Zeit in unsern Bechern aus Kokosnuß, die Thorgerd Grimm so hübsch verfertigt hat. Der herrlichen Fische in allen Farben des Regenbogens wollen wir nicht vergessen, die uns nicht nur Gesine, die starke Isländerin, in den Buchten angelt.

Meine Damen, Frau Rita ist tot. Ich zähle bis siebenundzwanzig, wenn ich mich an die Begräbnisse naher Freunde und Verwandter erinnern will. Oder stirbt man etwa nur hier, und leben die Leute in New York, Paris und Berlin vielleicht ewig? Fahren Sie durch irgendein Kulturland mit dem Automobil, und Sie treffen beim Eintritt in jedem kleinen Flecken ein Sargmagazin und die bekannten Steinmetzhöfe, in denen die bekannten schauderhaften schwarzen und weißen Marmortafeln mit Goldschrift, plumpe Kreuze und kitschige Engelsfiguren auf Vorrat gearbeitet sind. Also hier ist der Tod, und dort ist der Tod. Sie sehen, ich bin ruhig und heiter, und doch wäre ich schließlich meinem Alter nach der nächste dran für die Sense Freund Heins. Gegen mich, meine Damen, sind Sie ja alle noch Kinder.

Sie sind ungeduldig, weil Sie meinen, daß Ihre Jugend in dieser paradiesischen Einöde ungenossen vorübergehen könnte. Ich gebe zu, wir Frauen haben keine rechte Gegenwart und keine rechte Zukunft, wo Männer nicht vorhanden sind. Aber haben Sie doch ein Weilchen Geduld. Ninon de Lenclos war siebzig Jahre, als sich ein Jüngling aus Liebe zu ihr erschoß, weil sie ihn nicht ausschließlich wiederliebte. Was bedeuten bei Ihrem Alter sechs Monate? Was bedeuten eins, zwei, drei . . . ja, was würde es Ihnen groß ausmachen, wenn wir vier Jahre auf der Insel zubringen müßten? Die Schönheit einer jeden von Ihnen, die jetzt schon, nach den sechs Monaten, so augenfällig zugenommen hat, würde dann höchstens für die schlaffen Schlingel von europäischen Gecken und Gigerln vollkommen niederschmetternd geworden sein.«

Man lachte sehr viel, und es zeigte sich wiederum, daß die Malerin ihre Leute zu nehmen wußte. Und als nach Schluß des feierlichen Teils in einem besonderen länglichen Raum an einer richtigen Tafel von mehr als hundert Gedecken festlich gespeist wurde, fühlte man auf eine höchst wohltätige Weise den Zusammenhang mit der großen Menschheitskultur wiederhergestellt und den Schmerz der Verbannung merklich gelindert.

Der Speiseraum war durch Schwester Herta, eine Krankenpflegerin, so zustande gekommen, die, bevor sie diesen Beruf ergriffen, in Darmstadt gelebt und bei den Meistern der dortigen Künstlerkolonie praktisch mitgewirkt hatte. Aber auch in den Helferinnen, die sie gehabt, wirkte jener im Kunstgewerblichen allgemeine fruchtbare Geist, der in Deutschland durch die Tätigkeit van de Veldes in Tat und Wort entbunden worden war. Sie hatte die Höhe und Form der Tafel, der Holzteller und der Holzbestecke ausgefunden, den Tisch mit einer feinen Matte, diese mit Ornamenten bedeckt, hatte hübsche Gefäße aus Kokosnuß als Tafelschmuck mit den köstlichsten Orchideen gefüllt, die Öffnungen nach außen im guten Verhältnis ausgespart. Diese führten auf eine Galerie, über die das Dach heruntergezogen war und auf der man das ganze Haus umschreiten konnte. Diese Galerie war ringsum durch Markisen aus Matten geschützt, denen wiederum das hübsche weibliche Zeichentalent mit Hilfe gefundener farbiger Erde einen rotbraunen Anstrich gegeben hatte. Ein unaufdringlicher Fries lief an den Wänden des neuen Refektoriums ringsherum. Er stammte von Anni Prächtels Hand; sie hatte darin durch nackte Frauen mit Äxten und Sägen und in allerlei sonstiger Bewegung und Tätigkeit die Entstehung des Baus versinnbildlicht, aber seltsamerweise immer wieder über oder hinter den Arbeitenden stehend, springend, winkend, vorauseilend oder zurückrufend, Bananen herbeitragend, tanzend, Flöte spielend oder nach dieser und jener der Damen mit dem Bogen zielend einen Genius dargestellt, Phaon ähnlich, der einzig und allein nicht das geringste am Bau getan hatte.

Man fand denn auch, als das Bankett mit Hilfe des Palmweins lauter und lauter geworden war, daß die Rolle Phaons in dem entzückenden Fries nicht recht verständlich sei, und drang in die Präsidentin, sie zu erklären. »Ach Gott! Nun was? Halt ein dummer Einfall«, lachte sie.

 

Die Malerin und Rodberte Kalb saßen einander gegenüber, allerdings nur mit einem Hemd und Gürtel bekleidet, aber sonst wie andere Europäerinnen auch, am Tisch, in einem angenehmen Gelaß des hübschen Kokos- und Bambushäuschens, das man nun auch für die Präsidentin errichtet hatte. Der zweite Februar, der erste Jahrestag der Landung auf Île des Dames, stand vor der Tür. Die Damen erwogen mancherlei, und auch die angemessene Form, ihn zu feiern.

»Seien wir nun einmal ehrlich, beste Rodberte«, sagte Anni. »Was halten Sie eigentlich im Ernst und unter uns von der ganzen sonderbaren Begebenheit? Wir sind nun wahrhaftig ein Jahr auf Île des Dames. Ich habe aber bei der ganzen Geschichte noch immer eine Empfindung von Unglaubhaftigkeit. Diese Empfindung hat, verglichen mit ihrer Anfangsstärke, als wir an dieser Küste landeten, nicht etwa ab-, sondern zugenommen, was doch in Anbetracht des in zwölf Monaten hier Erlebten und Geleisteten äußerst seltsam ist.« – Die Kalb sagte trocken: »Fassen Sie sich doch mal bei der Nase.« – Die Malerin lachte. Das, gab sie zur Antwort, habe sie mehr als einmal und immer vergeblich getan. Sie könne noch immer nicht dahinterkommen, ob sie nicht etwa nur nach ihrer Gewohnheit am Abend zu viel des Guten beim Vertilgen von Räucherlachs getan und die Folgen davon nun in einem krausen und übergrellen Alpdruck-Traum zu tragen habe. Sollte sich das als wahr herausstellen, so sei schon jetzt der Entschluß gefaßt, bald nach dem Erwachen diesen Spuk zu Papier zu bringen . . . »Dann«, sagte Rodberte, »fangen Sie lieber gleich damit an.«

Und weiter: »Wie ich nämlich diese neue und sonderbare Robinsonade einschätze, ist sie volle Wirklichkeit. Will man sie aber als einen Traum nehmen, so soll man wenigstens damit rechnen, daß es vielleicht erst in der Stunde des Todes ein Erwachen aus ihm gibt.« – »Zum Donnerwetter!« Die Präsidentin brach in das ihr geläufige Kraftwort aus und haute dabei die Faust auf die Tischplatte. »Meinethalben«, fuhr sie fort, »warum denn nicht? Aber zum Donnerwetter, der Traum wird langweilig.« – »Versuchen Sie's also dann lieber noch mal mit der Wirklichkeit«, sagte Rodberte. – »Ich kann nicht. Diese kitschige Damenkolonie bleibt mir unwirklich. Und was sollte denn aus ihr werden als platte Wirklichkeit, wenn sie als Traum schon so nüchtern und öde geworden ist. Sagen Sie nur, wie konnte dieser Schiffskoloß, dieser ›Kormoran‹, überhaupt zugrunde gehen?« – »Vielleicht«, meinte Rodberte, »durch ein Wrack der Flotte Roschdjestwenskis oder durch eine treibende Mine aus dem Russisch-japanischen Krieg, oder diese ganze schwimmende Kulturarche mit ihrer ganzen Ladung von bemaltem und hohlem Kulturtöpferkram ist von selbst auseinandergebrochen, weil sie windig gebaut und von Fäulnis zerfressen war.« – »Nun, beste Rodberte, unter uns«, so schloß die Präsidentin diesen Teil der intimen Aussprache, »ich muß bekennen, ich fange mich nun allgemach nach dieser uns fortgeschwommenen Riesenarche voll hohler Töpfe zu grämen an.«

In diesem Augenblick wurde es dunkel im Raum, weil Miß Hobbema, den Glanz des Tropengartens ausschließend, auf die Türschwelle trat. Ein riesiger Hut aus Bambusstroh wurde im Eintreten abgenommen, worauf das stolze, von dicken schwarzen Flechten gekrönte Antlitz der Theosophin zum Vorschein kam, deren große Kuhaugen den tiefen Glanz der Güte und der Weisheit vereinigten. Sie trug ein ärmelloses, rohseidenes Hemd, das in der Mitte durch ein breites Geflecht aus Kokosfaser gegürtet war, dazu Sandalen aus Bast, mit Bastbändern befestigt. Ihr Körper glich einer bewegten Statue, während der Stoff, aus dem sie gemacht schien, fleischgewordene bewegliche Bronze war. Wie eine andre Eule der Pallas saß auf den nackten Schultern der schönen Erscheinung ein Papagei. Er war schon seit Jahren ihr Gefährte und von ihr aus dem Schiffbruch gerettet worden. Sie liebte Schmuck und legte ihm, ihrer Natur gemäß, meist einen mystischen Sinn unter. Davon zeugte der Kranz gelber Orchideen, mit dem sie den Hut garniert hatte, und noch mehr die Spirale in Form einer Schlange aus schwerem Gold, die ihren köstlichen Oberarm umwand.

»Ich störe wohl, Präsidentin«, fragte Miß Hobbema. – »Niemals stört eine Göttin«, erhielt sie zur Antwort, »die in die Hütte einer armen Sterblichen tritt. Treten Sie näher, Hochwillkommene!« – Die Damen lachten, der Papagei lärmte dazu.

Als er zur Ruhe gebracht worden war und sich die Miß gegen die Erhebung in den Stand einer Gottheit entschieden verwahrt hatte, konnte Anni sich doch nicht versagen, diese Maßregel zu verteidigen – vielleicht versprach sie sich eine heitere Viertelstunde davon:

»Ich habe mich manchmal gefragt: auf welche verschiedene Arten und Weisen könnte wohl unsre Rettung vonstatten gehen. Wir erwogen ja auch diese Frage oft und ganz allgemein. Es wurde unter anderem gesagt: Zufall müsse dabei das Beste tun. Oder es müsse gelingen, unsre Lage durch irgend etwas der fernen Kulturwelt bekanntzumachen. Zu diesem Zweck haben wir ja auch einige von den geretteten Flaschen als Flaschenposten abgefertigt, das heißt, dem Stillen Ozean anvertraut. Wir haben auch Seevögel eingefangen und ihnen Medaillons mit Inhalt an die Ständer befestigt. Unser etwas überspanntes Fräulein Babette Lindemann, deren Geistesgaben ich übrigens nicht verunglimpfen will – sie hat sich ja, wie Sie wissen, vom Dienstmädchen zur Kammerjungfer, von der Kammerjungfer zur belesenen Reisebegleiterin heraufgearbeitet –, also unser Fräulein Lindemann hat ja sogar den Versuch gemacht, eingeschlossen in einen stockfinsteren Raum, durch eine Swedenborgsche Fernwirkung, also Gedankenübertragung, einer alten Tante in Lübeck unsre Lage bekanntzumachen und alles, was sie für unsre Rettung tun soll, zu suggerieren. Ich halte von diesem Versuch nicht viel. Aber er hat doch wenigstens einige Wochen lang unsre Kolonie beschäftigt, in Atem gehalten, den Trieb zur Selbsttäuschung befriedigt und vor allen Dingen die Hoffnung belebt. Wäre die Methode Babette Lindemanns ein gangbarer Weg, so würde ich den Kontakt jedenfalls nicht mit der alten Tante in Lübeck, sondern mit jemand ganz anderem, am liebsten mit dem Sultan gesucht haben.« – Hier fing der Papagei, angeregt durch die Damen, wieder auf eine fürchterliche Weise zu kreischen an.

»Ich wollte nämlich nur sagen«, fuhr Anni fort, »wir blieben hier nicht mehr vierzehn Tage allein, wenn nur einige einflußreiche und entsprechend begabte Vertreter der Männerwelt einen Begriff davon bekommen könnten, welche Menge schöner und hilfloser Weiber, junger Mädchen und junger Witwen hier beisammen sind. Man hat Nansen gesucht, Emin Pascha gesucht. Sollte sich nicht ein Peters, ein Stanley oder ein Sven Hedin finden, oder sagen wir ein Sardanapal, wenn er wüßte, was für ein unerhörter Fischzug, nicht zu schlecht für den Harem eines Königs aller Könige, hier zu machen ist.« – Der Papagei schlug mit den Flügeln und kreischte wild und mit dicker Zunge, die er von seiner Herrin geerbt zu haben schien: »Laurence, koch Kaffee! koch Kaffee! koch Kaffee!« Er schloß mit einem Schnabelklappen, durch das hindurch ein seltsames Wort, ähnlich wie »Nemqueteba«, erklang, und steigerte durch dies alles merkbar die Lustigkeit. Die Präsidentin fuhr fort, indem sie ihr braunes Knie, das magere Knie einer älteren Indianerin, streichelte:

»Man hat mich zur Präsidentin gemacht. Ich bin dazu prädestiniert durch mein Alter, womit ich allen voranschreite, und eine andere ebensowenig zu überbietende Eigenschaft. Zu dieser sind Sie meiner Ansicht nach der Gegenpol, Miß Hobbema. Sie waren es, und nicht Miß Page, auch nicht die holde Sylphide der Luft, deren aphrodisischem, fruchthaftem Reiz ich jede Gerechtigkeit widerfahren lasse, auch nicht irgend jemand anders, sondern nur Sie, der ich bei der imaginierten Schönheitskonkurrenz, die ich mitunter veranstalte, stets meine Stimme gegeben habe. Es ist so. Sie mögen mich da auslachen und abwehren nach Herzenslust.

Und weil Sie somit unser Schönheitsgipfel sind, so habe ich, da alle irdischen Hoffnungen, uns der Welt bemerkbar zu machen, mehr als vage sind, auf Sie die Hoffnung meiner mehr und mehr den Boden der Wirklichkeit verlierenden Träumereien gestellt. Ich sehe in Ihnen Andromeda und erwarte den Perseus, der Sie rettet.«

Nicht nötig zu sagen, daß der Göttervogel auf der gleichsam polierten Bronzeschulter der britischen Holländerin auch diese Sätze, mit dem Schopfe nickend, durch das unzähligemal wiederholte »Laurence, koch Kaffee!« beantwortete, mit einem Organ, das ohrzerreißend war. – »Was ist mir Perseus«, sagte Miß Hobbema. »Dann wünsche ich mir schon lieber den Herakles.« Und sie kam auf das alte Lieblingsspiel ihrer Einbildungskraft zurück, wobei sie das Eiland zur Insel der Seligen, zum Garten der Hera umwandelte, wo hesperische Nymphen den Wunderbaum des Lebens mit den goldenen Äpfeln der Hera bewachten.

»Fließen nicht«, fuhr sie fort, »tatsächlich auf unserer Wunderinsel Nektarbäche? Weht nicht paradiesische Kühle, mit den Düften der herrlichsten Spezereien gemischt, überall und auch hier zu den Fenstern herein? Sie wissen, ich esse kein Fleisch und bin natürlich erst recht keine Jägerin. Das hindert nicht, daß ich bereits mehreremal bis zum obersten Gipfel, dem Krater des Mont des Dames vorgedrungen bin. Ich glaube kaum, daß unsre Diana Page in jeder geringen Einzelheit der Topographie unsres Inseljuwels und seiner oft fast überirdischen Geheimnisse so wie ich bewandert ist. Ich erlebe bei meinen Streifen weit mehr, als nur ein Wild zu überlisten und abzuschießen. Inmitten der ungeheuren Pracht des mit mir steigenden blauen ozeanischen Glastes ringsum dringt eine Größe, dringt eine Herrlichkeit ohne Maßen in mich ein, in der ich nur durch den Gedanken die erhabensten Visionen verwirkliche. Ich spreche mit Zeus. Ich habe die Höhle gesehen, wo er mit der jugendlichen Hera sein Beilager hält. Ein Halbkreis von Bäumen ist um sie her, von denen jeder in sich die Kraft und den Saft einer vieltausendjährigen Jugend, am Riesenstamm die harten Runzeln und Schwielen einer vieltausendjährigen Dauer, in der grünen Welt seines Wipfels eine Welt der Farbe, eine Welt der strotzenden Blütenglut, eine Welt der ausgesuchtesten Wonne trägt und eine Welt der Himmelsmusik, nicht zu vergessen.

Das nennt man, nicht wahr, Überschwenglichkeit? Gut, ich lebe im Überschwenglichen. Gebe ich meinem prächtigen Phaon zum Beispiel Unterricht und unterhalten wir uns über die griechische Mythologie, die ich, dank meinen Eltern, gleichsam mit der Muttermilch eingesogen habe, so vergesse ich manchmal, wer er eigentlich ist. Es scheint mir vielmehr, als gäbe ich dem Sohne Hyperions Unterricht, dem jugendlichen Helios, der bestimmt ist, später einmal die Welt zu erleuchten. Ich warte des Tages, wo er seinen Flug zu den Äthiopen auf seinem goldenen Bette und mit seinem goldenen Bette antreten wird, wo das herrliche Spielzeug des Sonnenwagens und der feurigen Sonnenrosse für ihn bereitet steht.

Dieser Hesperidenmythos ist es, der dem Atmungsbedürfnis meiner Seele am meisten entspricht. Ich empfinde und sehe die Insel, die, wie unsre, außerhalb der Welt gelegen ist, dicht bei den Gorgonen, hart an den Grenzen des ewigen Dunkels. Ich stelle mir gerne vor, daß diese gewaltige, uns allen mit gleicher Macht täglich Licht und Glut spendende Sonne nicht die alte Sonne der Erde, sondern nur die unsrer hesperischen Insel wäre, und fühle mich selbst meinethalben als Hygieia, eine der lichtberauschtesten Töchter der Nacht.

Sie mögen denken, da haben wir wieder einmal die übergeschnappte Engländerin. Übrigens bin ich mehr Holländerin, wie Sie wissen, was ja schon mein Name besagt. Aber denken Sie immerhin, was Sie müssen! Ich sehe nicht ein, weshalb ich hier, von jeder Beziehung zur alten Erde losgelöst, nicht die höchsten inneren Genüsse suchen sollte, deren mein Wesen fähig ist. Ich habe damit erreicht, daß ich vielleicht als einzige unter uns allen mit dem Geschick, das mich traf, voll im Einklang bin.«

 

Man kannte die Exaltationen, zu denen Laurence manchmal hingerissen wurde. Die höhergearteten Kreise der Kolonie hatten dawider nichts zu erinnern. Die Präsidentin fühlte sich durch diese von funkelnden Blicken begleiteten, gleichsam lichttrunkenen Ausbrüche mitunter wie durch ein Bad verjüngt und immer angeregt. – »Nun also, ich hatte doch eben recht«, betonte sie, »wenn ich Sie vorhin eine Göttin nannte. Wir andern, ich mache durchaus keinen Spaß«, fuhr sie fort, »bleiben mit dem Fluche der Trivialität behaftet, dessen verderblicher Wirkung schließlich und endlich kein Großstadtmensch entgeht. Und ich finde, daß England, daß Europa, Amerika und so weiter nur noch gleichsam ausgelaufene Großstadt sind. Meine Flügel werden steif, ihre Gelenke trocknen ein. Und wenn es eine Zeitlang gedauert hat, so benütze ich sie höchstens noch als Flederwische zum Staubwischen. Sie haben Phönixflügel, Laurence. Und wenn Sie mich nicht von Zeit zu Zeit am Kragen packen und mitreißen, so sehen Sie mich vielleicht binnen kurzem nur noch als Regenwurm am Boden hinkriechen. Ich habe vorhin zu Rodberte gesagt: der Traum wird langweilig. Ich meinte den Traum, den wir alle zu träumen hier gezwungen sind. Nun, liebe Laurence, Sie allein haben es erreicht, wenn er mir nun wieder in besserem Lichte erscheint.«

»Ich will Ihnen einmal sagen, Anni, warum Sie eigentlich dem scheußlichen Dämon der Langeweile verfallen sind, dessen Sargdeckel übrigens die ganzen Vereinigten Staaten niederhält. Um nicht zu ersticken, werden sich die Amerikaner eines Tages vielleicht in irgendeinen widersinnigen Krieg stürzen.«

Es war Rodberte, die so sprach, eine Pause machte und dann ihre Rede von neuem begann:

»Sie hatten Pläne. Sie wollten etwas Positives aus uns und der Situation entwickeln, die nun einmal gegeben war. Sie wollten Ihre Bildnerkraft einmal am lebendigen Fleisch statt nur an Farben und Leinwand ausüben. Sie wollten die Gelegenheit zu einem kommunistischen Versuch beim Schopfe fassen. Unser Arzt, unser Erretter, unser Gesetzgeber, unser Moses sein. Überdies Vater und Mutter in einer Person und letzten Endes unser Erlöser. – Aber obgleich Ihnen in vieler Beziehung gelungen ist, unsre Tüchtigkeit aufzurufen, dies und das mit uns durchzuführen und jedenfalls unser Versinken in Marasmus zu verhüten, so wird uns doch andrerseits das Leben durch dieses insulare Schlaraffenland allzu leicht gemacht, um moralische Eigenschaften in uns großzuzüchten. Eine straffe Organisation hält sich nicht oder erweist sich als unnötig. Die Damen gedeihen und schwellen wie Früchte, trotzdem ihr Gemüt belastet ist. Sie brauchen nur nach Laune etwas zu arbeiten, denn wenn sie selbst das Händchen nicht ausstrecken wollen, die Paradiesäpfel hängen ihnen ja in den Mund. Was fühlt aber ein Arzt, ein Erretter, Erhalter, Gesetzgeber, ein Moses, Vater und Mutter, ein Erlöser, wo niemand krank ist, niemand errettet und erhalten zu werden braucht, alle so zahm, üppig, faul und friedlich sind, daß ein Gesetzgeber oder gar ein Moses mit irgendwelcher Übertretung, einem Ungehorsam, einer Gewalttat gar nicht zu rechnen hat? Was fühlt ein Vater, eine Mutter, wo die Natur Vater und Mutter ist?

Ohne Zweifel«, fuhr sie fort, »hat Ihre unermüdliche Peitsche, wie gesagt, etwas ausgerichtet. Ville des Dames mit ihrem Rathaus, ihren freundlichen Pavillons zeugt davon. Weiter aber geht es nun nicht. Denn gerade die zwei Dinge, die nötig wären, um das Erlöserwerk zu tun, auch nur im Irdischen zu tun, besitzen Sie nicht.

Es steht nämlich so: auch der Kulturmensch bezeichnet inmitten der Volks- und Weltgemeinschaft die Erde als Jammertal und sehnt sich nach einem besseren Zustande. Dieser wird ihm durch seine Religion unter gewissen Voraussetzungen für die Zukunft im Jenseits garantiert. Unser Jenseits ist aber die große Gemeinschaft der Kultur. Und die Gewißheit, dorthin zu gelangen, in diese uns allen genau bekannte Realität, können und wollen Sie uns nicht geben. Auch uns wie Moses aus der Fremde ins Gelobte Land zurückgeleiten, das vermögen Sie nicht. Im Hauptpunkt unsrer begründeten Sehnsucht können Sie kein Erlöser sein, das macht Sie verdrossen, das ist Ihnen langweilig. Es ist übrigens möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß unser Hauptpunkt, das Ziel unsrer höchsten Sehnsucht, nicht Ihr Hauptpunkt ist. Bleibt also der andere, in bezug auf den Sie ebenfalls leider ohnmächtig sind. Sie können uns Ausgestoßenen von den zwei Dingen keines beschaffen, die zur Erlösung notwendig sind: nicht die Heimat und nicht das andere.« – Anni und Laurence fragten schnell: »Was meinen Sie mit dem anderen Ding?«

»Ja, was meine ich mit dem anderen Ding? Adam wohnte bekanntlich im Paradies, als Gott den Gedanken bekam: es sei nicht gut, daß der Mensch allein wäre. Was kann das heißen als: Adam habe sich im Paradies allein nicht wohlgefühlt. Er hätte sich auch nicht wohl und hätte sich allein gefühlt, und wenn Gott flugs noch tausend Adams aus Lehm geknetet, mit seinem Odem belebt und neben den ersten ins Paradies gesetzt hätte. Um sein Unglück zu heben, mußte eine Eva geschaffen sein. Tatsächlich war er vorher nichts als ein steriler Golem, unfruchtbarer bewegter Ton, gleichsam ein Topf voll Atem, aus dem der Schöpfer seinen Odem jederzeit wieder austrinken konnte. Dann war es ein leerer Topf, weiter nichts, der nur eben durch seine Leere Bedeutung hatte. Aber Adam wurde Gott ähnlich, geriet in Besitz des Schöpfergeheimnisses, freilich cum grano salis, als er Eva bekam. Wer wüßte nicht, daß er von da ab ebenfalls selbständig Menschen machte.«

Wieder tobte und wetterte der Papagei fürchterlich.

»Kurz«, schloß die Kalb, »denken Sie sich die Eva ins Paradies als den ersten alleinigen Topf des Töpfers. Wäre nicht Adam dazugekommen, sie würde je nachdem ein leerer oder ein voller Topf, aber immer nur ein einziger Topf, nie aber mit Adam zu gleichen Teilen und zum größeren Teil die Schöpferin des Menschengeschlechts geworden sein. Auch nicht, wenn man ihr tausend andere Even an die Seite gesetzt hätte.«

»Ich verstehe«, sagte nach kurzem Schweigen die Malerin, worauf dann ein belustigtes Auflachen bei geschlossenem Munde verriet, daß ihr irgendwelche Gedanken, die ihr im Anschluß an Rodbertes Ausführungen kamen, Vergnügen machten. – »Ich verstehe, jawohl, ich verstehe ganz gut, Fräulein Kalb«, sagte nun ebenfalls Miß Hobbema, jedoch sehr ernst: nicht so, als ob es sich etwa nur um einen geistreichen Spaß Rodbertens gehandelt hätte.

Laurence fuhr fort:

»Ich weiß nicht eigentlich, wie ich darauf gekommen bin. Ich grüble, finde aber mit dem, was Sie eben entwickelt haben, keinen Zusammenhang. Und doch will ich es mir von der Seele reden. Selbstverständlich ist ein Zustand wie der unsere ungesund, und je länger er dauert, je ungesunder. Ich als quasi Seelsorgerin der Kolonie gewinne dafür leider viele Merkmale. Was nützt es uns – das ist am Ende nicht das Schlimmste, daß wir der Welt lebendigen Leibes gestorben sind. So haben wir eben ein Jenseits erlangt. Und tot für die Welt, wer zweifelt daran, daß wir uns selber trotzdem leben –: schlimmer ist in der Tat, was Sie berührt haben, Fräulein Kalb. Man sage mir, was man wolle, ohne eine wahre, gleichsam unendliche menschliche Zukunft gibt es auch keine runde und volle menschliche Gegenwart. Eine soziale Gemeinschaft aber, die sich nicht fortpflanzen kann, ist wie ein Segelschiff, das etwa in einer windlosen Zone des Stillen Ozeans unbeweglich festliegt und so zerfällt. – Oder sie gleicht einem Blütenwald, aber nur von blühenden Zweigen, abgeschnitten und in Wasser gestellt: er kann nicht Wurzel schlagen noch Frucht tragen. Sicherlich stünden wir anders da, hätten wir diese Möglichkeit. Dann würden wir einen Tag erleben, wo wir die verlorene Kulturgemeinschaft aus uns selbst wieder hergestellt hätten. Die Empfindung des von Gott und Menschen Verlassenen, diese Empfindung der Verdammnis würde allein schon durch das Bewußtsein wahren Werdens behoben sein.

Ja, nun habe ich doch den Gedankengang aufgedeckt, durch den ich auf Fräulein Lindemann, von der Sie ja selbst gesprochen haben und von der ich nun sprechen will, gekommen bin.

Fräulein Lindemann ist viel in dem von mir verwalteten kleinen Heiligtum, das wir etwas großartig Notre-Dame des Dames genannt haben. Ich muß gestehen, daß sie manchmal etwas viel von meiner Zeit in Anspruch nimmt. Ich stehe ja jedem gern zu Diensten und denke, es ist am Ende mein Beruf, wenn jemand das Bedürfnis hat, mir seine geistigen Schmerzen und Nöte zu beichten, und meine Hilfe in Anspruch nimmt, ihm mit Rat und Tat beizustehen. Opfre ich aber gern einen großen Teil meiner Zeit, so ist es für alle, nicht für einen allein. Und wie gesagt, Fräulein Lindemann scheint manchmal in ihren Ansprüchen etwas weitgehend.

Sie ist in Bombay aufs Schiff gekommen. Ihre Dame war aus dem Annie-Besant-Kreis. Freilich etwas beschränkt, etwas unkritisch. Ich habe die Dame ja noch kennengelernt. Jedenfalls ist der Einfluß der indischen Mystik, wie er von ihrer Dame und den Kreisen in Bombay und Benares ausgeübt worden ist, zunächst wohl für Babette Lindemann zu mächtig gewesen. Sie ist wie ein Ofen, der innen von wildchaotischen Verbrennungsprozessen bis fast zum Zerbersten loht. Von ihr kann man sagen, was der Buddha in seiner Feuerpredigt lehrt: ›Alles, ihr Mönche, brennt, das Auge brennt, die Erscheinungen brennen, das Ohr brennt, die Töne brennen, das Auffassen mit dem Ohr brennt, die Wahrnehmung mit dem Ohre brennt. Die Nase brennt, die Gerüche brennen, das Auffassen mit der Nase brennt. Die Zunge brennt, der Geschmack brennt. Der Körper brennt. Die Berührungen brennen‹ – So ist es in ihr. Ich habe das alles in ihr selbst gefühlt und auch an ihr gefühlt, wenn sie sich zu meinem Leidwesen mit beiden Armen schluchzend an mich hängt. Und ich weiß auch, es brennt ihr Verstand, es brennen alle ihre Gedanken. Wie der Buddha sagt: durch das Feuer der Lust, durch das Feuer der Sünde, durch das Feuer des Irrtums, durch alle Arten von Kummer, Trauer, Leiden und Verzweiflung brennen sie.«

Die Malerin sagte: »Sie hat diese überhitzten Augen.« Rodberte: »Sie ist unintelligent und überspannt.«

»Ich weiß manchmal nicht«, erklärte Miß Hobbema fortfahrend, beide schlanken und braunen Hände in den Kokosgürtel gesteckt, »ich weiß manchmal nicht, wie es in Wahrheit mit ihr beschaffen ist, trotzdem ich hier etwas berichten muß, wodurch Ihre letzte ziemlich deutliche Erklärung, Fräulein Kalb, wie es scheint, bestätigt wird. Sie behauptet nämlich nichts Geringeres als, ihr müsse etwas Ähnliches widerfahren sein wie das, was in der herrlichen Darstellung durch Fra Angelico an einer Wand von San Marco zu Florenz durch einen Engel der Jungfrau verkündigt wird. Sie könne es sich nicht anders denken und es gäbe nur diese eine Möglichkeit.«

Annis Entsetzen war ungeheuer.

»Ich habe so etwas schon lange geahnt«, sagte sie, »denn ich bin ja nicht blind und sehe ja, was für ein kindisches, überspanntes und lächerliches Unwesen trotz aller meiner scharfen, unzweideutigen Äußerungen bereits eingerissen ist. Noch gestern, Gott soll mich bewahren! aber ich denke ja – um mit einem Schulausdruck zu reden –, ich denke ja, daß mich der Affe laust, – also noch gestern erst höre ich da hinter einer Hütte ein Gott weiß wie zärtlich gesungenes Kinderliedchen: ›Sause, liebe Ninne, was raschelt im Stroh . . .‹, und so weiter. Ich trete hinzu. Hat sich da ein rothaariger Rubensscher Bauernstrunk, der überall, soweit man noch von Bedeckung reden konnte, nur so überquillt, – hat sich da so ein kerngesundes Mensch eine Rohrwiege gezimmert und wiegt, ich glaube, ein Schnabeltier. Eine Berlinerin läuft in Mannshosen herum und hat einen geklebten Schnurrbart unter der Nase. Irrsinn steckt, wie wir wissen, an. Ich warte nur drauf, daß eins der Weibsbilder zu mir kommt und mir geradezu erklärt: Präsidentin, ich bin ein Mann.«

»Warum sollen sich diese armen Weiber, nämlich die, die so geartet sind, nicht im Todeskampf ihrer Sinnlichkeit mit Illusionen behelfen!?« sagte Rodberte Kalb. »Weshalb machen wir überhaupt so viel Umstände? Für was spart man sich schließlich hier noch auf? Oder was hätte man hier für einen Grund, unbedingt bei Verstande zu bleiben, wenn man durch Tollheit glücklicher wird? Bildet sich Babette Lindemann ein, etwa mit dem künftigen Buddha gravid zu sein, nun, so lasse man ihr das Vergnügen. Oder was kann man ihr bieten, sie zu entschädigen?

Macht man nicht inmitten der Welt der Zivilisation kleine Mädchen durch Puppen mit Absicht glücklich und wahnsinnig?« fuhr sie fort. »Wäre die Puppe Babettens meinethalben nur für uns alle ausreichend. Ich würde gewiß kein Spielverderber sein. Und denken Sie, Laurence, welche Möglichkeit für unsere Notre-Dame des Dames! Warum sollte nicht der Glaube an die Puppe Babettens eine Kraft erreichen, die Berge versetzt und uns am Ende nach Europa?«

Miß Laurence sagte:

»Möchten Sie doch einmal den Versuch machen, Babetten den Buddha auszureden, nur um sich zu überzeugen, daß es unmöglich ist. Aber nun hat sie selbst einen Schritt erzwungen, der ihr, wenn noch ein Funke Vernunft in ihr ist, ihre hysterische Illusion nehmen muß. Sie hat Fräulein Doktor Egli zu sich gebeten.«

»Lupus in fabula«, sagte die Kalb, denn Fräulein Egli trat eben ein.

 

Fräulein Egli war zweiundzwanzig Jahre, von Mittelgröße, an Schultern und Hüften breit. Es schien sich in ihr ein Frauentypus ähnlich den Zeichnungen Baseler Frauen des jüngeren Holbein anzukündigen. Ihr Haar war von unbestimmtem, mehr dunklem Blond, aber fast ebenso reich wie das der Kalb und Miß Hobbemas und ebenso um den Kopf genommen. Ihr Gesicht war groß, breit und voll Sommersprossen, aber es wies die Form der alemannischen Rasse in hoher Vollendung auf. Der Brutalität der Kiefer und Backenknochen gesellten sich Brauen und Nase von äußerster Feinheit und Regelmäßigkeit. Das Profil war ins feinste konturiert, wobei die außergewöhnliche Feinheit und Schmalheit der Nase mit dem starken und üppigen Kinn, dem Kinn einer jugendlichen Berenike, im Gegensatz stand. Das ganze Haupt erinnerte in seinem edlen und doch volkstümlichen Schnitt an eine Gudrun, Königstochter und Magd zugleich, in Gefangenschaft. Diese Vorstellung wurde verstärkt durch ihre meist zusammengezogenen Brauen, ein gewisses verstecktes und doch nicht ganz zu verbergendes düsteres Feuer der Augen und durch den Willenskraft und Leidenschaftlichkeit verratenden, meist von schmerzlichem Ernst umspielten Mund.

»Nun erzählen Sie«, rief ihr Miß Laurence entgegen, »erzählen Sie, erzählen Sie!«

»Viel zu erzählen«, sagte die Ärztin, »habe ich nicht: nach meinem Befunde kann ich nur sagen, daß Babette Lindemann bei ihrer Vermutung nicht im Irrtum gewesen ist.«

 

Der Eindruck, den diese Eröffnung machte, tat sich zunächst durch eine schweigende Verblüffung kund. Dann wollte man sich den Anschein geben, als wisse man wohl, die Ärztin habe einen Scherz gemacht. Das ernste Befremden der Schwäbin, die nicht weit davon entfernt war, durch solches Betragen verletzt zu sein, machte diesem jedoch ein Ende: aber nun hatte das junge Mädchen einem Kreuzfeuer von Fragen standzuhalten. Ob sie an Wunder glaube? Ob sie vergessen habe, daß man nur eine Woche weniger als zwölf Monate auf der Insel sei? – Oder daß, mit Ausnahme Adams und Evas, jeder Mensch zwei Eltern habe? Und wo sie den Vater des Kindes zu suchen gedächte, da doch notorisch kein Mann auf der ganzen Insel sei? Sie sagte dagegen, merkbar unangenehm berührt, im Tone kühler Sachlichkeit: sie habe einen physiologischen Tatbestand festgestellt, der ja zweifellos seine natürliche Ursache habe. Damit wäre die medizinische Frage beantwortet, die an sie gestellt worden sei. Die neuerlichen Fragen müsse sie aber von vornherein ablehnen, sie gehörten nicht in den Rahmen der ärztlichen Wissenschaft. – Die Kalb wollte wissen, im wievielten Monat das Rätsel bereits auf Île des Dames heimisch sei. Nach Ansicht der Ärztin bereits im dritten; und wieder stellte man mit ihr ein Examen an, in dem der Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Diagnose sich nicht genügend verstecken konnte. Man sah nun bald, daß man sie ernstlich verstimmt und in ihrer Berufsehre gekränkt hatte, und gab sich nun ganz den Anschein, als ob man von der Wahrheit der Tatsache völlig durchdrungen sei. Fräulein Egli indessen blieb nun einsilbig und empfahl sich schnell, nachdem sie vorher gefragt, ob man noch Wünsche an sie hätte, und die Frage verneint worden war.

Nicht bei Laurence, die sich übrigens an dem ganzen Gespräch nur wenig, und zwar immer begütigend beteiligt hatte, – nicht also bei ihr, sondern bei Rodberten zumeist und auch bei der Malerin brach, kaum daß sich die Ärztin entfernt hatte, aufs neue der Zweifel aus. Er steigerte sich bis zum völligen Unglauben. »Ich glaube«, sagte Rodberte, »daß diese junge Person, die, wie sie mir erzählt hat, kaum vierzehn Tage vor der Ausreise mit dem Staatsexamen fertig geworden ist, die Gelegenheit ergreift, um sich mit ihren frischgebackenen Kenntnissen ein bißchen wichtig zu machen.« – Sie glaube das nicht, warf Laurence ein. Diese Deutsche sei ein harter, gründlicher Kopf, wofür sie genügend Beweise habe, und obgleich sie, Miß Laurence, in bezug auf Erklärung des Falles vollständig ratlos sei, würde es ihr doch schwer, die durch Fräulein Egli verbürgte Tatsache zu bezweifeln. – Dann bliebe nur eine Möglichkeit, sagte die Malerin, es müßte sich eben doch irgendwo, entweder mitten unter uns oder sonst auf der Insel, ein Mann verborgen haben.

»Erlauben Sie«, sagte Laurence, »ich werde einmal bei der Patientin selber zum Rechten sehen.« Sie ging und trat nach kurzer Zeit in Begleitung Babettens wieder ein.

 

»Nun, was haben Sie denn, meine liebe Babette«, lautete die Begrüßung der Präsidentin. Sie zwang sich, was Inhalt und Form ihrer Rede, Stimmton und Ausdruck ihres Gesichts betraf, zu dem ihr möglichen höchsten Grade von Liebenswürdigkeit. Die Absicht war, vertraulich zu scheinen und eben dadurch vertraut zu machen. – »Nun, meine liebe, beste Babette, was bringen Sie denn? Kommen Sie, setzen Sie sich, Babette. Ich muß Ihnen gleich ein Kompliment machen. Sie haben sich verjüngt und verschönt. Rodberte, liegt nicht über ihr geradezu etwas Festliches? Wenn es hier eine Post gäbe, würde ich sagen, Ihnen hat heute ganz gewiß der Briefträger eine wundervolle Nachricht gebracht, etwa vom Tod einer alten Erbtante oder daß der Herzallerliebste kommen wird, um Sie heimzuführen. Wie sie lächelt! Welches Licht, ein glückliches Licht, in ihren Augen ist. Beichten Sie, schütten Sie uns Ihr Herz aus, Babette.«

»Also wissen Sie es noch nicht«, sagte mit tiefgezogenen Wimpern schamhaft und doch gleichsam selig errötend Babette. »Die edle Miß Laurence sagte mir nämlich, Sie wüßten von der Bestätigung.« – »Ja und nein«, sagte die Malerin. »Ich kann wahrhaftig nur ja und nein sagen. Sie werden mir ja doch zugeben, liebste Babette, daß der ganze Vorfall nicht nur im gewöhnlichen Sinne ungewöhnlich ist, sondern im ungewöhnlichen Sinne außergewöhnlich.« – Das wurde mit Feierlichkeit bestätigt. »O ja, o freilich, das ist er gewiß.«

»Können und wollen Sie uns nun sagen, wie es nach Ihrer Ansicht so gekommen ist?« fuhr die Präsidentin fort. – »Das kann ich, das will ich«, war die Antwort, »soweit nämlich nicht das Allerheiligste, das Unaussprechbare mit im Spiele ist.« Sie wiederholte versonnen: »Das kann ich, das will ich.«

Man machte nun mit vieler Sorgfalt für das Wundermädchen einen Sitz zurecht und gestand sich, daß etwas innig Verzücktes, eine Art Verklärung über sie ausgegossen war. Sie legte versonnen die Hand auf die Stuhllehne und ließ sich in einer Weise nieder, die bewies, daß ihre Aufmerksamkeit auf etwas im tiefsten Grund ihrer Seele Verborgenes gerichtet war. Dann hob sie plötzlich den Blick empor, um ihn fest in Annis Augen zu senken.

Sie sprach: »Ich habe das lange erwartet. Ich ahnte schon in Benares, als ich das Bad im Ganges genommen hatte, es müsse eines Tages so kommen, wie es gekommen ist. Es mag gegen Anfang Dezember gewesen sein, als sich die Welt um mich her veränderte. Ich merkte, merkte ganz im geheimen, daß ich mit neuen Sinnen begabt worden war. Oder anders und vielleicht besser gesagt, jeder meiner Sinne schien vertieft und vervielfältigt. Ich glaubte plötzlich zu wissen, wie jeder Sinn, das Auge, das Ohr, eine Unendlichkeit von Sinnen mit unendlich vielen Erkenntnisorganen darstelle. Von allen Seiten, beinahe zu stark für mich, zu mächtig für eure arme Magd, drangen die neuen Dinge durch die neuen Sinne in mich ein.«

Nachdem sie das gesagt hatte, starrte Babette gedankenvoll lächelnd vor sich hin.

Sie besaß jenen Reiz, der schwärmerischen Naturen eigen ist. Obgleich ihr im ganzen zierlicher Körper in der Wärme und Ruhe dieses glücklichen Klimas ebenfalls eine gewisse Fülle erlangt hatte, ihr Antlitz, ein schönes Oval, mit anmutsvollen Grübchen behaftet war, lag doch eine schmachtende Blässe über ihr, die auf verzehrende Sehnsucht und Nachtwachen deutete. Sie trug das gewöhnliche Frauenhemd, darüber einen mit Leibchen verbundenen blauen Rock, Sachen aus dem kleinen Bestande, den sie gerettet hatte. Es war, als ob sie durch Schlichtheit und Verhüllung gegen die malerische Hüllenlosigkeit der üblich gewordenen Trachten auftreten wollte. Ihr dunkles Haar war gelöst und sammelte sich in ihrem Schoß.

 

Man hatte ihr Schweigen nicht unterbrochen, um nicht den Eindruck zu machen, als dränge man sie, und so Mißtrauen und Widerstand in ihr aufzurufen. So fing sie denn auch wirklich von selber wieder zu sprechen an:

»Nun also, ich weiß ja, daß ich mich der edlen und guten Laurence gegenüber befinde, unsrer edlen und guten Mutter Präsidentin gegenüber befinde und der hochgebildeten, durchblickend klugen, edlen und guten Rodberte Kalb; warum sollt' ich denn meine Gnadenerfahrung nicht mitteilen? Ich wußte plötzlich die heimlich himmlische Ursache, die kosmische Ursache, die außerkosmische Ursache, aus der ich auf diese Wunderinsel gebracht worden bin. Und denken Sie, ich habe sie plötzlich wiedererkannt. Denn lange bevor ich körperlich hier landete, war ich nachts mit der Seele hier und empfand das deutlich vor, was mir nun begegnet ist.«

Sie hielt die bebenden Hände in ihrem Schoß und in die Flut ihres Haares verwühlt: nun tropften Tränen darauf herunter.

»Wenn ich weine«, sagte sie, »ist es Glück. Sie müssen mir glauben, Sie dürfen nicht daran zweifeln, daß ich eine Wissende bin. Dunkel wußte ich ja von alledem schon von Kindesbeinen an. Die Weihrauchwolken von diesem Eiland meiner Bestimmung haben schon meine Wiege eingehüllt. Eia! Da sah ich es schon gar lieblich in meinem Traum und wandelte schon glückselig in seinen wollustreichen Hainen herum, schwamm selig in seinen Flüssen und Buchten. Freilich, als ich mit meiner Dame das Schiff bestieg, die Welt zu umkreisen, da schien es ein Zufall. Außer daß mich oft heimlich ein rätselhafter Schauer überkam, durfte sich nach dem Plane der heiligen Prädestination nichts meinem Herzen so früh verraten. Kurz« – sie schlug die Augen zu vollem Glanze auf –, »ich trage den Sohn eines Gottes, den Friedensfürsten der Welt, in meinem Schoß.«

»Meine liebe gute Babette«, sagte die Malerin, »Sie müssen selber fühlen: was Sie uns da zu hören geben, ist für uns einfache Sterbliche, na, jedenfalls eine harte Nuß, wie man sagt. Ich gestehe gern, ich bin nicht wissend. In meinen Jugendträumen hat zwar die allbeliebte Insel der Seligen auch schon ihre Stätte gehabt, aber keineswegs gerade diese Insel und ihre mysteriöse Bestimmung. Deshalb seien Sie lieb, und helfen Sie meinem Durchschnittsverstande nach.«

»Sie müssen wissen, ich habe in England die heißen Bewerbungen eines älteren Lords, in Frankreich die Bewerbungen eines jungen Menschen abgelehnt, der seinen Namen nicht nennen wollte. Aber eine Gräfin sagte zu mir: ›Babette, der Prinz beklagt sich über Sie.‹ Ein berühmter Dichter in Deutschland hat um meinetwillen sein Weib verlassen. Was konnte ich tun? Ich habe ihm auch dann nicht den kleinsten Vorteil gewährt. Er tat mir leid. Doch was konnte ich tun gegen meine Bestimmung?«

»Gut, gut, Sie haben uns ja gesagt, daß Sie Ihrer Bestimmung im allerhöchsten Sinne bereits erlegen sind«, unterbrach sie Anni wiederum, und es war ihr doch eine gelinde Ungeduld anzumerken, da sie gegen alles, was sie unter Hysterie verstand, einen mitleidlosen Abscheu hegte. »Es wäre doch nun gut, damit wir in die Lage kommen, in der Behandlung Ihres Falles nichts Verkehrtes zu tun, uns einen Wink zu geben, wie dieses übernatürliche Ereignis im Bereiche der natürlichen Welt möglich geworden ist. Genauer gesagt, Zeus hat sich der Europa als Stier gezeigt, der Semele als ein schöner Jüngling, bevor sie an seiner wahren Gestalt zugrunde ging, der Leda als Schwan, und so fort und so fort. Wie ist er nun also Ihnen begegnet?«

Babette schüttelte ganz entschieden den Kopf. Dann sagte sie sehr bestimmt und ernst: »Nein, Mutter Präsidentin, Zeus war es nicht.« Dabei war das Lächeln um ihren feinen Mund fast geringschätzig. – In diesem Augenblick stand es im Geiste der Hörer beinah fest, daß man es mit einer Verrückten zu tun hatte. Man verwarf bei sich die Diagnose der Ärztin wiederum und wollte nur noch wissen, in welche bestimmte Form der Wahnwitz Babettens sich kleidete. Man fragte: »Wenn es nun Zeus nicht war, wer war es dann?«

»Mukalinda war es«, sagte Babette.

Die Präsidentin sah Rodberte Kalb und diese die Präsidentin mit ziemlich dummem Ausdruck an, während Miß Laurence ernst und aufmerksam zuhörte. Dann fragte die Präsidentin: »Wer ist denn das?«

Die Brust Babettens hob sich zu einem tiefen Atemzug, dann antwortete sie mit Umständlichkeit: »Damals, als der Vollendete, der Heilige vollkommen erwachte, der Wissens- und Wandelsbewährte noch auf der Erde war, pflegte er einstmals der Betrachtung unter dem Mukalindabaum. Sieben Tage lang saß er da mit gekreuzten Beinen. Aber es kamen große Unwetter, schwarzes Gewölk, das ununterbrochen stürmend Schnee, Hagel und Regen über ihn goß. Da war es, als der Schlangenkönig Mukalinda seine Behausung verließ und mit seinem Körper sieben schützende Ringe um den Erhabenen legte und über den Kopf des Erhabenen schützend sein großes Haupt. Dafür ward Mukalinda gesegnet, als er in Gestalt eines schönen Jünglings vor den Erhabenen trat. Was ist aber Zeus, verglichen mit Mukalinda, dem Gesegneten?

So aber, ihr Frauen, ging es zu. Deborah, die junge Jüdin, schläft mit mir in einem Zelt. Sie nahm ihr Bett, da ihr die Luft im Zelt – es wehten damals heiße Winde – zu drückend war, und bettete sich unter einen Baum am Ufer des Fleuve des Dames. Auf diese Weise blieb die Tür unsres Zeltes offen und ich allein. Nun aber befiel mich eine gewaltige Unruhe. Oh, ihr Frauen, eine ähnliche Unruhe, eine ähnliche Erwartung hatte ich nie gefühlt! Das Mondlicht drang zur Tür herein. Dann kreischte ein Vogel im nahen Wald. Der Ruf galt mir, das konnte ich schon verstehen. Oh, gute und edle Frauen, mein Herz schlug gleichsam hier in der Kehle. Da flüsterte etwas: Wisse, du bist ein Weib! Und schon war ich in einem mehr süßen als furchtbaren Schrecken aufgesprungen. Ich wußte nicht, ob ich noch träume oder soeben erwacht wäre. Da war ja der Fluß, eine breite, silberne, schuppige, wühlende Schlange, gleißend dahinkriechend. Eben noch hatte ich ihr Rascheln und Rauschen gehört, nun aber war alles ohne Laut. Plötzlich brach es fast ohrenbetäubend wieder vor, um ebenso plötzlich wieder abzuschneiden. Ich horchte gespannt und wie jemand, der sterben müßte, wenn das nahe, erwartete Glück sich wenden, sich nicht dem Schmachtenden, dem sich in Liebe Verzehrenden schenken würde. Ich flüsterte: Göttlicher, komm und mache mich satt! Alles blieb still, so gierig ich auch nach jedem Laut auf der Lauer lag. Wiederum sprang ich auf. Mein ganzer Körper war schmerzhaftes Licht geworden. Ich brannte innen, mein ganzer Leib war zum Verbrennen heiß. Die Glut, den Durst willst du löschen, das schmerzhafte Licht willst du löschen. Die kleinen Dämonen, die silbernen Schlänglein, die wie knisternde Blitze aus deiner Haut fahren. Geh, dachte ich, lösche dein brennendes Fleisch.

Ich weiß nicht, habe ich nun im Fluß gebadet oder nur gedacht, ich wollte die aufgespeicherte Sonnenglut des Tages hineinschütten. Ob träumend, ob wachend, mich umspülte die Flut, und da war es, wo Mukalinda in Jünglingsgestalt mich bei der Hand faßte. Aber wie stark war diese Hand, obgleich er scheinbar beinahe noch Knabe war. Und wie furchtbar seine Gewalt, als ich, ich weiß nicht, wie dahin gekommen, ohne mich regen, ohne atmen, ohne schreien zu können, wieder im Zelt auf meinem Bette lag. Ich stöhnte: Gnade! Lockre doch deine sieben Ringe, Mukalinda, o Mukalinda, lockre sie doch! Oh, Mutter Präsidentin, wie habe ich da die erstickende, wogende Kraft der sieben göttlichen Ringe um meinen ganzen Leib, um alle meine Glieder gespürt; ich dachte, es sei meine letzte Stunde. Aber da, eia, oh, Mukalinda, oh, Mukalinda! Da brach er mit mir durch sieben Himmel. Und im siebenten war ein purpurnes, blumenbedecktes Pfühl aufgetan, und dort eben hat die mystische Hochzeit stattgefunden.«

 

»Es ist weiter darüber kein Wort zu verlieren«, sagte die Malerin, als Miß Hobbema Babette weggeführt hatte. »Wir haben hier einen Fall von Hysterie, wo sich ein unbefriedigter Organismus das einbildet, an dessen Mangel er gerade krankt.« – »Und so hätten wir gleich den Mangel, Anni, den ich vorhin schon berührte«, gab Rodberte zurück, »zu dem Ihr Werk, unser allzu reiner Amazonenstaat, leider für alle Zeiten verurteilt ist. Wäre es dieser Mangel allein, so möchte die Sache am Ende noch hingehen. Er bildet aber einen dauernden Herd von Krankhaftigkeit. Ein Beispiel haben wir eben erlebt, und geben Sie acht, es werden bald andere folgen. Wer wüßte denn nicht, wie leicht ein solcher Wahnsinn um sich greift, auf andre Subjekte übergreift, in denen dieselbe Disposition vorhanden ist.«

»Da ist es schwer einen Riegel vorstoßen«, sagte die Malerin. »Droht uns von dieser Seite Gefahr, so weiß ich augenblicklich wahrhaftig nicht, wie man ihr mit einiger Aussicht auf Erfolg entgegentritt. Die poetische Geistesrichtung und der Einfluß der guten Laurence gießen da nur höchstens Öl in den gefährlichen Brand hinein, oder auf andre Weise ausgedrückt: ihre mythologische, schönheitstrunkene Schwärmerei ist nicht geeignet, den Locus minoris resistentiae unsrer Kolonistinnen mit größerer Widerstandskraft auszurüsten.

Ich denke, wir lassen die ganze Geschichte einstweilen ruhn und fassen sie nur von der Seite auf, mit der sie unsre Chronik bereichert. Ich hoffe, liebe Kalb, Sie haben gut zugehört.« – Nur Rodberten war nämlich wegen der beschränkten Mengen an Tinte, Federn und Papier das Schreiben mit diesen Materialien erlaubt, aber sie hatte damit die Pflicht übernommen, das Leben auf Île des Dames von Tag zu Tag in einer genauen Chronik festzuhalten.

 

Thorgerd Grimm hatte, wie immer erfinderisch, ein sogenanntes Tamtam verfertigt, und zwar auf dem Wege über ein Durchschlagsieb, das ehemals herzustellen Augusten, dem Mädchen der Präsidentin, gelungen war. Das Küchengerät wurde einfach mit einem Lappen gegerbter Haut eines Zwergkänguruhs überspannt und anfänglich mit einem Quirl, später mit einem sorgfältig ersonnenen Schlegel bearbeitet. Die Pauke wurde eines Tages durch die schöne Mulattin Alma in der Weise gerührt, die für den Fall verabredet war, daß man die Vorsteherinnen der Zehnschaften zusammenrufen wollte. Bald darauf fanden sich denn auch Frau Rosenbaum, Rodberte Kalb, Miß Laurence und Miß Tyson Page auf dem Rathause ein, wo Anni Prächtel, die Präsidentin, umgeben von einigen anderen Damen, sie erwartet hatte. Die forschenden Blicke der Herbeigeeilten, die gern gewußt hätten, welcher Anlaß der ungewöhnlichen Maßregel zugrunde lag, vermochten nicht hinter die gelassene Miene der Präsidentin zu dringen, über die allerdings manchmal ein leises Schmunzeln ging, was zum mindesten nicht auf einen tragischen Vorfall hindeutete.

Die fünf Gewaltigen setzten sich um den ovalen Versammlungstisch, an dem dann auch die übrigen Anwesenden Platz nahmen: nämlich die Ärztin, Thorgerd Grimm und Gerte Bergmann, die Geigerin.

Anni begann:

»Meine Damen, ich habe Sie zu einer außerordentlichen Sitzung zusammenberufen. Da ich, wie Ihnen bekannt sein muß, nur in äußersten Notfällen Ihre Ruhe durch eine solche Maßregel störe, werden Sie sich mit Recht sagen, mein Beweggrund könne kein geringer sein. Nein! Ich habe Ihnen auch in der Tat etwas sehr Ungewöhnliches mitzuteilen, wenigstens wenn man unsre Lage in Rücksicht zieht.

Um Sie nicht auf die Folter zu spannen und Ihnen falsche Vermutungen zu ersparen, bemerke ich gleich: nichts von dem, worauf Ihre Gedanken in diesem Augenblick verfallen könnten, kommt für das, was wirklich geschehen ist, in Betracht. Weder hat man ein Schiff gesichtet, noch hat der Briefträger einen Brief aus Europa gebracht, noch ist jemand erkrankt, verunglückt oder gestorben. Auch ist weder ein Menschenfresser, ein Tiger noch eine Klapperschlange gesichtet worden. Vermuten Sie etwa Rebellion, so mögen Sie wissen, daß niemals ein gut fundierter Staat ruhiger als der unsre gelaufen ist. Auch ein Staatsstreich, eine Revolution von oben, etwa ein monarchischer Putsch, bleibt außer allem Betracht. Ich denke, Sie kennen mich zur Genüge, um zu wissen, daß ich mir eher die Hand abhacken als sie nach der Krone ausstrecken würde. Île des Dames bleibt frei. Das ist so gewiß, als ob ich zehntausend furchtbare Eidschwüre auf unsre republikanische Verfassung feierlichst abgeleistet hätte.«

Die Damen lächelten ein wenig verwirrt. Sie wußten nicht recht, wo Anni hinauswollte.

»Ich möchte ferner noch so viel vorausschicken«, fuhr diese fort, »lassen Sie sich nicht etwa, wenn Sie meine Eröffnung gehört haben werden, zu dem Irrtum verleiten, ich sei blödsinnig. Sie lachen. Die Sache ist gar nicht lächerlich. Ich habe mich selbst mehr als einmal gefragt, ob ich meinen Verstand noch beisammen habe. Es ist nämlich eine sehr, sehr harte Nuß, die er da zu knacken hat. Wäre mein Verstand ein Gebiß, er hätte sich längst alle Zähne dran ausgebissen. Ich wette, Sie geben mir recht, wenn Sie eine Weile selbst Nußknacker gespielt haben werden. Dennoch: ich bin gewiß nicht verrückt. Sie müssen sich von dieser so naheliegenden Meinung, es könnte eine Feder in meinem Gehirnkasten gesprungen sein, unbedingt frei machen.«

Infolge dieser Worte stieg natürlich die Spannung der Zuhörer. Aber es hatte den Anschein noch nicht, als ob die Präsidentin durch den Grad dieser Spannung bereits befriedigt sei. Sie hob wiederum an:

»Halten Sie das also fest, meine Damen, halten Sie das unter allen Umständen eisern fest, meine Freundinnen und Gefährtinnen, daß ich voll bei Verstande, nicht irgendwie aus dem Lot und närrisch bin! Übrigens ist, was ich mitteilen werde, eine Tatsache. Aber gerade der Umstand, daß Sie es mit einem unzweifelhaften Faktum zu tun bekommen, macht meine Lage so lange gefährlich, als ich von ihr nur erzählen kann. Es ist nämlich von solcher Art, daß Sie, bevor Sie der Augenschein überführt, durchaus nur von meiner Tollheit sich überzeugt halten können. Also Achtung, Damen, ich bin nicht toll! Achtung im weiteren, damit nicht etwa die bloße Voraussetzung geistiger Anomalie bei Ihrer Präsidentin auf Sie zurückwirke und Sie selbst anormal mache. Dies geschähe durchaus nicht zum erstenmal. Und der leidige Satan beginnt oft sein nichtswürdiges Spiel mit einer Spiegelfechterei, darin er einen Zustand des Verderbens lügt, damit wir ihn als unentrinnbar vorhanden annehmen und ihn so erst tatsächlich hervorrufen. Nein, beim Himmel, ich bin nicht toll. Aber die Sache ist um so toller.«

»Handelt es sich am Ende wieder um die Fischverteilung, Präsidentin?« fragte Frau Rosenbaum. »Da kann ich nur sagen, ich habe die Sache selbst in die Hand genommen, und keine Seele darf sich beklagen.«

»Wäre es das, meine vorbereitende Rede könnte viel kürzer sein.«

»Ist es vielleicht der Unfug, den eine Anzahl Frauen und Mädchen getrieben haben«, warf Miß Page jetzt ein, »die sich, wie sie behaupten, von einer unwiderstehlichen Raserei befallen, auf den Mont des Dames gezogen haben, wo sie vier oder fünf Tage und Nächte hindurch vor Palmwein, Tanz und Taumel nicht zur Besinnung gekommen sind?«

»Ich habe bereits gesagt, liebe Mitbürgerinnen«, rief die Prächtel aus, »ganz vergeblich ist jeder Versuch, zur Nutzlosigkeit verdammt, der dieses Begebnis irgend erraten, meiner Eröffnung vorgreifen will. Halten Sie immer nur fest: ich bin nicht toll, und wir alle müssen bei klarer Vernunft bleiben!

Es sind Symptome vorhanden, die das letztere zu unsrer vielleicht schwersten und wichtigsten Aufgabe machen.

Wir sind nun im ganzen ein Jahr sechs Monate auf der Insel. Frauen, nur Frauen, bedenken Sie das! Die maniakalischen Anwandlungen, die Sie erwähnten, liebe Page, sind ja nur eins unter vielen Anzeichen dafür, daß eine schleichende Zersetzung oder zum mindesten eine Umlagerung unserer kolonialen Psyche im Gange ist. Die geistige Inzucht bekommt uns nicht. Übrigens kann ja nicht einmal von einer solchen die Rede sein. Gehört doch auch zur geistigen Zeugung wie zur physischen Mann und Weib. Wir kranken an einer geistigen Haltlosigkeit. Und wie wir mehrere ewige Feuer unterhalten mußten, ehe wir unsren Feuerbohrer in Gang brachten, so geht es mit unserer Geistigkeit. Sie brennt und brennt noch von Olims Zeiten. Etwas dem Feuerbohrer Analoges, was uns den heiligen Quell des terrestrischen oder himmlischen Urfeuers wieder erschließen würde, haben wir nicht. Uns fehlt der Bohrer, uns fehlen die Reibungen, der, natürlich geistige, Kampf – bitte, mich nur nicht mißzuverstehen: ich meine den Kampf zwischen Mann und Weib.«

»Ich möchte die Präsidentin ersuchen«, sagte Miß Laurence Hobbema, sich in schöner, edler Größe aufrichtend, »ich möchte Sie bitten, kurz zu sagen, was zur Beratung steht, und zwar, wenn möglich, ganz ohne Umschweife, besonders wenn schnelles Handeln notwendig ist.«

»Schnelles Handeln ist jetzt nicht notwendig. Es wird überdies durch die neue Tatsache keine Klarheit, sondern eher eine allgemeine Verwirrung geschaffen sein. Wer Klarheit erwartet, kann nur enttäuscht werden. Was ich zu eröffnen imstande bin, ist allerdings an sich eine unzweideutige Tatsache, die jedoch als solche ein schier unlösliches Sphinxrätsel ist.«

 

Sie räusperte sich und schien sich an den erwartungsvollen Mienen der Damen zu weiden.

»Zweifellos«, fing sie wieder an, »ist Ihnen die Flucht der armen Babette Lindemann vor ungefähr sieben Monaten noch erinnerlich. Das gutmütige, aber überspannte Geschöpf wurde von einer Idee dazu bewogen, die sie mir damals in einem zurückgelassenen Zettel andeutete. Sie folge einem höheren Rufe, schrieb sie da, der nun einmal an sie ergangen sei, ob auch immer ihre Umgebung daran nicht glauben könne und ihn ihr ausreden wolle. Die Stimme, hieß es, der sie gehorche, habe ihr einen Weg ins Innere der Insel mit klaren Worten bezeichnet sowie einen hoch und einsam gelegenen heiligen Ort, wo sie sicher vor entgegenwirkenden Mächten ihre Aufgabe erfüllen könne. Man solle sich keine Mühe geben, sie aufzufinden, denn alles würde vergeblich sein, da sie sicher mit göttlichem Beistand zu rechnen habe. Die Erdhöhle, die sie bewohnen werde, bis sich die Zeit erfüllet, ihr hohes Geschick vollendet habe, würde unter gewöhnlichen Umständen zwar aufzufinden sein, nicht aber bei diesen außergewöhnlichen, wo ein göttlicher Rauch sie selbst dem verberge, der etwa durch Zufall in ihre nächste Nähe geraten wäre. Ich lasse den göttlichen Rauch«, sagte Anni Prächtel, »dahingestellt. Jedenfalls hat etwas durchaus in seinem Sinn funktioniert, da, wie wir ja wissen, alle Maßnahmen erfolglos geblieben sind, dem Flüchtling auf die Spur zu kommen.

Wir hatten Babette aufgegeben, wie ja nach einer Abwesenheit von mehr als sieben Monaten selbstverständlich ist. Ich persönlich nahm an, sie sei beim Baden zugrunde gegangen, vielleicht einem Haifisch zum Opfer gefallen.

Hier haben Sie also die neue Tatsache:

Babette ist heute nacht zurückgekehrt. Sie ist, einer Isis ähnlich, einer Gottesmutter, inmitten eines mystischen Glanzes, von dem rauchenden Feuerberge herabgestiegen, Osiris, einen höchstens vierzehn Tage alten Gottessohn, an der Brust.«

 

Die erste Wirkung dieser Eröffnung auf die Vorsteherinnen äußerte sich in Sprachlosigkeit. Dann schob Frau Rosenbaum, die neben der Präsidentin saß, unauffällig die Rechte vor und faßte, um ihren Puls zu fühlen, die verehrliche Dame ums Handgelenk. Sie stand sogar auf und legte die Linke auf ihre Stirne. Auf diese Handlung hin brach wie auf Kommando allgemeines Gelächter in der Ratsstube aus. Die nervöse Entladung war unaufhaltsam.

»Aber ich bitte mir aus, meine Damen«, rief Anni in das Gelächter hinein, »ich bin nicht toll, ich bin nicht wahnsinnig, es muß dabei bleiben, daß ich bei klarem Verstande und keineswegs blödsinnig bin.

Ich erteile nun Gerte Bergmann das Wort, weil sie die erste ist, über deren Schwelle dieses Tatsachenwunder heute nacht getreten ist.«

Diese sagte im reinsten Münchnerisch:

»No, i kann a nix weiter sogn, als daß die Babett mit oam veritablen kloanen Kind aufm Arm heut nacht zu mir komm'n is; wo's das oaber her hat, davo woaß i nix.«

Der burschikose Ton dieser Worte erregte aufs neue helles Gelächter.

»Ja, meine Damen«, fuhr Gerte fort, »da kann i beim besten Willen koan andern Bescheid geben, denn meines Wissens hat's doch iberhaupt koa Mann net in der Kolonie, wann sich net oaner als Weib verkleidet etwa eingeschlichen hat.«

Frau Rosenbaum rief: »Unsinn, das wäre doch hundertmal beim Baden herausgekommen!«

Die Prächtel drückte sich derber aus. »Ich möchte den Mann sehen«, sagte sie, »der unter einer solchen Menge von Weibern wie wir bei dieser Tropenglut sein Inkognito auch nur vierzehn Tage bewahren könnte. Ein toter Ochse würde unter einer solchen Kuhherde lebendig werden.« – Sie fügte an: »Dagegen sind große, menschenähnliche Affen im Innern des Eilands gesichtet worden. Kann uns Gerte oder Fräulein Doktor Egli oder Thorgerd Grimm, die das Kind gesehen haben, etwas darüber sagen, ob es zum Beispiel behaart, ob diese Behaarung lang oder kurz, ob sie sich über den ganzen Körper, das Gesicht inbegriffen, erstreckt und von welcher Farbe sie ist?«

»Pfui Kuckuck!« klang es von allen Seiten.

»Ihr ›Pfui Kuckuck‹ würde an dieser Sache nichts ändern, wenn sie sich als richtig herausstellte. Die Kinder Gottes, die Engel also, haben, wie Sie wissen, mit den Töchtern der Menschen gebuhlt, warum sollte nicht ein auf der Entwicklungsleiter eine Sprosse niedriger stehendes Tier, etwa ein genialer Schimpanse, sich und seine Gattung mit Hilfe einer Überäffin zum Überüberaffen hinaufzuzeugen den Einfall haben? Und was die dabei beteiligte Dame betrifft: welche Verirrung wäre auf diesem weiten Gebiet nicht schon vorgekommen. Und nun gar der Verschmachtende stürzt sich auf jede Pfütze.

Also nochmals: Wie steht es damit? Kann uns Fräulein Doktor Egli über die Schädelform des Neugeborenen Auskunft geben? In der Bibliothek ist ein kleines gerettetes Bölsche-Büchelchen, worin der Schädel des aus dem Diluvium auf Java ausgegrabenen Pithecanthropus erectus abgebildet ist. Das von mir ins Auge gefaßte Produkt möchte diesem Dreiviertelmenschen am ehesten ähnlich sein. Es käme darauf an, einmal zu vergleichen. Ich denke natürlich an keinen Mandrill, eher an einen Orang-Utan oder einen Schimpansen oder vielleicht gar noch etwas Höheres. Haben Sie sich die Füße des Kindes betrachtet? Es ist ja ohne weiteres festzustellen, inwieweit sie die für den Affen so charakteristischen Hände sind.«

Hier brach die Kunstgewerblerin Thorgerd Grimm, ein feines, empfindsames Wesen, in lautes Schluchzen aus. Deshalb befragt, erklärte sie immer noch unter heftigem Weinen, sie könne es, bei allem Respekt vor der Präsidentin, nicht ertragen, daß eine heilige Sache auf so frivole Weise behandelt und eine Kolonistin, die ihre Freundin sei, mit einem solchen Verdacht beschmutzt würde. Babette neige vielleicht zu romantischem Überschwang, aber sie, Thorgerd Grimm, habe auch wieder Beweise, daß ihr gewisse übernatürliche Kräfte eigen seien. Sie wolle sich jetzt darüber nicht weiter auslassen. Wie Babette zu ihrem Kinde gekommen sei, darüber könne man freilich nichts wissen. Aber es gäbe eben mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als irgendeine Weltweisheit sich träumen ließe. Und für eines jedenfalls könne Thorgerd, und sei es mit dem Einsatz des Lebens, sich verbürgen, daß nämlich Babette das reinste, makelloseste, keuscheste und jungfräulichste Geschöpf der Erde sei, über jeden Verdacht einer platten oder auch nur bewußten Buhlschaft hoch erhaben.

Man hatte sich während des ersten Teils dieser etwas hysterischen Apostrophe im Geiste ziemlich allgemein gegen die Präsidentin gekehrt. Der Schluß verscherzte dagegen der armen Thorgerd wieder die Teilnahme. Der Gedanke einer unbefleckten Empfängnis konnte in diesem Kreise durchaus nur als barer Unsinn bewertet werden. Als daher Thorgerd geendet hatte, war um sie her nur das Schweigen der Betretenheit.

Plötzlich hatte dann Fräulein Egli das Wort ergriffen. Aller Vermutungen, sagte sie, über den Ursprung des kleinen Knaben enthalte sie sich. Sie sei durch Gerte Bergmann von der Ankunft Babettens verständigt worden, habe die Mutter schlafend gefunden und die Existenz des Kindes einwandfrei festgestellt. Sie habe den Knaben genau untersucht und könne sich nicht nur dafür verbürgen, daß er gesunde Organe habe und ein völlig ausgetragener, lebensfähiger Bursche sei, sondern auch dafür, daß er nirgend als auf dem Kopfe einige seidige Härchen habe. Von einem Vierhänder könnte auch leider nicht die Rede sein, fügte sie leise ironisch an, und der Knabe werde sich wie die übrigen Kolonisten mit zwei Händen behelfen müssen, obgleich ja vier immerhin doppelt soviel als zwei wären. »Kurz«, so schloß sie, »der Junge ist ein bildschönes, wohlgebildetes Menschenkind, und woher er immer auch stammen mag, wir haben alle Ursache, zu wünschen, daß uns von dorther noch recht viele solcher Früchte in den Schoß fallen.«

Der Schlußsatz in Fräulein Doktor Eglis Rede wurde unter Beifall als zu Recht bestehend anerkannt, und die nun folgenden Sprecherinnen betonten alle, daß, wie auch immer die Entstehung des Neubürgers vor sich gegangen sein möge, die Kolonie Babetten aufs allerhöchste zu Dank verbunden sei. Denn allein durch diesen ersten Autochthonen von Île des Dames habe die Kolonie etwas wie eine wahre Gegenwart und noch mehr eine wahre Zukunft erhalten. Ob nun ein Wunder oder ein ganz gewöhnlicher Vorgang seine Entstehung bewirkt habe, Babette sei durchaus nicht im Irrtum, wenn sie behaupte, eine Art Messias geboren zu haben. Das Kind sei wirklich, wie sich mehr und mehr erweisen werde, ein Heiland und Erlöser der Kolonie. Man werde den siebenten August, an dem er erschien, noch nach tausend Jahren als größtes Nationalfest feiern. Man werde sagen, und mit dem allergrößten Recht, an diesem Tage sei der Grund- und Eckstein für ein neues, zukunftreiches Staatswesen gesetzt worden. Und hoffentlich für ein neues, mächtiges Volkstum, das aus der Blüte und Elite der Hauptweltvölker die Essenz bilde. – In der Tat, es zeigte sich schon jetzt, daß die neue Tatsache einen unerhört belebenden Einfluß auf die Stimmung der Kolonistinnen und einen unerhört befruchtenden auf ihre Gedanken- und Phantasiewelt ausübte. Was man sich nicht zu erklären vermochte, sah man jedenfalls als eine Gnade des Himmels an, die bewies, man war dort weder vergessen noch zum Untergang bestimmt worden.

 


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