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Zweites Kapitel.

Mit der Ehe beginnen die Sorgen.


Die Frage: »wohin sollen wir gehen?« hatte unser glückliches junges Paar natürlich schon einige Zeit vor der Hochzeit in Erwägung gezogen und entschieden. Solche Pläne zu machen, ist ja eins der schönsten Vorrechte des Brautstandes. Sie kamen sehr rasch zum Entschluß, und dieser läßt sich mit einem einzigen Wort ausdrücken – heim. Rose sagte, sie sei Europas und alles Europäischen müde. Sie sehne sich danach, das liebe, gute, alte Amerika wiederzusehen. Dies sagte sie, wie nicht vergessen werden darf, in dem ehrwürdigen Rom. Was sie nicht sagte, aber was Tom sehr wohl wußte, war, daß der Friede ihres Gemüts um so vollkommener sein würde, je größer die Entfernung zwischen ihr und ihrer herrschsüchtigen Verwandten wäre. Demnach stimmte er ihr zu: »Auf alle Fälle nach Hause!« und sie gingen nach Hause. In Hinsicht auf ihre Heimreise bedarf nur ein Punkt der Erwähnung. Das Wetter war so schlecht als nur möglich. Wenn es nicht regnete, stürmte es; die See war stets bewegt, der Himmel schwer und grau wie Blei, und Mr. und Mrs. Gardiner fühlten sich so elend, daß sie den Tod willkommen geheißen hätten. Und dennoch, wenn Tom heute auf diese Fahrt über den Atlantischen Ozean zu sprechen kommt, so versichert er hoch und heilig, daß es eine reizende Sommerfahrt gewesen sei, über einen spiegelglatten Ozean, unter einem ewig lachenden Himmel, begleitet von einem sanft fächelnden Zephyr – solch wunderbare Täuschungen werden hervorgebracht, wenn der sanfte Mondschein der Erinnerung und die rosige Morgenröte der Liebe sich verschwören, eines Sterblichen Augen zu blenden.

Die Monate Juli und August verlebte unser junges Paar in einem alten Fischerdorf an der Küste von Maine – Maskataquonk, oder gewöhnlich kurzweg Quonk genannt. Dort war der Strand, wie man ihn so unvergleichlich nur in Maine findet, breit, fest und glatt, ebenso angenehm zum Fahren, als zum Gehen oder Ausruhen. Himmelanstrebende, zerklüftete Felsen spendeten kühlen Schatten, wo ein paar gesetzte junge Leute sich vorlesen oder Fragen der Lebensweisheit oder der höheren Mathematik ohne Furcht vor Störungen oder Beobachtungen erörtern konnten; entzückende, stille Waldwege, erfüllt vom Duft wilder Rosen, belebt von muntern Eichhörnchen, unschädlichen, buntschillernden Schlangen und lustig zwitschernden Singvögeln, luden zum Lustwandeln ein und boten eine herrliche Gelegenheit zum Studium der Tier- und Pflanzenwelt der Gegend. Da gab es ausgedehnte Flächen grüner Weiden, von denen das leise Läuten der Kuhglocken träumerisch an das Ohr des Wanderers schlug, oder über die, weißen Wolken gleich, blökende Schafherden zogen; da gingen die Eingeborenen barfuß, trugen malerische Kittel von blauer Leinwand und gaben ihre Meinung in einer wunderlichen, dünnen, näselnden Abart der englischen Sprache kund. Das war der Ort, wo Tom und sein junges Frauchen Zuflucht vor der Hitze des Juli und August suchten. Anfang September aber begaben sie sich nach New York, um sich dort niederzulassen.

In der ersten Zeit nahmen sie ihren Aufenthalt in einem ruhigen Familiengasthof, der in einer der sich von Madison Square abzweigenden Straßen lag. Das war ihre Operationsbasis, von wo sie ihre Streifzüge unternahmen, um eine feste Wohnung zu suchen. Sie dachten noch nicht daran, sich einen eigenen Haushalt einzurichten, das wäre ja zu alltäglich, zu prosaisch gewesen. Sie hätten noch hinzufügen können, zu mühsam und zu kostspielig, allein sie hatten noch nicht Erfahrung genug, um die aus der Führung eines eigenen Haushaltes erwachsenden Lasten und Ausgaben in Rechnung zu ziehen. Noch weniger aber dachten sie daran, in eine Pension zu gehen; der bloße Gedanke daran war ihnen widerwärtig, es konnte ihrer Ansicht nach nichts Unerträglicheres und Ungemütlicheres geben. So blieb ihnen also nur ein Ausweg, und das war, sich irgendwo Zimmer zu mieten und sich in Beziehung auf ihre Mahlzeiten auf die Restaurants zu verlassen. Für ihre jugendlichen Vorstellungen hatte diese Lebensweise einen eigenartigen Reiz, denn es haftete ihr ein leiser Beigeschmack von Ungebundenheit an, und sie ließ viel Abwechslung und Anregung erwarten.

So begaben sie sich also auf die Wohnungssuche und fanden sehr bald etwas, das ihren Wünschen vollkommen entsprach, und zwar im »Ariosto«, einem hauptsächlich von jungen Ehepaaren bewohnten Haus der 42. Straße, nicht weit vom Broadway. Es hatte den besondern Vorzug, daß sich im Erdgeschoß ein gutes Restaurant befand, bei schlechtem Wetter, oder wenn Ermüdung das Ausgehen unbequem machte, eine große Annehmlichkeit. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer von angemessener Größe mit einem Erkerfenster und ziegelroter Tapete, einem hübschen kleinen blau und weiß tapezierten Schlafzimmer und einer Badestube, deren Fußboden und Wände mit Fliesen bekleidet waren. Die Vorderseite des Hauses war nach Süden gerichtet, so daß die Zimmer den ganzen Tag von Sonnenglanz erfüllt waren. Allerdings lagen sie im sechsten Stock, dafür boten sie aber auch eine weite Aussicht über die Dächer der Stadt, und man konnte sogar die Auffahrt zur Brooklyner Brücke erkennen, deren die Drahtseile tragende Türme hoch in die Lüfte ragten. An einer Wand des Wohnzimmers befand sich ein großer Kamin, von einem schönen, in Eichenholz geschnitzten Mantel umgeben. An langen Winterabenden dort vor einem lustigen Feuer zu sitzen, war gewiß herrlich, und das Erkerfenster führte auf einen kleinen Balkon, wo sie frische Luft genießen und den Sonnenuntergang bewundern konnten. Bei der ersten Besichtigung der Wohnung waren sie beide sofort dafür begeistert und entdeckten immer neue Vorzüge. Sie waren überzeugt, daß sie sich unter ihren Händen zu einem wahren Schmuckkästlein an Behaglichkeit und Schönheit gestalten würde, und beschlossen, nicht weiter zu suchen. Ein Jahr war die kürzeste Zeit, auf die der Hauswirt vermieten wollte; demnach schlossen sie einen Mietsvertrag auf ein Jahr, und zwar vom 1. Oktober an. Die jährliche Miete betrug tausend Dollars, gerade ein Viertel ihres Einkommens, aber das schreckte sie nicht ab. Der Vertrag wurde am 10. September unterzeichnet und untersiegelt und die Miete für den ersten Monat bar bezahlt.

»Natürlich,« sagte der Hauswirt, »haben Sie kein Recht, vor dem 1. Oktober einzuziehen, aber ich nehme es nicht so genau. Sie können kommen, wann sie wollen.«

Sie würden einziehen, sobald die Zimmer eingerichtet und in Ordnung gebracht seien, entgegneten sie, und gaben sich sofort der angenehmen Beschäftigung hin, die Möbel und sonstige Ausstattung zu kaufen und zu bestellen.

Thomas hatte von seinem Vater eine große Anzahl von Büchern und Bildern geerbt, die gegenwärtig auf einem Speicher in der untern Stadt lagerten und verstaubten. Die Bücher waren zum größten Teil schön gebundene Ausgaben der besten englischen Werke, die in der Bibliothek keines gebildeten Mannes fehlen sollten, und die Bilder bestanden aus sehr ansehnlichen Proben der Kupferstichkunst. Thomas ließ sie nach dem Ariosto schaffen, um damit die Wände seiner Zimmer zu schmücken. Der Büchersammlung konnte er eine eigene kleine Bibliothek hinzufügen, die er auf seinen Reisen nach und nach angekauft hatte. Im übrigen hatte er seit seiner vor mehr als einem Jahre erfolgten Abreise von Paris eine weise Sparsamkeit beobachtet, deren Ergebnis war, daß er sich jetzt im Besitz von beinahe achthundert Dollars sah. Als Rose und er sich der Aufgabe widmeten, Notwendiges und Ueberflüssiges für ihre häusliche Einrichtung zu kaufen, hatten beide nicht das beengende Gefühl, auf jeden Pfennig sehen zu müssen. Tag für Tag zogen sie umher und fanden, daß Einkaufen das lustigste Geschäft in der Welt sei. Das ist es freilich, wenn man die Geliebte oder den Geliebten an der Seite und eine wohlgefüllte Börse in der Tasche hat, und wenn es geschieht, um das eigene liebe Heim auszustatten und zu verschönern. Wenn man auch zugeben muß, daß eine Börse mit weniger als achthundert Dollars nicht gerade sehr wohlgespickt und nicht übermäßig lang ist, so ist sie immerhin wohlgefüllt genug, wenn die Liebhabereien nicht allzu anspruchsvoll sind und das auszustattende Heim nur aus einem Wohn- und einem Schlafzimmer besteht. Ich will den Leser nicht mit der Aufzählung all der Dinge ermüden, die sie kauften, der Teppiche und Lampen, der Stühle und Tische, der Vorhänge und Nippsachen. Es wird genügen, wenn wir hier die Thatsache verzeichnen, daß in vierzehn Tagen drei Viertel ihres Kapitals in andre Hände übergegangen waren, und ferner, daß als Gegenwert dafür die Zimmer im Ariosto ein so kosiges und einladendes Nestchen geworden waren, wie man auf der ganzen Manhattaninsel keines mehr finden konnte. Alles, was sie gekauft hatten, war bar bezahlt, mit Ausnahme des Pianos für Rose – denn Rose mußte ihre musikalischen Uebungen natürlich fortsetzen – und Toms Schreibtisch – denn jetzt, wo er verheiratet war, hatte Tom erklärt, er wolle nicht mehr mit seiner Muse spielen und kokettieren, sondern in vollem Ernst an die Arbeit gehen und bei Gott! etwas zu stande bringen. Das Instrument war ein Pianino von Hennerway, freilich sehr teuer, aber Tom hatte gemeint, ein Pianino müsse doch fürs ganze Leben ausreichen, und es würde Sparsamkeit am unrechten Orte sein, wenn sie ein geringwertiges Instrument kaufen wollten. Der Schreibtisch war ein geschmackvolles Erzeugnis der Kunsttischlerei in Alteichen, mit zahlreichen Schiebladen und Schränkchen, alles reich geschnitzt. Er kostete ebenfalls ein schönes Stück Geld, allein Tom sagte, schon das Schreiben an einem solchen Tische würde ein mächtiger Trieb für seine Schaffenskraft sein, und ein Schreibtisch sei doch im Grunde genommen für einen Schriftsteller ein zur Ausübung seines Berufes unentbehrliches Geräte; es sei deshalb am besten, gleich einen guten anzuschaffen. Das waren die beiden einzigen Gegenstände, die sie auf Kredit entnahmen. Mit den Verkäufern war er übereingekommen, daß die Rechnungen dafür ihm erst nach dem 1. Januar überreicht werden sollten, und bis dahin würde er die notwendige Deckung aus seinen laufenden Einnahmen erspart haben.

Am Montag den 24. September bezogen sie endlich ihre neue Wohnung. Sie trafen gegen drei Uhr nachmittags in einer Droschke ein, und der Hauswirt übergab ihnen in aller Form die Schlüssel, der Aufzug trug sie ins sechste Stockwerk, sie schlossen die Thüre auf und – machten sie hinter sich gleich wieder zu. Da standen sie nun, mitten im Wohnzimmer, mit dem stolzen Glanz des unbeschränkten Besitzbewußtseins in den Augen. Das war ihr Schloß, ihr Eigentum, ihr Königreich. Ein seliges Gefühl der Abgeschlossenheit, der Unabhängigkeit, des Daheimseins schwellte ihre Herzen. Es war einer der Augenblicke im Leben, die man rot anstreicht.

»O, ist es nicht himmlisch?« rief Rose, die Hände faltend und ihrem Gatten mit einem glücklichen Lächeln ins Antlitz schauend. »Hat wohl jemals irgend ein Mensch solch ein reizendes Heim gehabt?«

»Ja, es ist wirklich ganz nett, das muß man sagen,« stimmte Tom bei und gab damit ein Beispiel der Neigung des Angelsachsen männlichen Geschlechts, seine wirklich hoch gespannten Empfindungen dadurch zu verbergen, daß er ihnen, einen abgeschwächten Ausdruck leiht.

»Ganz nett!« wiederholte Rose spöttisch. »O, – es ist – es ist göttlich, es ist beinahe zu schön, um es glauben zu können. Es ist wie ein Traum. Nun, mein Herr, setzen Sie sich gleich dorthin,« sagte sie, auf ihn zugehend und ihn sanft in die Tiefe des neuen ledergepolsterten Armstuhls drückend, »du mußt dich gleich dorthin setzen und eine Pfeife rauchen. – Hier ist deine Pfeife, – hier der Tabak – und hier hast du Streichhölzer. So ist's recht. So, das soll unsre Hauseinweihung sein. Ich will sehen, daß du dich vollständig zu Hause fühlst. Und, – o, zu denken – kannst du dir's vorstellen – ich kann's nicht – daß dies alles unser, unser unser eigen ist?«

Sie stimmte ein Jubellied an, tanzte im Zimmer umher und bewegte dabei die Hände, als ob sie Castagnetten schlüge:

» El dia que nos casemos,
Valgame Dios!« –

Tom saß währenddessen in seinem Stuhl, paffte blaue Rauchwolken in die Luft und folgte ihren Bewegungen mit bewundernden Blicken. Dann und wann hielt sie inne, um die Stellung einer Vase zu ändern, oder den Faltenwurf eines Vorhangs zu verbessern, oder ihre schlanken Finger über die Tasten des Pianos gleiten zu lassen, gleichsam als wolle sie durch diese kleinen Handlungen ihr Eigentumsrecht bethätigen. Dann hörte sie plötzlich auf; alle Freude wich aus ihrem Antlitz, und sie sank auf einen Stuhl.

»O, Tom!« rief sie. »Meinst du – o, la joie fait peur! Ich weiß, ich weiß es ganz bestimmt – es steht uns etwas Schlimmes bevor!«

Und während der nächsten halben Stunde hatte Tom alle Hände voll zu thun, ihr diese lächerliche, krankhafte Einbildung auszureden. Dabei nahm er seine Zuflucht zu Worten und zu gewissen Handlungen, die vielleicht eindringlicher redeten als Worte. Allein sie wollte sich nicht trösten lassen; sie wußte – sie wußte ganz bestimmt – daß etwas Unangenehmes vorfallen werde. Auch Tom, der bald mit seiner Weisheit zu Ende war, wurde von ihrer Mutlosigkeit angesteckt – als plötzlich ihr Gesicht wieder in hellster Freude strahlte. Sie sprang auf und rief: »O, der Balkon, wir haben den Balkon noch gar nicht versucht! Komm, wir wollen uns auf unsern Balkon setzen.«

Sie setzten sich also auf den Balkon und blieben dort, bis es beinahe dunkel geworden war. Den Hauptinhalt ihres Gespräches bildete natürlich das Glück, das ihrer im nächsten Jahre wartete, die schöne Zeit, die sie in ihrem neuen Heim verleben würden. Endlich fiel es ihnen ein, daß es kein schlechter Gedanke sei, wenn sie gingen, um ihr Diner einzunehmen. Rose setzte also ihren Hut auf, und sie machten sich auf den Weg.

»Ob wohl noch alles da sein wird, wenn wir zurückkommen?« fragte sie. »Ich kann mir nicht helfen, ich habe Angst, daß es in der Luft verschwindet, wie Aladdins Schloß.«

Den Ort, wo sie speisen wollten, konnten sie sich unter sämtlichen Restaurants New Yorks wählen. Tom schlug Moretti vor. »Das ist ein ganz berühmtes Lokal,« belehrte er sie. »Weißt du, dort trifft man immer eine Menge Schriftsteller, Maler, Sänger und Schauspieler, und die Speisen sind wirklich ausgezeichnet, man bekommt nur zu viel. Aber es geht dort sehr ungezwungen her; es wird dich an Italien erinnern, und ich glaube, du wirst es ganz interessant finden.«

»O, dann laß uns jedenfalls dorthin gehen,« entschied sie.

Nachdem sie sich einen Tisch gesichert und ihre Beratung mit dem Kellner gehalten hatten, sagte Rose: »Du, Tom, sieh mal, da drüben sitzt ein junger Herr, der uns ansieht und lächelt. Kennst du ihn?«

Tom sah nach der Richtung, die ihre Blicke andeuteten. Der junge Herr, von dem die Rede war, hatte sich an einem benachbarten Tisch niedergelassen, vor sich eine große Zeitung, die an eine Flasche Chianti gelehnt war.

Tom sprang auf. »Wie? So wahr ich lebe! Das ist ja Jack Pearse!« rief er. »Ich will ihn herholen und dir vorstellen. Wir waren Klassenkameraden, und er ist einer der nettesten Menschen, die es gibt. Ich habe ihn nicht wiedergesehn, seit ich an meinem einundzwanzigsten Geburtstag hier in demselben Zimmer mit ihm gegessen habe.« Und ohne auf Roses Zustimmung zu warten, trat er auf den Freund zu. Gleich darauf schüttelten sich die beiden jungen Männer kräftig die Hände und begrüßten sich mit den unzusammenhängenden Worten, wie sie in der Regel zwischen alten Freunden gewechselt werden, die sich nach langer Trennung unerwartet wiedersehen.

»Pearse, wahrhaftig, Pearse!«

»Gardiner!«

»Na, das muß ich sagen!«

»Das ist famos. Ich glaubte, du wärest in Europa.«

»Nein, ich bin zu Anfang dieses Sommers zurückgekommen. Wirklich, das freut mich ungeheuer.«

»Und du bist schon lange wieder zu Hause? Weshalb hast du mich denn nicht aufgestöbert?«

»O, ich bin nicht in New York gewesen. Luft geschnappt irgendwo da oben an der Küste von Maine. Aber es war meine Absicht, dich aufzusuchen, sobald ich mich etwas eingerichtet haben würde.«

Und so weiter und so weiter.

Pearse war ein großer, breitschultriger, prächtig gewachsener junger Bursch, rotbackig, blauäugig und mit kurzgehaltenem kastanienbraunem Haar, das Neigung hatte, sich zu locken. Hätte er nicht eine Brille getragen, so würde er einem Bildhauer Modell zu einem Athleten haben stehen können. Wenn man ihn ansah, empfand man ein ähnliches Gefühl des Wohlbehagens wie beim Anblick eines vollendet schönen Vollblutpferdes. Sein Gesicht war kräftig geschnitten, angenehm und gesund, und seine weiche, wohlklingende Stimme nahm sofort zu seinen Gunsten ein. Die meisten Männer, die mit ihrem Gegenüber auf so vertrautem Fuße stehen wie er mit Tom, würden sofort irgend eine zarte, oder auch unzarte Anspielung auf dessen hübsche Begleiterin gemacht haben. Pearse that nichts dergleichen; er ließ sich nicht einmal merken, daß er von dem Vorhandensein dieser Begleiterin etwas wisse. Tom mußte den ersten Schritt thun, und er that ihn. »Komm mit,« schlug er vor, »und beende deine Mahlzeit an unserm Tische.«

Pearse errötete; es war eine sonderbare Eigenheit von ihm, daß er bei der geringsten Veranlassung errötete. »Das würde mir ein großes Vergnügen sein, – wenn ich nicht lästig falle,« entgegnete er.

»Nein, du bist zu klein, um uns zu beengen, komm nur.«

Tom zog Pearses Arm durch den seinigen und führte ihn Rose zu.

»Mr. Pearse – meine Frau,« stellte er mit einer Betonung vor, aus der die Erwartung herauszuhören war, daß seine Worte eine überraschende Mitteilung enthielten.

Pearse zog auch in der That die Augenbrauen empor. »Was? – Du willst doch nicht sagen –« begann er, erinnerte sich aber sofort an das, was die gute Lebensart von ihm forderte, machte eine Verbeugung und ergriff die Hand, die Mrs. Gardiner ihm darbot, während sein Angesicht ganz Bewunderung war.

»Ja, verheiratet und eingerichtet,« versicherte Tom. »Aber nimm Platz.«

»Dann wünsche ich dir Glück – von Grund meines Herzens wünsche ich dir Glück. Und auch Ihnen, Mrs. Gardiner, Tom ist in seiner Art kein übler Kerl.«

Rose antwortete nur durch ein freundliches Lächeln. »Besten Dank für das gute Zeugnis,« sagte Tom dagegen. »Sie können ihm glauben, Mrs. Gardiner. Er ist ein Freund meiner Jugend und hat mich aufwachsen sehen. Aber nun, Alterchen, erzähle uns etwas von dir. Wie hat das Leben, dir mitgespielt? Was treibst du? Du bist wohl noch nicht verheiratet?«

»Du lieber Gott, nein, nicht im mindesten. Ich bin Rechtsanwalt. Seit vorigem Frühjahr bin ich zur Praxis zugelassen.«

»Soll das deinen Junggesellenstand erklären?«

»Nein, daran dachte ich dabei nicht, aber es könnte wohl auch eine Erklärung sein. Die Ehe ist ein Luxus, eine Verschwendung, die sich ein eben flügge gewordener Rechtsanwalt nicht gestatten kann, – das heißt, wenn er für seinen Lebensunterhalt auf seinen Beruf angewiesen ist, wie das bei mir der Fall ist. Wenn er nebenbei ein geschwollener Geldprotz ist, liegt die Sache natürlich anders. – Da haben wir's! Nun habe ich mir die Zunge verbrannt, wie? Bitte tausendmal um Verzeihung. Ich empfinde die unbegrenzteste Hochachtung vor geschwollenen Geldprotzen. Ich hatte ganz vergessen, daß du auch einer bist.«

»O, macht nichts. Ich verzeihe dir. Wir Kapitalisten sind an solche Aeußerungen des Neides von seiten der arbeitenden Klassen gewöhnt. Jetzt fällt mir ein, daß du immer gesagt hast, du wolltest Jus studieren. Ich erinnere mich noch deiner Rede über die Wahl des Berufs. Das war eine großartige Leistung, die einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Zum Teil mag das daher kommen, weil du in der Mitte stecken bliebst und dein Manuskript aus der Tasche holen mußtest, um den Faden wieder zu finden. Ich entsinne mich noch, wie rasend wir alle Beifall klatschten. – Nun, und in andrer Beziehung – alles in Ordnung?«

»O ja – danke schön, alles in Ordnung. Aber warte, Gardiner, wenn du hier alte Geschichten aufwärmst, will ich dir wenigstens nichts schuldig bleiben. Eine kleine Begebenheit aus deiner stürmischen Jugend wird deine Frau gewiß interessieren. – Also, Mrs. Gardiner, Tom war so rücksichtsvoll, Ihnen zu erzählen, wie ich in meiner Jungfernrede stecken geblieben bin. Nun hören Sie mal zu. Als wir zusammen im College waren, bestand dort eine Debattiergesellschaft, die den Namen ›Wittenagemote‹ führte, was im Angelsächsischen, soviel ich weiß, ›Versammlung der Weisen‹ bedeutet. Es war herkömmlich, daß der Vorsitzende der Versammlung die Verhandlungen mit einem Gebet eröffnete, und in der Regel las er das aus dem Gebetbuch der Episkopalkirche vor. In unserm Jahre war Ihr teurer Gatte Vorsitzender. – Schön. – Der Abend, an dem die alljährliche öffentliche Hauptversammlung stattfinden sollte, kam heran. Thomas bestieg das Podium, um den Vorsitz zu übernehmen, und es herrschte ein andächtiges Schweigen. Er trat an den Pult, schlug das Gebetbuch auf und begann tapfer zu lesen, aber nach ein oder zwei Sätzen hielt er inne. Er hatte entdeckt, daß er etwas von Taufe und einem Täufling gesagt, und ein Blick auf die Ueberschrift belehrte ihn, daß er ein ›Gebet bei der Taufe eines Kindes‹ gewählt hatte. In peinlicher Verlegenheit schaute er um sich. Einige Schlingel auf den ersten Bänken fingen an zu kichern. Im nächsten Augenblick stürzte er in toller Hast vom Podium, entfloh aus dem Saal und eilte fort, um ›fern von Madrid darüber nachzudenken‹. Der stellvertretende Vorsitzende mußte Toms Platz einnehmen.«

Rose lachte herzlich. »Es scheint mir, die Herren sind nun quitt,« meinte sie.

»Quitt? Noch lange nicht. Pearse hat mich um mehrere Pferdelängen geschlagen, aber ich werde schon noch einmal mit ihm abrechnen,« entgegnete Tom, dem Beleidiger mit der Faust drohend.

»Daran zweifle ich keinen Augenblick. Für jetzt aber fühle ich mich ziemlich sicher, denn dort kommen eure Maccaroni. Kein Sterblicher kann an einem andern Rache nehmen, wenn er eine Schüssel von Morettis Maccaroni vor sich hat.«

Es ist unnötig, unsern Freunden auf dem vielfach gewundenen Pfade ihres Mahles zu folgen. Ihr Gespräch war genau so, wie das dreier junger Leute mit leichten Herzen unter so angenehmen Verhältnissen notwendigerweise sein mußte – lustiger Unsinn, freundschaftliche Neckereien, beständiges fröhliches Lachen. Die Gäste an den andern Tischen, die Bilder an den Wänden, die Güte der Speisen, die Vorzüglichkeit des Weines, Toms Gewohnheit, zwischen den einzelnen Gängen eine Cigarette zu rauchen, Pearses Eigenschaft als Nichtraucher – diese und hundert andre Kleinigkeiten lieferten den Stoff ihrer Unterhaltung. Das hübsche italienische Blumenmädchen, das damals Morettis Restaurant zu besuchen pflegte, das aber seitdem durch einen weniger hübschen amerikanischen Jungen verdrängt worden ist, kam und bot seine Waren an, und Pearse bestand darauf, Mrs. Gardiner einen großen Strauß herrlich duftender Rosen zu überreichen, während sie die niedliche Verkäuferin in ihrer Muttersprache anredete und dadurch das Leuchten der Freude in den Augen des lieblich errötenden Mädchens hervorzauberte. Natürlich trat auch Moretti selbst einmal an den Tisch, erkundigte sich, wie sie zufrieden seien, und nickte ihnen mit einem väterlichen Lächeln zu, wie das seine gastfreundliche Gewohnheit war. In Tom erkannte er einen Stammgast aus früheren Jahren und war sehr wortreich und heiter. Auch mit ihm sprachen sie italienisch, und als er hörte, daß la Signorina Mr. Gardiners Gattin sei, wollte er von einer Weigerung nichts hören, sondern ließ eine Flasche Asti Spumante kommen, die er ihnen zu Ehren öffnete. Mit erhobenem Glas brachte er einen Toast aus, der Roses Wangen mit einem Rot übergoß, ebenso tief, wie das der Blumen, die sie am Busen trug. »Möchten Ihnen fünfzig Kinder beschert werden, und sie alle Ihnen gleichen!« Glücklicherweise sprach er italienisch, was Pearse nicht verstand. Ach, wo sind die Zeiten Morettis hin! Das Restaurant besteht noch, dasselbe kleine, unscheinbare Schild hängt noch über demselben kleinen, unscheinbaren Eingang; die alten Tische, dieselben Kellner, die nämlichen sonderbaren Wandverzierungen sind noch vorhanden; dieselben Gerüche erfüllen den Raum – als ob sie die Gespenster vieler Generationen guter Diners wären – und die Diners selbst sind gewiß noch sehr gut. Aber der Geist und das, was den Ort anziehend machte, sind dahin. Moretti, der witzige, heitere, freundliche Moretti, dessen Gedächtnis in den Herzen aller, die ihn kannten, ewig frisch bleiben wird, Moretti wird uns niemals wieder dort willkommen heißen. Er hat die Wirtschaft verkauft und sich ins Privatleben zurückgezogen.

»Was wirst du mit dem Rest des Abends anfangen, Pearse?« fragte Tom, als sie ihren Kaffee schlürften.

»Weiß nicht, wahrscheinlich nach Hause gehen!«

»O nein. Wenn du nichts Besseres vorhast, dann komm mit uns. Ich möchte dir unsre Wohnung zeigen.«

»Ja, und unsern Balkon,« nötigte auch Rose.

»Und unsern Kamin.«

»Sonst noch was? Führt doch alle eure Verlockungsmittel auf einmal ins Gefecht. – Nun, ich will nicht ungefällig erscheinen, ich stehe zu Diensten.«

Er ging, um seinen Hut zu holen, und als er zurückkam, trug er einen großen, in einen Ueberzug von grünem Tuch gehüllten Gegenstand unter dem Arm, und das war –

»O, ein Cello!« rief Rose. »Sie spielen Cello?«

»Da haben wir's. Ich hatte rein vergessen, daß Pearse ein großer Musiker ist,« sagte Tom. »Du hast's fortgesetzt?«

»O ja, in gewisser Weise. So viel Zeit, als ich dafür erübrigen kann, widme ich der Musik.«

»Aber wie kommt es, daß du das Instrument jetzt bei dir hast? Nimmst du es etwa mit in dein Geschäftszimmer, um in den Pausen zwischen deinen Arbeiten zu üben?«

»Das gerade nicht. Wenn ich das versuchte, könnte es mir das Leben kosten. Die Herren im Nebenzimmer würden mich mit Dynamit in die Luft sprengen. Wer hat dir denn außerdem gesagt, daß es überhaupt Pausen in meinen Geschäften gibt? – Nein, es ist zur Ausbesserung fort gewesen; ich habe es vorhin auf dem Rückweg abgeholt.«

»Und wenn wir jetzt nach Hause kommen, wollen wir musizieren,« rief Rose ganz strahlend. Ich habe eine Menge Sachen für Cello und Klavier. Wenn man in Italien Noten kauft, bekommt man beinahe stets Sachen für Cello oder Violine mit Klavierbegleitung als Zugabe; – ein Glück, daß ich sie aufgehoben habe.«

»Warte mal, Pearse,« warf Tom dazwischen. »Wie ist mir denn? Hast du nicht dein Instrument gewechselt? Ich meine, mich zu entsinnen, – daß du in unserm Schulorchester den Kontrabaß gestrichen hättest.«

»Fabelhaftes Gedächtnis, Gardiner, das hab' ich auch.«

»Schade, daß du deinen Kontrabaß nicht bei dir hast. Wenn du uns mal wieder besuchst, vergiß doch ja nicht, ihn mitzubringen. Mrs. Gardiner besitzt eine Menge Noten für Kontrabaß, es ist ihr bevorzugtes Lieblingsinstrument.«

»Ihr Herr Gemahl, Mrs. Gardiner, ist ein Virtuos auf der Drehorgel,« entgegnete Pearse. »In vollem Ernst, ich mache durchaus keinen Spaß. Weißt du noch, wie du dir eine Drehorgel gemietet hattest, damit umherzogst und dem alten Trigs ein Ständchen brachtest?«

»O ja, ich weiß.«

»Der alte Trigs war Lehrer der Mathematik, Mrs. Gardiner. Also eines schönen Abends mietete sich Tom in – hm – einer tollen Laune eine Drehorgel und brachte ihm ein Ständchen. Erst am andern Morgen, als er wieder – hm – ruhig geworden war, fiel ihm ein, daß Trigs so taub war wie ein Laternenpfahl, und die Musik nicht gehört haben konnte, selbst wenn er wach gewesen wäre.«

»Wie eine Schlange unter Blumen liegt in dieser hübschen Erzählung eine niederträchtige Anspielung verborgen, die zu bemerken jedoch unter meiner Würde ist. – Sollen wir nach Hause gehen oder fahren, Mrs. Gardiner?« fragte Tom, als sie Morettis Treppe hinabstiegen.

»O, auf alle Fälle gehen; der Abend ist so schön,« erwiderte die Gebieterin seines Geschicks.

Sie schlenderten den Broadway entlang, kauften etwas Schokolade bei Arnaud und blieben dann einen Augenblick an der Ecke der 23. Straße stehen, um durch das Teleskop eines Groschenastronomen zu blicken, der allabendlich dort Aufstellung nahm.

»Immerrr 'rrran, meine Damen und Herrn! Treten Sie näher und begucken Sie sich die himmlischen Körper. Nur fünf Cents der Blick!«

Sie traten näher und zahlten jedes fünf Cents für einen enttäuschenden Blick auf den Mond. Nichts ist so geeignet, kaltes Wasser auf die Gefühlsüberschwenglichkeit zu gießen, womit junge Liebende den Mond betrachten, als ein Blick durch ein Teleskop. Einen dritten Halt machten sie an der Ecke der 26. Straße, um bei Delmonico einzutreten und etwas Eis zu verspeisen. Die leichtsinnigen jungen Leute kamen eben von einem Diner von Moretti, und sie gingen doch zu Delmonico, um Eis zu essen. Aber so ist die Jugend!

Als sie endlich den Ariosto erreichten und dort die erfreuliche Entdeckung machten, daß ihr herrliches Heim sich Aladdins Zauberschloß nicht zum Muster genommen hatte und nicht in den Lüften verschwunden war, empfanden sie aufs neue das köstliche Bewußtsein, daß es das ihrige, ihr eigen sei, wo sie unumschränkte Gebieter waren, und wo ihnen niemand ihr Recht streitig machen konnte. Pearse brach in entzückte Bewunderung aus; er schwor, daß er niemals etwas Aehnliches gesehen, es sei das kosigste, niedlichste, behaglichste Nestchen, in das er jemals seinen Fuß gesetzt habe.

»Na, Gardiner, wenn es einen beneidenswerten Menschen gibt, dann bist du es,« sagte er, als Rose einen Augenblick ins Schlafzimmer getreten war, um abzulegen. »Geld genug zum Leben, die Freiheit, dich der Arbeit zu widmen, die dir zusagt, ein solches Heim und ein solches Frauchen! Einem jeden Menschen, den ich kenne, mit alleiniger Ausnahme von dir, ist ein bitterer Tropfen in den Becher seines Glückes gemischt. Du bist der einzige Mensch, der unvermischte Süßigkeit kosten darf!«

»Ja,« antwortete Tom, mit von Dankbarkeit geschwelltem Herzen, »ja, ich weiß, ich bin sehr glücklich.« Jetzt fühlte auch er für einen Augenblick die unbestimmte Angst, die seine Frau übermannt hatte, als sie ausgerufen hatte: » O, la joie fait peur!« Sein Glück war so groß, so viel größer als er verdiente – jeder andre Mensch hatte einen bitteren Tropfen in seinem Becher – wie konnte er hoffen, eine Ausnahme von dieser Regel zu bleiben? Ebenso vernünftig wäre es gewesen, wenn er erwartet hätte, der Wirkung der Schwerkraft nicht unterworfen zu sein. Gewiß, gewiß, es mußte etwas kommen. Aber was? Alles war so verheißungsvoll, wie es nur sein konnte, – nicht das kleinste Wölkchen trübte ihren Himmel, nicht der geringste Wellenschlag bewegte die spiegelglatte Fläche des Meeres, worauf ihr Lebensschifflein schwamm. Plötzlich verdichtete sich seine unklare Angst, sie nahm eine bestimmte Gestalt an. Rose – wie, wenn Rose krank würde. Ja, das war's! Das war die wahrscheinlichste Heimsuchung, weil es die furchtbarste, die überwältigendste sein würde? Er stöhnte im Geist unter der Last der eingebildeten Sorge, als Rose wieder ins Zimmer trat, ein Bild der Gesundheit und des blühendsten Lebens. Ihr Anblick machte ihn rasch wieder zuversichtlich, in ihrer Gegenwart war es nicht möglich, traurigen Gedanken, furchtbaren Einbildungen nachzuhängen. Sie verschwanden wie die Morgennebel vor der aufgehenden Sonne.

Sie hatte die Blumen, die Pearse ihr geschenkt, in einer Vase geordnet, die sie nun auf Toms Schreibtisch stellte, wobei sie die jungen Herren aufmerksam machte, wie der Duft der Rosen gleich das ganze Zimmer erfüllte.

»Und nun unsre Musik, Mr. Pearse.«

Pearse befreite das Cello von seinem Ueberzug.

»Wollen Sie mir, bitte, A angeben?« bat er, und Rose schlug den gewünschten Ton einigemal auf dem Piano an, wonach der Cellist sein Instrument stimmte.

Nun mußten sie natürlich Roses gesamte musikalische Bibliothek durchsehen, um etwas zu finden, womit beide genau vertraut waren, und dann nahm die Vorstellung ihren Anfang. Eine Stunde lang war das Zimmer von Zauberklängen erfüllt, während Tom, behaglich in seinen Armstuhl gelehnt, eine Cigarette nach der andern rauchte, zuhörte und sich seines Glückes freute. Manchmal wagten sie sich kühnen Mutes an etwas, das keins von beiden früher schon gespielt hatte. Das Mißlingen eines derartigen Versuchs und die Fehler, die dabei vorkamen, machten ihnen unendliches Vergnügen. Tom that im Scherz so, als ob sie ihm damit eine unerträgliche Marter bereiteten.

»Ihr fangt zusammen an und werdet auch zusammen fertig, aber was dazwischen liegt –! Gerechter Himmel, was habe ich gethan, daß ich so gestraft werde?«

»Jetzt müssen Sie uns aber etwas vorsingen, Mrs. Gardiner,« sagte Pearse endlich.

»Woher weißt du denn, daß sie singt?« rief Tom.

»Nur durch eine Reihe verwickelter, aber scharfsinniger Schlußfolgerungen bin ich dahinter gekommen. Hier ist ein ganzes Fach voll Noten für Gesang.«

Rose hatte eine frische, wohlklingende, kräftige und sorgfältig geschulte Sopranstimme, und Pearse erbot sich, sie zu begleiten, worauf sie zunächst eine kleine Ballade des norwegischen Tondichters Halfdan Kjerulf, »Ingrieds Lied«, vortrug, dessen eigenartige, heitere Melodie sie mit entzückendem Humor wiedergab, und dann sang sie Gordigianis » O, Santissima Vergine«, das Tom ganz besonders liebte, weil es das erste Lied war, das er von ihr hatte singen hören. Sie sah ganz bezaubernd hübsch aus, als sie dort mit zartgeröteten Wangen und strahlenden Augen neben dem Piano stand, während sich in ihren feinen Zügen, je nach den von der Musik zum Ausdruck gebrachten Empfindungen, bald Heiterkeit, bald Ernst spiegelten. Tom ließ seine Augen gedankenvoll auf ihr ruhen, und als er daran dachte und sich recht klar bewußt wurde, daß sie sein Weib sei – ja, wirklich sein Weib – da schwoll ihm das Herz vor Glück und Stolz, und er hätte Pearse gern für eine Minute verschwinden lassen mögen – nur für eine einzige Minute –, um zu ihr zu treten, sie in die Arme schließen und innig küssen zu können. Dann und wann warf Rose, die scharfblickend genug war, um zu wissen, was in ihm vorging, ihm einen lächelnden, seine Geduld auf eine schwere Probe stellenden Blick zu und machte ein reizendes Mäulchen, das bewies, daß auch die Kokette in der Ehefrau keineswegs schon erstorben war.

Auf ihren Vorschlag traten sie später auf den Balkon hinaus, um dort den Abend zu beschließen, und es war nicht weit von Mitternacht, als Pearse sich erhob, um Gutenacht zu sagen. Selbst dann wollten sie ihn nicht ziehen lassen; bis er ihnen versprochen hatte, am nächsten Nachmittag auf dem Rückweg von seinem Geschäftszimmer wieder zu kommen; dann wollten sie wieder zusammen speisen und nachher ins Theater gehen.

Diese ganze Woche wurde verschiedenen Vergnügungen gewidmet. Jetzt, wo er ein junger Ehemann war, beabsichtigte Tom, wie wir wissen, sich in vollem Ernst mit litterarischen Arbeiten zu beschäftigen, jawohl! Und doch! »Wir können uns wohl noch einige Tage amüsieren,« sagte er. »Nächsten Montag aber werde ich mich in die Arbeit stürzen. Das ist der erste Werktag der Woche, des Monats und des Jahres, die wir in Ariosto wohnen werden. Es kann gar keinen besseren Tag geben, einen Anfang zu machen.« Die Ausführung des Entschlusses, sich zu amüsieren, machte ihnen wenig Schwierigkeiten. Unter gewissen Verhältnissen werden die einfachsten Dinge, die ruhigsten Beschäftigungen zu Quellen reicher Freuden, wenn man zum Beispiel jung, frei von Sorgen, mit hinreichendem Kleingeld versehen ist und sich der beständigen Gesellschaft der- oder desjenigen erfreut, welche oder welchen man liebt. Die Stadt mußte durchforscht werden, denn für Rose, die, außer dann und wann auf einen Tag, noch nie da gewesen war, hatte sie den Reiz der Neuheit, während sie für Tom die Anziehungskraft der nach zweijähriger Abwesenheit wiedergewonnenen Heimat besaß. Der Centralpark, noch sommerlich grün und wie immer durch die Musik der Stimmen spielender Kinder belebt, bot an den warmen Nachmittagen des Frühherbsts einen sehr angenehmen Zufluchtsort. Dann waren Läden und Bildergalerieen zu besichtigen, Theater zu besuchen, die neuesten Romane mußten gelesen werden, und der Blick auf die unten in der Straße geschäftig wimmelnde Menge bot stets neue Unterhaltung. Auch Roses Piano und Pearses Cello dürfen nicht vergessen werden. Eines Morgens besichtigten sie ein gewisses Haus am Waverley Place, ein halbverfallenes Bauwerk von rotem Backstein, mit einem Zettel hinter einem trüben Fenster des Erdgeschosses, der anzeigte, daß Madame Slattery dort moderne Damenkleider anfertige, und nun stellt euch die Empfindungen unsrer Heldin vor, als unser Held ihr verkündigte: »Das ist das Haus, worin ich geboren bin.«

»Alt genug sieht's aus,« stimmte sie zu und kräuselte ihr übermütiges kleines Stumpfnäschen.

Von da gingen sie nach dem sonderbarsten kleinen französischen Restaurant in Bleecker Street, wo sie das einladendste kleine Frühstück zu einem unglaublich niedrigen Preise erhielten. Nun wanderten sie nach Coney Island und verträumten dort den warmen Nachmittag am Strande. Gegen Sonnenuntergang gesellte sich Pearse zu ihnen. In der besten Laune nahmen sie ihr Diner auf der Veranda des Gasthofs ein und sahen, wie der Mond rot und geschwollen aus dem Ozean emporstieg. Erst mit dem allerletzten Zug kehrten sie nach der Stadt zurück und schliefen infolgedessen am andern Morgen bis zu einer erschrecklich späten Stunde. Es kam übrigens wirklich gar nicht darauf an, wie sie ihre Zeit verbrachten, alles, was sie unternahmen, machte ihnen Vergnügen. Ihr eigenes inneres Glück übergoß alles mit seinem Glanz und ließ die Welt rings um sie her strahlend schön erscheinen. Die Woche ging mit erstaunlicher Schnelligkeit hin, und der Montag, der den ersten Anfang von Toms schriftstellerischen Arbeiten sehen sollte, war da, ehe sie es wußten.

»Du kennst doch den alten Pinner, der mein Vermögen verwaltet?« fragte Tom am Sonntag abend.

»Ja,« entgegnete Rose in einem Ton, als ob sie innerlich hinzufügte: »Was soll's mit dem?«

»Das ist ein komischer Kauz, – hat ganz klein angefangen und ist so ungebildet als möglich. Zu uns paßt er gar nicht, weißt du, aber in Geschäftssachen ist er so methodisch und zuverlässig wie eine Uhr. Wo ich auch sein mag, er weiß es immer so einzurichten, daß ich mein Geld pünktlich am ersten Tage jedes Vierteljahres erhalte. Wenn ich mitten im Himalaja wäre, er würde das fertig bringen. Morgen beginnt nämlich ein Quartal, wie du weißt, und ich wette um ein Paar Handschuhe mit dir, daß die erste Post mir morgen früh eine Geldanweisung von ihm bringt.«

»Du erwartest doch hoffentlich nicht, daß ich die Wette annehme. Nach deinen eigenen Worten wären ja alle Aussichten gegen mich.«

»Nun ja, du sollst deine Handschuhe doch haben. Ich habe nur davon gesprochen, weil es eine Beruhigung ist, ihn so pünktlich und ordentlich zu wissen. Wie man sagt, soll er vom Recht eigentlich nicht viel verstehen, aber vor Gericht ist er einer der durchtriebensten Geschäftsleute. – Und morgen, meine gnädige Frau, werden wir ernstlich an die Arbeit gehen. Keine Frivolitäten mehr, kein leichtfertiges Leben. Arbeit, wenn's beliebt, Arbeit, deren Früchte sich sehen lassen können. Ich werde die Geschichte schreiben, die ich dir neulich erzählt habe, die Geschichte Felicias, des Modells in Rom. Und –«

Den Rest des Abends verwendeten sie dazu, ein ganz besonders glänzendes litterarisches Luftschloß zu bauen.

»Das ist aber doch sonderbar,« sagte Tom am nächsten Morgen, als die erste Post abgeliefert war. »Kein Brief von Pinner.«

»Weiß er denn unsre neue Adresse?« fragte Rose.

»O gewiß, ich habe sie ihm vor etwa acht Tagen mitgeteilt. Aber es kommt nicht darauf an. Gestern war Sonntag, und da hat er wohl bis heute morgen gewartet, ehe er den Check zur Post gab. Er wird wohl im Laufe des Tages noch eintreffen.«

Sie ließen sich an einem kleinen runden Tisch nieder und beschäftigten sich mit ihrem Morgenkaffee, den Rose auf einer Spiritusmaschine zu bereiten pflegte. Tom nahm seine Zeitung zur Hand und überblickte gleichgültig die Ueberschriften auf der ersten Seite. – Plötzlich stieß er einen halbunterdrückten Ausruf des Schreckens aus und sprang auf. Hochaufgerichtet und entsetzt starrte er auf das Blatt vor ihm.

Auch Rose erhob sich rasch und war im Augenblick an seiner Seite.

»Was ist dir – was gibt's, Tom?« fragte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme.

»O, das ist schauderhaft – das ist gräßlich!« stöhnte er.

Sie blickte über seine Schulter. An der Spitze einer Spalte stand in fetten schwarzen Buchstaben: »Selbstmord eines wohlbekannten Rechtsanwalts,« und darunter in kleinerer, aber noch hinlänglich in die Augen fallender Schrift: »Marcus Cicero Pinner dreht das Gas in seinem Schlafzimmer auf und tritt die lange Reise an. Hinterläßt eine schriftliche Erklärung der Beweggründe, die ihn zu dieser verzweifelten That trieben. Hat einen hohen Einsatz gewagt und verloren. Mit andrer Leute Geld in Wall Street gespielt.« Diesen Ueberschriften folgte ein langer, ausführlicher Bericht, in dem die kleinsten Einzelheiten des Trauerspiels umständlich erzählt und besprochen waren. Schweigend und in atemloser Spannung lasen Tom und Rose bis ans Ende. Die schriftliche Erklärung der Beweggründe des Selbstmörders war wörtlich abgedruckt. Sie enthielt ein Verzeichnis der Leute, deren Gelder er veruntreut hatte. Thomas Gardiners Name stand an der Spitze.


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