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VIII.

Zum erstenmal in seinem Leben durchschritt er das Thor des Schlosses und begab sich die Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Von innen summten ihm Stimmen entgegen, sein Herz schlug heftig, er klopfte und trat ein.

Die noch junge Schloßherrin kam ihm entgegen und begrüßte ihn freundlich und drückte ihm die Hand. Es freue sie, ihn zu sehen, sie erinnere sich seiner aus der Zeit, wo er nicht größer war als so; jetzt sei er ein großer Mann. – – – Und es war, als habe die Schloßherrin noch mehr sagen wollen, sie hielt seine Hand lange in der ihren und sah ihn forschend an.

Auch der Schloßherr kam heran und reichte ihm die Hand. Wie seine Frau bereits gesagt habe, ein großer Mann, in mehr als einer Hinsicht ein großer Mann. Ein berühmter Mann. Sehr erfreut – – –

Er ward Herren und Damen vorgestellt, dem Kammerherrn, der alle Orden angelegt hatte, der Kammerherrin, einem Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, Otto, dem Lieutenant. Victoria sah er nicht.

Es verging eine geraume Zeit. Victoria trat ein, bleich, sogar unsicher; sie führte ein junges Mädchen an der Hand. Sie machten einen Rundgang durch den Saal, begrüßten alle, sprachen mit jedem. Bei Johannes blieben sie stehen.

Victoria lächelte und sagte:

»Sehen Sie, hier ist Camilla, ist das nicht eine Überraschung? Ihr kennt Euch ja.«

Sie stand einen Augenblick da und sah sie beide an, dann ging sie aus dem Saal hinaus.

Johannes blieb im ersten Augenblick starr und verwirrt auf dem Fleck stehen. Hier war die Überraschung; Victoria hatte freundlichst eine andere an ihrer Statt herbeigeschafft. Höret, gehet hin und nehmet einander, ihr Menschen! Der Lenz steht in voller Blütenpracht, die Sonne scheint; öffnet die Fenster, wenn ihr wollt, denn da ist Duft im Garten, und auch die Stare spielen da draußen in den Birkenwipfeln. Weshalb sprecht ihr nicht miteinander? Aber so lacht doch!

»Ja, wir kennen uns,« sagte Camilla unbefangen. »Hier war es, wo Sie mich damals aus dem Wasser zogen.«

Sie war jung und blond, fröhlich, rosenrot gekleidet, in ihrem siebzehnten Jahr. Johannes biß die Zähne zusammen und lachte und scherzte. Nach und nach fingen wirklich ihre fröhlichen Worte an, ihn zu erfrischen, sie sprachen lange miteinander, sein Herzklopfen ließ nach. Sie hatte noch die liebliche Angewohnheit aus jüngeren Jahren, den Kopf auf die Seite zu legen und erwartend zu lauschen, wenn er etwas sagte. Er erkannte sie wieder, sie überraschte ihn nicht.

Victoria kam wieder herein, sie schob ihren Arm in den des Lieutenants, zog ihn mit sich und sagte zu Johannes:

»Kennen Sie Otto, – meinen Verlobten? Sie erinnern sich seiner wohl noch.«

Die Herren erinnern sich beide. Sie sagen die notwendigen Worte, machen die notwendigen Verbeugungen und trennen sich.

Johannes und Victoria blieben allein zurück. Er sagt:

»War dies die Überraschung?«

»Ja,« antwortet sie gereizt und ungeduldig, »ich that das beste, was ich konnte, ich wußte nichts weiter zu thun. Seien Sie jetzt nicht wunderlich, danken Sie mir lieber; ich sah, daß Sie sich freuten.«

»Ich danke Ihnen. Ja, ich habe mich gefreut.«

Eine unsagbare Verzweiflung erfaßte ihn, sein Gesicht ward leichenblaß. Hatte sie ihm einmal mehr gethan, so war das jetzt reichlich wieder ausgewogen und gut gemacht. Er war ihr aufrichtig dankbar.

»Und dann bemerke ich, daß Sie heute Ihren Ring tragen,« sagte er dumpf. »Nehmen Sie den nun nicht wieder ab.«

Pause.

»Nein, nun nehme ich ihn wohl nicht mehr ab,« erwiderte sie.

Sie sahen einander in die Augen. Seine Lippen bebten, er wies mit dem Kopf nach dem Lieutenant hin und sagte mit heiserer und grober Stimme:

»Sie haben Geschmack, Fräulein Victoria. Er ist ein schöner Mann. Seine Epauletts ersetzen die fehlende Schulterbreite.«

Sie gab mit großer Ruhe zurück:

»Nein, er ist nicht schön. Aber er ist ein gebildeter Mann. Das wiegt doch auch ein wenig auf.«

»Das ging auf mich, ich danke!« Er lachte laut und sagte mit einem unverschämten Zusatz: »Und er hat Geld in der Tasche, das wiegt noch mehr.«

Sie entfernte sich plötzlich.

Er glitt von einer Wand zur andern wie ein Friedloser. Camilla sprach mit ihm, fragte nach etwas, und er hörte es nicht und antwortete nicht. Sie sagte wieder etwas, berührte sogar seinen Arm und fragte abermals vergebens.

»Nein, jetzt geht er herum und denkt!« rief sie lachend. »Er denkt, er denkt!«

Victoria hörte das und sagte:

»Er will allein sein. Er hat auch mich fortgeschickt.« Plötzlich aber trat sie dicht an ihn heran und sagte ganz laut: »Sie grübeln sicher über einer Entschuldigung für mich. Deswegen brauchen Sie sich nicht zu bemühen. Ich habe Sie im Gegenteil um Entschuldigung zu bitten, weil ich Ihnen die Einladung so spät sandte. Das war sehr unaufmerksam von mir. Ich hatte Sie bis zu allerletzt vergessen, ich hätte Sie beinahe ganz und gar vergessen. Aber ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, denn ich hatte so viel zu bedenken.«

Er starrte sie sprachlos an; sogar Camilla sah von ihr zu ihm hinüber und schien ganz erstaunt zu sein. Victoria stand mit ihrem kalten, bleichen Gesicht gerade vor ihnen und ihr Gesicht drückte große Befriedigung aus. Sie war gerächt.

»Ja, das sind unsere jungen Kavaliere von heutzutage,« sagte sie zu Camilla. »Wir dürfen nicht allzuviel von ihnen erwarten. Da drüben sitzt mein Verlobter und spricht über Elennjagd, und hier steht der Dichter und denkt. – – Sagen Sie doch etwas, Herr Poet!«

Er zuckte zusammen; die Adern in seinen Schläfen waren dunkelblau.

»Wohlan. Sie bitten mich, etwas zu sagen. Wohlan.«

»Ach nein, strengen Sie sich nicht an.«

Sie wollte schon gehen.

»Um direkt auf die Sache los zu gehen,« sagte er langsam und lächelnd, während seine Stimme zitterte; »um mitten drin zu beginnen: sind Sie kürzlich verliebt gewesen, Fräulein Victoria?«

Einige Sekunden lang wurde alles still; alle drei hörten ihre Herzen schlagen. Camilla antwortete bange:

»Victoria ist natürlich in ihren Bräutigam verliebt. Sie hat sich soeben verlobt, wissen Sie das nicht?«

Die Thüren zum Speisesaal wurden geöffnet.

— — — — — — — —

Johannes fand seinen Platz und blieb davor stehen. Der ganze Tisch schwankte vor seinen Augen auf und nieder, er sah viele Menschen und hörte ein Brausen von Stimmen.

»Ja, bitte, da ist Ihr Platz,« sagte die Schloßherrin freundlich. »Wenn sich nur alle endlich einmal setzen wollten.«

»Verzeihen Sie,« sagte plötzlich Victoria dicht hinter ihm.

Er trat zurück.

Sie nahm seine Karte und legte sie einige Plätze weiter herunter, sieben Plätze weiter herunter, neben einen alten Mann, der einmal Hauslehrer im Schloß gewesen war und von dem es hieß, daß er trinke. Sie kehrte mit einer andern Karte zurück und setzte sich.

Er stand da und sah das Ganze an. Die Schloßherrin machte sich, unangenehm berührt, etwas an der andern Seite des Tisches zu schaffen und vermied es, ihn anzusehen.

Er ward noch verwirrter als er bisher gewesen war, und begab sich ganz nervös an seinen neuen Platz; der ihm vorher bestimmte ward von einem von Ditlefs Freunden aus der Stadt, einem jungen Mann mit Diamantknöpfen im Vorhemd, eingenommen. Zu seiner Linken saß Victoria, zu seiner Rechten Camilla.

Und das Mittagessen nahm seinen Anfang.

Der alte Hauslehrer kannte Johannes noch aus den Kinderjahren, und es kam ein Gespräch zwischen ihnen zu stande. Er erzählte, daß auch er sich in seinen jungen Tagen mit der Poesie beschäftigt habe, er habe die Manuskripte noch liegen, Johannes solle sie bei Gelegenheit lesen. Jetzt sei er zu dem Jubeltag dieses Hauses hierher berufen, damit er an der Freude der Familie über Victorias Verlobung teilnehmen könne. Der Schloßherr und die Schloßherrin hätten ihm aus alter Freundschaft diese Überraschung bereitet.

»Ich habe nichts von Ihnen gelesen,« sagte er. »Ich lese mich selber, wenn ich etwas lesen will; ich habe Gedichte und Erzählungen in meiner Schublade liegen. Sie sollen nach meinem Tode herausgegeben werden; ich wünsche doch, daß das Publikum erfährt, wer ich war. Ach ja, wir, die wir ein wenig älter im Fach sind, wir sind nicht so schnell damit bei der Hand, alles in die Druckerei zu tragen, wie es heutzutage der Fall ist. Auf Ihr Wohl!«

Die Mahlzeit schreitet vorwärts. Der Schloßherr klopft an sein Glas und erhebt sich. Sein vornehmes, mageres Gesicht strahlt vor Bewegung, und er macht den Eindruck, als sei er sehr froh. Johannes senkt den Kopf tief herab. Es ist nichts in seinem Glase, und niemand schenkt ihm ein; er füllt es selbst bis an den Rand und beugt sich wieder herab. Jetzt kam es!

Die Rede war lang und schön und wurde mit viel fröhlichem Lärm aufgenommen; die Verlobung war erklärt. Eine Menge guter Wünsche strömten von allen Ecken des Tisches für die Tochter des Schloßherrn und den Sohn des Kammerherrn zusammen.

Johannes leerte sein Glas.

Einige Minuten später ist seine Nervosität verschwunden, seine Ruhe ist zurückgekehrt; der Champagner siedet gedämpft in seinen Adern. Er hört, daß auch der Kammerherr redet und daß abermals Bravo und Hurra gerufen und mit den Gläsern angestoßen wird. Einmal sieht er nach Victorias Platz hinüber; sie ist bleich und macht einen gequälten Eindruck, sie sieht nicht auf. Dahingegen nickt ihm Camilla zu und lächelt, und er nickt wieder zurück.

Der Hauslehrer an seiner Seite plaudert weiter:

»Es ist schön, es ist schön, wenn zweie einander bekommen. Mir ward das nicht beschieden. Ich war ein junger Student, große Aussichten, große Begabung; mein Vater hatte einen alten Namen, ein großes Haus, Reichtum, viele, viele Schiffe. Ich darf wohl sogar sagen, daß ich sehr große Aussichten hatte. Auch sie war jung und aus vornehmer Familie. Ich komme zu ihr und öffne ihr mein Herz. Nein, antwortet sie. Können Sie sie verstehen? Nein, das wolle sie nicht, sagte sie. Da that ich denn, was ich konnte, ich arbeitete weiter und benahm mich wie ein Mann. Dann kam das Unglücksjahr meines Vaters, Schiffbrüche, Kautionsschulden, kurz, er machte Bankerott. Was that ich da? Ich benahm mich abermals wie ein Mann. Und jetzt läßt sie wirklich nicht auf sich warten, – das Mädchen, von dem ich spreche. Sie kommt wieder, sucht mich in der Stadt auf. Was wollte sie von mir? werden Sie fragen. Ich war arm geworden, ich hatte eine kleine Lehrerstellung angenommen, alle meine Aussichten waren dahin, und meine Poesien lagen in der Schublade, – jetzt kam sie und wollte. Wollte mich haben!«

Der Hauslehrer sah Johannes an und fragte:

»Können Sie sie verstehen?«

»Aber dann wollten Sie nicht?«

»Konnte ich es, frage ich? Entblößt, völlig entblößt, nackend, eine Lehrerstellung, Knaster in der Pfeife, und auch nur des Sonntags, – was denken Sie? Ich konnte ihr das doch nicht anthun. Aber ich sage nur: Können Sie sie verstehen?«

»Und was ist dann später aus ihr geworden?« »Ach Gott, Sie antworten nicht auf meine Frage. Sie hat sich mit einem Hauptmann verheiratet. Ein Jahr später. Mit einem Hauptmann der Artillerie. Auf Ihr Wohl!«

Johannes sagte:

»Man sagt von gewissen Frauen, daß sie ein Ziel für ihr Mitleid suchen. Geht es dem Manne gut, so hassen sie ihn und fühlen sich überflüssig; geht es ihm schlecht, muß er den Nacken beugen, so brüsten sie sich und sagen: hier bin ich.«

»Aber warum wollte sie in den guten Tagen nichts von mir wissen? Ich hatte Aussichten wie ein junger Gott.«

»Sie wollte also warten, bis Sie zur Erde gebeugt waren. Gott weiß, was sie wollte.«

»Aber ich ließ mich nicht zur Erde beugen. Niemals. Ich behielt meinen Stolz und gab ihr einen Korb. Was sagen Sie nun?«

Johannes schwieg.

»Aber Sie haben vielleicht recht,« sagte der alte Hauslehrer. »Sie haben bei Gott und allen Engeln recht in dem, was Sie sagen,« rief er plötzlich ganz angeregt aus und leerte abermals sein Glas. »Sie nahm schließlich einen alten Hauptmann; sie pflegt ihn, legt ihm seine Speisen vor und ist Herr im Hause. Ein Hauptmann der Artillerie.«

Johannes sah auf. Victoria saß da, ihr Glas in der Hand und starrte zu ihm hinüber. Sie hielt das Glas hoch in die Höhe. Er fühlte, wie es ihn durchzuckte, und auch er ergriff sein Glas. Seine Hand zitterte.

Da rief sie laut den Namen seines Nachbars und lachte; es war der Name des Hauslehrers, den sie rief.

Johannes setzte demütig sein Glas nieder und lächelte sogar unschlüssig vor sich hin. Alle hatten ihn angesehen.

Der alte Hauslehrer war zu Thränen gerührt über diese freundliche Aufmerksamkeit von seiten seiner Schülerin. Schleunigst trank er sein Glas aus.

»Und hier gehe ich alter Mann nun,« fuhr er fort, »hier gehe ich allein und unbekannt meiner Wege. Dies Los ward mir zu teil. Niemand weiß, was in mir wohnt; aber niemand hat mich je murren hören. Wie verhält es sich doch mit der Turteltaube? Kennen Sie sie? Ist nicht die Turteltaube diese große Schwermütige, die das klare, fröhliche Quellwasser erst trübt, bevor sie es trinkt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Nun ja. Aber so ist es. Und ebenso mache ich es. Ich bekam die nicht, die ich im Leben haben sollte, aber ich bin trotzdem nicht so arm an Freuden. Aber ich trübe sie. Immer und ewig trübe ich sie. Dann kann die Enttäuschung hinterher nicht die Überhand über mich gewinnen. Da sehen Sie Victoria. Sie trank soeben auf mein Wohl. Ich bin ihr Lehrer gewesen; jetzt soll sie sich verheiraten, und das freut mich, ich empfinde ein rein persönliches Glück bei dem Gedanken, als wäre sie meine eigene Tochter. Jetzt werde ich vielleicht der Lehrer ihrer Kinder. Ja, es giebt wirklich noch allerlei Freuden im Leben. Aber das, was Sie von dem Mitleid und der Frau und dem gebeugten Nacken sagten, – je mehr ich daran denke, um so mehr Recht haben Sie. Weiß Gott, das haben Sie, – verzeihen Sie einen Augenblick.«

Er erhob sich, ergriff sein Glas und ging zu Victoria hin. Er wackelte schon ein wenig auf den Beinen und ging sehr vornübergebeugt.

Es wurden mehrere Reden gehalten, der Lieutenant redete, der Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft erhob sein Glas und trank auf die Frau, auf die Dame des Hauses. Plötzlich stand der Herr mit den Diamantknöpfen auf und nannte Johannes' Namen. Er habe Erlaubnis dazu erhalten, er wolle dem jungen Dichter einen Gruß von der Jugend überbringen. Es waren lauter freundliche Worte, ein wohlgemeinter Dank von Gleichalterigen, voll Anerkennung und Bewunderung.

Johannes traute kaum seinen Ohren. Er flüsterte dem Hauslehrer zu:

»Bringt er mein Wohl aus?«

Der Hauslehrer erwiderte:

»Ja, er kam mir zuvor. Ich wollte es selber thun, Victoria bat mich schon heute nachmittag darum.«

»Wer, sagen Sie, bat Sie darum?«

Der Hauslehrer starrte ihn an.

»Niemand.«

Während der Rede waren aller Augen auf Johannes gerichtet, sogar der Schloßherr nickte ihm zu, und die Frau Kammerherrin hielt die Lorgnette vor die Augen und sah ihn an. Als die Reden beendet waren, leerten alle ihre Gläser.

»Erwidern Sie doch die Rede,« sagte der Hauslehrer. »Er stand da und hielt eine Rede auf Sie. Das wäre einem älteren vom Fach zugekommen. Außerdem war ich durchaus nicht einig mit ihm. Ganz und gar nicht.«

Johannes sah am Tisch entlang nach Victoria hinüber. Sie hatte den Herrn mit den Diamantknöpfen veranlaßt, zu reden: weshalb hatte sie das gethan? Zuerst hatte sie sich deswegen an einem andern gewandt, schon früh am Tage hatte sie sich mit dem Gedanken getragen; weshalb hatte sie das gethan? Jetzt saß sie da und sah vor sich hin, und keine Miene verriet sie.

Plötzlich verschleiert eine tiefe und heftige Bewegung seine Augen, er hätte sich ihr zu Füßen werfen und ihr danken können, er hätte ihr danken können! Er wollte es später thun. Nach dem Essen.

Camilla saß da und sprach nach rechts und nach links und lächelte über das ganze Gesicht. Sie war glücklich, ihre siebzehn Jahre hatten ihr eitel Freude gebracht. Sie nickte Johannes mehrmals zu und bedeutete ihm durch Zeichen, daß er sich erheben sollte.

Er erhob sich.

Er sprach kurz, seine Stimme klang tief und bewegt: Bei dem Fest, durch das das Haus eine erfreuliche Begebenheit feiere, sei auch er – ein ganz Außerhalbstehender – aus seiner Unbemerktheit hervorgezogen. Er wollte derjenigen danken, bei der dieser liebenswürdige Einfall zuerst entstanden sei, und demjenigen, der ihm so viele angenehme Worte gesagt habe. Aber er könne auch nicht unterlassen, des Wohlwollens zu gedenken, womit die ganze Gesellschaft sein – des Außerhalbstehenden – Lob mit angehört habe. Das einzige Anrecht, das er überhaupt habe, hier bei dieser Veranlassung zugegen zu sein, sei, daß er ein Sohn des Schloßnachbars im Walde wäre. – –

»Ja!« rief plötzlich Victoria mit flammenden Augen.

Alle sahen sie an, ihre Wangen waren rot, und ihre Brust wogte auf und nieder. Johannes hielt inne. Eine peinliche Stille trat ein.

»Victoria!« sagte der Schloßherr verwundert.

»Fahren Sie fort!« rief sie von neuem. »Das ist Ihr einziges Anrecht; aber reden Sie weiter!« Dann erlosch plötzlich der Glanz ihrer Augen, sie begann hilflos zu lächeln und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich an ihren Vater und sagte:

»Ich wollte nur übertreiben. Er steht ja da und übertreibt selber. Nein, ich wollte nicht stören.« – –

Johannes hörte diese Erklärung an und fand einen Ausweg. Sein Herz schlug hörbar. Er bemerkte, daß die Schloßfrau Victoria mit Thränen in den Augen und mit unendlicher Nachsicht ansah.

Ja, er habe übertrieben, sagte er; Fräulein Victoria habe recht. Sie sei so liebenswürdig gewesen, ihn daran zu erinnern, daß er nicht nur der Sohn des Nachbars, sondern auch der Spielkamerad der Schloßkinder aus der Kinderzeit sei, und diesem letzten Umstand verdanke er seine Anwesenheit bei diesem Fest. Er danke ihr; so verhalte es sich. Er sei hier zu Hause, die Wälder des Schlosses waren einst seine ganze Welt, hinter denen das unbekannte Land, das Märchen blaute. Aber in jenen Jahren kam oftmals Bescheid von Ditlef und Victoria, daß sie auf einem Ausflug oder zu einem Spiel seine Gesellschaft wünschten, – dies waren die großen Ereignisse seiner Kindheit. Später, als er darüber nachgedacht hatte, mußte er erkennen, daß diese Stunden eine Bedeutung für sein Leben gehabt hatten, von der niemand eine Ahnung hatte, und wenn es sich wirklich so verhielt, – wie es soeben ausgesprochen war, – daß das, was er schrieb, zuweilen aufflammen konnte, so hatte das seinen Grund darin, daß die Erinnerungen aus jener Zeit ihn entzündeten; es war der Widerschein des Glücks, das ihm seine beiden Kameraden in der Kindheit bereitet hatten. Deswegen hatten auch sie ihren großen Anteil an dem, was er hervorbrachte. Zu den allgemeinen guten Wünschen in Veranlassung der Verlobung wollte er da einen persönlichen Dank an beide Schloßkinder für die guten Jahre in der Kindheit hinzufügen, wo weder Zeit, noch Welt zwischen sie getreten war, für den fröhlichen, kurzen Sommertag – – –

Die Rede war beendet, die Gesellschaft trank, aß weiter und begann die Unterhaltung von neuem. Ditlef bemerkte trocken zu seiner Mutter gewandt:

»Ich habe niemals gewußt, daß ich eigentlich seine Bücher geschrieben habe, wie?«

Die Schloßherrin aber lachte nicht. Sie stieß mit ihren Kindern an und sagte:

»Dankt ihm, dankt ihm. Das war sehr begreiflich; so allein, wie er als Kind war – – Was machst du da, Victoria?«

»Ich wollte das Mädchen mit diesem Fliederzweig als Dank zu ihm senden. Kann ich das nicht?«

»Nein,« antwortet der Lieutenant.

— — — — — — — —

Nach Tische zerstreute die Gesellschaft sich in den Zimmern, auf dem großen Balkon und sogar unten im Garten. Johannes begab sich in das Erdgeschoß hinab und kam in das große Gartenzimmer. Da waren mehrere von den Gästen anwesend, ein paar rauchende Herren, der Gutsbesitzer und noch jemand, der laut über die Finanzen des Schloßherrn sprach. Sein Gut sei vernachlässigt, mit Unkraut überwuchert, die Hecken lägen danieder, die Wälder seien abgeholzt: es sollte ihm, wie man sagte, sogar schwer werden, die erstaunlich hohe Versicherungsprämie für das Haus zu bezahlen.

»Wie hoch ist es versichert?«

Der Gutsbesitzer nannte eine Summe, eine auffallend hohe Summe.

Übrigens war niemals an Geld auf dem Schloß gespart worden, die Summen waren dort immer groß. Was kostete nicht zum Beispiel so ein Diner! Jetzt aber sollte es überall leer aussehen, sogar in dem bekannten Juwelenschrein der Schloßherrin, und deshalb sollte das Geld des Schwiegersohns die Herrlichkeit wieder aufrichten.

»Wieviel hat er wohl?«

»Ach, der hat so unerschöpflich viel Geld, daß –«

Johannes erhob sich wieder und ging in den Garten hinab. Der Flieder blühte, Ströme von Duft schlugen ihm von den Aurikeln, Narzissen, Jasminbüschen und Maiglöckchen entgegen. Er suchte sich einen Winkel unten an der Mauer und setzte sich auf einen Stein; ein Gebüsch entzog ihn aller Blicken. Er war ermattet vor Gemütsbewegung, sklavenmüde, sein Verstand war umnachtet; er dachte daran, daß er aufstehen und nach Hause gehen wollte, aber er blieb dumpf und schlaff sitzen. Da vernimmt er ein Gemurmel auf dem Kieswege, es kommt jemand, er erkennt Victorias Stimme. Er hält den Atem an und wartet ein wenig, da blitzt auch die Uniform des Lieutenants durch das Laub. Das Brautpaar lustwandelt miteinander.

»Ich finde,« sagt er, »daß dies nicht mit rechten Dingen zugeht. Du lauschest seiner Rede, du sitzest da und achtest auf seine Worte und schreist auf. Was bedeutete das eigentlich?«

Sie steht still und richtet sich hoch von ihm auf. »Willst du es wissen?« sagt sie.

»Ja!«

Sie schweigt.

»Es kann mir einerlei sein, wenn es nichts zu bedeuten hatte,« fährt er fort. »Dann brauchst du es nicht zu sagen.«

Sie sinkt wieder zusammen.

»Nein, es hatte nichts zu bedeuten,« erwidert sie.

Sie fangen wieder an zu gehen. Der Lieutenant zieht nervös seine Epaulettes in die Höhe und sagt mit lauter Stimme:

»Er sollte sich nur ein wenig in acht nehmen. Die Hand eines Offiziers könnte ihm sonst leicht über die Ohren streichen.«

Sie schlugen den Weg nach dem Lusthause ein.

Johannes blieb eine Zeitlang auf dem Wege sitzen, dumpf, verzweifelt wie vorhin. Alles begann ihm gleichgültig zu werden. Der Lieutenant hatte Verdacht gegen ihn geschöpft, und seine Braut hatte stehenden Fußes Rechenschaft abgelegt. Sie sagte, was sie sagen mußte, stellte das Herz des Offiziers zufrieden und ging mit ihm weiter. Und die Stare plauderten in den Zweigen über ihren Häuptern. Möge ihnen Gott ein langes Leben bescheren. – – Er hatte bei Tische eine Rede auf sie gehalten und sein Herz aus dem Leibe gerissen; es hatte ihn viel gekostet, ihre unverschämte Unterbrechung wieder gut zu machen und zu bemänteln, und sie hatte ihm nicht dafür gedankt. Sie hatte ihr Glas ergriffen und getrunken. Ihr Wohlsein! sehen Sie nur, wie hübsch ich trinke. – – – Man betrachte übrigens eine Frau von der Seite, wenn sie trinkt. Man lasse sie aus einer Tasse, aus einem Glase, aus jedem beliebigen Gefäß trinken und betrachte sie von der Seite. Sie ziert sich, daß es ein Grauen ist. Sie spitzt den Mund und taucht seinen unteren Rand in das Getränk, und sie ist verzweifelt, wenn man währenddes ihre Hand beachtet. Man sehe einer Frau überhaupt nicht auf die Hand. Sie erträgt es nicht, sie kapituliert. Sie fängt sofort an, ihre Hand an sich zu ziehen, sie in eine immer schönere Stellung zu bringen, alles, um eine Falte oder einen unschönen Nagel zu verbergen. Schließlich kann sie es nicht länger aushalten, sondern fragt ganz außer sich: wonach sehen Sie eigentlich? – – Sie hatte ihn einst geküßt, einst im Sommer. Das war schon so lange her, Gott weiß, ob es überhaupt wahr war. Wie war es doch? Saßen sie nicht auf einer Bank? Sie sprachen lange miteinander, und als sie ging, kam er ihr so nahe, daß er ihren Arm berührte. Vor einer Entreethür küßte sie ihn. Ich liebe Sie! sagte sie. – – Jetzt gingen sie vorüber, sie saßen vielleicht noch in dem Lusthause. Der Lieutenant wollte ihm eine Ohrfeige geben, hatte er gesagt. Er hörte es sehr wohl, er schlief nicht, aber er erhob sich auch nicht, trat nicht vor. Die Hand eines Offiziers, sagte er. Ja, das war ihm gleichgültig. – – –

Er erhob sich von seinem Stein und ging ihnen nach, ins Lusthaus. Es war leer. Oben auf der Veranda des Hauptgebäudes stand Camilla und rief ihm zu: »Bitte schön, im Gartenzimmer ist Kaffee.« Er folgte ihr. Das Brautpaar saß im Gartenzimmer; es waren auch noch andere anwesend. Er bekam seinen Kaffee, trat zurück und suchte sich einen Platz.

Camilla fing an, mit ihm zu sprechen. Ihr Antlitz war so licht, und sie sah ihn mit offnen Augen an, er konnte ihr nicht widerstehen, er sprach mit ihr, er beantwortete ihre Fragen und lachte. Wo war er nur gewesen? Im Garten? Das sei gar nicht wahr, sie habe im Garten gesucht und ihn nicht gefunden. Bewahre, im Garten war er nicht gewesen.

»War er wohl im Garten, Victoria?« fragt sie.

Victoria antwortet:

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«

Der Lieutenant wirft ihr einen zornigen Blick zu, und um seine Verlobte zu warnen, ruft er unnötig laut durch das ganze Zimmer dem Gutsbesitzer zu:

»Sagten Sie nicht, daß Sie mich mit zu Ihnen auf die Schnepfenjagd nehmen wollten?«

»Freilich,« antwortet der Gutsbesitzer. »Sie sind mir willkommen.«

Der Lieutenant sieht Victoria an. Sie sagt nichts und sitzt wie vorhin, hält ihn keineswegs von der Schnepfenjagd bei dem Gutsbesitzer ab. Sein Gesicht verfinstert sich mehr und mehr, er streicht seinen Schnurrbart mit nervösen Bewegungen.

Camilla richtet abermals eine Frage an Victoria.

Da springt der Lieutenant mit einer plötzlichen Bewegung auf und sagt zu dem Gutsbesitzer:

»Gut, dann komme ich gleich heute abend mit Ihnen.«

Damit verläßt er das Zimmer.

Der Gutsbesitzer und noch einige andere Herren folgen ihm.

Es entstand eine kurze Pause.

Plötzlich öffnet sich die Thür, und der Lieutenant tritt wieder ein. Er befindet sich in der heftigsten Erregung.

»Hast du etwas vergessen?« fragt Victoria und erhebt sich.

Er macht einige hüpfende Schritte an der Thür, als ob er nicht stille stehen könne, und geht direkt auf Johannes zu, den er gleichsam im Vorbeigehen mit der Hand stößt. Dann läuft er nach der Thür zurück und hüpft wieder.

»Nehmen Sie sich doch in acht, Mensch! Sie haben mich ins Auge gestoßen,« sagte Johannes und lachte hohl.

»Sie irren,« erwiderte der Lieutenant, »ich geb' Ihnen eine Ohrfeige. Verstehen Sie? Verstehen Sie?«

Johannes nahm sein Taschentuch, trocknete damit sein Auge und sagte:

»Das ist wohl nicht Ihre Absicht. Sie wissen ja, daß ich Sie doppelt zusammenlegen und in die Tasche stecken kann.«

Im selben Augenblick erhob er sich.

Da öffnete der Lieutenant schleunigst die Thür und trat hinaus.

»Es war meine Absicht!« schrie er zurück. »Es war meine Absicht, Sie Rindvieh!«

Und dann schlug er die Thür knallend zu.

Johannes setzte sich wieder.

Victoria stand noch ungefähr in der Mitte des Zimmers. Sie sah ihn an und war leichenblaß.

»Stieß er Sie?« fragte Camilla starr vor Staunen.

»Aus Versehen. Er traf mich ins Auge. Sehen Sie nur.«

»Mein Gott! Es ist ganz rot, das ist ja Blut. Nein, reiben Sie es nicht, lassen Sie mich Wasser darauf legen. Ihr Taschentuch ist so grob, sehen Sie hier, stecken Sie es wieder ein; ich nehme mein eigenes. Hat man je so etwas gesehen, gerade ins Auge!«

Auch Victoria reichte ihr Taschentuch hin. Sie sagte nichts, nur ihre Lippen bebten. Dann ging sie ganz langsam nach der Glasthür, wo sie mit dem Rücken nach dem Zimmer hineinstand und hinaussah. Sie riß ihr Taschentuch in kleine Streifen. Einige Minuten später öffnete sie die Thür und verließ das Gartenzimmer still und stumm.

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