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Neuntes Kapitel.

Hoffen und Harren.


In Beziehung auf die Zeitungen hatte Tom alle Hoffnungen aufgegeben – was nun?

Von Mr. Soule hörte er keine Silbe; jedesmal, wenn die Pfeife des Briefträgers in der Straße ertönte, horchten Tom und Rose in atemloser Spannung und verfolgten den Ton von Thür zu Thür. Vielleicht – vielleicht kam endlich etwas von Mr. Soule. Allein das Pfeifen erstarb in der Ferne, und nichts war gekommen.

Auch Pearse hatte nichts zu berichten. Sie zählten die Stunden zwischen seinen Besuchen; vielleicht würde er das nächste Mal frohe Botschaft bringen. Aber Besuch folgte auf Besuch, und der arme Pearse konnte weiter nichts sagen, als: »Noch immer nichts!«

Was sollte Tom inzwischen thun? Tag für Tag unthätig zu Hause sitzen, und ohne sich Sorgen zu machen, darauf warten, daß seiner Freunde Bemühungen zu seinem Besten von Erfolg gekrönt würden? Selbst keine Anstrengungen machen? Nichts als warten, warten, warten? Das konnte er nicht aushalten, schon der Gedanke war unerträglich. Eine einzige Woche derartiger Unthätigkeit war übergenug. Die bloße Vorstellung, daß eine solche Thatenlosigkeit noch länger dauern könne, verursachte ihm ein Gefühl, als ob ihm ein Bohrer ins Gehirn getrieben werde. Nein, nein, auf die eine oder andre Art mußte er handeln; er selbst mußte etwas thun, sich zu helfen; er mußte sich bemühen; er mußte seinem gefesselten Thatendrang Luft machen, oder er würde verrückt werden!

Aber was konnte er thun?

»Ja, ich muß etwas thun. Dieses Stillhalten – ich kann's nicht mehr ertragen, es macht mich rasend. Ich habe das Gefühl, als ob mir der Kopf zerspringen wolle. Aber was – aber was – was kann ich thun?«

Rose wußte nicht, was sie ihm antworten sollte; sie seufzte nur.

»Soll ich umhergehen wie ein Bettler oder Hausierer und bei allen Geschäften und Bureaus der Stadt anklopfen und um Arbeit bitten?«

»Wenn du meinst –« begann sie.

»O, um Himmels willen, nimm das doch nicht wörtlich! Du bildest dir doch nicht ein, daß ich ein solcher Esel sein könnte? O, Rose! – Ohne Empfehlungen, ohne auf etwas hinweisen zu können, was ich schon geleistet habe, mit nichts, rein gar nichts unter der Sonne, worauf ich mich berufen könnte – großer Gott! – Ich sehe schon, wie man mich behandeln würde. Und es geschähe mir recht. Ich wäre ein Narr und verdiente, wie ein Narr behandelt zu werden.«

Rose sah, in traurige Gedanken versunken, zum Fenster hinaus. Ein lachender blauer Himmel wölbte sich über der lieblichen Landschaft, der Fluß glitzerte im hellen Schein der herbstlichen Sonne, Boote schossen lustig hin und her, aber Rose war für die Schönheit des Bildes unempfänglich. Man konnte hören, wie Lina Grickel unten die Baßpartie eines vierhändigen Klavierauszugs der Tannhäuserouvertüre übte, allein die mächtigen Akkorde trafen Roses Ohr nur äußerlich.

»Nun, was meinst du, was soll ich thun?« wiederholte Tom.

»Warum schreibst du nicht etwas, lieber Mann? Du kannst ja jetzt noch über deine Zeit verfügen, warum schreibst du nicht ›Felicia‹? Wenn du eine Stellung findest, ehe du damit fertig bist, dann schadet's ja nichts. Wenn nicht – wenn du Zeit hast, es zu vollenden – dann kannst du ja das Manuskript an eine Wochenschrift verkaufen.«

Nur zögernd, zaghaft und voller Zweifel, wie er aufgenommen werden würde, machte sie diesen Vorschlag.

»O, Rose, sprich doch nicht so!« rief er. »Es macht mich verrückt, wenn ich so etwas höre. Bildest du dir etwa ein, ein Mann in meiner Lage hätte die nötige geistige Ruhe zum Schreiben, wenn der Wolf vor der Thür heult? Nein, nein, das ist unmöglich! Das würde schönes Zeug werden, keine Zeitung nähme es an. Und für die Wochenschriften schreibe ich überhaupt nicht gut genug. Sie haben die Auswahl unter den allerbesten Schriftstellern. Mein Geschreibsel würden sie keines Blickes würdigen. Ich bin noch ein Lehrling, oder noch schlimmer, ein kindischer Dilettant. Ich verstehe es gar nicht, wie man schreiben muß. O, wenn ich doch nur diese langen Jahre gearbeitet – ernstlich gearbeitet hätte, statt nur mit der Feder zu spielen. Ja, das habe ich gethan, ich habe gespielt und mir selbst weis gemacht, ich arbeite. Meine ganze Schreiberei war nichts als Schwindel und Mumpitz.«

»Pfui, Tom, sei stille. Es ist wirklich schlecht von dir, so etwas zu sagen. Du schreibst schön, wahrhaft schön, und das weißt du auch sehr wohl. Du darfst das nicht in Abrede ziehen, denn es ist undankbar, eine Gabe, die von Gott kommt, zu verleugnen. Ich mache mir keine Sorgen um die Zukunft – mir ist es einerlei, wie du deinen Lebensunterhalt verdienst – aber das weiß ich, daß du, ehe du stirbst, etwas schreiben wirst, eins der schönsten Bücher, die jemals in der Welt geschrieben worden sind. Aber – aber – wenn du gegenwärtig zuviel Sorgen hast, um gut schreiben zu können, dann ist das was andres, und ich will dich nicht drängen. Ich dachte nur –« ihre Stimme erstarb in einem schmerzlichen Seufzer.

»O, Rose, Rose! Du mein Segen, mein Trost!« Er schloß sie in die Arme und fühlte sich wirklich für einen Augenblick getröstet und von großem Glück erfüllt. Dann kam jedoch das Gespenst wieder aus seinem Versteck hervor. »Aber die Frage, was ich thun soll, ist immer noch nicht beantwortet,« sagte er tonlos.

»Meinst du nicht, es wäre gut, wenn du mal wieder zu Mr. Soule gingst, und – und –«

»Wenn ich sein Gedächtnis etwas auffrischte?« Daran hab' ich auch schon gedacht. Ich habe gedacht, er hätte uns vielleicht vergessen, weil wir noch gar nichts von ihm gehört haben, und es wäre vielleicht gut, wenn ich mal hinginge und mich ihm in Erinnerung brächte. Aber ich weiß doch nicht, er thut gewiß alles, was er kann, und ich möchte ihm nicht lästig fallen. Er könnte mich für aufdringlich halten.«

»Möglich, daß du recht hast. Es wäre am Ende besser, noch etwas zu warten. Vielleicht kommt morgen Nachricht von ihm.«

Der Entschluß, zu dem Tom einstweilen kam, war der, daß er die Anzeigen in den Zeitungen durchsah: »Arbeitskräfte gesucht, männliche.« Trauriges, trostloses Geschäft, wobei wir ihm nicht Schritt für Schritt zu folgen brauchen, denn es führte doch nur zu Mißerfolgen, Ermüdung und Mutlosigkeit. Mit der Hast eines Lesers, der mit Spannung auf die Fortsetzung eines angefangenen Romans gewartet hat, stürzte er sich jeden Morgen auf die Spalte, die die Ueberschrift trug: »Arbeitskräfte gesucht, männliche,« und sah sie eifrig durch. Wenn er etwas fand, das dem zu entsprechen schien, was er leisten zu können glaubte, strich er die betreffenden Anzeigen mit Bleistift an. Es waren nur wenige, und er fand nicht oft solche, denn die meisten betrafen Dienerschaft, oder geübte Handwerker, oder Leute mit einem kleinen Kapital, die Gelegenheit zu dessen Verwertung suchten, oder etwas Aehnliches, was für ihn nicht in Betracht kommen konnte. Er strich solche an, wodurch Schreiber oder Verkäufer oder Vertreter oder Derartiges verlangt wurden, und dann machte er sich daran, sie zu beantworten, entweder brieflich, oder persönlich, je nachdem es in der Anzeige gewünscht worden war. Wahrlich ein trauriges Geschäft! Auf Dutzende von Briefen, die er schrieb, erhielt er nur zwei oder drei Antworten, und diese hatten einen verdächtigen Beigeschmack nach einem ausgeworfenen Köder, der ihn in eine Falle locken sollte. Man benachrichtigte ihn, daß eine Einlage von so und so viel Dollars in das Geschäft, wo er Anstellung suchte, unerläßlich sei. Die andre und peinlichste Art seiner Bemühungen – seine persönlichen Anfragen – waren ebenso fruchtlos. Weite Wege – um die Fahrkosten zu ersparen – langes Warten in einem Haufen andrer Bewerber – meist schmutzige, verkommen oder nichtsnutzig aussehende Exemplare des Genus homo, auf deren unbedeutenden Gesichtern moralische Haltlosigkeit und verfehltes Leben deutlich geschrieben stand, und die trübselige Witze untereinander rissen, auf ihren schlecht beschuhten Füßen umhertrampelten, rechts und links widerlichen Tabaksaft ausspieen, während sie darauf warteten, daß die Reihe an sie käme – um dann endlich, ermüdet vom langen Stehen und mit einem Gefühl der Selbsterniedrigung, sich in einer solchen Gesellschaft zu finden, demjenigen gegenüberzustehen, welcher die Anzeige erlassen hatte. Und was kam dann? Dann wurde er betrachtet und geprüft wie eine tote Ware, mit kalter Anmaßung über seine Fertigkeiten, seine Gewohnheiten und seine Empfehlungen und so weiter ausgefragt, und ihm günstigsten Falls schließlich eine Stellung mit einem so geringen Lohn angeboten – neun, zehn, zwölf Dollars wöchentlich – daß er gar nicht daran denken konnte, sie anzunehmen, oder er wurde mit der Redensart abgefertigt: »Sie passen mir nicht« oder »Wenn wir Sie brauchen können, werden wir Ihnen Mitteilung machen,« und dies, das wußte er, war nur eine höfliche Form der Abweisung. Ermüdet, halb tot, physisch und moralisch erschöpft, erhitzt, krank und verzweifelt kam er dann nach Hause. Alles, was er für seine Mühe geerntet hatte, war verwundetes Selbstgefühl und Enttäuschung. Und wenn er nach Hause kam, dann war das Wiedersehen mit seiner lieben Frau weit davon entfernt, ihm Trost zu bringen; es diente nur dazu, seinen Schmerz zu verschärfen, seine Verzweiflung tiefer und bitterer zu machen. Denn war es nicht ihr Wohlergehen, ihr Glück, die auf dem Spiele standen? »O Tom – Tom! Hättest du mich doch nicht geheiratet!« hatte sie gerufen. Jetzt war die Reihe an ihm zu sagen: »O, Rose, wie furchtbar ist der Gedanke, daß all dies Elend über dich gekommen ist, weil du mich geheiratet hast.«

Nicht hoffnungsvoll, aber mit einer verbissenen Entschlossenheit, weiter zu kämpfen, bis er auf seinem Posten fallen würde, wenn es ihm nicht beschieden sein sollte, zu siegen, begann er am nächsten Morgen dasselbe traurige Geschäft von neuem, um es am Abend in derselben trostlosen Weise enden zu sehen. Er fing an, sich für einen von der zahlreichen Armee von Unfähigen zu halten und seine Selbstachtung zu verlieren. – Ausgenommen, daß er besser erzogen und feiner gekleidet war – in welchen wesentlichen Punkten war er denn von den erbärmlichen Gefährten, den Scharen der Stellesuchenden verschieden oder ihnen überlegen? Scham und Demütigung brannten wie feurige Kohlen in seinem Busen. Die Zukunft erschien ihm eine fürchterliche Ungewißheit, und ihre Schrecken preßten auf sein Herz wie ein Klumpen Eis.

Die Frage, ob es ratsam sei, einmal wieder zu Mr. Soule zu gehen, kehrte dann und wann wieder, und als er sich eines Tages zufällig in der Nähe von dessen Geschäftszimmer befand, entschied er sie mit raschem Entschluß. Er trat ein und fragte, ob er seinen alten Freund sprechen könne. Mr. Soule war augenblicklich mit einem Klienten beschäftigt. »Wenn Sie wollen, können Sie warten,« meinte der Schreiber. Tom machte von dieser gnädigen Erlaubnis Gebrauch und wartete.

Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür zu Mr. Soules Zimmer. Dieser trat mit dem Klienten heraus und beide gingen dem Hauptausgang zu.

»Mr. Soule,« wagte Tom zu sagen.

»O, Tom! Nun, junger Freund, wie geht's? Ich bin etwas eilig. Was Neues?«

»Nein, Mr. Soule. Ich bin gekommen, um zu fragen, ob Sie etwas gefunden hätten?«

»Nein – noch nicht. Das geht nicht so schnell, mein Lieber. Ich halte scharfen Ausguck, aber es ist mir noch nichts in den Wurf gekommen. Sobald ich etwas höre, lasse ich's dich wissen. Wie geht's deiner Frau? Schöne Grüße, bitte. Na, guten Morgen, ich bin eilig, du mußt mich entschuldigen.«

Das war alles, was ihm der lang überlegte Besuch bei Mr. Soule an Befriedigung einbrachte.

Die Zeit floh dahin, wie das so ihre geschäftige Art ist. Der Oktober war seinem Vorgänger gefolgt, der November war schon alt geworden, der allgemeine Danktag stand vor der Thür. Das Leben im Grickelschen Hause war seinen gewohnten alltäglichen Gang gegangen. »Der Himmel, der Zeuge von allem war, that keine Wunder, und die Erde bewahrte ihre schreckliche Ruhe.« Kaffee, Frühstück und Mittagsmahl wurden ebenso regelmäßig aufgetragen, waren ebensogut zubereitet, so schmackhaft gewürzt und wurden mit derselben Redseligkeit verzehrt, als ob keine finstere Sorge an den Herzen zweier Glieder des kleinen Kreises nage. Die Sonne ging auf und unter, der Mond nahm zu und ab, die Erde drehte sich, Ebbe und Flut wechselten im Fluß, die Boote darauf segelten nach Norden und Süden, ohne anscheinend von den Kümmernissen unsrer jungen Freunde berührt zu werden, – was, obgleich es im ganzen nicht unnatürlich war, doch befremdlich erschien. Gewisse Philosophen behaupten, die ganze Schöpfung sei eine Einheit, ein einziges zusammenhängendes Ganzes, so daß, wenn eines seiner Massenteilchen gestört würde, sich diese Störung allen andern Massenteilchen mitteilen und von ihnen empfunden werden müßte. Deshalb spiegeln sich im Flimmern der Sterne die Zuckungen menschlicher Gehirne, und das Firmament wirft den Widerhall der Schritte der Menschen zurück. Die Massenteilchen Tom und Rose waren zur Zeit sicher sehr aus dem Gleichgewicht gebracht, aber die andern Massenteilchen schienen trotzdem ihre Bahnen ziemlich in der gewohnten Weise zu verfolgen. Und obgleich die Gehirne der Familie Gardiner mit beträchtlicher Heftigkeit zuckten, war eine entsprechende Zunahme im Flimmern der Sterne nicht wahrzunehmen, und obwohl Tom, wie schon gesagt, jeden Tag die Stadt der Länge und Breite nach durchwanderte und nach Arbeit suchte, so war doch, mochte auch das Firmament den Schall seiner Schritte pflichtgetreu zurückwerfen, der Widerhall für ihn unhörbar. Die Erde behielt ihre schreckliche Ruhe und wurde durch die Angst dieser beiden jungen Herzen nicht mehr erschüttert, als durch das wallende Wasser im Theekessel eines alten Weibes. Selbst unter dem nämlichen Dache mit ihnen war alles heiter, Mrs. Grickel war noch immer Mrs. Grickel, Professor Zacchanelli war stets Professor Zacchanelli, aber Tom und Rose hatten verlernt, über ihre liebenswürdigen Sprachfehler zu lächeln. Mr. Grickel hielt nach wie vor seine Vorträge in Stoneringhall, und Tom und Rose gingen dann und wann sie zu hören. Allein er verbreitete sich über das Elend der Menschheit im allgemeinen, und sie waren vom Elend im besonderen betroffen, und ich zweifle demnach, ob seine Ausführungen bis zu ihren Seelen drangen. Pearse, der Unvermeidliche, besuchte sie häufig, zwei-, dreimal in der Woche, und gewöhnlich brachte er sein Cello mit, dessen Brust er süße Töne zu entlocken wußte, wobei ihn manchmal Lina Grickel, manchmal Rose auf dem Piano begleitete. Nachher unterhielten sich das junge Mädchen und Pearse beinahe vertraulich, aber Rose verriet kein Interesse mehr an der Entwickelung ihrer Beziehungen. Ihre eine große Sorge vereinfachte das Geistesleben des jungen Ehepaares in hohem Grade. Sie nahm alle ihre Gedanken und Empfindungen unter Ausschluß aller andern in Anspruch, der große Fisch verschlang die kleinen. Wenn ein Mensch Zahnweh hat, dann wird er gegen alles andre ziemlich gleichgültig. Weshalb sollte ein wütendes, beständiges Herzweh nicht dieselbe Wirkung haben?

»Ich möchte nur wissen, inwieweit Grickels unsre Angelegenheiten kennen,« sagte Tom eines Tages. »Sie werden sich wohl die ganze Geschichte zusammenreimen, – angenehm – wie?«

»Sie haben auf jeden Fall nicht danach gefragt. Niemand könnte zartfühlender und diskreter sein, als sie. Sie mögen wohl etwas ahnen, natürlich, aber wenn auch – was braucht uns daran zu liegen.«

»Was uns daran zu liegen braucht? Weißt du denn nicht, daß jeder eine gewisse Mißachtung für einen Mann empfindet, der nicht im stande ist, sein täglich Brot zu verdienen? Ist es nicht genug, ein solcher Mensch zu sein – ein unnützer, unfähiger Nichtsthuer – ohne auch noch den Aerger zu haben, zu wissen, daß andre Leute das durchschaut haben? Ich – ich schäme mich, mein Gesicht zu zeigen – einem andern Mann ins Auge zu sehen!«

»So brauchst du gar nicht zu empfinden, Tom. Es ist doch nicht deine Schuld. Du thust ja alles, was du kannst. Du hast wirklich keine Veranlassung, dich zu schämen, und du kannst dich darauf verlassen, niemand verachtet dich oder denkt geringschätzig von dir. Alle Welt hat dich gern und achtet dich, und – o, Tom, – ich – ich –« Ihre Augen vollendeten den Satz, aber für ihn lag keine Süßigkeit mehr in ihren Worten und Blicken. Im Gegenteil, sie drückten den Stachel des Schmerzes nur noch tiefer in sein Herz.

»Und mittlerweile schwindet unser Geld. Wenn sich nicht bald etwas findet, können wir unser Kostgeld nicht mehr bezahlen, – was dann?«

»Wir können mit meinen Schmucksachen dasselbe thun, was du mit deiner Uhr gethan hast.«

»Ja, aber deine Schmucksachen werden auch höchstens ein paar Wochen weiter helfen. Und wenn wir deine Schmucksachen verzehrt haben?«

»Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe, Tom.«

»Ja, ja,« rief er achselzuckend. »Morgen ist Danktag. Ich kann morgen weiter nichts thun, als zu Hause bleiben und danken, denn die Geschäfte dieser Welt sind geschlossen. Wir haben so viel, wofür wir dankbar sein müssen, nicht wahr?«

»Ja, wahrhaftig, Tom, das haben wir; wir besitzen Gesundheit und Liebe und –«

Sie brach ab, und er, plötzlich ganz Aufmerksamkeit, rief: »Horch! – Was mag das nur sein!« und dann stand er erwartungsvoll still.

Die Ursache dieses Benehmens der beiden war die Pfeife des Briefträgers, deren schrille Töne vor der Hausthür erklangen. Dazu rasselte die Schelle mit großem Lärm infolge eines ungeduldigen Risses daran.

Die beiden standen bewegungslos, schweigend, in der größten Spannung wartend. Vielleicht – endlich! Schon hundertmal vorher hatte des Briefträgers Pfeife genau dieselbe Wirkung hervorgebracht. Seltsam, daß sie ihre alte Kraft so lange behielt, aber die unvergängliche Spannkraft der Hoffnung!

Rose trat auf den Gang, beugte sich über das Treppengeländer und lauschte. Sie hörte die Schritte des Dienstmädchens, das die untere Treppe emporstieg, dann am Wohnzimmer vorüberging und die Treppe zum ersten Stock hinaneilte.

Rose stand der Atem still.

Siehe da! In der Dämmerung, die am Fuße des letzten Treppenabsatzes herrschte, den Rose übersehen konnte, ward die Gestalt des Mädchens sichtbar.

»Etwas – für uns – Susan?«

»Ja, gnädige Frau, ein Brief für Mr. Gardiner.«

Rose lief hinab und riß dem Mädchen den Brief fast aus der Hand. Sie überflog die Aufschrift, und ihr Herz schlug so wild, daß sie zu ersticken glaubte. In der oberen linken Ecke des Umschlags stand gedruckt: »Shapleigh, Green, Soule und Walker, Advokaten, Wall-Street, New York.« Sie kam ins Zimmer zurück, – wie wußte sie selbst nicht – und schloß die Thür.

»Tom – Tom – da, nimm – und lies – geschwind.«

Tom nahm den Brief, öffnete ihn, so rasch seine zitternde Hand es erlaubte, und las laut:

 

»New York, 28. November 1883.

Lieber Tom! Komm Freitag, den 30. vormittags elf Uhr zu mir.

Dein aufrichtiger
Jonathan O. Soule.«

 

So war denn also endlich einmal ihr ängstliches Warten auf die Pfeife des Postboten nicht vergeblich gewesen; endlich war Nachricht von Mr. Soule gekommen, freilich eine sehr unbestimmte und sehr vorsichtige, die wenig, viel oder gar nichts verheißen konnte.

Der Brief traf Mittwoch nachmittags um fünf Uhr ein; die Einladung lautete auf Freitag vormittags. Zwei Nächte und ein Tag, beinahe achtundvierzig tödlich lange Stunden mußten also hingehen, ehe die durch Soules kurze Botschaft hervorgerufene geistige Unruhe gestillt werden sollte. In welchem Zustand hochgespannter Nervenaufregung, mit welcher Ungeduld, Erwartung, welchem Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung sie diese beiden Nächte und den zwischenliegenden Tag, diese vierzig und etliche Stunden überstanden, – wie sie sich das Glück, das ihnen vielleicht, vielleicht auch nicht, bevorstand, ausmalten, – wie sie sich mit Annahmen und haltlosen Mutmaßungen quälten, – wie sie das einfache Schreiben, das so viele Rätsel für sie barg, wieder und wieder durchlasen und versuchten, ihm eine besondere Bedeutung abzugewinnen, die es doch nicht enthielt – dies alles wird der teilnahmsvolle Leser sich auch ohne eingehende Schilderung vorstellen können. Der Danktag war merkwürdig lang. Das großartige Festmahl, das Mrs. Grickel bereitet hatte, schien nicht enden zu wollen. Pearse kam abends mit seinem Cello unterm Arm, und sie musizierten und tanzten, plauderten und lachten und schlossen den Abend mit Kuchen und einer Bowle, aber Tom und Rose schien es, als ob er bis zum Anbruch des jüngsten Tages dauere. Als sie endlich zu Bett gegangen waren, warfen sie sich ruhelos, in halbwachem Zustand auf ihrem Lager umher, zählten die Stunden und wunderten sich, ob der Freitag Morgen wohl jemals dämmern werde. Und als der ersehnte Tag endlich in strahlender Herrlichkeit über dem Flusse emporstieg – dann quälte sie die neue Frage, ob es jemals Elf schlagen werde.

Es fehlten noch einige Minuten an der festgesetzten Zeit, als Tom vor Mr. Soules Thüre stand. Seine Ungeduld hatte seine Schritte beflügelt, und da war er nun, einige Minuten zu früh. Er wartete, bis die Uhr der nahen Trinitykirche die bestimmte Stunde schlug, dann trat er ein.

»Sieh da, Tom,« begrüßte ihn Mr. Soule, »pünktlich, wie? So ist's recht, mein Junge, so lieb' ich's. Wir Advokaten sind pünktliche Leute, wie du weißt; wir verspäten uns gewöhnlich nur um eine halbe Stunde. Gelungen, wie festgewurzelt diese Gewohnheit ist, sie ist jetzt zur unumstößlichen Thatsache geworden. Wenn ein paar Advokaten eine Verabredung auf elf Uhr haben, kannst du Gift darauf nehmen, daß sich keiner vor halb Zwölf blicken läßt.«

»Es sollte mir leid thun, wenn ich zu früh gekommen wäre. Ich wußte nicht –«

»O nein, ganz und gar nicht, nicht im geringsten. Ich freue mich, dich zu sehen. Ich habe das nur gesagt, weil ich glaubte, daß diese kleine Eigenheit von uns Advokaten dir Spaß machen würde. – Na, Tom, nun setz dich mal. Ich möchte gern etwas mit dir besprechen, und das macht sich gemütlicher im Sitzen, als im Stehen. So ist's recht. Du bist also immer noch dein eigener Herr? Noch für eine Stelle zu haben?«

»Ja, Mr. Soule, ich bin noch zu haben,« antwortete Tom mit einem Versuch zu lächeln, denn er sah, daß sein Gegenüber zum Scherzen aufgelegt war.

»Nun, das dachte ich mir, Tom; offen gestanden, das habe ich erwartet. Es kostet Zeit, siehst du, so 'ne Geschichte, wie ich dir gleich anfangs gesagt habe. Rom ist nicht in einem Tag erbaut worden. – Aber jetzt, Tom, sollte ich mich nicht wundern, wenn wir auf Oel für dich gestoßen wären, was meinst du? Nein, ich wäre gar nicht überrascht, wenn wir justamong vutter affaire gefunden hätten – wie der Franzose sagt – Wasser auf deine Mühle, sozusagen.«

»Was, Mr. Soule?« fragte Tom lebhaft.

Mr. Soule räusperte sich. »Ahem – hm. Na, also Tom, um gleich in medias res zu kommen; ich möchte wissen, ob du mal was von der Patentmedizin K.K.K. gehört hast?«

»O ja, ich habe natürlich die Anzeigen oft gesehen.«

»Hast du sie jemals versucht?«

»Nein, das nicht.«

»Sehr was schönes! Quacksalbermedizin, natürlich, aber gut ist sie doch. Vertreibt einen Schnupfen im Augenblick. Ja, ja, es ist eine Sache, die ein ehrlicher Mann ehrlich empfehlen kann. Da ist nämlich Walsch – einer unsrer jungen Partner – mit drei Prozent beteiligt. Der kam also vorigen Montag Morgen mit einer Nase und einem Mund ins Geschäft, die er wirklich für Geld hätte sehen lassen können. Er hatte um elf Uhr einen Termin beim Stadtgericht, der sich nicht mehr aufschieben ließ, und es war deshalb von der größten Wichtigkeit, daß er wieder in Ordnung gebracht wurde. ›Versuchen Sie doch mal eine Flasche K.K.K.,‹ riet ich ihm und ließ eine Flasche bei Hudnut holen. Sie wirkte wie ein Zaubertrank. Walsch sagte, er habe gleich nach der ersten Dosis Erleichterung gefühlt; und ehe er nachmittags nach Hause ging, war sein Schnupfen total verschwunden. Inzwischen hatte er den Termin wahrgenommen und den Prozeß gewonnen; es war eine kleine Angelegenheit der Brauereigesellschaft ›zum Pfau‹ wider Schneider. Wir vertraten die Klägerin.«

»Aha!« machte Tom verständnislos. Er bemühte sich, seine Ungeduld zu beherrschen und zu verbergen. Worauf aber Mr. Soule eigentlich hinauswollte, davon hatte er keine blasse Ahnung.

»Ja, K.K.K. ist was Herrliches, kein Zweifel. Na, also Tom, da ist ein junger Kerl Namens James P. Mooney, hat sein Geschäftszimmer hier im selben Haus, eine Treppe tiefer, der den wunderbarsten Lebenslauf hinter sich hat, wovon ich jemals hier in der Stadt gehört habe. Ein armer Junge, Sohn ungebildeter Irländer – der Vater hatte eine kleine Schnapskneipe in der 10. Avenue – erst vierundzwanzig Jahre alt und schon Geschäftsteilhaber – voller Teilhaber, hörst du wohl – der Firma Fuller, Bliß und Tracy, jetzt Fuller, Bliß, Tracy und Mooney. Er trat mit achtzehn Jahren als Stenograph in ihr Comptoir, studierte in seinen Mußestunden die Rechtswissenschaft, wurde mit einundzwanzig Jahren ins Geschäft aufgenommen und entwickelte ein solches Genie, daß er jetzt mit vierundzwanzig Jahren, wie gesagt, vollberechtigter Teilhaber einer der ersten Firmen unsrer Stadt ist. Das stell' dir mal vor, Tom. Famos, was?«

»Außerordentlich,« gab Tom zu.

»Na, also, Tom, als ich neulich einmal Mooney traf – das kommt sehr oft vor, im Aufzug, weißt du – sprach er von den Leuten mit dem K.K.K. – er ist nämlich ihr Rechtsbeistand – und da erwähnte er zufällig, daß sie einen neuen Plan in betreff ihrer Anzeigen hätten – alle zwei, drei Jahre greifen sie die Sache auf eine andre Weise an – sie hätten jetzt einen ganz großartigen Plan, sagte er; und sie suchten einen jungen Mann, der mit der Feder gewandt umzugehen wisse und ihre Anzeigen verfassen könne. Siehst du nun, worauf ich hinaus will?«

»Ja, Mr. Soule.« Er glaubte wirklich, es beginne ihm ein Licht aufzugehen.

»Natürlich dachte ich gleich an dich. ›Hören Sie mal, Mooney, ich glaube, ich weiß den richtigen Mann für Sie,‹ sagte ich. Dann erzählte ich ihm einiges von dir, wer du wärst, und so fort, und ich habe ihn dahin gebracht, mir zu versprechen, daß er die Arbeit keinem andern übertragen wolle, ehe er mit dir geredet hätte. Sie würden gut bezahlen, sagte er, wenn sie den richtigen Mann fänden, und sechs Monate, vielleicht ein Jahr, könne die Beschäftigung dauern, und er meinte, nach meiner Beschreibung von dir wärest du wohl gerade die Kraft, die sie brauchten. Ich habe ihm versprochen, dir Mitteilung zu machen und dich heute hierher kommen zu lassen, und er würde sich freuen, dich jederzeit vormittags zu sehen, meinte er.« Mr. Soule sah nach der Uhr. »Es ist jetzt zwanzig Minuten nach Elf; und es wäre gut, wenn du jetzt hinuntergingst, um mit ihm zu sprechen. Hier, nimm meine Karte mit, um dich einzuführen. Ich werde bis nach ein Uhr hier bleiben; sprich also nochmal vor, ehe du nach Hause gehst, und laß mich wissen, was aus der Geschichte geworden ist.«

Nachdem er Mr. Soule mit Danksagungen überschüttet hatte, ging Tom in den untern Stock und fand das Comptoir von Fuller, Bliß, Tracy und Mooney ohne Schwierigkeiten. Er trat in das große allgemeine Zimmer, wo die Schreiber arbeiteten, übergab einem von ihnen, der nach seinen Wünschen fragte, seine eigene und Mr. Soules Karte und bat, ihn bei Mr. Mooney zu melden. Sein Herz jubelte, das kann ich euch versichern. O, wenn nur Rose an seiner Seite gewesen wäre! Wenn sie nur von der glücklichen Wendung hätte wissen und seine Freude darüber teilen können!

Der Schreiber kam sofort zurück. »Mr. Mooney ist im Augenblick beschäftigt, wird Ihnen aber in zehn Minuten zu Diensten stehen. Wollen Sie nicht so lange Platz nehmen?«

Tom setzte sich, und während er wartete, schwelgte seine Einbildungskraft in all den Herrlichkeiten, die folgen mußten, wenn Mr. Mooney sich veranlaßt sehen sollte, ihm die Abfassung der Anzeigen zu übertragen. Er würde hübsch bezahlt werden. Also »hübsch« – das konnte nach der niedrigsten Schätzung doch nicht weniger als fünfundzwanzig Dollars wöchentlich heißen, vielleicht mehr, beträchtlich mehr, dreißig, vierzig, es konnte sogar fünfzig Dollars heißen. Aber bleiben wir mal bei fünfundzwanzig. Sehr schön! – Und dann würde er sicher für sechs Monate, möglicherweise ein Jahr Beschäftigung haben. Er nahm sich vor, während der sechs Monate oder mehr seine Arbeit mit dem größten Eifer und äußerst sorgfältig zu thun; er wollte glänzende, eindrucksvolle und deshalb auch wirksame Anzeigen verfassen; er wollte sich seinen Auftraggebern so wertvoll, so unentbehrlich machen, daß ihr eigenes Interesse es ihnen verbieten müßte, ihn wieder gehen zu lassen; sie sollten ihn bei ihrer Unternehmung nicht missen können und würden ihn dann gewiß dauernd in ihrem Dienst behalten. Dann würde er in Zukunft ein sicheres Einkommen von fünfundzwanzig Dollars wöchentlich haben, wahrscheinlich mehr, aber sagen wir fünfundzwanzig. Und – nun kommt die Hauptsache – in seinen Mußestunden – denn daß ihm einige Muße verbleiben, daß das Schreiben von Anzeigen nicht seine ganze Zeit ausfüllen werde, nahm er als selbstverständlich an – in seinen Mußestunden wollte er sich mit vollem Ernste der Schriftstellerei hingeben, und bei unermüdlicher Arbeit und Ausdauer mußte es ihm doch schließlich gelingen, etwas zu leisten, was zu einer anerkannten Stellung in der litterarischen Welt führen würde. O, wäre Rose doch bei ihm, um die süßen Erregungen mit zu empfinden, die seine Seele schwellten! Immer tiefer versenkte er sich in die rosenfarbenen Nebel seines wachenden Traumes. Er baute ein blendendes Luftschloß und vergaß ganz, daß er als Grundmauer nur ein wesenloses »wenn« hatte. Seine Phantasie schwang sich so hoch über seine unmittelbare Umgebung empor, daß er zusammenfuhr, als der Schreiber ihm endlich ankündigte: »Mr. Mooney läßt bitten.«

Mr. Mooney saß auf einem Drehstuhl vor dem schmucksten Schreibtisch in einem schmucken Zimmerchen. Obgleich nur vierundzwanzig Jahre alt, wenn Mr. Soule recht berichtet war, sah er aus, als ob er mindestens dreißig wäre. Er hatte schlichtes, schwarzes Haar, aber so glänzend, daß es durch die Luftspiegelung fast weiß erschien; ein mageres, glatt rasiertes Gesicht, mit einem bläulichen Schimmer an Kinn und Wangen, seinem Typus nach entschieden keltisch, mit dünnen geraden Lippen und großem Zwischenraum zwischen Nase und Mund, einer hohen, schmalen Stirn, dicken, kurzen Nase, eckigen Kinnladen und kleinen grauen Augen, die unangenehm nahe bei einander standen. Sein glatt rasiertes Gesicht im Verein mit dem langen schwarzen Oberrock vom feinsten Tuch und der einfachen, schwarzen Halsbinde gaben seiner Erscheinung etwas, das an einen katholischen Geistlichen erinnerte. Seine Augen ließen auf Schlauheit, wenn nicht Falschheit schließen; sein Kinn drückte Hartnäckigkeit aus, seine Nase Roheit. Alles, was ihn umgab, zeigte den Selfmademann, aber nichts deutete auch nur im entferntesten auf einen Gentleman. Tom betrachtete ihn mit dem größten Interesse, denn es war ja natürlich für ihn sehr anziehend, einen Mann zu sehen, der mit vierundzwanzig Jahren solche Erfolge errungen hatte, wie sie Mr. Mooney aufweisen konnte.

Im Augenblick als Tom eintrat, hielt Mooney die Karten, die jener hineingeschickt hatte, vor sich, und zwar in jeder Hand eine, und betrachtete sie aufmerksam. Er blickte empor, als der Eintretende einige Sekunden stille stand, und fragte mit einem unangenehmen keltischen Lächeln mit leiser, unangenehmer keltischer Stimme: »Mr. Gardiner?«

»Zu dienen,« antwortete Tom, sich verbeugend.

»Wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen, Mr. Gardiner? Bitte, hier –« Er war eine außerordentlich leise sprechende Persönlichkeit, seine Stimme erhob sich kaum über den Flüsterton, und eine gewisse Geziertheit ließ seine Sprechweise fast weibisch erscheinen. Aber unter den Samtpfötchen merkte man die Krallen. Kratzt nur seine atlasglatte Epidermis im geringsten, und der ungezähmte Ire wird zum Vorschein kommen.

»Setzen Sie sich hierher, Mr. Gardiner,« sagte er, auf einen rechts von seinem Schreibtisch stehenden Stuhl zeigend, wo das Acht von dem einen Fenster des Zimmers voll auf das Gesicht seines Besuchers fiel, während sein eigenes im Schatten blieb.

Tom nahm gehorsam den angewiesenen Platz ein.

»Mein Hausgenosse, Mr. Soule, hat Sie mir als einen empfehlenswerten jungen Mann geschildert, der Beschäftigung sucht.«

Unsrem empfehlenswerten jungen Mann gefiel das nicht besonders, aber er setzte sich darüber hinweg.

»Es würde mich ungemein freuen, wenn ich etwas thun könnte, Ihnen zu helfen, ganz besonders, da Sie ein Freund Mr. Soules sind. Ich schätze ihn sehr hoch, und eine bessere Empfehlung als von ihm konnten Sie mir gar nicht bringen.«

Mooney schwieg. Tom wollte eine passende Entgegnung nicht einfallen, also schwieg auch er.

»Ich habe Mr. Soule vor einigen Tagen mitgeteilt, daß die Eigentümer der unter dem Namen K.K.K. bekannten Patentmedizin einen aufgeweckten Mann in Dienst nehmen wollen, der die Anzeigen abfassen soll. Mr. Soule meinte, Sie besäßen die für diese Arbeit erforderlichen Fähigkeiten. So weit wird Ihnen die Sachlage wohl schon bekannt sein, wie ich voraussetze.«

»Ja, Mr. Soule sagte, Sie suchten einen Mann, der Anzeigen für Sie schreiben solle, und er habe mich empfohlen.«

»Ganz recht. Er sprach von Ihnen als einem empfehlenswerten jungen Mann: gesetzt, gescheit, fleißig und der Unterstützung um so würdiger, als Sie eine Frau zu versorgen haben. Kinder haben Sie nicht, wie ich höre.«

»Nein, keine Kinder,« gab Tom zu, obgleich er nicht einzusehen vermochte, was das mit der Sache zu thun haben sollte.

»Gestatten Sie mir zu fragen, wie alt Sie sind?«

»Dreiundzwanzig.«

»Und was für eine Bildung haben Sie genossen?«

»Ich bin Abiturient des Columbia College – Jahrgang '87.«

»Und wie haben Sie seit Ihrem Abgang Ihre Zeit angewandt?«

»Ich bin fast zwei Jahre in Europa gereist.«

Tom war innerlich verstimmt. Auf diese Weise, so von oben herab, sich von einem Menschen ausfragen zu lassen, der nur ein Jahr älter war, als er selbst, paßte ihm sehr schlecht. Es gelang ihm indessen, seine Mißstimmung unter einer heitern Außenseite zu verbergen.

»Und was für litterarische Erfahrungen, wenn überhaupt welche, haben Sie gemacht?«

»Ich habe mich in verschiedenen litterarischen Arbeiten versucht – darin geübt – schon seit meiner Knabenzeit.«

»Ist schon irgend etwas von Ihnen veröffentlicht worden?«

»Als ich im Kollege war, schrieb ich Aufsätze für die Kollegeprogramme.«

»Ist seit Ihrem Abgange vom Kollege irgend etwas von Ihnen im Druck erschienen?«

»Nein, ich habe mehr zur Uebung, als mit der Absicht der Veröffentlichung geschrieben.«

»Hm!«

Es trat ein Schweigen ein, währenddessen Toms Hoffnung etwas sank.

»Wie schon gesagt, Mr. Gardiner, es würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen bei Ihren Bemühungen, sich die Mittel zum Lebensunterhalt zu verdienen, behilflich sein könnte, und wenn es sich zeigen sollte, daß Sie fähig sind, die Anzeigen so zu schreiben, wie wir sie brauchen, würde mir das sehr angenehm sein. Ich ersuche Sie, mir in ein oder zwei Tagen ein halbes Dutzend Proben solcher Anzeigen zuzuschicken, wie Sie sie zu schreiben gedenken. Hier ist ein Exemplar des K.K.K.-Almanachs, dessen Durchsicht Ihnen die nötigen Vorkenntnisse über den Gegenstand verschaffen wird. Seien Sie so freundlich, Ihre Probeanzeigen hierher nach meinem Bureau zu adressieren, und wenn sie zufriedenstellend ausfallen, werde ich Ihnen weitere Mitteilungen zugehen lassen.«

Bei diesen Worten erhob sich Mooney, und Tom entnahm daraus, daß die Besprechung zu Ende sei. Es gab aber noch einen Punkt, worüber er Aufklärung wünschte.

»Bitte um Verzeihung, Mr. Mooney, allein ich möchte gern wissen, was Sie für die Arbeit zahlen – welches Honorar, oder –«

»O, in dieser Beziehung kann ich nur sagen,« unterbrach ihn Mooney, »daß meine Klienten gewillt sind, den richtigen Mann sehr anständig zu bezahlen. Legen Sie uns eine Probe Ihrer Leistungen zur Prüfung vor, und ich kann Ihnen versichern, daß, wenn sie unsern Beifall findet, Sie mit der Höhe der Vergütung zufrieden sein werden. Ich bin nicht ermächtigt, ein bestimmtes Anerbieten zu machen, nehme aber an, daß die Stellung nicht weniger als hundert Dollars monatlich einbringt. Morgen, Mr. Gardiner, guten Morgen.«

In mancher Beziehung war Toms Unterredung mit Mooney, wenn auch kurz, doch keineswegs angenehm verlaufen. Eine so hochmütige Behandlung von einem solchen Menschen hinnehmen zu müssen, war eine bittere, scharfe Pille für ihn gewesen, und sein Hals brannte noch, als die Thüre hinter ihm ins Schloß gefallen war. Aber bei alledem war Tom in einer jubelnden Stimmung. Der Baugrund »wenn«, worauf der Grundstein seines stolzen Luftschlosses ruhte, war zwar nicht beseitigt, aber doch gefestigt und gestärkt. An seiner Befähigung, Aufmerksamkeit erregende und wirksame Anzeigen zu schreiben, zweifelte er keinen Augenblick. Die einzige Frage war, ob er auch Anzeigen verfassen könne, die dem kritischen Auge Mooneys »zufriedenstellend« erschienen. Konnte er das – nun, dann hatten alle seine Sorgen ein Ende. Hier ward ihm ein Einkommen von hundert Dollars auf wenigstens sechs Monate geboten – sein Glück war gemacht. Aber konnte er auch Anzeigen verfassen, die Mooney zufrieden stellten? Im tiefsten Innern fühlte er, daß er etwas der Art schreiben könne, was jedermann befriedigen müsse – und dennoch, wenn er mit bestimmter Beziehung auf Mooney daran dachte, wagte er nicht daran zu glauben. Es erschien zu gut, um wahr zu sein. »Zwischen Lipp' und Kelchesrand schwebt noch finstrer Mächte Hand«; diese Furcht war gerade stark genug in ihm, sein Glücksgefühl etwas zu dämpfen und ihn vor allzugroßer Zuversicht zu bewahren.

Er war aber doch sehr glücklich und sehr zuversichtlich und sehr, sehr eilig nach Hause zu kommen, um seine Frau an seinem Glücke teilnehmen zu lassen. Das liebe kleine Frauchen! Wie hatte sie die Last mit ihm getragen, ohne zu klagen! Jetzt konnte er ihr wirklich gute Nachrichten bringen, Nachrichten, die ihr schmerzendes kleines Herz erfreuen und den angsterfüllten Blick aus ihren Augen bannen würden, Nachrichten von den großen und glänzenden Aussichten, die vor ihm und ihr lagen. O, hätte er doch Flügel gehabt, um zu ihr fliegen zu können. Die gewöhnlichen Beförderungsmittel brachten ihn nicht rasch genug zu ihr, dachte er. Eine halbe Stunde mußte mindestens noch vergehen, ehe er sie wiedersah. Eine halbe Stunde? Eine Ewigkeit! Wie war das zu ertragen, zu überleben? Er bedauerte die paar Minuten, die er noch opfern mußte, um Soule die versprochenen Mitteilungen über das Ergebnis seiner Unterredung zu machen.

Soule war wie gewöhnlich wortreich und weitläufig.

»Nun, wie hat dir Mr. Mooney gefallen?« fragte er. »Netter Kerl, wie?«

Tom, der durch unnützen Widerspruch nicht noch mehr Zeit verlieren wollte, gab zu, Mr. Mooney sei ein netter Kerl.

»Ja, er hat eine angenehme Art an sich,« fuhr Soule fort. Tom dachte bei sich, daß Mooneys »Art« Soule gegenüber, der über ihm stand, vielleicht in manchen Einzelheiten von der »Art« abweichen mochte, die er Thomas Gardiner gegenüber, der tief, tief unter ihm stand, gezeigt hatte.

Bis zur Haltestelle der Straßenhochbahn von Hannover Square lief Tom; dann rannte er auf dem Bahnsteig auf und ab, ungeduldig über den Zeitverlust, denn es schien ihm, als ob der Zug nie kommen wolle. Als das merkwürdigerweise endlich doch geschah und er sich einen Platz erobert hatte, meinte er, er sei nie in einer solchen Schneckenpost gefahren. Von der Haltestelle, wo er aussteigen mußte, bis zum Hause Beekman Place Nr. 53 trabte er wieder. Er öffnete die Thür mit seinem Schlüssel, nahm beim Hinaufstürmen der Treppe mit jedem Schritt drei Stufen, stürzte ins Zimmer und fand – daß Rose nicht da war.

»O!«

Er war so enttäuscht, daß er auf den nächsten Stuhl fiel. Dort saß er eine Weile, zusammengesunken und erschöpft, ein Bild der Niedergeschlagenheit. Aber dann fiel ihm ein: »Sie ist vielleicht unten bei Lina Grickel.« Und er erhob sich und ging, sie zu suchen.

Auf dem Vorplatz traf er Mrs. Grickel und hörte von ihr, Rose sei ausgegangen. Er mußte also seine Aufregung zügeln und noch eine gute Stunde mit seiner Ungeduld ringen. Endlich schellte es an der Hausthüre.

»Ist Mr. Gardiner schon nach Hause gekommen, Susan?« hörte er, als er sich über das Treppengeländer beugte, eine liebe weibliche Stimme in einem Tonfall fragen, der einige Besorgnis verriet.

»Weiß nit, gnädige Frau, vielleicht. Er hat seinen eigenen Schlüssel und kann 'reinkommen, ohne zu schellen,« antwortete das Mädchen.

»Rose!« rief er leise.

»O, du bist da, Tom?«

»Ja, eil' dich!«

Und dann waren sie zusammen in ihrem Zimmer.

* * *

An jenem Abend steckten Mann und Frau die Köpfe zusammen und verfaßten Anzeigen zum Preise der Vorzüglichkeit des K.K.K. – kleine klingende Verse, scharf zugespitzte Epigramme, witzige Zwiegespräche, zierliche Akrosticha und so weiter. Es waren, wie sie sich schmeichelten, sehr gute Anzeigen, pikant, originell, ganz darauf berechnet, die Aufmerksamkeit der Zeitungsleser zu erregen und ihre Neugier zu reizen. Bis nach Mitternacht saßen sie dabei und arbeiteten mit fröhlicher Lust, und als sie endlich aufhörten, hatten sie etwa ein halbes Schock fertig gebracht.

»Ich werde morgen ein halbes Dutzend davon zur Post geben,« sagte Tom, »und die übrigen zurückbehalten.«

Am nächsten Morgen führte er diesen Vorsatz aus.

»Er wird sie vor zwölf erhalten, und es wird ihm etwa zehn Minuten kosten, sich ein Urteil darüber zu bilden. Nächsten Montag werde ich wohl von ihm hören.«

Aber der Montag kam und verging; Dienstag, Mittwoch und Donnerstag folgten; Mooney ließ nichts von sich hören.

»Ich fürchte, sie sind auf der Post verloren gegangen,« meinte Tom am Freitag. »Ich werde ihm Abschriften schicken und einige Worte beifügen.«

»Darauf müßten wir doch sicher in vierundzwanzig Stunden Antwort haben,« fügte er hinzu, als er den inzwischen geschriebenen Begleitbrief vorgelesen hatte. Er nahm den Hut und brachte den Brief selbst zur Post.

Vierundzwanzig, achtundvierzig Stunden, eine Woche, ein Monat gingen vorüber. Jetzt sind es fünf Jahre, und Thomas hat immer noch keine Antwort von Mooney.

Es dauerte indes geraume Zeit, ehe sie die Hoffnung aufgaben. Nur ganz allmählich schwand sie dahin, Tag für Tag wurde sie etwas schwächer, bis sie endlich erloschen war, wie eine ausgebrannte Kerze. In gleichem Verhältnis wie ihre Hoffnungen abnahmen, wuchs ihre Enttäuschung. Daß diese sehr bitter war, brauche ich wohl kaum zu bemerken. Wie Essig mit Wermut, so mischte sich mit der Enttäuschung der Aerger über die hochmütige Unhöflichkeit, die in Mooneys Schweigen lag. So unbedeutende Persönlichkeiten, ein solches Nichts waren sie also in den Augen dieses Emporkömmlings, daß er es nicht einmal für notwendig gehalten hatte, einer einfachen Forderung des Anstandes zu genügen. Dem Schaden fügte er noch den Spott hinzu, und das erbitterte sie. Das Schlimmste von allem aber war der Schlag, den Toms Glauben an seine Fähigkeiten erhalten hatte. »Da siehst du nun – nicht einmal eine brauchbare Anzeige kann ich schreiben,« stöhnte er. »Nicht einmal dazu reichen meine Fähigkeiten.« Rose behauptete natürlich, daß das ganz und gar nicht der Fall sei. »Die Anzeigen waren vorzüglich. Es ist nur Vorurteil, was ihn abhält, dir die Arbeit zu übertragen, weil du nicht bekannt bist, weil du noch nichts veröffentlicht hast.« – »Mein Schatz,« entgegnete er, und es muß zugegeben werden, daß seine Entgegnung einleuchtend genug klang, »was diese Leute verlangen, und das einzige, was sie verlangen, ist, daß sie ihre Medizin verkaufen. Wenn sie einen Mann unter die Finger kriegen, der Anzeigen schreiben kann, die den Absatz ihrer Medizin steigern, du kannst dich drauf verlassen, sie werden ihn schleunigst festhalten. Ob er bekannt oder unbekannt ist oder schon etwas veröffentlicht hat, daran liegt ihnen nicht ein Pfifferling. Wenn er nur dafür sorgt, daß das Geld im Kasten klingt, darauf kommt alles an. Mich haben sie nicht festgehalten – der Schluß liegt auf der Hand.«

Nun nahm Tom das trostlose Geschäft wieder auf, die Anzeigen in den Zeitungen durchzusehen, und zwar mit denselben Ergebnissen wie früher. Entweder wurde er ausgefragt, für nicht entsprechend gefunden und fortgeschickt, oder es wurde ihm eine Bezahlung angeboten, die er unmöglich annehmen konnte. Neun, zehn, zwölf Dollars die Woche konnte er wohl bekommen. Aber wie sollte er damit eine Frau ernähren? Stellen, die eine höhere Bezahlung einbrachten, waren nur Leuten zugänglich, die schon einige Erfahrungen hatten, und Erfahrungen, wie sie gewöhnlich verlangt wurden, hatte er nicht. So ging die Zeit dahin, und das Weihnachtsfest nahte heran. Ihr kleiner Kassenbestand nahm rasch ab; noch etwas mehr als vierzehn Tage, dann war er aufgebraucht. Das war ein sehr einfaches Rechenexempel. Und dann? Nun, Rose hatte von ihren Schmucksachen gesprochen; die konnten sie vielleicht noch einen Monat länger über Wasser halten. Und dann? Ja, und dann??? Sie hatten das Gefühl, als ob sie mit furchtbarer Schnelligkeit dem Abgrund völliger Vernichtung zugerissen würden. Schon waren sie dem Rande nahe genug, um in die gähnende Finsternis, die ihrer dort wartete, blicken zu können. Ihre verzweifeltsten Anstrengungen schienen den Sturz nicht aufhalten zu können. Müde, gebrochen und hoffnungslos, mit der Stumpfheit der Verzweiflung, beugten sie sich unter das Geschick. Che sarà sarà! Dann wieder rissen sie sich zu krampfhafter Thatkraft empor. Etwas, etwas mußte geschehen! Und dann öffnete die Sphinx ihre geheimnisvollen Lippen und sprach die ewige Frage aus: »Und was kannst du thun?«

Wir alle kennen den Sumpf des Verzagens. Und sie steckten gerade jetzt am tiefsten darin.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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