Gerhart Hauptmann
Die Insel der großen Mutter
Gerhart Hauptmann

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Die wundervolle Laurence hatte dem Kultus von Notre-Dame des Dames, weil sie mit Max Müller die Idee einer Universalreligion gefaßt hatte, nach und nach griechisch-indische Elemente beigemischt. Diese Neigung trat immer stärker bei ihr hervor, nachdem die Hoffnung oder Befürchtung, ein Schiff werde landen, vereitelt worden war . . . Wenige Monate nach dem Ereignis, welches zugleich das Auftauchen dieser Hoffnung und ihren Untergang umschloß, wurde von Laurence ein Heiligtum auf dem nach Norden gerichteten Ausläufer des Mont des Dames, hoch über einem gewaltigen Küstenabsturz, begründet. Die Landschaft bot die köstlichste Mannigfaltigkeit eines natürlichen Parkes dar. Es lag darin auch der Fundort des zerschlagenen, einer kindlichen Kunstübung entstammenden Götterbildes, jene Höhle, die bewies, daß auch diese Insel im Laufe der Jahrtausende schon einmal besiedelt gewesen war.

Die edle Laurence erschien nun nicht mehr so oft wie bisher in der Maison de la Bonne Espérance, hatte sich auch seltsamerweise vom Tage der erhofften und vereitelten Hoffnung einer Schiffslandung an nicht mehr am Unterricht Phaons beteiligt. Es sei gut für diesen, sagte sie, wenn er bei seiner Jugend nicht zu tief in eine bestimmte Geistesverfassung hineingezogen werde, der sie selber gerade besonders stark unterliege.

Miß War schien durch diese Erklärungen kaum recht befriedigt und bedauerte, daß nun Rodberte Kalb, dieser allerdings überaus kenntnisreiche weibliche Voltaire, für den Unterricht stärker herangezogen werden mußte. Rodberte, meinte die brave Erzieherin, baue das Wesen Phaons in einer Richtung aus, in der es sich so schon zu stark entwickle. Vergeblich grübelte die Erzieherin über die wahren Gründe nach, welche die edle Laurence veranlassen konnten, den Unterricht Phaons zu unterbrechen. Laurence schien aber zu keiner Auskunft bereit als zu jener, die sie bereits erteilt hatte, und zog sich sogar mehr und mehr von Miß War zurück.

Übrigens lag dies in den Umständen. Während und nach Errichtung des neuen Heiligtums hielt sich Laurence hauptsächlich in seiner Nähe auf. Sie zeigte sich anfänglich ein- bis zweimal die Woche in Ville des Dames, später kaum einmal alle zwei Wochen, ehe sie, vier Wochen nach Weihe der Kultstätten, zum letztenmal auf lange hinaus die Siedlung betrat.

Dieser Besuch war in vieler Beziehung denkwürdig.

Die schöne Laurence nämlich kam, um sich in aller Form für eine Zeitspanne von rund sechs Monaten zu beurlauben und in Notre-Dame des Dames für so lange eine Vertreterin, eine Vikarin, eine Verweserin einzusetzen, die sie in der Person Juliane Renés gefunden hatte.

So aber lautete eine Ansprache, von Rodberte stenographiert, die von der britisch-holländischen Priesterin bei der Abschieds- und Einführungsfeier in der Bambuskirche Notre-Dame des Dames gehalten wurde:

»Töchter der Erde und des Himmels!

Aber mehr Töchter der Erde als des Himmels! Es ist ein Ruf an mich ergangen. Nachdem ich, gestützt durch euren einmütigen Beschluß und mit Hilfe unserer Bauleute, zwei neue Kultstätten errichten konnte, ergeht an mich der Ruf, mich in die obere für eine Weile zurückzuziehen, um in der Stille unsere Lage, unseren Beruf noch tiefer als bisher zu erfühlen. Allein, ich verstehe mehr unter unserer Lage als unsere insulare Abgeschiedenheit, mehr unter Beruf als selbst den Ausbau unserer sozialen Neuordnung, darin der Frau die ihr zukommende eingebüßte Stellung wiedergegeben ist, obgleich ich auch in dieser Beziehung Aufschlüsse erwarte. Das Mehr bezieht sich auf den Beruf des Menschen überhaupt, und zwar in Zeit und Ewigkeit.

Unsere Siedlung hat aus höchst bescheidenen Anfängen schon jetzt einen blühenden Zustand gezeitigt. Werden wir oder unsere Kinder und Kindeskinder einmal aufgefunden, wie sicher zu erwarten steht, so werden unsere Bemühungen der ganzen großen Menschenwelt nutzbringend sein. Ohne den göttlichen Kindersegen hätten wir weder auf den Tag der Entdeckung sicher rechnen können, noch hätten wir wahrhaft etwas für die Menschheit in ihrer Gesamtheit zu leisten vermocht.

Daß wir es können, hebt unser Tun. Daß wir in jeder Beziehung nicht nur für unsere eigene Glückseligkeit, sondern für die der Menschheit arbeiten, gibt unserm Handeln die freudige Idealität. Ohne sie würden wir vielleicht unmerklich, aber unaufhaltsam zur Tierheit herabsinken. Der höhere Mensch glaubt nur dann wahrhaft zu handeln, wenn am Vollbringen irgendwie das Wohl und Wehe der ganzen Menschheit beteiligt ist und wenn also dem unmittelbaren Vorteil, den das Tätersein dem Täter bringt, ein höherer Vorteil für andere und für die Zukunft übergeordnet ist.

Ich erkläre euch ganz offen, daß der Zustand meines Wesens ein außergewöhnlicher ist. Mein Gefühlsleben ist, gelinde gesagt, vertieft worden. Ja, ich bin versucht, zu meinen, daß ich früher gemütstot gewesen bin. Was ich fühlend in mir erlebe, was an seligen Ahnungen, Hoffnungen, Bildern und Gedanken in mir wogt, das ist mir selbst mitunter so erschütternd neu und fremdartig, daß ich manchmal glaube, ich trüge einen neuen Menschen in mir oder mindestens eine neue, weit bessere Seele. Und ich würde es geradezu als ein Vergehen gegen mich, gegen euch, gegen die Menschheit und gegen die Gottheit betrachten müssen, wenn ich diesen Zustand unbeachtet lassen, wenn ich mich dieser Begnadung nicht innig und ganz hingeben wollte.

Um dies zu können, um jeder Störung dieses heimlich-heiligen, inneren Wirkens und Werdens aus dem Wege zu gehen, ganz allein deshalb suche ich nun die Einsamkeit.

Ich verhehle euch nicht, daß ich meinem Hesychastendasein mit seliger Freude entgegenzittere. Ich bin nicht sicher, ob nicht vielleicht meiner Zurückgezogenheit Offenbarungen höchster Art vorbehalten sind. Jedenfalls bin ich bereit, zu lauschen, zu schauen. Und nicht nur zu lauschen und zu schauen, sondern auch das Geschaute und Erlauschte schriftlich niederzulegen bin ich bereit, wenn es der erneuernden Macht in mir gefallen will, meine Hand zu führen.

Es war in der großen Kulturwelt viel von geistlichen Vätern die Rede: wir wollen geistliche Mütter sein. Um für uns alle dies Ziel zu erreichen, auch darum ziehe ich mich zurück. Mütter wollen wir sein, und dennoch geistliche, anders als jene sogenannten Väter, die ihre Vaterschaft nur als Lüge mit sich herumtragen. Ich habe den ungeheuren Gedanken gefaßt, meine Begnadung dahin zu nutzen, um einen neuen Menschen zu schaffen: jenen weiblichen Vollmenschen, der statt des von Grund aus schiefen und verpfuschten Typs, sozusagen jenes göttlichen Baumaterials, gleichsam der wahrhaft reale und zugleich wahrhaft ideale Ziegel des neuen und vollkommenen Kulturbaues werden soll.

Die Kultur, aus der wir stammen, ist trotz allem eine Versteinerung. Ich meine damit, so beweglich sie ist, ist sie dennoch nur oberflächlich lebendig. Sie zeitigt nur wenige Menschen unter Hunderten von Millionen, deren Leben in die Tiefe dringt. Europa hatte einmal eine große Zeit. Ich meine die, wo unter der heiligen Herrschaft der Kirche die romanischen und gotischen Dome entstanden sind. Sie war groß, denn der höchste Anspruch, der geltend gemacht wurde, war der Anspruch der Religion. Aber sie war insofern auch nicht groß und mußte notwendig in Trümmer zerfallen, weil sie den menschlichen Grund, auf dem sie stand, zerstampft, entwürdigt und durch und durch verächtlich gemacht hatte. Man kann nicht das Leben auf Verachtung des Lebens gründen wollen, nicht die menschliche Seligkeit auf Verachtung des Menschlichen, nicht die Menschengesellschaft auf Verachtung des Weibes, der Menschheitsgebärerin. Mulier taceat in ecclesia: nein, sie rede, sie fülle das Schiff der künftigen Kirche mit des Lebens Triumphgesang! Denn eines bleibt doch wohl ewig wahr: in welche Paradiese wir immer auch künftig einzugehen hoffen, immer wird es durch das Tor des Lebens gewesen sein.

Die Kultur, von der wir geschieden sind, zeichnet sich immer noch dadurch aus, daß sich der Mensch und vor allem das Weib noch nicht aus dem Stande der Entwürdigung erhoben hat. Inwieweit dies schon bei uns geschehen ist, konnten wir an der Verlegenheit, ja an dem Schrecken erkennen, die oder der, eingestandenermaßen oder nicht, bei Annäherung des Schiffes uns in die Glieder fuhr. Aber es muß noch weit mehr geschehen. Ich sage und fordere in Berufung auf das Bibelwort ›Ihr seid Götter‹: Eine jede von uns sei die Kirche, und es steigere sich jede von uns zur Göttin hinauf!

Nochmals: die Kultur, von der wir geschieden sind! Sie hat unter anderem die Eigenschaft, ihre Fehlerquellen zu hätscheln, ihre Gebrechen heiligzusprechen und zu verewigen. Sie ist eben eine Männerkultur, und es fehlt dem Manne die naturverbundene und fruchtbare mütterliche Denkungsart. Das Weib denkt weniger, aber wesentlich. Natürlich nicht das kulturell verdorbene, sondern das naturhaft unverdorbene, mütterliche Weib. Nie kann in einer durch die Mutter getragenen Zivilisation der Lärm der Dreschflegel, die leeres Stroh dreschen, und das betäubende Geklapper der Redemühlen, die Spreu mahlen, so überhandnehmen wie in einer Männerzivilisation.

Selbst Christus ist vom Weibe geboren. Seine Lehre der Nächstenliebe würde in einem Weltreich der Mütter längst restlos verwirklicht sein. Auch die Liebe ist ja vom Weibe geboren. Nicht nur, weil es alles gebiert und so auch im Knaben die Liebe eingebiert, sondern weil es den werdenden Menschen während neun Monaten in sich trägt und hegt und weil erst während dieser Zeit und in diesem Verhältnis die wahre Menschenliebe wirksam ist. Nur ganz ausschließlich aus diesem Mysterium ist zum erstenmal im Grunde der Zeiten die hohe und reine Caritas hervorgetreten.

Erst viel später wurde, scheint mir, der Mann damit infiziert. Mutter und Kinder pflegten die Urgeselligkeit. In der Beziehung der säugenden, leitenden und schützenden Mutter liegt der erste soziale Zug. Man vergleiche in dieser Hinsicht das Verhältnis einer Katze zu ihren Jungen. Von dem des Katers zu seinen Jungen kann überhaupt nicht die Rede sein, und man wird auch sein Verhältnis zur Kätzin mit Caritas nicht verwechseln wollen: hier wird eher mit einer Feindschaft zu rechnen sein.

Ich lasse dahingestellt, wie es im Reiche der Männerkultur zwischen Mann und Weib beschaffen ist. Ihr wißt, daß auch da von bedeutenden Männern und Seelenkennern eine Feindschaft beider Parteien, und zwar eine Urfeindschaft behauptet wird.

Die aus unseren Seelen hervorgegangene Caritas ist also allein das soziale Bindungsmoment der Menschheit geworden. Oder meint ihr, um nur etwas zu erwähnen, daß der Mann, wenn es uns nicht gelungen wäre, unsere Caritas auf ihn zu übertragen, wenn wir ihn nicht mit allen erdenklichen Mitteln auch sonst noch bearbeitet hätten, sich auch nur im geringsten um seine Kinder kümmern würde? Was aber ist denn der, der sich um seine Kinder nicht kümmert? Er ist im Kerne unsozial. Die Belege dafür sind zu Abermillionen allein schon in Europa zu finden.

Wir leben hier in vieler Beziehung im Stande des Wunders und der Glückseligkeit. Wir werden auf diesem Inseljuwel in der Saphirfassung des Meeres in das unendliche Mysterium hinausgehalten. Wir unterliegen der tiefsten Veränderung, der je Menschenwesen unterlegen ist. Kein Pfaffe ist unter uns. Ist doch das Pfaffentum aller Arten und Grade ein geisttötendes Wucherprodukt der männlichen Drohne. Nichts hindert also auf dieser Pflanzstätte einer neuen Seele deren Entwicklung. Bleibt einig während meiner Abwesenheit, erhöhe jede das Vertrauen in sich selbst mittlerweile, und erhaltet euch eure Gläubigkeit, ja Leichtgläubigkeit zum künftigen, unermeßlichen Vorteil der ganzen Welt!«

Hiernach hatte Laurence Juliane René in das Amt der Priesterin eingeführt und war sogleich aus der Siedelung verschwunden.

 

Unter den vielen überaus lieblichen Punkten des Eilands war jener einer der lieblichsten, den Laurence für das obere Götterbild gewählt hatte. Es hieß »die Bona Dea zum Stein«. Es war mit dem Stein nicht der von immerblühenden Schlinggewächsen umgebene Eingang der Basalthöhle, in der es stand, oder diese selbst gemeint, sondern das zerbrochene, aus Meteor- oder Mondstein bestehende alte Bild, das man darin entdeckt hatte.

Die Felsmauer, in der sich die Höhle öffnete, hatte vor sich ein flaches Gelände, das wie ein weiter, köstlicher Garten anmutete. Seine Grenze nach Westen war der Rand, von dem aus man in schwindelerregender Tiefe das Meer Klippen und Klüfte des Inselmassivs brandend benagen sah.

Zu diesem Rande mit seinen natürlichen Kanzeln und Söllern senkte sich der neue Tempelbezirk zuletzt mit einigen flachen Terrassen, die von einzelnen Steineichen tausendjährigen Alters bestanden waren. Nicht weit vom Eingang der Höhle stürzte ein Bach seine Fluten herab, ewig rauschend, tropfend und triefend, der seinen Lauf über den Höhlenfelsen selbst genommen hatte, nachdem er durch eine spaltenartige Mauerkluft stufenweise bis dahin herabgekommen war. Er gab dem Bezirk nicht nur eine paradiesische Vegetation, sondern am glühenden Mittag selbst paradiesische Kühle. Bereits über Jahr und Tag war dieser Naturpark ein Lieblingsaufenthalt der göttlichen Laurence Hobbema. Sie liebte die Großartigkeit seiner begrünten Felskulissen, seiner Baumriesen und seines unendlichen Blicks. Wie herrlich ragte der Gipfel des Mont des Dames herein und grüßte überall zwischen den Laub- und Felsmassen. Sie liebte die tiefen, feuchten Schatten der Haine und Büsche und den köstlichen Flor von gleichsam außerweltlichen Blumen und Gräsern, der die Ränder der Wasseradern begleitete. Bald nach seiner Entdeckung hatte die Schöne dieses Gebiet besonders ins Auge gefaßt und nicht nur manches damit geplant, sondern auch seine Kultivierung sehr bald in Angriff genommen.

Man hatte zuerst, und zwar bereits vor Jahr und Tag, das schöne Bereich mit Wegen durchzogen, bei denen man statt des Kieses vulkanische Asche verwandt hatte. Nach einem übersichtlichen Plan waren in dies Wegesystem Treppen und Plätze eingeflochten. Es käme darauf an, hatte Laurence unter endlicher Beistimmung aller gesagt, einen Ort zu gestalten, wo nicht das Nützliche, sondern nur das Schöne und Sakrale maßgebend sei. Um sich beheimatet zu fühlen in der Natur, brauche man nicht nur das Haus, sondern auch den Garten: er sei es, der uns die fremde, ferne Natur erst mit Hilfe der Kunst nahebringe und vertraut mache. »Aber«, sagte sie weiter, »wir brauchen nicht nur einen Lustgarten irdischen und himmlischen Vergnügens, sondern sein Genuß muß mit einem Ortswechsel verbunden sein; so gestalten wir denn diesen Höhlen- und Höhengarten zu einem Wallfahrtsort!«

Nicht sehr weit vom Wassersturz – so indessen, daß man durch sein Rauschen nicht mehr betäubt wurde – hatte man in einem an die Bauweise japanischer Tempelchen erinnernden freundlichen Stil eine harzduftige kleine Holzbehausung errichtet. Es war der Ort, in dem Laurence nach ihrem Scheiden aus Ville des Dames Wohnung nahm.

 

Sie war dort nicht ganz allein. Auch nicht einmal dann, wenn niemand in ihrer Nähe weilte. Aber sie hatte ja auch ihr Pflegekind, die kleine Diodata, mitgebracht, die sie fortan mit einer leisen Wehmut betrachtete. Der Adel ihrer Seele bürgte zwar ihr selbst gegenüber dafür, daß sie dem Pflegling nichts von ihrer Liebe entziehen werde. Aber gerade ihr tiefes Muttergefühl, durch das, was sie unterm Herzen trug, auf ungeahnte Weise gesteigert, führte ihr zu Gemüt, daß Diodata denn doch eine Waise war. Es war Lolo Smith, die das Kind betreute und sich auch der wundervollen Laurence Tag und Nacht zur Verfügung hielt. Der große Wald- und Berggarten wurde zudem, außer daß Mucci Smith mit einer Anzahl ihrer jugendlichen Gärtnerinnen vieles darin zu schaffen fand, täglich von einigen Himmelstöchtern besucht, sei es, daß sie in der Höhle der Bona Dea ihre Andacht verrichten oder nur auf der vulkanischen Asche der Parkwege lustwandeln wollten.

Auch Phaons Besuche unterbrachen Laurencens Einsamkeit. Der knabenhafte Jüngling, dessen Schritt Laurence schon aus weiter Ferne erkannte, schien aber nicht um ihretwillen so oft bei ihr anzupochen. Er bewahrte noch immer der kleinen Dagmar-Diodata eine geradezu rührende Anhänglichkeit. Hätte jemand genau beobachtet, er würde nicht selten im Antlitz der schönen Laurence, besonders bei Ankunft Phaons, wenn er sich nicht ihr, sondern zunächst dem Kinde zuwandte, eine tiefe, wenn auch flüchtige Röte bemerkt haben.

Die Beziehungen von Laurence zu Phaon schienen, seit sie unter der göttlichen Begnadung stand und ihre heiligen Aufgaben fühlte, nicht mehr die der Erwachsenen zu einem Kinde, geschweige die einer Lehrerin. Man hätte bei ihr eine unendlich zarte, fast scheue Rücksichtnahme feststellen können, ein Verhalten, welches den Wissenden, der diese stolze und edle Frau diesem kindhaften Jüngling gegenüber sah, tief ergreifen konnte. Freilich gab es hier keinen Wissenden, wenn es nicht Phaon war.

 

Es war gesagt worden, die edle Laurence habe sich auch als Dichterin versucht. Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach den augenblicklichen Vorgängen sind eine Anzahl Gedichte von ihr in Phaons Hand gelangt, von denen das eine also lautete:

Leise Göttertritte hallen
durch der heil'gen Haine Rauschen.
Oh, mit keiner wollt' ich tauschen,
die Glückseligste von allen.
Wie des Glutbergs hoher Gipfel
da und dort mit Mächten drohet,
in erhabnen Nächten lohet
durch der schwülen Bäume Wipfel,
also tut mein Herz und zehret,
in sich selbst gewalt'gen Brandes,
von den Nächten dieses Landes,
seinen Tagen, glanzverkläret.
Und der Genius durchschreitet
nächtlich bebendes Gelände,
unterm Tritte meine Hände,
wohlbeschirmt und wohlgeleitet.
Trinkt die Glut aus allen Träumen,
welche mir vom Herzen zittern.
Kühl vom Weltmeer steigt ein Flittern
und der Brandung tiefes Schäumen.

Die flüchtige Röte in Laurencens Gesicht, wenn Phaon mehr für die kleine Dagmar-Diodata als für sie Augen zu haben schien, konnte, ob sie gleich Ausdruck einer leisen Enttäuschung war, an ihrer guten und reinen Gesinnung gegen das Kind nichts ändern. Hatte doch Phaon schon eine Neigung zu der Kleinen gefaßt, als er sie bei der kranken Mutter im Zwischendeck des »Kormoran« entdeckte. Selbstverständlich stieg er damals mit dem oder jenem Schiffsoffizier oder einem Matrosen in allen Winkeln des schönen Schiffes herum. Seine oft lustig zutage tretende Neigung zu Dagmar blieb, auch als diese in Laurencens Obhut kam, und zwar zu deren stiller Freude. Laurencens Artung jedoch war nicht so, daß sie sich eine solche Freude an dem gütigen Herzen eines Knaben hätte können verstören lassen.

Freilich hatte die Anhänglichkeit eines so freien und wilden Jungen zu der damals kaum Zweijährigen in ihrer Bestimmtheit und Dauer und in gewissen ihrer Äußerungen mitunter etwas Seltsames. Ein besonders treuer und zärtlicher Bruder hätte nicht können besorgter um sie sein. Er hatte ein Netz über ihrem Bettchen angebracht, damit sie nicht von Insekten behelligt würde. Und er warf sein Wort in die Waagschale, wenn es sich darum handelte, zu beraten, was für ihr Gedeihen von Vorteil sei. Von seinen Streifereien brachte er ihr köstliche Muscheln, schöne Korallen, farbige Steine und Kristalle mit, eines Tages sogar einen Paradiesvogel, den man auch Göttervogel nennt, auf lateinisch Paradisea apoda, was soviel heißen will als der paradiesische Fußlose.

Warum legst du Diamanten,
Liebling, in den Schoß der Blinden?
Nichts als Steine wird sie finden
und sich ritzen an den Kanten.
Schenke sie doch meinen Augen,
die nach ihren Blitzen dürsten,
die dich grüßen, ihren Fürsten,
und, an dir erprobet, taugen,
einer Sonne zu begegnen:
und bereit, dich so zu nennen!
laß mich blicken und verbrennen,
und ich will dich, Liebster, segnen.

Auch dies ist eine von Laurencens kleinen poetischen Schöpfungen.

Auch sonst wurde Laurencens Einsamkeit hie und da unterbrochen. Die Ärztin Egli suchte sie manchmal auf. Miß Page erschien, Rodberte erschien, und einmal wurde sogar die Präsidentin selbst, den größten Teil des Weges auf einem Tragegeflecht von jungen Müttern getragen, herauf bugsiert.

Wie nun die Präsidentin einmal war, hatte sie auch bei dieser Gelegenheit ihren Sarkasmus nicht zu Hause gelassen und ihren Vorrat daran, obwohl sie ihn von ihrem Tragstuhl bereits verschwenderisch ausgestreut hatte, unvermindert mit heraufgebracht. »Nun, liebe Laurence«, so lautete ihre Begrüßung, als sie durch den schlanken Genius Phaon aus dem Stuhl gehoben und auf die Erde gestellt worden war, »nun, liebe Laurence, wie weit sind wir mit unsern Gesetzestafeln? Jedenfalls gefällt mir Ihre heilige Wildnis viel besser als der Berg Sinai, wo sich dereinst Moses, der männliche Gottgesandte, mit Jehova unterhielt.«

Ohne sich etwas zu vergeben, wußte Laurence auf jeden heitren Ton einzugehen. Alles an ihr war Natürlichkeit, auch das Hochgestimmte. Und also hatte sie niemals nötig, von einem Kothurn herabzusteigen. Sie sagte also: »Einer Frau von Ihrer Art und Bedeutung, liebste Präsidentin, widerspreche ich nicht. Es würde mir aber lieb sein, wenn Sie von einem kleinen Bekenntnis Notiz nehmen wollten: den Ehrgeiz, mit Jehova um die Wette vom Sinai herunterzudonnern, habe ich nicht. Nicht etwa, weil die große Machtentfaltung – erinnern Sie sich an das Goldene Kalb – die der erwarteten ganz entgegengesetzte Wirkung hatte, sondern weil ich gegen alle Gewaltpolitik und gegen jede Machtentfaltung bin. Ich denke, wir werden bei uns ohne Gesetzestafeln, ohne Richter und ohne Schergen auskommen.« – »Ja, ja, ich bin ein Scherge gewesen, bin ein Scherge gewesen, gute Laurence«, seufzte die Malerin, »und sie werden mich deshalb absetzen. Sie setzen mich ab, bei Gott, meine Liebe, zweifeln Sie nicht daran«, rief sie aus, als die schöne Laurence mit Kopfschütteln eine das Gegenteil beteuernde Bewegung machte, »sie setzen mich ab und tun recht daran. Wie sollte denn eine alte, gerupfte Saatkrähe einem Schwane Konkurrenz machen!

Scherz beiseite«, sagte sie dann. »Ich stehe vor Ihnen wahrhaftig leicht verwirrt, wie vor einer Königin. Sie waren ja immer schön, aber welche seltsame, welche sonderbare, wie soll ich gleich sagen, welche eigentümlich wundervolle Veränderung ist mit Ihnen vorgegangen? Ich dachte es mir ja immer, die Götterluft hier oben müsse ungeheuer bekömmlich sein, aber ich wußte nicht, daß man zur Göttin Isis werden kann, wenn man diese Luft atmet. Ob ich es auch noch mal probiere?«

Alle stimmten in dasselbe frohe Gelächter ein.

Die Prächtel fuhr fort: »Im Ernst, Sie sind so überirdisch schön, meine liebe Laurence, daß ich die Thusnelda von Piloty auf dem Triumphzug des Germanicus – das Bild hängt in München – mit Ihnen verglichen für nichts halte. Herrschen Sie, herrschen Sie über uns, und lassen Sie Ihre äußere Schönheit, die Schönheit Ihrer schönen Seele auf unsre Pflanzstätte überfließen! Zaubern Sie das zweite Wunder von Île des Dames, einen Wundergarten der Schönheit hervor, der selbst einen Seelöwen zwingen würde, ganz und gar zum Landtier zu werden!«

 

Der Schlangensee, den Phaon entdeckt hatte, so genannt wegen der Schlange, die er an seinem Ufer fand, wurde von der Höhle der Bona Dea aus in einer Stunde mäßigen Steigens erreicht. Dort brachte Mutter Babette mit ihrem Sohne Bihari Lâl in einem winzigen Holzhäuschen ihre Tage zu. Auch sie war oft Gast bei der schönen Laurence. Die zerfließenden Schwärmereien Babettens waren nun freilich nicht nach dem Sinne der herberen Anglo-Holländerin, ebensowenig das Weltabgewandte ihrer religiösen Natur. Aber das liebe und gute Herz Babettens, ihre sonderbare innere Sicherheit überwanden in ihr das Widerstrebende. Babette pflegte, wenn auch mit Bihari Lâl, von den Müttern abgesondert, das Einsiedlertum. Sie gab sich buddhistischen Meditationen und Versenkungen hin, und wenn sie sprach und sich andern mitteilte, so erging sie sich in dem Legendenwald, der sich um den Buddhismus gebildet hat. Für etwas anderes war sie nicht zu gebrauchen. Die Gründe der priesterlichen Miß für den gesteigerten Eifer zum Übersinnlichen waren dunkel wie aller Ursprung des Lebens und der Religion.

Sehr bald wurde Laurence von den meisten der Frauen als ein Wesen noch höherer Art angesehen als das, wofür man sich selbst zu halten durch das Wunder von Île des Dames und seine Folgen gewöhnt worden war. Schon nach Verlauf von zwei Einsiedlermonaten nahm sie die Stellung einer Heiligen, aber noch mehr die einer jener weisen, zauberrunenkundigen Frauen ein, die bei den nordischen Völkern so hohe Bedeutung erlangt hatten. Babette, allerdings immer ein wenig überspannt, hatte bereits die schöne Anglo-Holländerin, frei von Erdenschwere und gleichsam entmaterialisiert, in Höhe der Wipfel oder auch tiefer durch die Haine und über die Wiesen schweben sehen. Aber auch andre Besucher behaupteten, sie schreite, ohne die Asche zu berühren, über die Gartenwege und, ähnlich den Botticelligestalten, über die Spitzen der Wiesengräser fort.

Laurencens Tag in dem köstlichen Wald- und Bergparadies hatte wirklich den Charakter ungetrübter Reinheit und Heiligkeit, beider freilich in einem Sinn, der durch das Wesen Laurencens selbst bestimmt wurde. Dieses Wesen war in der Hauptsache nicht anders zusammengesetzt, als es bei einem gebildeten Europäer gewöhnlich ist. Antike und christliche Elemente, wozu nicht nur die indischen, sondern auch andre kamen, sakrale und profane, verbanden sich mit dem spezifisch Weiblichen und allgemein Menschlichen in ihr. Allein, die große, zusammenfassende Art ihrer Einmaligkeit brachte eine besondre und köstliche Verschmelzung hervor.

Die Einsiedlerin, die man alles andre eher nennen konnte als eine Büßerin, führte ein Leben, das wohl den meisten, die sie nicht kannten, als das einer solchen erschienen sein würde. Vor Tagesanbruch erhob sie sich. Ihrer Freundin Lolo war nicht erlaubt, sie dabei irgendwie zu stören oder gar anzureden. Sie begab sich dann ins Freie hinaus, wo sie bis etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang verblieb. Was sie in diesen einsamen Stunden tat, war Lolo nicht verborgen geblieben, da Laurence kein Geheimnis daraus machte: aber sie hatte bald heraus, daß man sie während dieser Morgenzeit durchaus sich selbst überlassen mußte.

Ihr erster Gang galt dem Wasserfall. Eine seiner Adern war gerade breit und wasserhaltig genug, um sie mit einem milden und köstlichen Sturzbade zu erfrischen: mit einem solchen begann ihr Tag. Ehe sie wieder ins Trockene trat, pflegte sie ihre Arme der Flut entgegen nach oben zu breiten. Die Stunde bis Sonnenaufgang verharrte sie dann in tiefer Meditation und im engsten Gefühle der Einheit mit der Natur, in deren mannigfaltiger und heiliger Nähe sie aber nur Symbole eines über alle Begriffe erhabenen Weltschicksals sah. »In dieser Stunde vor Tag«, sagte sie oft, »bin ich gleichsam, schon erwacht, noch im Schoße der Allmutter Nacht und genieße mit allen Sinnen Ahnungen ihrer tiefsten Geheimnisse, empfinde auch noch die kindliche Wonne mütterlicher Geborgenheit.« In diesem Zwischenzustand harrte Laurence dem Erwachen der allgemeinen Sonnenwelt entgegen. Dabei entrangen sich flüsternde Worte ihrem Munde, wie etwa: »Wir erwarten dich, du lautes und mächtiges Licht!« oder: »Nach dem Wasserbad harre ich dir zitternd entgegen, heiliges Feuerbad!« Sie hatte auch in dem Zwischenzustand der Sonnenerwartung, in den der Traum noch hineinragte, täglich neue und doch verwandte Gedanken darüber, und mehr noch über den Schlaf und sein Verhältnis zu dem, was die Sonne, die sie das allerseligste Gestirn nannte, nun bald emporführen mußte. So meinte sie, daß auch im Zustand vollkommenen Wachens der Schlaf nur partiell gewichen sei. Er, der Schlaf, sei immer das hauptsächlich Gegenwärtige. Wenn man ein Bild als Erklärung gelten lassen wolle, sagte sie Lolo, so sei der Schlaf ein Wachsblock von gewaltigsten Dimensionen und der Wachzustand ein winzig brennender Docht. Der Sprachgebrauch spreche von mehr oder weniger geweckten Menschen. Schlaf sei nur ein und derselbe, aber es gäbe unzählige Grade des Wachseins. Diese einmal zu erforschen würde von ungeheurer Bedeutung für die Menschheit sein. Zum Empfang der farbig aufblühenden Gottheit stieg Laurence immer rechtzeitig die Gartenterrasse niederwärts und trat auf eine bestimmte Felskanzel. Hier weitete sich ihr Herz immer in die gleiche Erhabenheit. Und mit Bezug auf die Weite fühlte sie jedesmal: Wahrlich, die Weite, das ist die Freude, und die Freude, das ist die Weite. Laurence sagte von sich, sie glaube nicht, daß irgendein Priester des Bel zu Babel den Aufgang des Tagesgestirns, den Aufgang des Sonnengottes seltener versäumt habe als sie.

Kam dann die Sonne, bald einer umgestülpten Seerose, bald einer purpurnen Qualle, einem rosenfarbenen Pilz, einer Tulpe aus Feuerluft oder einer Rubinschale ähnlich, die sich rätselmächtig ergoß, am Wasserhorizont herauf, so fiel es wie ein stählernes Band von Laurences Brust. Ihr war, als müßten sich ihre Grenzen, müßten sich die Grenzen der Menschheit auflösen. Die Feuerschale steigt aus Wassertiefen, das zweite Meer ausströmend, in die Welt. Diese Sonnengeburt war die tägliche menschliche Neugeburt. Verglichen mit diesem beginnenden Wachtraum, denkt sie, hatte jeder, auch der süßeste Wachtraum etwas Quälendes. Wie wäre es aber, wenn erst einmal über diesem Erwachen und dieser Sonne die Sonne eines noch höheren Erwachens aufginge? Aber sie wies diesen wiederkehrenden Gedanken als krankhaft ab. Es sei verlorene Unschuld, wenn jemand nicht ganz an dem Orte sei, wo er wirklich stehe, das beweise nur eine zerspaltene Seele. – Deshalb pflegte sie auch in sich das Ausschließende, um ihrer gesunden Einheitsform zunächst doch gewiß zu sein.

Sie sah im Sonnenaufgang die große Erweckung. Zwischen Sonne und Bewußtsein erkannte sie einen geheimen Zusammenhang. Die Erweckertat der Sonne ist ja in vielen Fällen eine wirkliche Kreation. War die Sonne heraufgeschwebt, von der gefiederten Welt unfehlbar begrüßt, so verfolgte Laurence mit heiliger Freude die Entfesselung aller Geschöpfe und Seelen, das Ausströmen aller erdenklichen Größe und morgendlichen Schöpfungsmacht. Eben noch sah vielleicht Laurence den stillen, schweigsamen Mond, und nun war die gewaltige Lichtmacht der Sonne sieghaft hereingebrochen, durch und durch kämpfend, fassend, erobernd, freilich vor allem schenkend und jedenfalls triumphierend und laut. – »Wir leben ebensosehr und mehr auf der Sonne als auf der Erde«, meinte Laurence, »mehr in der Sonne als in der Erde.«

Die Felskanzel, auf der Laurence die Sonne zu erwarten pflegte, war mit ihrer Umgebung nach und nach zu einem ihrer Lieblingsplätze geworden. In seiner Nähe öffnete sich eine in das unzugängliche Steilufer eindringende höhlenreiche Schlucht, in deren Tiefe die Brandung auf eine besondere Weise sich versackte und auf eigentümliche Art in regelmäßigen Abständen hallend aufkochte. Es war, als würde dort unten irgend etwas für irgendwen in gewaltiger Felsküche gekocht und gesiedet. Im Anblick der Schlucht war Laurencen die Stelle aus Goethes »Faust« in den Sinn gekommen, wo von heiligen Anachoreten, gebirgauf verteilt, gelagert zwischen Klüften, gestaltend gehandelt ist. Und sie nannte mit dem ihr eigenen Humor die regelmäßig aufbrodelnde Tiefe den Kochtopf der Anachoreten.

Aber noch mehr: das gesamte seraphische Finale des Weltgedichts blieb ihr an diesem Geklüft lebendig:

      Chor und Echo

Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an,
Stamm dicht an Stamm hinan.
Woge nach Woge spritzt.
Höhle, die tiefste, schützt.
Löwen, sie schleichen stumm-
freundlich um uns herum,
ehren geweihten Ort,
heiligen Liebeshort.

Und sie sah den Pater ecstaticus auf und ab schweben, hörte ihn psalmodieren vom ewigen Wonnebrand . . .

Siedender Schmerz der Brust,
schäumende Gotteslust.

Ebenso den Pater profundus aus der Tiefe des Felsenabgrundes, den Pater Seraphicus aus der mittleren Region. Dann wieder den Chor seliger Knaben:

Hände verschlinget
freudig zum Ringverein . . .

Es klang die Mahnung:

Steigt hinan zu höherm Kreise,
wachset immer unvermerkt . . .

Es musizierten die jüngeren Engel, die vollendeteren Engel. Und endlich sang vor der höchsten, reinlichsten Höhle der Doktor Marianus:

Dort ziehen Fraun vorbei,
schwebend nach oben.
Die Herrliche mitteninn
im Sternenkranze . . .

Und sie hörte sein entzücktes Jauchzen:

Höchste Herrscherin der Welt!

Es war eine fast halluzinatorische Verwirklichung des Gedichtes, mitunter bis nahe an seine höchste Realität. Das war bei Laurence nicht verwunderlich, die den Kultus der Bona Dea gegründet hatte, die den Muttergedanken in seiner Reinheit und überdies den Gedanken der geistlichen Mutter in sich verwirklichen wollte. Sang sie doch an der Spitze der Frauen in der Höhle der Bona Dea mit ihnen den Chor der Büßerinnen:

Du schwebst zu Höhen
der ewigen Reiche,
vernimm das Flehen,
du Ohnegleiche,
du Gnadenreiche!

Und wie sollte ihr nicht der Schluß des gesamten Chorus mysticus aus der Seele gesungen sein, mit der heilig-abschließenden Wahrheit:

Das Ewig-Weibliche
zieht uns hinan.

»Um den Tag zu heiligen«, so lautete die stehende Formel, unter der Laurence gewisse ihrer inneren Morgenerlebnisse nach dem Frühstück in ihr sogenanntes Waldbuch einzeichnete.

Wenn sie mit den Einzeichnungen in ihr Waldbuch fertig war, gehörte sie einige Stunden ausschließlich ihren Tieren und Pflanzen. In ihrer Sorge für deren Wohlbefinden und richtige Pflege sowie überhaupt für die Gestaltung der einem Büßerhain angeähnelten, weitverbreiteten Anlage war sie vollkommen sachlich und unsentimental. Auch dann, wenn sie, wie unermüdlich geschah, ihre weitere Ausgestaltung erörterte und allerlei plante, was dieses natürliche und mannigfaltige Eden in einen durch Kunst veredelten Tempelbezirk, eine Art Tempelstadt, verwandeln sollte.

Damit waren aber die seltsamen Gepflogenheiten der edlen Laurence noch nicht erschöpft. Sie erhob sich nachts jeden dritten, vierten Tag, um den gestirnten Himmel zu beobachten. Es war ein okkultes Wesen in ihr. Anders als bei Mutter Babetten, aber doch so, daß ihr, wenn sie über astrologische, magische und hermetische Dinge sprach, keine der Inselmütter folgen konnte. Zuzeiten unterlag sie einer grübelnden Verdüsterung, die ihr von ihren nächtlichen Betrachtungen in den Tag folgte. Sie war dann im Ausdruck ihres Antlitzes jener großen, schweren, versonnenen Frau ähnlich, die Dürer mit symbolischen Flügeln versehen hat. Wie diese saß sie auch wohl den ganzen Tag, das offene Auge nach innen gerichtet, in einem Zustand müder Schwermut, die, fast hoffnungslos, doch wiederum nur eine große Frage war und eine Ruhe vor der Tat. Die Frage galt dem allumfassenden, alldurchdringenden Mysterium.

Wenn sie dann endlich von Lolo Smith mit sanftester Güte aus dem Zustand der Starrheit geweckt wurde, pflegte sie wohl zu sagen: »Du hast dich erschreckt, liebste Lolo? Saturn hat mir nur wieder einmal aus den Augen geschaut.«

Bei alledem ward allmählich klar, warum Laurence in ihrer Abschiedsrede neuerdings mit so viel tieferer Bewegung als früher das Ideal der geistlichen Mutter gepredigt und den Kultus der Bona Dea an zwei verschiedenen Punkten neu begründet hatte. Sie selber nämlich hatte der Genius loci von Île des Dames berührt und ihr das schaffende Wunder zu vollbringen auferlegt. Von dem Augenblick an, da sie dessen inneward, fühlte sie in einem mindestens ebenso hohen Grade die Gnade der göttlichen Beschattung, als es bei Babetten der Fall gewesen war, nur daß sie über die Art und Weise des mystischen Vorgangs keinerlei Angaben machte. Nicht im Reden, wohl aber im Denken setzte sie von da an anstelle des Wörtchens Ich das Wörtchen Wir, und alles, was sie dachte, sprach und tat, hatte vor allem den Zweck, diesem Wir und in ihm hauptsächlich dem zweiten Ich zu dienen. Das neue Leben, das sie körperlich und geistig trug, mußte nicht nur vor jeder Störung bewahrt, sondern es durfte ihm auch nur ausgewählte und reine Nahrung zugeführt werden. So ward der Begriff des Geweihten und des Unreinen aus diesem Bedürfnis neu gebildet. Sie trug eine geizige Innerlichkeit. Was ihre unendlich verfeinerten Sinne aufnahmen, schenkte sie alles mit zärtlicher Selbstliebe, die eigentlich doch nicht Selbstliebe war, fast restlos in sich hinein. »Wir wissen wohl«, sagte sie oft zu sich, »wessen Wir gewürdigt und was Wir einander schuldig sind.«

Oft wiederholte sie laut gegen Lolo den Satz: »Wir sind eine einzige Hoffnung geworden.« Trotzdem war es gerade Lolo bekannt, daß der schöne weibliche Eremit Stunden tränenreicher Schwermut zu überstehen hatte. »Jesus weinte über Jerusalem«, sagte sie dann zuweilen am Schluß. »Warum soll eine Mutter nicht weinen, die ein Leben gebären muß, das vom ersten Augenblick an Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr der Tod auf tausendfältige Weise bedroht, bis es ihm endlich unfehlbar zum Opfer fällt. Aber lasset uns lieben, hoffen und glauben. Vor allem lieben und wieder lieben!

Das bittere Wissen«, sagte sie, »fördert nicht. Das tut nur die Schönheit und der Glaube.«

 

Wie bald nach der Landung Anni Prächtel und Rodberte Kalb ohne weitere Zeugen ihren ersten Tee auf Île des Dames eingenommen hatten, so geschah es auch später oft.

Dabei ging es nicht immer friedlich her, da jede der Damen der andern an Sarkasmus und, wenn es drauf ankam, an Bosheit gewachsen war. Meist aber richteten sich diese Eigenschaften ihrer Naturen einträchtig gegen das Leben und Treiben auf Île des Dames.

»Was wäre die Welt«, sagte Anni bei einer solchen Gelegenheit, »ohne das Tabu! Man hat ja hier Zeit genug, die Wichtigkeit des Tabu und die Bedeutung des Tabu in der verdammten dereinstigen Männerzivilisation, Gott hab' sie selig, sich klarzumachen. Was würden dort ohne das Tabu wohl für Greuel an der Tagesordnung sein: nicht nur würden Söhne ihre Mütter und Väter ihre Töchter mißbrauchen, nicht nur würde man jeden Strohschober anzünden, unbedenklich in jedem Mahagonisalon, jeder Ballgesellschaft seine natürlichen Bedürfnisse verrichten, sondern man würde auch Glasscherben und Kohle in den Mund stecken, wie Kinder tun. Wäre man dazu aufgelegt, so würde man sogar Menschen schlachten, braten und aufessen, ja, man würde womöglich, ohne etwas dabei zu finden, auf einer trächtigen Sau zur Schnitzeljagd reiten. Es wäre denkbar, daß man ohne Tabu den Kaiser von einem Manne mit zwei Beinen nicht unterschiede und seine Minister nicht von Heupferden.«

Nach dieser Probe des an ihr nicht neuen derben Stils schwieg die Präsidentin und hüllte sich in gewaltige Rauchwolken. Rodberte lachte in sich hinein.

»Das Tabu«, begann sie nach einer Weile, »ja, ja, das Tabu. Ich meine damit jetzt nicht die Heiligsprechung, sondern nur die Unantastbarkeit. Was habe ich infolge dieses Tabus nicht alles seinerzeit für Entsagungen auf mich nehmen müssen. Jeder Schritt, den ich tat, schon riefen die Mutter, die Gouvernante, die Tanten: Tabu, tabu! Nannte ich meine häßliche Großmutter häßlich, meine böse Großmutter böse, einen riechenden Kalbsbraten stinkig, einen schwachsinnigen Diplomaten schwachsinnig, eine unanständige Bibelstelle unanständig oder sprach einer dicken, fetten Lüge, die eine allgemein anerkannte Wahrheit vorstellen wollte, den Charakter der Wahrheit ab und nannte sie das, was sie wirklich war – gleich schrien alle: Tabu, tabu!«

»Und doch«, sagte Anni, »ist unser Insel-Tabu, wie Sie zugeben müssen, Rodberte, für die reinliche Entwicklung unsrer Zustände, wie für unser Gedeihen überhaupt, von der höchsten Wichtigkeit.«

»Sie meinen das ›La recherche de la paternité est interdite‹.«

Anni gab zurück: »Ich meine das ganze verzweigte Tabu-System, das sich um unsern Erzeuger gebildet hat.«

»Liebe Anni«, sagte Rodberte, »seien wir vorsichtig. Sie wissen, das Ding, das Objekt, der Urheber, wollen wir sagen, dessen Vorhandensein Sie gestreift haben, steht so völlig außerhalb aller Diskussion, daß es schon jetzt verhängnisvoll für uns werden könnte, wenn wir belauscht würden.«

»Was macht übrigens Phaon? Sie unterrichten ihn doch noch immer, Rodberte? Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen, seit wir vor etwa acht Tagen unsre neugebackene Mutter Gottes besucht haben.«

»Was bringt Sie denn plötzlich auf Phaon, Beste?« fragte scheinbar befremdet die Kalb.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich nach dem Jungen erkundige?« sagte lachend die Malerin. Und sie setzte hinzu: »Sie müssen es mir zugute halten, wenn ich inoffiziell gleichsam noch Eierschalen der Männerzivilisation mit mir herumschleppe und mir das Wohlergehn eines Jungen am Herzen liegt. Es ist ja auch trotz des Tabus nicht ganz unwichtig.«

Darauf sagte die Kalb:

»Meines Wissens gerät Phaon mehr und mehr in einen Zustand göttlicher Verwilderung. Die gute Miß War will das natürlich nicht Wort haben. Sie merkt nicht, daß der schöne Schlingel ganz und gar ihrem Einfluß entglitten ist. Er besitzt eine geradezu unwiderstehliche Art und Weise, jemand, und besonders der braven Miß, ein X für ein U vorzumachen. Beide gehen zwar manchmal ganz gehörig gegeneinander los, aber schließlich ist immer Phaon der Sieger, wenn er die Waffen seiner kindlichen Zärtlichkeit gegen sie anwendet.

Nach jedem solchen Auftritt läßt er sich meistens eine halbe Woche und länger nicht blicken in der Akademie, und die gute War hat das Nachsehn.«

Lachend sagte die Präsidentin dagegen: »Ich darf wohl sagen, Gott ist mein Zeuge, wenn ich nicht Anni Prächtel wäre, so möchte ich nichts lieber als Phaon sein.«

»Das könnte Ihnen wohl mancher und manche nachfühlen«, sagte die Kalb. »Der Malefizlümmel ist vielleicht in der allerglücklichsten Lage, die je einem jungen Menschen seit Erschaffung der Welt beschert worden ist. Es ist über alle Begriffe merkwürdig.«

Anni wollte wissen, was über alle Begriffe merkwürdig sei.

Die Kalb gab zurück:

»Alles ist über alle Begriffe merkwürdig. Ich werde mich hüten, Ihnen eine Erklärung darüber zu geben, was im besondren besonders merkwürdig ist. Sie werden mich nicht dazu verleiten, eine andre Auffassung von den Geschehnissen auf unsrer molligen Gewürzinsel zu haben oder merken zu lassen als die offiziell aufgestellte und gebilligte.« – »Auch ich«, rief die Prächtel eifrig, »bin weit entfernt davon. Wenn die Trüffeln ihren Ursprung vom Donner haben, die Löwin vom Gebrüll eines Löwen empfängt, weshalb sollen wir dann auch nur noch jenen törichten Rest von Zweifel an der übernatürlichen Entstehung unsrer fröhlichen Nachkommen hegen, der sich jezuweilen noch meldet?«

»Als ich neulich Laurence besuchte, entwickelte sie mir als bisher letztes Produkt ihrer mystischen Forschungen – wie sag' ich gleich? – eine Eiertheorie. Sie sprach vieles von Leda-Latona, der Eimutter. Danach ist es das Ei, aus dem alles, aber auch alles hervorgegangen ist.«

»Wenn unsre Päpstin das behauptet, so unterschreibe ich es ohne alle Umstände«, sagte die Malerin. »In diesem Falle verkneife ich mir sogar das Aufwerfen der alten Streitfrage, ob das Ei früher als die Henne oder die Henne früher als das Ei dagewesen ist. Wir sind ja auf Île des Dames so himmlisch leichtgläubig. Und warum sollten wir denn nicht leichtgläubig sein? Es fällt mir in diesem paradiesischen Flußtal nicht schwer, es dabei zu lassen, wenn jemand behauptet, meine Mutter habe jedes Jahr mindestens zehn Mandeln Eier gelegt und mich speziell von einer Krickente ausbrüten lassen. Richten wir uns doch das alles ganz nach Belieben ein, denn das Belieben bleibt ja die Hauptsache. Und übrigens steckt ein nicht geringer Reiz in solchen Kapriolen der Einbildungskraft. Sie zerstören zum mindesten das gewohnte Triviale. Und irgendwie hängt solchen gemeinhin widernatürlichen Vorstellungen etwas Verlockendes an, und sie scheinen irgend etwas tief Verborgenes, eine auf andre Weise unfaßliche Wahrheit symbolisch auszudrücken. Solche symbolischen Eier zum Beispiel sind an sich meistens Luft- oder Windeier. Jedem Versuch, sie zu berühren, sie mit den Händen zu ergreifen und zu untersuchen, entziehen sie sich durch Körperlosigkeit. Trotzdem behalten sie Realität. Und so überraschend es klingt, das Geschick der Menschheit ist zumeist und überwiegend durch solcherlei Realitäten bestimmt worden. Das Schwelgen in ihnen entspringt einem triebhaften mystischen Durst der menschlichen Seele: seine Befriedigung schließt jede mögliche, auch die höchste menschliche Wollust in sich ein – und: der Glaube macht selig, wie der abgenutzte Ausdruck lautet, der, wenn irgendein Satz in der Welt, eine Wahrheit zum Ausdruck bringt. Aber die Glaubenskraft zur Seligkeit muß eben, so wie jedes andre Sinnesorgan, reichlich Übung und Nahrung haben, wenn sie nicht verkümmern soll.«

»Nun«, sagte plötzlich trocken die Kalb, nachdem sie die Teetasse von ihren schmalen Lippen genommen hatte, »nun, so wollen wir also nicht bezweifeln, daß unsre gute Laurence in spätestens vier Monaten das entsprechende Wind- oder Luftei gelegt haben wird.«

Nach dieser Bemerkung blieb den Damen nichts andres übrig, als sich einer unwiderstehlichen Lachlust hinzugeben.

Zur Ruhe gekommen, sagte die Kalb: »Trotzdem! ich lache! aber trotzdem: nur befriedigter Glaube, poetischer Sinnentrug, geheiligtes Nichtwissen ist Poesie; und seltsam, gerade die Poesie lebt von reinster Wahrhaftigkeit.«

Die Prächtel sann nach und konnte das zugeben.

»Und überhaupt«, fuhr Rodberte fort, »so gegensätzlich wir sind, und wenn ich auch nicht selten gezwungen bin, durch Laurencens poetischen Inselzwang mir mit einem entschlossenen Schnitt Luft zu schaffen, so erkenne ich doch den Wert der seltsamen Kraft ihres Wirkens an.

Gestehen wir uns«, fuhr sie fort, »daß das Glaubensproblem bei uns in einer Beziehung wirklich schwierig wird, dort nämlich, wo der Glaube dem unvermeidlichen Augenschein der Wirklichkeit, der augenfälligen Wahrheit geradezu widerspricht.«

»Wozu wäre denn sonst unser Insel-Tabu unter Aufwand vieler orphisch dunkler Beratungen festgesetzt oder in stillschweigender Übereinkunft geschaffen worden«, sagte die Malerin. »Und nicht nur die Götter lieben das Geheimnisvolle, sondern gerade immer, wo der gefährlichste Riß durch eine Religionslehre geht, wird durch die Liebe zum Geheimnisvollen, die ebenso in den Menschen wohnt, der stärkste Glaube hervorgerufen, so daß Geheimnis und Glaube den Hiatus noch undurchdringlicher macht als die übrigen Stoffteile. Und überdies, die famose Mormonenbrille Urim und Thummim, die ja keine irgendwie geartete Offenbarungslehre ganz entbehren kann, ist auf irgendwelchem Wege auch zu uns gelangt. Sehen wir richtig hindurch, so erblicken wir, was dem Profanen nicht sichtbar ist, blicken wir aber verkehrt durch die Gläser, so sehen wir verwerfliche Dinge, die heilige Wahrheit aber nicht.«

»Ich gestehe, daß ich mich vielfach recht gut damit unterhalte, verkehrt durch Urim und Thummim zu sehen«, sagte die Kalb. »Zum Beispiel: ich fischte einmal an der Bucht der verzauberten Fische. – Da erschien . . . Aber lassen wir lieber die Sache auf sich beruhn.«

»Warum denn?« sagte die Malerin. »Es ist ja kein Mensch in der Nähe, Rodberte.«

»Nun also«, begann Rodberte, »Sie kennen die Bucht der verzauberten Fische. Lassen Sie mich Ihnen meinethalben ein kleines romantisches Märchen auftischen, das hoffentlich der Wahrheit einigermaßen nahekommt: also, es war in der Bucht der verzauberten Fische, wo ich an jenem Tage hingeraten war, als wir den Dampfer sichteten, der dann Gott sei Dank oder leider nicht landete. Ich war also dorthin geraten, und wie ich schon sagte, da erschien . . . Nein, so geht es nicht. Auf diese Weise kann ich nicht anfangen.«

»Na, wer erschien denn um Gottes und Christi willen?« rief lachend die Malerin. »Machen Sie doch mir gegenüber nicht so viel Umstände.«

»Sie müssen Geduld haben, Präsidentin. Wenn Sie mich aus dem Konzept bringen, so mache ich mich womöglich ganz wider meinen Willen eines Vergehens oder Verbrechens gegen die Unantastbarkeit unserer höchsten Mysterien schuldig. Die Sache ist ganz und gar eine reine Vision, obgleich ziemlich viel dazu gehört, selbst in einer bloßen Erfindung, das Wunder der Bucht der verzauberten Fische zu überbieten.

Ich steige nämlich immer zur Bucht der verzauberten Fische hinunter, wenn ich von einem bestimmten, nicht ganz ungefährlichen Zuge ergriffen werde. Obgleich man das Wesen des Nirwana nicht eigentlich feststellen kann, möchte ich ihn doch als ein unwiderstehliches Locken ins Nirwana bezeichnen. Glauben Sie mir, Präsidentin, ohne irgendwie verzweifelt zu sein, hat manchmal nur sehr wenig gefehlt, mich zu einem endgültigen Bade im Nirwana der verzauberten Bucht zu veranlassen.«

Die Prächtel erklärte: dergleichen ginge durchaus gegen ihre Grundsätze, und beharrte darauf, zu erfahren, wer denn nun außer Rodberte noch am Ufer der Bucht erschienen sei.

Rodberte ließ sich das aber nicht anfechten.

»Hören Sie also«, fuhr sie fort. »Ich lag auf einer heißen Basaltzunge und ermaß von dort aus die köstlich klare, köstlich farbige Tiefe der Bucht. Man wird an Sindbad den Seefahrer und an wer weiß wie viele Märchen der Tausendundeinen Nacht erinnert, wenn man in diesen grünlich kristallenen Abgrund hinuntersieht, in dem und über dem schuppige Fische in allen bekannten Farben und andere, die durchaus einem anderen Planeten anzugehören scheinen, herumschweben. Und ich sah natürlich auch über mich, wo der Himmel über den mächtig einschließenden Felswänden und begrünten Zacken und Klippen, selbst am hellen Mittag, dunkel ist. Präsidentin, ich bitte Sie, scheuen Sie nicht die kleine Beschwerlichkeit, und besuchen Sie endlich einmal dieses irdisch-überirdische Versteck. Wahrhaftig, ich versichre Sie, Sie werden Ihre bisherigen Eindrücke vergleichsweise für schal halten und werden in dem Gedanken schaudern, daß Ihnen hätte das Unglück begegnen können, zu sterben, ohne diese höchste Stufe der Erdenschönheit, die zugleich die erste Stufe einer überterrestrischen scheint, gekannt zu haben.

In die Bucht, wie Sie wissen, ergießt sich aus immenser Höhe ein Wasserfall, der von Phaon mit dem nicht wieder auszutilgenden Namen ›Pisse-Vache du Ciel‹ belegt worden ist.« – Die Prächtel warf ehrlich begeistert ein: »Der Junge hat wundervolle Einfälle.« – »Diese Himmelskuh sendet also unaufhörliche schäumende Massen überirdischen Wassers herab. Man schaudert und gruselt, wenn man die Stelle betrachtet, wo sie es aus ihrem Felsinnern in wuchtigem Bogen in die Abgrundleere hinausschleudert. Wasserwolke auf Wasserwolke schießt in sie und zerstäubt fächerförmig in sie, besonders dort, wo der majestätisch schwebende Fall den Charakter geschlossenen Strömens im Widerstand des allseitig freien, uferlosen Luftraums verliert und seine Teile sich schleierhaft auflösen. Aber mit welchen erquickenden Duftgewölken paradiesisch erhabener Perlenschauer schwebt und weht und flattert das Himmelswasser den langen Weg herab, bis sein glückseliges Diamantgestäube den Spiegel der Bucht, wo es auf ihn trifft, bald golden, bald silbern erblinden macht.

Ach, Präsidentin, ich kann nicht aufhören. Es ist bei Gott kein Wunder, wenn man bei der Rückerinnerung an eine so wie damals durchgenossene Stunde und Natureindrücke dieser Art vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Denken Sie sich einen immerwährenden dreifachen Regenbogen, dessen allfarbiger Glanz die vielfach herrlich begrünten Klüfte erleuchtet. Ich würde es für bestimmt annehmen, selbst Sie, Anni, würden in dieser Bucht und inmitten schwelgerisch prunkender Naturspiele zur Dichterin. Stellen Sie sich zum Beispiel einen Schwarm von drei- bis viertausend milchweißen, großen Schopfpapageien vor mit flamingofarbenen Brüsten, die durch die funkelnde Wasser- und Lichtschlacht flatternd hindurchstoßen. Denken Sie sich einen gewaltigen pfauenhaften Vogel, ebenfalls weiß und mit der gewaltigen Schweifschleppe in einen ständig von farbigen Schauern benetzten grünen Wipfel einfallend. Vor ihm glitzert ein Dunst von Juwelen. Es ist, als säte er aus den schlagenden Flügeln Diamanten, Rubinen, Saphire und was noch sonst für Edelsteine, einen doppelten Regen im Regen herab. Und denken Sie sich, er schlägt sein Rad und weist seinen Halbkreis von Pfauenaugen metallisch-blau, hinter fließenden funkelnden Glassträhnen. Solche Vögel und viele andere gefiederte Wunder wechseln die Plätze an den Felswänden und genießen des belebenden, entzückenden und berauschenden Liebeskampfes des Lichts, der Nacht und der Flut, des Gesteins und der Lebewelt, als dessen Kinder die Farben in unerschöpflicher Vielheit hervortreten.

Und stellen Sie sich dann vor, Sie zögen den Blick wieder von der Majestät dieses sowohl erhabenen als im Glanz jedweder Anmut strahlenden Schauspiels ab, das vom Hall und Widerhall eines weichen gedämpften Rauschens, bald nahen, bald fernen Flüsterns, Fächelns und Sausens begleitet ist. Sie zögen Auge und Ohr also ab und richteten beides gegen die Tiefe des eingeschlossenen Meeresarms, wo immer noch in unzähligen Farben, dunkler als weiß und heller als schwarz, jene rätselhaften stummen Fische wie im Rhythmus ruhevollen Tanzes umherschweifen, jene verzauberten Wesen, die, eine uns ewig ferne und fremde Form des Urlebendigen darstellend, in den farbenfunkelnden Bogen über den sausenden Himmelswassern gefärbt zu sein scheinen. – Und, Präsidentin, Sie haben mehr als einen Blick in das unergründliche Machtbereich der Schönheit getan.

Sieht man dies, empfindet man dies, so, wie gesagt, ist man leicht geneigt, den Sinn eines diesseitigen Daseins für erfüllt zu halten.«

»Man sieht, Sie unterliegen, wie wir alle, allmählich dem hiesigen Klima, beste Kalb. Sie sind bei weitem nicht mehr das sarkastisch-diabolisch orientierte verwegene Überweib, als das ich Sie in Europa gekannt habe. Sie lenken merklich in die auf Île des Dames nun einmal herrschende außer- und überweltliche Grundgesinnung ein, die beinahe das Leben selbst nur noch als Mythos betrachtet. Ich schlage Ihnen vor, einmal an Stelle der schönen René nächsten Sonntag eine Predigt zu halten. Nun aber sagen Sie endlich, wer in dieser gebenedeiten Kluft der Bucht der verzauberten Fische erschien! Denn ich bin bis zum Bersten ungeduldig und neugierig.«

Dies hatte die Malerin gesprochen. Rodberte gab dagegen zurück:

»Glauben Sie nicht, ich hätte mich ohne Grund so lange bei der Beschreibung meines Schauplatzes aufgehalten, die übrigens, es tut mir leid, noch nicht einmal beendet ist. Sie müssen durchaus den Eindruck gewinnen, daß wir es hier mit einer außer- und überweltlichen Stätte zu tun haben, um über das Erscheinen eines wirklichen Gottes und einer wirklichen Göttin auf der Szene nicht erstaunt zu sein.«

Die Malerin sagte: »Ich rate auf Eros, beste Rodberte.«

»Wer auf Eros rät«, sagte diese, »hat meistens recht, weil er in jeder Beziehung das Leben selber ist. Allein Eros ist überall. Er braucht die Szene nicht erst zu betreten.« – Mit diesen Worten schickte Rodberte sich an, ihre Eröffnungen fortzusetzen.

»Der Gott, der zuerst aus dem südlichen Schaft des farbigsten der drei Bögen auf eine der smaragdenen, funkelnden Felsterrassen trat, konnte am ehesten mit einer der zwanzig Verkörperungen des Wischnu, des Allerhalters, verglichen werden, wo er als schöner Jüngling, Bogen und Pfeile tragend, erscheint und, gefragt, selbst nicht weiß, daß er Wischnu ist. Jedenfalls trat ein Götterjüngling aus dem immerwährenden Regenbogen, übermenschlich von Schönheit strahlend, hervor, den, ich bin überzeugt, die Götter auf ihren Sitzen anbeteten und der gekommen schien, die Throne der irdischen Könige umzustoßen. Und ob Sie es glauben oder nicht, es klangen, sangen und rauschten himmlische Begrüßungschöre plötzlich aus allen Felswänden, ja, Hunderte von verzauberten Fischen schnellten vor Freude über das Wasser heraus.«

»Hatte dieser Jüngling«, fragte die Malerin, »nicht etwa mit Phaon eine gewisse Ähnlichkeit?«

»Es gibt einen Phaon, der durch die Dichterin Sappho berühmt wurde. Er lebte auf Lesbos und lenkte als der schönste Fährmann sein Schiff zwischen diesem Eiland und der Insel Chios hin und her. Aphrodite in eigener Person hatte sich ihm gezeigt und entschleiert und ihn zu ihrem Liebling erklärt. Deshalb blieb er kalt, als nicht nur die göttliche Sappho, sondern überhaupt alle und alle Frauen auf Lesbos in verzweifelter Liebe zu ihm entbrannten. – Wenn Sie diesen Phaon meinen, Präsidentin, so hatte wirklich, wie Sie gleich sehen werden, die Lichterscheinung mit Phaon Ähnlichkeit. Ich sah nämlich, von ihm selbst unbemerkt, da und dort glühend auf ihn gerichtete Augen, sagen wir Lesbischer Nymphen, auftauchen.«

»Und die Dichterin Sappho? Wo blieb sie denn?« fragte die Prächtel, gleichsam mit grimmig-schalkhafter Miene aufblickend.

»Lassen wir Phaon, Sappho und die Insel Lesbos auf sich beruhen. Es war ein Vergleich und weiter nichts. Wer mehr darin sieht«, so sagte Rodberte, »der tut es auf eigene Verantwortung. Viel eher konnte es bei den Hyperboreern sein und jener Jüngling ein Sohn Apolls, direkt aus dem feurigen Wagen herabgestiegen.«

»Man könnte das, wenn man sich die Anschauungsweise unserer edlen Laurence, der Sappho von Île des Dames, zu eigen machen wollte, ebenso wieder auf Phaon deuten«, warf nochmals die Präsidentin ein.

»Nun so oder so«, rief Rodberte dagegen, »Sie mögen es sich nach Belieben zurechtlegen. Ich will Ihnen jetzt ganz trocken erzählen, was mir, sei es im Traum oder im Wachen, mit diesem Götterknaben, ohne Zweifel dem Genius unserer Insel, begegnet ist.

Mit Sprüngen – natürlich mit göttlichen Sprüngen – kam dieser selige Knabe einen ihm ohne Zweifel bekannten Weg gegen die blaue Fischbucht herunter. Ich dachte bei mir: Du bist das schönste Wild, das je durch den farbig klingenden Wassersturm der Pisse-Vache du Ciel verfolgt worden ist. Es war tatsächlich, als ob er verfolgt würde. Kaum aber war mir das klargeworden, als auch schon diese herrliche Epiphanie wie eine trügerische Luftspiegelung verschwand.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte trocken die Malerin, »weil ich mich wirklich auf etwas ganz anderes gespitzt hatte.«

»Was ist da zu machen?« fragte die Kalb. »Ich habe mitunter Visionen.

Zum Beispiel werde ich immer von ein und derselben bei Tage wie bei Nacht heimgesucht. Es ist da eine Jagd im Gange. Eine immerhin sonderbare Jagd! – Die in den ›Bakchen‹ des Euripides geschilderte, wobei von gottbegeisterten Mänaden Mensch und Tier in Stücke zerrissen wird, – eine solche Jagd, Gott sei Dank, ist es nicht! – Eher möchte sie wohl an eine Jagd der Diana mit ihren Jägerinnen erinnern. Allein auch eine so geartete Jagd, wo man mit Hunden auf der Spur eines Keilers oder Sechzehnenders liegt, ist viel zu blutig, wild und laut, um sich mit der visionären meines Traums zu decken. Diese ist vielmehr in der Hauptsache unblutig, lautlos und geheimnisvoll, wogegen man ihr freilich eine eigene Art inbrünstiger Wildheit nicht absprechen kann. Nur Frauen sieht mein inneres Auge beteiligt an dieser Jagd. Die Jagd ist eine ununterbrochene. Sie wird von den Jägerinnen am Tage und des Nachts über das ganze Jahr hinweg ausgeübt. Nicht in geschlossenen bakchischen Schwärmen, auch nicht den Jagdzügen der Diana ähnlich, wie sie Rubens und andere gemalt, sondern in versteckter Vereinzelung. Der Jägerinnen sind viel, die vielleicht voneinander wissen, die aber einander nicht kennen und sehen dürfen, sie sind nämlich füreinander tabu! – Ihrer also sind viele, aber was sie jagen, ist ein und dasselbe Wild.

Da fällt mir eine Strophe der bakchischen Chöre ein:

Daß ich käme nach Kypros, dem Inselland Aphroditas,
wo die Schar der Eroten wohnt, Menschenherzen bezaubernd,
und nach Paphos, dem regenlosen,
das des mächtigen Flusses hundertarmige Ströme trinkt,
oder wo der pierische Sitz der Musen in heiliger
Schönheit ragt, der Olympos!
Dahin leite mich, Bromios, der die bakchischen Chöre führt!
Da sind Chariten, Liebe da,
da dürfen frei die Bakchen Feste feiern.

Wenn wir wollen, so haben wir hier das Inselland Aphroditas, wir haben Eroten, wir haben den Sitz der Musen, haben einen in Schönheit ragenden, allerdings rauchenden Olymp! es sind Chariten, ist Liebe da, es dürfen frei die Bakchen Feste feiern: – natürlich alles in meiner Halluzination. –

Nun, in meiner Jagd wird ein und dasselbe Wild verfolgt, ja sogar in gewissem Sinne, wenn auch unblutig, zerrissen und zerteilt.

›Denn gewaltiger als die Männer treibt die Weiber der Begierde Stachel!‹ liest man bei Pausanias. So gestachelte Weiber sind es, die ich nach dem einen Wild Tag und Nacht unseren Inselolympos umkreisen und in Schluchten, Schiliften, Höhlen, Hainen, Wäldern, an Meeres- und Flußufern, in Wald- und Bergödeneien, zwischen Lavahalden und Fumarolen dem einen köstlichen Wild nachspüren sehe.«

»Nun gut«, unterbrach sie die Prächtel wieder. »Ich erkläre mich nun als durchaus im Bilde. Und niemand anders als eben Ihr Regenbogengenius ist das Wild.«

»Als Traum verstanden, können Sie recht haben.«

»Geben Sie doch von dem hübschen Götterschlingel, zum Kuckuck nochmal«, sagte wieder die Malerin, »eine etwas mehr fleischliche Schilderung!«

»Das kann geschehen, denn er ist eben, ohne eine Ahnung von meiner Gegenwart zu haben, in meiner nächsten Nähe wieder aufgetaucht.

Ich befinde mich nämlich noch in dem über alle Begriffe verführerischen Zauber- und Lustgarten, der vom Pisse-Vache du Ciel im Zustande ewig grünender, blühender und zugleich früchtetragender Wonnen erhalten wird, am Ufer des Meereseinschnittes von La Rade des Poissons ensorcelés.

Ockergelbes, gepflegtes, bis auf die Schultern reichendes, dort gleichmäßig abgeschnittenes, ambrosisches Haar. Schultern, Arme, Hüften und Beine gleichsam von kupfergoldiger Bronze. Der ganze Körper, nicht zu groß und zugleich fest, biegsam und schlank. Jede Muskel aber doch wieder in ephebenhaftem Ebenmaß bestimmt und gleichsam athletisch ausgebildet, wie Batterien feurig-lebendiger Kräfte, köstlich-vitale Akkumulatoren davon. Ein Antlitz voll höchsten Adels und zugleich von dem Ausdruck prometheischer Kühnheit beseelt und den selig empfangenen, selig gegebenen Kuß Aphroditens verratend.

So stand der gejagte Jäger, so der prachtvolle Bogenschütze, für dessen pochendes Herz und hochatmende Brust die Pfeile so vieler Köcher bestimmt waren, wenige Schritte neben mir, unerwartet aufs neue ins Leben getreten, und spiegelte sich in dem Blau der Bucht.

Er blickte herüber. Ich lag unter Lorbeerbüschen versteckt, die bis zum Rand meiner Landzunge vortraten. Sein Auge, in Wollust des Selbstgenusses verloren, irrte über mich weg und sah mich nicht. Dafür sah ich das Blau dieser selbst wie Buchten verzauberter Fische leuchtenden Augen. Wenn Sie mir Zeit lassen, Präsidentin, oder wenn Sie mir einmal Zeit dazu gönnen wollen, so gebe ich Ihnen irgendwann von ihnen eine längere Schilderung: sie sind es wert, das können Sie glauben. Meinen Sie, ihr Feuer sei blau und treu, so blitzt es plötzlich katzengrün, und meinen Sie, es sei ganz Seele, so glauben Sie im nächsten Augenblick den starren Glanz eines Smaragds zu sehen. Giordano Bruno sagt zwar: ›Non est lapis sine anima‹, aber dieser Stein ist dann ganz ohne Seele. – Sah ich diese Augen und ihr beinahe rauchendes Schillern – es war, als träten schwache phosphorische Dämpfe darüber hervor –, so konnte ich mir recht wohl die Auffassung der guten Laurence zu eigen machen: die, wonach ihr Zögling als der Sohn Hyperions, der jugendliche Helios, anzusehen wäre oder mindestens als sonnenverwandt. Nennt doch Pindar den Strahl der Sonne die Mutter der Augen.«

»Hallo«, rief die Prächtel, »da möcht' ich doch wissen, was hat denn Ihr bronzener Genius mit unserem Tollkopf und Miß Wars Pflegling Phaon zu tun?«

»Nichts, aber auch gar nichts selbstverständlich.

Wir unterliegen der Hitze, Präsidentin, und auch ich unterlag am Ende damals den Glutwellen des Mittags, als es mir im Versteck an der Bucht noch folgendes vormachte:

Ich glaubte nämlich unsere allverehrte Laurence Hobbema an derselben Stelle in die Erscheinung treten zu sehen, wo der Inselgenius zuerst erschienen war.«

Die Malerin sagte: »Das wundert mich nicht. Ich hatte das ganz bestimmt erwartet.«

»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie das absolut Überzeugende dieser erstaunlichen Vision an sich selbst erlebt hätten. Es würde Sie wohl in Verwunderung setzen, einen bestimmten Menschen zum Greifen deutlich vor sich zu sehen und doch zu wissen, er kann es nicht sein und ist es nicht.

Was ich gesagt habe freilich, erleidet doch eine gewisse Einschränkung. Nicht immer hat Laurencens Erscheinung diesen ganz großen Stil.

Der farbige Sprühregen, aus dem sie auf die Felsterrasse trat, blieb wie eine göttliche Gloriole hinter ihr. Und überhaupt alles an ihr war ins Freie, Wilde, Erhabene hinauf gesteigert.

Ich hatte an sich zu staunen, weil sie es war, aber beinahe mehr noch darüber, wie ein Mensch zugleich derselbe bleiben und sich verwandeln kann.

Ohne Zweifel war sie dorthin, wo sie stand und eifrig umherspähte, in großer Hast und Eile und nach einer heftigen Jagd gelangt. Mir kam es vor, als ob ihre schönen Beine von der Anstrengung wie die eines Vollblutpferdes zitterten. Ihr Haar war gelöst. Es flatterte schlangenhaft um sie her, vom Luftdruck des Wasserfalles bewegt und von seinem Perlenstaube befeuchtet. Ich glaubte zu sehen, daß sie, heiß und gedunsen vom Lauf, mit wohligen Zügen das Ozon und die belebende Frische und Feuchte von Pisse-Vache du Ciel einsaugte. Ich glaubte nach dem langsamen Aufwogen ihrer bronzenen Brüste auf Atemzüge von einer fast übermenschlichen Wonne schließen zu müssen. Mir war, als tränke sie Schönheit, Gesundheit, göttliches Leben bis zur Verzückung in sich ein.

Unter ihr verdampfte im heißen Moos das Sprühwasser. So schien es, daß sie mit den Füßen gleichsam in ein weißes Wölkchen zu stehen kam. Und plötzlich vernahm ich den Schrei eines Raubvogels. Nenne ich ihn einen Raubvogelschrei, so entspricht dies der Deutung des ersten Augenblicks. Hätte ein Adler ihn ausgestoßen, er hätte an Größe einem Vogel Greif können ähnlich sein. Es waren die Basaltwände der Schlucht, die ihm diese Gewalt gaben. Und sie warfen ihn hin und her, diesen unbedingt vogelartigen Schrei, der in die heilige Chormusik der Kluft und Bucht der verzauberten Fische, sie wunderbar belebend, dithyrambischen Ton brachte.

Ein zweites und drittes Gellen erscholl von der Art, wie ich es keiner Laurence noch sonst einer unsrer Inselmütter zutraue, und erhielt eine vielfache Antwort wie von allenthalben erwachenden gottbegeisterten Bakchen in den Basaltwänden. Liebste, beste Präsidentin, ich gebe Ihnen die eidesstattliche Versicherung, daß ich Art und Wirkung dieses durchdringenden Schreis nicht entfernt erschöpfend deutlich zu machen imstande bin. Was die Art betrifft, so wüßte ich etwa nur dies zu sagen: er hatte zwar mit dem Laut eines Vogels, dem Juchzer eines Älplers oder einer Älplerin eine gewisse Ähnlichkeit, aber was ihm besonders eigen war, das war ein völlig unerhörter, mir völlig neuer Ton auf der Erde. – Und doch weckte er eine seltsam erregende, urzeitlich kosmische Erinnerung. Die Wirkung dieses außerirdischen Triumphrufes, Haßrufes, Liebesrufes, Sehnsuchtsrufes, dieses Lust- und Wehrufes, dieses Lebens- und Todesrufes, dieses Schreies der Angst, der Not und der ewigen Seligkeit, – die Wirkung dieses schneidenden Wecksignales war vielfältig.

Was mich betrifft, mir schien sogleich in der ganzen Natur die Empfindung der Ankunft eines unsichtbaren Gottes verbreitet zu sein. Das gleiche Gefühl erzeugte mir Herzklopfen. Mir kam es vor, als hätte der Fels, die Pflanze, die Flut, die Luft und das Licht Beseelung erhalten und als steigere sich die musikalische Fülle im paradiesischen Schalltrichter der Kluft in einen hymnisch hochzeitlichen, buhlerisch bestrickenden Festakt hinein. – Die Hitze kann seltsame Räusche hervorrufen.

Mir kroch übrigens trotz der Hitze ein eisiger Frost über den Rücken hinab und ließ mich am Ende zum Holz erstarren.

Auf meinen Genius übte der Schrei eine ähnliche Wirkung aus. Sein Mund stand offen, er atmete hastig und tief, nachdem er es einige Augenblicke lang ganz vergessen hatte, sein Kopf war gegen den Schall herumgerissen, wo er nun die als Laurence bezeichnete Bakchantin, gefolgt von der aufwärts lodernden Flamme ihres schwarzen Haars, von Felsterrasse zu Felsterrasse herab, wie von Wölkchen zu Wölkchen, mehr fliegen als springen sah. Ich hörte, wie sich aus seiner Brust Laute der Beklemmung und der Beengung emporrangen.«

»Sie haben ein großes Talent, Menschen auf einem glühenden Rost langsam zu schmoren, gute Rodberte«, sagte die Malerin. – »Das mag wohl sein«, gab Rodberte zurück, »bin ich doch selbst bei dem, was ich nun ohne meine Schuld mit ansehen mußte, ohne daß ich schreien und mich sonstwie verraten durfte, auf dem Roste geröstet worden.«

Sie schwieg und fuhr fort: »Ich lag also, wie gesagt, auf dem glühenden Rost und mußte zunächst einen Götterdiskurs mit anhören. Es war mir in keiner Weise angenehm, bei einer so heiklen Begegnung Zeuge zu sein. Weder habe ich je am Belauschen und Belauern Vergnügen gehabt noch beides mit meiner Ehre vereinbaren können. Nun gar, wenn eine hitzige Göttin auf der Spur eines spröden Götterjünglings ist und ihn am heißen Mittag stellt in der wohligsten und verschwiegensten aller Bergklüfte. Auch hätte ich es mir niemals verziehen, eine unwiederbringliche Götterstunde zu stören. Aber all das konnte im Augenblick nur dazu führen, mich nur um so tiefer verborgen zu halten. Verriet ich mich, so setzte ich überdies Kopf und Kragen aufs Spiel.

Es ist überstanden. Und ich möchte heut die Erinnerung an den Genuß dieses Schauspiels um nichts in der Welt mehr hergeben.«

»Demnach war es am Ende doch keine bloße Vision?!«

Rodberte rief: »Präsidentin, es war eine Vision. Allerdings aber eine solche, die mir das Feuer des Staunens, das Feuer der Andacht, die Schauer der Bewunderung durch alle Glieder rieseln ließ. Denken Sie, denken Sie, Präsidentin, daß ich dem höchsten, geheimsten Mysterium unsrer Insel beiwohnte!«

 


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