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Fünftes Kapitel

»Du hast: ›Bleib, Vater, bleib!‹ gar nicht recht gesagt, Cla'ns,« bemerkte Susy kritisch, sprang dann plötzlich auf Frau Peytons Knieen in die Höhe und rief hastig: »Ich kann singen und tanzen – ich kann High Jamboree tanzen.«

»High Jamboree – was ist denn das, mein Herzchen?« fragte Frau Peyton.

»Das sollst du gleich sehen – laß mich hinunter.«

Susy glitt zu Boden und begann ihr Kunststück. Der »High Jamboree« war offenbar ein Tanz mystischen afrikanischen Ursprungs und schien in drei kleinen Sprüngen zur Rechten und zur Linken, wobei das sehr kurze Rüschen ungemein hoch emporgehoben ward, einem unaufhörlichen Trippeln auf den Zehen sehr kleiner Füße, der Schaustellung einer großen Portion bloßer Kniee und Strümpfe und in einer glucksenden Begleitung kindlichen Gelächters zu bestehen. Dem Kunststück wurde rasend Beifall geklatscht, und die kleine Gauklerin hielt ganz außer Atem, aber mit ungestillter Ruhmbegierde inne.

»Singen kann ich auch,« keuchte sie hastig, als ob sie den Beifall Klatschenden keine Zeit lassen wollte, sich abzukühlen. »Ich sing' – o je – Cla'ns« (es klang ganz jammervoll) »was sing' ich denn?«

»Ben Bolt,« schlug Clarence vor.

»O, ja, ja! ›O, denkt Ihr nicht mehr an die süße Ben Bolt?‹« begann Susy im selben Atem und in einer falschen Tonart, »›an die süße Alers mit den Haaren so braun, die geweint hat vor Lust, wenn dein Lächeln sie traf, und –« mit zusammengezogenen Brauen und hilfeflehendem Ton legte sie das Recitativ ein: »wie heißt es denn weiter, Cla'ns?«

»Und gezittert vor Furcht, wenn du finster geblickt,« fiel Clarence ein.

»Und gezittert vor Furcht, wenn ich finster geblickt,« grillte Susy. »Den Rest weiß ich nimmer. Wart nur! Ich sing« –

»Nun danket alle Gott,« meinte Clarence.

»Ja, ja!«

Dabei war Susy, die regelmäßig dem Gottesdienst und Gebet im Lager beiwohnte, mehr in ihrem Fahrwasser. Sie erhob sofort ihr hohes Stimmchen und begann nicht ohne eine gewisse Sicherheit: »Nun danket alle Gott.« Schon bei der zweiten Zeile waren Flüstern und Lachen verstummt, und zu Ende des Verses fiel eine tiefe Stimme zu ihrer Rechten, die des Haupt-Pokerspielers, Poker ist ein in den Vereinigten Staaten beliebtes Kartenspiel. Anm. d. Uebers. plötzlich ein, ein Dutzend klangvoller Bässe und Tenöre folgte und der Schlußvers ertönte in vollem Chor, worin sich das dumpfe Summen der Fuhrleute und Treiber mit Frau Peytons hellem Sopran und Susys schrillem Kinderstimmchen verschmolzen. Wieder und wieder wurden mit weltentrückten, der Gegenwart vergessenden Blicken die letzten Zeilen wiederholt; mit dem rauschenden Nachtwind und dem Lodern und Glimmen des Feuers schwollen und verklangen die Töne und wurden zuletzt in das unermeßliche, geheimnisvolle Dunkel verhaucht.

Dann trat ein tiefes und etwas befangenes Schweigen ein, und zögernd löste sich die Gesellschaft auf. Frau Peyton zog sich mit Susy zurück, nachdem sie Clarence das Kind zu einem flüchtigen Gutenachtkuß hingeboten hatte, ein für beide Teile gleich ungewohntes und verwunderliches Geschäft! »Ich glaube,« sagte Clarence, sobald er mit Herrn Peyton allein war, schüchtern, »daß ich heute einen Indianer gesehen habe.«

Herr Peyton beugte sich zu ihm nieder.

»Einen Indianer – wo?« fragte er rasch, aber mit dem nämlichen zweifelhaft fragenden Blick, womit er sich Clarences Familienverhältnisse hatte erläutern lassen.

Im ersten Augenblick bereute der Knabe, überhaupt gesprochen zu haben, und begründete seine Angabe nur im alten trotzigen Ton durch Einzelheiten. Da er glücklicherweise eine scharfe Beobachtungsgabe besaß, war er im stande, den Fremdling haarklein zu beschreiben und seine Schilderung mit dem ganzen Maß von Verachtung zu färben, das die Erscheinung ihm eingeflößt hatte, wodurch sein Zuhörer überzeugt wurde. Peyton wandte sich plötzlich von ihm ab, kehrte aber gleich darauf mit Harry und einem dritten zu dem Knaben zurück.

»Du bist ganz sicher, daß du das alles gesehen hast?« fragte er ihn in ermutigendem Ton vor diesen Zeugen.

»Ja wohl.«

»Ist es ebenso gewiß, daß du ein Sohn von Oberst Brant bist und dein Vater gestorben ist?« fragte Harry mit leisem Auflachen.

Die Thränen traten dem Knaben in die gesenkten Augen.

»Ich lüge nicht,« war seine kurze, verdrossene Antwort.

»Und ich glaube dir, Clarence,« sagte Herr Peyton mit Ruhe. »Aber warum hast du mir die Geschichte erst jetzt erzählt?«

»Ich mochte vor Susy nicht davon sprechen – und – und auch nicht vor ihr,« stammelte der Junge.

»Wer – ihr?«

»Vor Frau Peyton,« sagte Clarence errötend.

»Oho,« bemerkte Harry höhnisch. »Du bist ja ein verflucht rücksichtsvoller Bursche!«

»Das genügt – laß den Knaben ungeschoren, sage ich dir,« befahl Peyton seinem Untergebenen mit Strenge, »er weiß, was er zu thun und zu lassen hat. Aber,« fuhr er zu Clarence gewendet fort, »wie kommt es, daß der Indianer dich nicht gesehen hat?«

»Ich rührte mich nicht, um Susy nicht aufzuwecken und« – er hielt zögernd inne.

»Und was?«

»Er schien all seine Sinne nötig zu haben, um Ihren Zug zu beobachten,« setzte er kühner hinzu.

»So ist's,« fiel der dritte der Männer, der viel Erfahrung zu haben schien, ein, »und er muß nicht windwärts von dem Buben gestanden haben, und hat drum keine Witterung gehabt. Wird einer von ihren Kundschaftern gewesen sein; die andern sind sicher vor uns her und wollen uns den Weg abschneiden. Sonst hast du nichts gesehen, Bürschchen?«

»Doch, zuerst sah ich einen Coyote,« versetzte Clarence, dessen Selbstgefühl sehr gehoben war.

»Schau einer!« sagte der Kenner, indes Harry eine höhnische Grimasse schnitt. »Stimmt, stimmt! Wolf geht nicht hin, wo Wolf war, und der Coyote kommt nicht hinter dem Indianer drein – weil da nichts zu holen wäre! Wie lang vorher hast du den Coyote gesehen?«

»Gleich nachdem wir den Wagen verlassen hatten,« erwiderte Clarence.

»Stimmt,« bemerkte der Mann wieder nachdenklich. »Den haben sie vor sich hergetrieben, oder die Bestie ist ihnen an den Flanken gehangen. Die Kerls sind zwischen uns und dem andern Zug oder hinter jenem her.«

Peyton machte ihm rasch ein warnendes Zeichen, als ob er ihn an Clarences Gegenwart mahnen wollte – der Knabe bemerkte es und wunderte sich darüber. Darauf hin führten die drei Männer ihr Gespräch mit gedämpfter Stimme fort, er konnte aber die letzte Aeußerung des Sachkundigen, die schließlich den Ausschlag gab, ganz deutlich verstehen.

»Nützt nichts, Herr Peyton, und heißt nur den Pelz zum Kürschner tragen, wenn Sie bei nachtschlafender Zeit das Lager wieder abbrechen. Und Sie können ja auch nicht wissen, daß wir's gar nicht sind, auf die sie lauern. Sehen Sie, wenn wir nicht bei der ersten Spur von den verlaufenen Kindern da vom geraden Weg abgebogen wären, hätten wir in der Dummheit dem Teufelsvolk stracks in seine verfluchte Falle laufen können. Mir kommt's vor, wir haben das helle Negerglück, und wenn wir scharf aufpassen und uns nicht aufs faule Ohr legen, sind wir hier, bis es Tag wird, am allerbesten dran.«

Daraufhin gingen sie auseinander, und Herr Peyton nahm Clarence mit sich. »Da wir morgen früh aus den Federn müssen, um deinem Zug auf die Spur zu kommen, so ist es jetzt Zeit, daß du dich schlafen legst, mein Junge. Ich werde dich in meinem Wagen unterbringen, und da ich den größten Teil der Nacht nicht aus dem Sattel kommen werde, hast du von mir nicht viel Störung zu fürchten.«

Er zeigte ihm den Weg zu einem zweiten Wagen dicht neben dem ersten, worin Frau Peyton mit Susy verschwunden war, und Clarence fand zu seiner Ueberraschung, daß dieser mit einem Schreibtisch, Pult, Stuhl und sogar einem Bücherbrett mit etlichen Bänden ausgestattet war. Ein langer Schubkasten, der wie ein Sofa hergerichtet war, sollte ihm als Lager dienen und war sogar mit dem ungewohnten Luxus weißer Betttücher und Kissenbezüge versehen. Der Boden des schweren Schlafwagens, der, wie Herr Peyton ihm erklärte, zur Vermeidung des Stoßens in starken Federn hing, war mit einer weichen Matte bedeckt, die Seitenwände und das Dach des Gefährtes in leichtem Holz vertäfelt, statt wie in gewöhnlichen Auswandererwagen mit Zelttuch überspannt, und eine Glasthüre sowie ein bewegliches Fenster ließen Licht und Luft ein.

Clarence machte sich allerhand Gedanken – er konnte nicht recht begreifen, weshalb der große, starke Mann, der mit dem Pferd verwachsen zu sein schien, je Lust haben sollte, sich wie ein Kaufmann oder Schreiber an ein Pult zu setzen, und er hätte wissen mögen, ob dieser Zug mit andern Auswanderern Handel trieb, oder ob er wie die Tabulettkrämer Waren nach den am Weg liegenden Städten lieferte, aber hier konnte er nichts Verkäufliches entdecken, und die übrigen Wagen waren nur mit den zum Lebensunterhalt der Gesellschaft erforderlichen Vorräten gefüllt. Wie gerne würde er nicht Herrn Peyton gefragt haben, wer er sei, und sich ebenso viel Auskunft erbeten haben, als man von ihm gefordert hatte. Aber der erwachsene Durchschnittsmensch bedenkt ja nie die Ungerechtigkeit, die darin liegt, der naturgemäßen und sogar notwendigen Neugierde der Kindheit das Recht des Fragens abzusprechen, das er selbst sich rücksichtslos anmaßt und recht oft ohne Zartgefühl ausübt. Somit war Clarence jede Möglichkeit, Aufklärung zu erlangen, abgeschnitten, und doch war sich der Knabe, wie alle Kinder in diesem Falle, bewußt, daß, wenn er hernach über dies unerklärliche Erlebnis von andrer Seite ausgefragt würde, man seine Unwissenheit im höchsten Grad tadelnswert finden werde.

Als er jetzt sich selbst überlassen behaglich zwischen den weißen Betttüchern lag, starrte er eine Weile lang um sich. Die ungewohnte Bequemlichkeit seines Lagers, das so ganz anders beschaffen war, als die Schlafstätte mit den Filzdecken, die er mit einem der Fuhrleute zu teilen gehabt hatte, die Neuheit, Ordnung und Reinlichkeit seiner Umgebung begannen, so wohl sie seinen Sinnen thaten, sein Gemüt zu bedrücken. Seiner rechtlichen Natur erschien es wie eine Treulosigkeit gegen die früheren Gefährten, daß er hier lag; das unbestimmte, dunkle Gefühl, jene Unabhängigkeit, die ihm gleiche Entbehrungen und gleiche Freuden unter ihnen verliehen hatten, einzubüßen, bedrückte ihn, und ihm war, als ob er durch den Genuß eines ihm nicht von Rechts wegen zukommenden Luxus in Knechtschaft geriete. Das führte ihn darauf, sich genauer auf sein Vaterhaus zu besinnen, auf die großen Zimmer, die zugigen Treppen, die hohen Decken und die kalte Förmlichkeit seines Daseins mit lauter fremden Gesichtern, die fremdesten darunter – die seiner Eltern, die freundlicheren die der Dienstboten, namentlich das der schwarzen Amme, deren Pflegling er gewesen war.

Es quoll ihm heiß in die Augen, aber er bezwang sich gewaltsam, kroch aus seiner Lagerstätte und ging leise nach dem Fenster, das er, um zu untersuchen ob »es wirklich gehe,« öffnete. Die verglimmenden Lagerfeuer, die Sterne, die wohl funkelten, aber kein Licht verbreiteten, die verschwommenen Umrisse einer außerhalb des Kreises auf und ab gehenden Wache, alles verstärkte noch den Eindruck, den die tiefe Dunkelheit auf ihn machte, und gab seinen Gedanken eine andre Richtung. Es fiel ihm wieder ein, wie Herr Peyton bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte: »Was für ein Grünschnabel!« – nein, damit hatte er gewiß nichts Böses gemeint!

Er tastete sich nach seinem Bett zurück und überlegte, weil er immer noch nicht einschlafen konnte, daß er doch lieber kein Kundschafter werden wolle, wenn er erwachsen sei, sondern so ein Mann wie Herr Peyton und daß er dann einen Zug haben wolle wie diesen und die Silsbees und Susy einladen werde, ihn zu begleiten. Um sich darauf vorzubereiten, konnte er morgen in aller Frühe um die Erlaubnis bitten, mit Susy in diesen Wagen zu gehen und »Zugführer« zu spielen, wobei er dann mit allen Einzelheiten dieser Aufgabe vertraut werden und die Fähigkeit erlangen würde, sie jederzeit zu übernehmen. Im Punkt der Indianer war er ja jetzt schon eine Autorität, und man hatte sogar einmal auf ihn als Indianer geschossen! Natürlich mußte er dann später immer eine Flinte tragen wie die an einem Haken von der Wand herabhängende hier, und gelegentlich würde er eine Menge Indianer töten und in einem großen dicken Buch, wie eines auf dem Pult lag, ein Verzeichnis darüber führen. Susy, die natürlich mittlerweile eine erwachsene Dame sein würde, müßte ihm dabei helfen, und dann würden sie beide dem versammelten Volk Lebensmittel austeilen. Weit und breit würde man ihn als den »Weißen Häuptling« kennen, und die Indianer würden ihn in ihrer Sprache »das Grünschnabel« nennen, auch eine Zirkuseinrichtung würde er in einem besonderen Wagen mit sich führen und selbst hie und da in den Vorstellungen auftreten. Sogar Geschütze würde er sich anschaffen zur Wahrung größerer Sicherheit, und wenn dann ein entsetzliches Gefecht stattgefunden hätte, würde er erhitzt und pulvergeschwärzt in den Wagen stürmen, und Susy würde eine Beschreibung davon in das große Buch eintragen, und Frau Peyton, die natürlich aus nicht näher zu bezeichnenden Gründen auch dabei wäre, würde sagen: »Ich sehe jetzt wirklich ein, welch ein Glück es für uns ist, einen Knaben wie Clarence bei uns zu haben – jetzt fange ich an, ihn besser zu verstehen,« und Harry, der zum Zweck poetischer Gerechtigkeit auch Zeuge dieser Vorgänge sein mußte, würde den Kopf hereinstrecken und zwischen den Zähnen brummen: »Der ist freilich ein Sohn von Oberst Brant, hol mich der Henker,« und damit Abbitte thun für seinen Unglauben. Seine Mutter erschien dann auch mit ihrem kalten, gleichgültigen Gesicht in einem weißen Ballkleid und rief ganz verblüfft aus: »Gott wie der Junge gewachsen ist! Es thut mir leid, daß ich mich in seiner Jugend nicht mehr um ihn gekümmert habe.«

Mitten in diesem Tumult überkam ihn eine gewisse Betäubung, und dann war es, als ob die Wände des Wagens weggeschmolzen waren und er draußen läge in der öden, trostlosen Heide, aus der sogar die schlafende Susy verschwunden war, und verlassen und vergessen wäre. Dann war alles ruhig und still im Wagen, und nur der Nachtwind strich klagend um ihn her, aber ach! die Wimpern des Weißen Häuptlings, des tollkühnen Zugführers, des erbarmungslosen Indianertöters waren naß von glitzernden Thränen!

Kaum ein Augenblick schien ihm vergangen zu sein, als er mit dem undeutlichen Bewußtsein einer plötzlich zum Stillstand gekommenen Bewegung erwachte. Zu seiner größten Bestürzung stand die Sonne schon hoch – sie mußte seit drei Stunden aufgegangen sein, ihre Strahlen fielen heiß und sengend in den Wagen und die Luft hatte den ihm so vertrauten Geruch und Geschmack von Straßenstaub. Es war ein leises Krachen und Knistern von Federn und Brettern, ein kaum fühlbares Schwanken und dann ein Klirren von Pferdegeschirr, gerade wie wenn der Zug unterwegs, der Wagen in Bewegung gewesen wäre und nun plötzlich Halt gemacht hätte. Wahrscheinlich hatten sie den Silsbeeschen Zug eingeholt, in wenig Augenblicken würde die Auswechslung vor sich gehen und sein seltsames Abenteuer vorüber sein. Er mußte also aufstehen, aber mit der morgendlichen Trägheit gesunder Jugend reckte und streckte er sich erst noch ein Weilchen in seinem üppigen Bett und drückte sich tiefer in die Federn.

Wie ruhig es war! Aus der Ferne hörte er wohl Stimmen, aber sie klangen gedämpft und hastig. Durchs Fenster sah er einen Fuhrmann mit seltsam aufgeregter, gespannter Miene vorübereilen, einen Augenblick bei einem der nachkommenden Wagen stehen und dann wieder nach der Spitze des Zugs laufen. Darauf unterschied er deutlich dumpfen Hufschlag in dem dichten Staub und zwei näher kommende Stimmen.

»Hol den Jungen aus den Federn und frage ihn,« sagte eine halb gedämpfte, ärgerliche Stimme, die er sofort als die Harrys erkannte.

»Warte, bis Peyton kommt,« flüsterte eine andere, »das ist seine Sache.«

»Je eher wir herausbringen, wie sie ausgesehen haben, desto besser,« brummte Harry.

»Halt – zurück!« rief mit einemmal Peytons Stimme dazwischen. »Ich werde ihn selbst fragen.«

Clarence blickte gespannt und verwundert nach der Thüre, durch die Herr Peyton nun staubbedeckt und mit einem befremdenden, geistesabwesenden Blick hereintrat.

»Wie viele Wagen hat euer Zug, Clarence?«

»Drei.«

»Haben sie besondere Zeichen?«

»Ja wohl,« antwortete Clarence eifrig, »Auf dem einen steht: »Auf nach Kalifornien!« und auf dem anderen: »Grabe, schleppe dich ab, oder stirb!«

Herrn Peytons Auge schien aufzuleuchten und heftete sich plötzlich mit seltsamer Bedeutsamkeit auf Clarence, dann sah er zu Boden.

»Wie viele Leute wart ihr, alles in allem?«

»Fünf und dann noch Frau Silsbee?«

»Sonst keine Frau?«

»Nein.«

»Steh auf, zieh dich an,« sagte er mit tiefem Ernst, »und warte hier, bis ich zurückkomme. Behalte kühles Blut und habe deine fünf Sinne beisammen« – seine Stimme schien unsicher zu klingen – »vielleicht sind Dinge geschehen, wobei du dich wieder als ein kleiner Mann zu zeigen hast, Clarence!«

Die Thüre fiel zu, und der Knabe hörte abermals den dumpfen Hufschlag und die halblauten Reden, die nach der Spitze des Zugs hin verklangen. Mechanisch, fast gedankenlos, aber doch mit einer unbewußten Unterströmung furchtbarer Erregung begann er sich anzukleiden. Als er fertig war, wartete er fast atemlos, und sein Herz klopfte so gewaltig, wie am Tag vorher, als er dem verschwundenen Zug nachgeeilt war. Endlich konnte er die Spannung nicht mehr länger ertragen und öffnete die Thüre – ringsum herrschte Schweigen in der regungslosen Karawane bis auf das sorglose Plaudern Susys, deren helle Stimme aus einem der nächsten Wagen herübertönte und ihn ganz wunderlich begrüßte. Vielleicht war es eine Ahnung, daß die »Dinge«, die geschehen sein konnten, sie am nächsten berührten, vielleicht eine unüberwindliche Regung, die ihn überkam, kurz im nächsten Augenblick war er zu Boden gesprungen, sah sich um und lief angstvoll nach vorne.

Das erste, worauf sein Blick fiel, war der unförmliche Umriß eines der Silsbeeschen Wagen, der ein paar hundert Meter entfernt, der Achsen und Deichsel beraubt, hilf- und trostlos zum wolkenlosen Himmel emporstarrte. Unmittelbar dabei gewahrte er das Gerüste eines andern Wagens, woran die vorderen Räder und die Deichsel fehlten und der in die Kniee gesunken zu sein schien wie ein Ochse vor dem Schlächter. Nicht weit davon starrte das halb verbrannte, rauchgeschwärzte Wrack eines dritten in die Lüfte, und Herrn Peytons ganzer Zug schien sich zu Fuß und zu Pferd darum geschart zu haben. In dem Augenblick, als der Knabe hastig hinzusprang, öffnete sich die Gruppe, um zwei Männer durchzulassen, die einen leblosen, aber jedenfalls Entsetzen erregenden Gegenstand trugen. Eine bange Ahnung ließ Clarence in seinem kopflosen Lauf zur Seite weichen, doch im selben Augenblick hatten die anderen ihn entdeckt, und heftige Rufe, wie: »Zurück!« – »Bleib stehen!« – »Haltet ihn auf!« wurden laut. Clarence machte sich ebensowenig daraus, als aus dem Wind, der ihm um die Ohren pfiff, und wandte sich schnurstracks dem vordersten Wagen zu – es war der, worin Susy und er gestern noch gespielt hatten – als eine starke Hand sich wuchtig auf seine Schulter legte; es war Herr Peyton.

»Das ist Frau Silsbees Wagen,« sagte der Knabe, mit entfärbten Lippen auf die Trümmer deutend. »Wo ist sie?«

»Sie wird vermißt,« erwiderte Herr Peyton, »und einer von den Männern ebenfalls – die übrigen sind tot.«

»Sie muß drinnen sein,« rief Clarence, auf den Wagen deutend, und suchte sich loszuwinden. »Lassen Sie mich hinein!«

»Clarence,« versetzte Herr Peyton mit strenger Würde, und seine Hand hielt ihn noch kräftiger fest, »sei ein Mann! Sieh dich um und sage uns, wer diese da sind!«

Auf dem Boden neben ihm schienen zwei Haufen alter Lumpen zu liegen und dort, wo die Männer vorhin auf Peytons Geheiß ihre Last niedergelegt hatten, ein dritter. In diesen verstaubten, zerfetzten Kleiderhaufen schien alle Würde des Lebens erbarmungslos zertreten worden zu sein, und nur das Gemeine und Groteske war geblieben, ohne daß es für ihn etwas Abschreckendes, Furchtbares gehabt hätte! Langsam trat der Knabe näher und – es war ihm selbst unglaublich – die unbesiegbare Furcht, die ihn vorhin beim Anblick einer solchen Leiche befallen hatte, war gänzlich von ihm gewichen. Er ging vom einen zum andren, erkannte jeden an bestimmten Kennzeichen und nannte Namen um Namen. Die Zuschauer sahen ihn neugierig an, und er fühlte wohl, daß er sich selbst nicht mehr verstand, viel weniger jemand hätte sagen können, woher ihm die Ruhe und Bestimmtheit kamen, womit er sich jetzt dem entlegensten Wagen zuwandte.

»Dort ist nichts,« sagte Herr Peyton, »wir haben ihn schon durchsucht.«

Der Knabe gab keine Antwort, setzte aber seinen Weg unbeirrt fort, und die anderen folgten ihm.

In dem verlassenen Wagen, der ihm heute noch ärmlicher, unordentlicher und schmieriger vorkam als je zuvor, herrschte jetzt ein wirres Durcheinander von zerbrochenen Knochen, Stöcken, umhergestreuten Lebensmitteln, Pfannen, Kesseln, Teppichen und Kleidungsstücken, die, das unterste zu oberst, mit einer dicken Staubschichte bedeckt, umher lagen. Aber in diesem Chaos entdeckte sein scharfes Auge sofort ein Endchen Kattun, das zerknüllt unter dem Plunder vorsah.

»Das ist Frau Silsbees Kleid,« rief er und war mit einem Satz im Wagen.

Zuerst sahen die Leute sich erschrocken an, gleich darauf aber rührten sich ein Dutzend Hände, um ihm beim Wegräumen das Gerümpels zu helfen, dann stieß einer der Männer einen halb unterdrückten Schrei aus und prallte, die entsetzten und empörten Blicke zu dem erbarmungslos lächelnden Himmel aufschlagend, zurück.

»Großer Gott! Da seht her!«

Man hatte das wachsgelbe Gesicht einer Frau aufgedeckt; es war Frau Silsbee, und doch schien es dem Knaben, sie sei eine andere geworden, der alte ihm so wohlbekannte müde, sorgenvolle und zänkische Ausdruck war einem weltentrückten Frieden und einer statuenhaften Ruhe gewichen. Auch er hatte sie in ihrem kampfesvollen Dasein oft geärgert und er empfand nun beim Anblick dieser leidenschaftslosen, steinernen Teilnahmlosigkeit Reue darüber; zaghaft drängte er sich zu ihr durch, aber als er vortrat, warf der Mann mit rascher, warnender Gebärde hastig sein Taschentuch über den Kopf der Leiche – es war, als ob er dem Blick des Knaben etwas Fürchterliches verhüllen wollte, und zugleich zog diesen von hinten eine kräftige Faust zurück, doch nicht ehe von den weißen Lippen eines daneben Stehenden die leisen Worte gefallen waren: »Auch skalpiert! Bei Gott!«


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