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Ich habe eigentlich nie gewußt, was Todesangst sei, bis einmal während meines ersten Aufenthalts in Amerika. Nicht weil meine Kühnheit so groß ist, sondern weil sie bis dahin niemals auf eine richtige Probe gestellt war. Das war im Jahre 1884.
Da draußen in der Prärie liegt eine kleine Stadt, die Madelia heißt, ein ärmliches, unschönes Nest mit seinen häßlichen Häusern, seinen Bürgersteigen aus Plankenabfall und seinen unliebenswürdigen Menschen. Hier war es auch, wo Jessie James, Amerikas blutdürstigster, rauchgeschwärztester Räuber endlich ergriffen und totgeschlagen wurde. Hierher war er gekommen, hier hatte er sich versteckt, ein passender Ort für dies Ungeheuer, das seit einer Reihe von Jahren die Freistaaten unsicher gemacht hatte durch seine Überfälle, seine Plünderungen und seine Mordthaten.
Hierher war auch ich gekommen, – aber in der friedlicheren Absicht, einem Bekannten von mir aus einer Verlegenheit zu helfen.
Ein Amerikaner Namens Johnston war Lehrer an der »Mittelschule« in einer Stadt in Wisconsin, wo ich ihn und seine Frau kennen lernte. Einige Zeit darauf gab dieser Mann seine Stellung auf und ging in eine praktische Thätigkeit über, er reiste nach der Präriestadt Madelia und eröffnete dort ein Holzgeschäft. Nachdem er ein Jahr in dieser Branche thätig gewesen war, erhielt ich einen Brief von ihm, worin er mich bat, falls es mir möglich wäre, nach Madelia zu kommen und seinem Geschäft vorzustehen, während er und seine Frau eine Reise nach dem Osten machten. Ich war zu jener Zeit gerade frei und begab mich nach Madelia.
An einem dunklen Winterabend traf ich auf dem Bahnhof ein, wo mich Johnston empfing, ging mit ihm nach Hause und erhielt ein Zimmer angewiesen. Sein Haus lag eine ganze Strecke außerhalb der eigentlichen Stadt. Wir verbrachten einen großen Teil der Nacht damit, mich ein wenig in die für mich so fremden Finessen des Holzgeschäfts einzuweihen; am folgenden Morgen händigte mir Johnston mit einem Scherz seinen Revolver ein, und ein paar Stunden später saßen er und seine Frau im Eisenbahnzug.
Da ich nun allein im Hause war, zog ich aus meinem Zimmer in das Erdgeschoß hinab, wo ich bequemer wohnte und von wo aus ich außerdem bessere Aufsicht über das ganze Haus führen konnte. Ich nahm auch das Bett des Ehepaares in Gebrauch.
Einige Tage gingen dahin. Ich verkaufte Planken und Bretter und brachte jeden Abend das am Tage eingenommene bare Geld nach der Bank, wo ich eine Quittung darüber in mein Buch eintragen ließ.
Es befanden sich also keine anderen Menschen im Hause, ich war ganz allein. Ich bereitete mir mein Essen selber, molk und besorgte Johnstons zwei Kühe, buk Brot, kochte und briet. Mein erstes Brotbacken fiel indes nicht gut aus, ich hatte zuviel Mehl genommen, das Brot war nicht ordentlich durchgebacken, hatte einen schleifigen Rand und war schon am nächsten Tage steinhart. Schlecht erging es mir auch, als ich das erste Mal Grütze in Milch kochen wollte. Ich fand nämlich im Laden einen halben Scheffel wunderschöner Gerstgrütze, und diese erschien mir sehr geeignet für meine Suppe. Ich goß Milch in einen Kochtopf, »that« die Grütze hinein und fing an, umzurühren. Bald sah ich jedoch ein, daß meine Suppe zu dick wurde, und ich goß mehr Milch hinzu. Dann rührte ich wieder. Aber die Grütze pruttelte und kochte und schwoll an und die einzelnen Körner wurden so groß wie Erbsen, und dann wurde es wieder zu wenig Milch; außerdem wuchs die Breimasse so schnell, daß der Kochtopf überkochen wollte. Da fing ich an, in Tassen und Schüsseln auszufüllen. Trotzdem aber wollte der Kochtopf noch immer überkochen. Ich holte mehr Tassen und Schüsseln herbei, und alle wurden gefüllt, aber noch immer wollte der Kochtopf überkochen. Und immer wieder fehlte es an Milch; die Suppe war und blieb dick wie ein Brei. Schließlich wußte ich mir nicht anders zu helfen, ich schüttete den ganzen Inhalt des Kochtopfes auf einen Tisch, einen einfachen, hölzernen Tisch. Und die Grütze ergoß sich gleich einer köstlichen Lava und legte sich ganz still und gut und dick auf dem Tisch zur Ruhe und wurde steif.
Jetzt hatte ich sozusagen materia prima, und jedesmal, wenn ich hinfort Grütze in Milch essen wollte, schnitt ich nur ein Stück des Breis von dem Tisch ab, mischte Milch unter die Masse und kochte beides. Ich aß tagaus tagein zu allen Mahlzeiten Grütze wie ein Held, um sie wegzuschaffen. Es war wirklich ein hartes Stück Arbeit, aber ich kannte keinen Menschen in der Stadt, den ich hätte einladen können, mir bei meiner Grütze zu helfen.
Und schließlich ward ich ihrer auch allein Herr. – – – –
Es war recht einsam in diesem großen Hause für einen einzelnen Menschen von einigen zwanzig Jahren. Da waren stockdunkle Nächte, und es waren keine Nachbarn, bis man in die Stadt hinabkam. Ängstlich war ich aber nicht, es kam mir gar nicht in den Sinn, ängstlich zu sein. Und als ich zwei Abende hintereinander ein verdächtiges Geräusch an dem Schloß der Küchenthür zu hören meinte, stand ich auf, nahm die Lampe und untersuchte die Küchenthür von innen und außen. Aber ich fand nichts Verdächtiges am Schloß. Und ich hatte den Revolver auch nicht in der Hand.
Aber es sollte eine Nacht kommen, in der mich eine so haarsträubende Angst befiel, wie ich sie weder vor- noch nachher erlebt habe. Und noch lange Zeit nachher konnte ich das Erlebnis dieser Nacht nicht verwinden.
Es war an einem Tage, wo ich mehr als gewöhnlich zu thun hatte, ich schloß mehrere große Geschäfte ab und arbeitete bis spät in den Abend hinein. Als ich endlich Schluß machte, war es so spät geworden, daß es bereits dunkelte und die Bank geschlossen war. So konnte ich denn die Bareinnahme des Tages nicht abliefern. Ich nahm alles Geld mit in das Zimmer und zählte es: Es waren 7 bis 800 Dollars.
Wie gewöhnlich setzte ich mich auch an diesem Abend hin, um an einer Arbeit zu schreiben; es wurde später und später, und ich saß da und schrieb; es wurde Nacht, die Uhr wurde zwei. Da hörte ich plötzlich abermals das geheimnisvolle Geräusch an meiner Küchenthür.
Was war das?
Das Haus hatte zwei Thüren nach außen, eine, die nach der Küche führte und eine andere, – die eigentliche Hausthür –, die auf einen Vorplatz vor dem Zimmer führte. Diese letzte Thür hatte ich der Sicherheit halber von innen mit einem Sperrbalken verrammelt. Die Jalousien im Erdgeschoß waren ein Patent, sie waren so dicht, daß man von außen absolut keinen Schein der Lampe sehen konnte.
Und jetzt dringt also von der Küchenthür her ein Geräusch an mein Ohr.
Ich nehme die Lampe in die Hand und gehe dahin. An der Thür bleibe ich stehen und lausche. Draußen ist jemand, es wird geflüstert und im Schnee vor der Thür schleicht etwas hin und her. Ich lausche eine ganze Weile, das Flüstern hört auf und gleichzeitig scheint es mir, als entfernten sich die schleichenden Schritte. Dann wurde alles still.
Ich gehe wieder hinein und fange wieder an zu schreiben.
Eine halbe Stunde verging.
Da fahre ich plötzlich hoch in die Höhe – die Hausthür wurde eingebrochen. Nicht nur das Schloß, sondern auch der Sperrbalken innerhalb der Thür wurde zertrümmert, und ich hörte Schritte auf dem Vorplatz gerade vor meiner Thür. Der Einbruch konnte nur mittels eines starken Anlaufes und mit vereinten Kräften mehrerer Personen ausgeführt sein, denn der Sperrbalken war stark.
Mein Herz schlug nicht, es zitterte. Ich gab keinen Ausruf, keinen Laut von mir, aber ich fühlte die Bewegung meines Herzens bis oben in meinen Hals hinein, es hinderte mich, ordentlich zu atmen. In den ersten Sekunden war ich so bange, daß ich kaum wußte, wo ich war. Da fiel mir plötzlich ein, daß ich das Geld retten müsse, ich ging in die Schlafstube, nahm mein Taschenbuch aus meiner Tasche und steckte es unter die Matratze im Bett. Dann kehrte ich in das Zimmer zurück. Diese Handlung nahm sicher keine Minute in Anspruch.
Vor meiner Thür wurde gedämpft gesprochen und an dem Schloß wurde herumgearbeitet. Ich holte Johnstons Revolver heraus und untersuchte ihn; er funktionierte. Meine Hände zitterten heftig und meine Beine konnten mich kaum tragen. Besser war es mit meinem Mut nicht bestellt.
Meine Augen fielen auf die Thür, sie war ungewöhnlich solide, eine Bohlenthür mit starken Querbalken; sie war sozusagen nicht getischlert, sondern gezimmert. Die massive Thür machte mir Mut, und ich fing wieder an zu denken, – was ich bisher wohl kaum gethan hatte. Die Thür ging nach außen, folglich war es eine Unmöglichkeit, sie einzurennen. Der Vorplatz war auch zu schmal, um genügenden Raum zu einem Anlauf zu gewähren. Dies fiel mir ein und ich fühlte mich plötzlich mutig wie ein Maure, ich schrie hinaus, daß ich jeden, der eindringe, tot niederstrecken würde. Ich hatte mich so weit erholt, daß ich selber hörte und verstand was ich sagte, und da ich norwegisch gesprochen hatte, sah ich das Thörichte meiner Handlungsweise ein und wiederholte mit lauter Stimme meine Drohung auf Englisch. Keine Antwort. Um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, für den Fall, daß die Fenster eingeschlagen würden und die Lampe erlosch, blies ich die Lampe sogleich aus. Ich stand nun im Dunkeln, die Augen auf die Fenster gerichtet, den Revolver in der Hand. Die Sache zog sich in die Länge. Ich wurde immer kühner, ich nahm keinen Anstand, mich als Teufelskerl zu zeigen, und ich schrie:
»Nun, was haben Sie denn beschlossen? Wollen Sie gehen oder kommen? denn ich will schlafen!«
Da antwortete noch einer kleinen Weile ein erkälteter Baß:
»Wir wollen gehen, du Hundsfott!«
Und ich hörte, wie jemand den Vorplatz verließ und in den Schnee hinausknirschte.
Der Ausdruck »Hundsfott« ist das nationale Schimpfwort Amerikas – wie übrigens auch Englands – und da ich es nicht auf mir sitzen lassen konnte, daß man mir dies Wort zurief, ohne daß ich eine Antwort gab, wollte ich die Thür öffnen und auf die Schlingel feuern. Ich hielt indessen inne, ich dachte nämlich im letzten Augenblick, möglicherweise habe nur der eine Mann den Vorplatz verlassen, während der andere darauf wartete, daß ich die Thür öffnete, um mich dann zu überfallen. Deshalb ging ich an eins der Fenster, ließ die Jalousie mit Blitzesschnelle an die Decke hinaufrollen und sah hinaus. Ich glaubte einen dunklen Punkt im Schnee zu erkennen. Ich riß das Fenster auf, zielte so gut es ging auf den dunklen Punkt und schoß. Klick! Ich schoß nochmals. Klick! Rasend erledigte ich den ganzen Cylinder, ohne zu zielen, endlich ging ein einziger, armseliger Schuß ab. Aber der Knall war stark in der frosterstarrten Luft, und vom Wege her hörte ich Rufe: Lauf! Lauf!
Da sprang plötzlich noch ein Mann von dem Vorplatz in den Schnee hinaus, den Weg entlang und verschwand in der Finsternis. Ich hatte richtig geraten: es war noch einer dagewesen. Und diesem einen konnte ich nicht einmal hübsch Gute Nacht sagen, denn es war nur ein elender Schuß in dem Revolver gewesen, und den hatte ich verbraucht.
Ich zündete die Lampe wieder an, holte das Geld aus dem Bett und steckte es zu mir. Und jetzt, nachdem alles überstanden, war ich so jämmerlich feige geworden, daß ich es nicht wagte, mich in dieser Nacht in das Ehebett zu legen, ich wartete noch eine halbe Stunde, bis es zu dämmern begann, dann zog ich meinen Überzieher an und verließ das Haus. Ich verbarrikadierte die zerbrochene Thür, so gut es ging, schlich in die Stadt hinab und schellte im Hotel.
Wer die Spitzbuben waren, weiß ich nicht. Zu den professionellen werden sie kaum gehört haben, denn in dem Fall würden sie sich wohl kaum von einer Thür haben abschrecken lassen, wo doch zwei Fenster da waren, durch die sie hätten hereinkommen können. Aber auch diese Schlingel waren nicht ohne eine gewisse kalte und freche Gewaltthätigkeit, denn sie zerbrachen das Schloß und den Sperrbalken an meiner Thür.
Aber so bange um mein Leben bin ich niemals gewesen, wie in dieser Nacht in der Präriestadt Madelia, Jessie James Zufluchtsstätte. Es ist mir auch seither mehrmals passiert, wenn ich erschreckt wurde, daß der Schlag meines Herzens bis oben in meinen Hals hinauf gehämmert und mir meinen Atem behindert hat, – das ist ein Überbleibsel aus dieser Nacht. Nie zuvor hatte ich eine Ahnung von einer Angst gehabt, die sich auf so außergewöhnliche Weise äußern kann.
Eines Morgens im Sommer 1894 wurde ich von dem dänischen Schriftsteller Sven Lange geweckt, der in mein Zimmer in der Rue de Vaugirard trat und sagte, jetzt sei Revolution in Paris ausgebrochen.
»Was? Revolution?«
»Die Studenten haben jetzt die Sache in die Hand genommen und machen Revolution in den Straßen.«
Ich war schläfrig und wütend und sagte:
»Richten Sie einen Wasserschlauch auf die Kerle und spritzen Sie sie von den Straßen herunter.«
Hierüber aber wurde Sven Lange ärgerlich, denn er nahm die Partei der Studenten, deswegen wurde er verdrießlich und ging.
Die »Sache«, die die Studenten in die Hand genommen hatten, war folgende:
Der Verein oder die Gesellschaft »Die vier schönen Künste« wollte einen Ball in dem Vergnügungslokal Moulin Rouge abhalten. Die vier Damen, die auf diesem Ball die vier schönen Künste personifizieren sollten, traten so gut wie nackend auf, sie hatten eigentlich nur ein seidenes Band um die Taille. Nun ist die Pariser Polizei langmütig und an allerlei gewöhnt, hier aber trat sie dazwischen, der Ball wurde untersagt und das Etablissement geschlossen.
Hiergegen erhoben die Künstler Protest. Die Studenten im ganzen Quartier Latin nahmen die Partei der Künstler und erhoben ebenfalls Protest.
Ein paar Tage später ging eine kleine Polizeipatrouille den Boulevard St. Michel hinab. Vor einer der zahlreichen Kneipen sitzen einige Studenten, die der Patrouille im Vorübergehen höhnische Bemerkungen zurufen. Die Pariser Polizei ist langmütig und an allerlei gewöhnt, jetzt aber wird der eine Konstabler wütend, er nimmt einen schweren Streichholzbehälter aus Stein, der draußen auf einem Tisch am Boulevard steht, und schleudert ihn dem Unruhstifter zu. Er zielt indessen schlecht, der Behälter fliegt durch das Fenster in die Kneipe hinein und trifft einen ganz harmlosen Studenten an den Kopf, so daß das unglückliche Opfer auf der Stelle tot ist.
Und da geschah es, daß die Studenten die »Sache« in die Hand nahmen. – – –
Als Sven Lange sich entfernt hatte, stand ich auf und ging aus. Große Unruhe in den Straßen, eine Menge Leute, Polizisten zu Pferd und zu Fuß. Ich drängte mich durch, erreichte mein Restaurant, frühstückte, zündete mir eine Cigarette an und wollte wieder nach Hause gehen. Als ich aus dem Restaurant herauskam, war die Unruhe und die Volksmenge noch gewachsen. Um die Ordnung aufrecht zu halten, war jetzt auch die Nationalgarde zu Fuß und zu Pferd ausgerückt. Als diese sich zuerst auf dem Boulevard St. Germain zeigte, wurde sie mit Johlen und Steinwürfen vom Volk empfangen. Die Pferde bäumten sich, schnoben, waren nicht zu halten. Das Volk zerstampfte den Asphalt der Straßen und benutzte ihn als Wurfgeschütz.
Ein Mann fragte mich ganz empört, ob ich fände, daß es jetzt Zeit sei, eine Cigarette zu rauchen. Ich ahnte gar nicht, daß so große Gefahr vorhanden war; wenig französisch oder gar keins verstand ich auch nur, so war ich gewissermaßen entschuldigt. Der Mann aber rief mit verzweifelter Geberde:
»Revolution! Revolution!«
Da warf ich die Cigarette weg.
Jetzt waren es nicht mehr die Studenten und Künstler allein, die auf den Beinen waren, die Hefe von Paris zu Zehntausenden war herbeigeströmt, Lazaronis, Müßiggänger, gescheiterte Existenzen. Sie kamen aus allen Ecken der Stadt, tauchten aus den Seitenstraßen auf und mischten sich unter die Menge. Mehr als ein anständiger Mensch büßte seine Uhr ein.
Ich ließ mich von dem Strom treiben. Das Kreuz, das die beiden Boulevards St. Michel und St. Germain bilden, war der Brennpunkt für den Tumult, und dort schien es außerordentlich schwer, die Ordnung aufrecht zu halten. Das Volk that lange Zeit, was es wollte. Ein Omnibus kam von dem andern Seine-Ufer über die Brücke; als er auf dem Platz St. Michel halt machte, trat ein Mann aus der Menge hervor, lüftete den Hut und sagte:
»Meine Damen und Herren, wollen Sie gefälligst aussteigen?«
Und die Passagiere stiegen aus.
Dann wurden die Pferde ausgespannt und der Omnibus unter lautem Jubel mitten auf der Straße umgestürzt. Der nächste Omnibus erfuhr dasselbe Schicksal. Die Straßenbahnen, die vorüberkamen, wurden angehalten und ebenfalls umgestürzt und bald zog sich eine hohe Barrikade quer über die Straße von einem Bürgersteig bis zum andern. Aller Verkehr stockte, Leute, die weiter wollten, konnten sich nicht hindurcharbeiten, sondern wurden von der wogenden Menschenmenge mit fortgerissen, aus ihrem Wege geführt, tief in Seitenstraßen hineingedrängt oder gar durch die verriegelten Thüren in die Häuser hinein.
Ich war wieder ungefähr bis zu meinem Ausgangspunkt, dem Restaurant, zurückgeführt, ich wurde weiter getrieben, immer weiter, bis ich an ein hohes, schwarzes, eisernes Gitter kam, das ein Museum umschloß, – hier klammerte ich mich fest. Man riß mir fast die Arme vom Leibe, aber ich hielt stand. Plötzlich ertönte ein Schuß und noch einer. Eine Panik bemächtigte sich der Menge, sie stürzte sich unter fürchterlichem Geschrei in die Seitenstraßen; gleichzeitig benutzte die Polizei die Gelegenheit, in verschiedenen Richtungen dem Pöbel nachzureiten, ihn niederzutrampeln, mit dem Säbel um sich zu hauen.
In diesem Augenblick hatte man eine Empfindung vom Krieg.
Ich war so glücklich, mich am Gitter halten zu können, wo jetzt kein Gedränge mehr stattfand. Ein Nachzügler kam atemlos auf mich zu, wahnsinnig vor Angst. Er hielt seine Visitenkarte in die Höhe, er preßte mir die Karte in die Hand und flehte um Gnade, er glaubte, ich wollte ihn töten. Auf der Karte stand: Dr. Hjohannes. Während er vor mir stand, zitterte er wie Espenlaub. Er erklärte mir, er sei Armenier und befinde sich auf einer Studienreise in Paris, sonst sei er Arzt in Konstantinopel. Ich schonte sein Leben und nahm es ihm nicht. Ich entsinne mich des Mannes noch ganz genau, namentlich seines ganz verstörten Gesichts mit dem schwarzen, spärlichen Bart und den großen Zwischenräumen zwischen den Zähnen in seinem Oberkiefer.
Es verlautete jetzt, die Schüsse seien aus einem Schuhladen gekommen, oder eigentlich aus der Werkstatt darüber. Es seien »italienische« Arbeiter, die auf die Polizei geschossen hätten, – natürlich waren es Italiener, denen man die Schuld gab. Jetzt kehrte der Mut bei der Menge zurück, und diese strömte wieder auf den Boulevard. Die reitende Polizei versuchte jetzt, den Brennpunkt gegen weitere Zuströmung von Menschen aus anderen Teilen der Stadt durch einen Tordon abzusperren; sobald aber die Menge diesen Trick bemerkte, fing sie an, die Fenster in den Zeitungskiosken zu zertrümmern, die Gaslaternen mit Steinen einzuwerfen und die eisernen Stangen zu entfernen, die die Kastanienbäume auf den Boulevards beschützen, alles, um der Polizei anderes zu schaffen zu machen, als die Strecke abzusperren. Als dies nichts nützte, galt es, die sich bäumenden Pferde der Polizei bis aufs äußerste zu erschrecken, deswegen wurden die Barrikaden aus den umgestürzten Omnibussen in Brand gesteckt. Man fuhr auch noch immer fort, das Asphalt zu Wurfgeschossen aufzubrechen, und da dies ein schweres Stück Arbeit war und der Bedarf dadurch keineswegs gedeckt wurde, so griff man nach anderen Auswegen. Die zerbrochenen eisernen Stangen um die Kastanienbäume wurden in kleine Stücke zerhauen, man riß das Holzwerk der Treppengeländer nieder, und bald kam auch die Reihe an mein eigenes, großes, schönes Eisengitter. Und dann warf man und schrie und zerstörte und floh und kehrte zurück.
So vergingen die Stunden.
Da wurden die Aufrechterhalter der Ordnung durch Truppen aus Versailles verstärkt. Ein Choc ging durch die Menge. Die Polizei und die Nationalgarde hatte man verhöhnt und ihr alles erdenkliche Böse zugefügt, sobald sich aber die Truppen zeigten, rief das Volk aus: »Es lebe die Armee! Es lebe die Armee!« Und die Offiziere griffen an die Mütze und dankten für die Huldigung. Raum aber waren Offiziere und Soldaten vorübergeritten, als das Treiben mit der Polizei und den Fensterscheiben und dem Gitterwerk von neuem begann und derselbe Zustand wieder eintrat.
Und es wurde Abend.
Da schrieen die Studenten:
»Lozé bespeien!«
Lozé war der Polizeipräfekt. Und nun ordnete sich ein unermeßlicher Zug, der nach dem Hotel des Polizeipräfekten wollte, um Lozé »zu bespeien«. Der Zug setzte sich in Bewegung. Und die zurückgebliebenen Tausende setzten ihre Ausschreitungen fort.
Da es so schien, als wenn es heute nicht mehr viel zu sehen geben würde, begab ich mich wieder in mein Restaurant, aß und kehrte auf einem langen, langen Umweg heim. – – –
Aber die Tage vergingen und die Tumulte nahmen ihren Fortgang.
Gleich wenn man aus seinem Zimmer und auf die Straße hinauskam, sah und hörte man ungewöhnliche Dinge. Eines Abends wollte ich wieder nach meinem Restaurant gehen, um zu essen. Es regnete ein wenig, und ich nahm den Regenschirm mit. Ungefähr auf halbem Wege wurde ich von einer Bande angehalten, die beschäftigt war, eine interimistisch aufgestellte Balustrade niederzubrechen, die die Vorübergehenden verhindern sollte, in eine Vertiefung der Straße hinabzustürzen. Die Balustrade war aus Balken und Brettern. Ich wurde in sehr bestimmtem Ton ersucht, bei dem Herunterreißen behilflich zu sein, ich sähe stark aus und müsse zu gebrauchen sein. Ich wußte, es würde nichts helfen, mich zu widersetzen, und so antwortete ich denn, ich würde entzückt sein, ihnen behilflich sein zu können. Und dann fingen wir an zu brechen und niederzureißen. Es nützte aber nichts. Wir waren vielleicht fünfzig Mann, aber wir arbeiteten nicht im Takt und konnten der Balustrade nicht Herr werden. Da kam ich auf den Einfall, einen Singsang anzustimmen, wie ihn die norwegischen Maurer beim Heben schwerer Lasten zu brüllen pflegen. Das half. Bald fing es an, in den Planken zu knacken, und nach einer Weile stürzte die Balustrade zusammen. Da schrieen wir Hurra!
Ich wollte meinen Weg nach dem Restaurant fortsetzen. Da kommt ein zerlumpter Mann gegangen und nimmt ohne weiteres meinen Regenschirm, den ich hingestellt hatte, und spaziert damit von dannen. Er wollte ihn nicht wieder ausliefern, er sagte, es sei sein Regenschirm. Ich schaffte Zeugen unter meinen Kameraden bei der Balustrade herbei, die bestätigen mußten, daß ich diesen Schirm bei mir hatte, als ich kam.
»Ja,« sagte der Mann. »Aber ist dies denn nicht Revolution?«
Da schwiegen meine Genossen und ließen den Mann Recht bekommen.
Dasselbe wollte ich jedoch nicht, ich nahm ihm den Schirm mit Gewalt ab, und da sich dies nicht glimpflicher machen ließ, als daß wir beide, der Mann und ich, kopfüber auf der Straße rollten, fing der Mann an, um Hilfe zu schreien. Die Genossen kamen abermals herbei, und als der Mann sich beklagte, daß ich ihn überfallen hatte, antwortete ich:
»Ja freilich! Aber ist dies denn nicht Revolution?«
Und dann nahm ich meinen Schirm und ging. – – –
Des Abends, wenn ich meine Tagesarbeit beendet hatte, ging ich gewöhnlich aus und wohnte den Tumulten in gemessener Entfernung bei. Die Straßen waren sehr dunkel, fast alle Gaslaternen waren zertrümmert und die Gegend wurde daher im wesentlichen durch das Licht aus den Läden erleuchtet. Die Gardisten ritten auf den Bürgersteigen, ihre großen Pferde sahen aus wie Ungeheuer in der dämmerigen Beleuchtung, und man hörte ununterbrochen das Getrampel der Hufeisen auf dem Asphalt und das Geheul irgend einer Bande in den Seitenstraßen.
Inzwischen hatten die Studenten – als sie sahen, welch einen Umfang das Unwesen annahm, – eine Proklamation erlassen, worin sie die Verantwortung für die stattgefundenen Zerstörungen und Verbrechen von sich wiesen. Es waren jetzt nicht mehr die Studenten, die gegen das Auftreten der Polizei auf dem Ball in der Moulin Rouge protestierten, sondern die Hefe von Paris, und die Studenten wollten jeden einzelnen auffordern, jetzt inne zu halten. Die Proklamation war in vielen Exemplaren erschienen und an den Bäumen am Boulevard angeschlagen.
Aber ihre vernünftigen Worte fruchteten natürlich nicht im geringsten mehr.
Die Menge hatte es auf die Polizei abgesehen. Man fuhr fort, in großen Zügen auf die Polizeipräfektur zu marschieren und Lozé zu »bespeien«, man warf Polizisten überall, wo man ihrer habhaft werden konnte, mit Steinen und schoß auf sie, und als ein armer Konstabler eines Abends spät eine der Seinebrücken mit einer Ordre passieren wollte, wurde er von der Menge ergriffen und in den Fluß geworfen. Er trieb am nächsten Tage weit abwärts von Notre Dame ans Ufer und wurde in die Leichenhalle gebracht.
Eines Abends trug sich auf dem Boulevard St. Michel etwas zu, das großes Aufsehen erregte. Ein Konstabler hatte sich ganz allein unter die Menschenmenge auf dem Bürgersteig verirrt. Da zieht ein Herr eine lange Duell-Pistole aus der Tasche und erschießt den Konstabler auf der Stelle. Bei dem Knall sprengte die Polizei herbei, in größter Hast wurde gefragt und geantwortet und einige Arretierungen vorgenommen. Aber den Schuldigen fand man nicht. Nachdem er die Pistole abgefeuert hatte, trat der Mörder ein paar hastige Schritte zurück, die Menschenmenge schlug über seinem Wege zusammen und er war für immer verschwunden. Aber der Herr war Ritter der Ehrenlegion, das hatten die Zunächststehenden gesehen. Und sie schienen auch zu wissen, wer er war, obwohl sie ihn nicht ausliefern wollten, – ein Herr mit einem Namen, den ganz Paris kannte, den Frankreich, ja ein großer Teil der Welt kennt. Dieser Mann hat also an jenem Abend einen Menschen töten wollen: der Mord- und Revolutionsinstinkt der Franzosen war in ihm erwacht und in hellen Flammen aufgelodert. – –
Eines Abends wurde ich beim »Asphaltstoßen« angestellt. Ich kam ganz ruhig eine Straße hinabgegangen, wo ich sah, daß ein Haufe Menschen mit etwas beschäftigt war. Als ich nahe genug herangekommen war, wurde ich angerufen, man überreichte mir ein Brecheisen und stellte mich an. Eine Kompagnie der Garde war in einiger Entfernung postiert, um die Straße abzusperren und so weit ich verstehen konnte, handelte es sich darum, mit dem losgebrochenen Asphalt die Garde zu steinigen und sich Zutritt zu der verbotenen Straße zu erzwingen. Es war eine schändliche Sklaverei, in die ich hineingeraten war, und ich bereute bitter, nicht einen anderen Weg eingeschlagen zu haben. Jetzt gab es indes keinen Ausweg mehr, ich mußte Asphalt stoßen. Und ich war nicht der einzige bei dieser Arbeit, mehrere Brecheisen waren in Thätigkeit und man löste sich gegenseitig ab. Der Pöbel stand da und schrie und beriet, was nun aus der Garde werden sollte: ach, es würde der Garde schlecht ergehen, es sollten nicht viele von der Garde am Leben bleiben!
Da hörten wir plötzlich, wie kommandiert wurde:
»Fällt das Bajonett!«
Wir sehen auf.
Dieselbe Stimme schrie:
»Vorwärts mit dem Bajonett!«
Und die Gardekompagnie kam gerade auf uns zu.
Da warfen wir feige unsere Brecheisen hin und rannten davon. Du lieber Gott, wie wir rannten! Wir hinterließen dem Feind alle unsere Kugeln, all unseren köstlichen Asphalt, und flohen. Jetzt kam es mir sehr zu gute, daß ich lange Beine hatte und sie so gut wie nur ein Hase zu gebrauchen verstand, und ich muß es selber eingestehen, ich habe noch nie einen wann so brillant fliehen sehen wie mich. Ich entsinne mich noch, daß ich einen kleinen Franzosen quer gegen eine Mauer rannte, mit einer solchen Gewalt, daß er umfiel und ein Röcheln von sich gab. Natürlich überholte ich die meisten meiner fliehenden Genossen, und als die vordersten endlich halt machten, benutzte ich die allgemeine Verwirrung, um mich von der Asphaltfabrikation wegzuschleichen.
Ich bin auch nie wieder dazugekommen.
Nach Verlauf mehrerer Wochen fing das Unwesen in den Straßen an, abzunehmen, und nach drei Wochen war Paris wieder so unterwürfig wie vorher. Nur die aufgewühlten Straßen zeugten noch längere Zeit von den Zerstörungen der letzten französischen Revolution. Einen reellen Nutzen hatten die Tumulte: der Polizeipräfekt, der »bespieene« Lozé, mußte abdanken.
Mehrere Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof im Nordland. Es war eine harte Zeit für mich, viel Arbeit, viele Prügel und selten oder niemals eine Stunde zu Spiel und Vergnügen. Da mein Onkel mich so streng hielt, bestand allmählich meine einzige Freude darin, mich zu verstecken und allein zu sein; hatte ich ausnahmsweise einmal eine freie Stunde, so begab ich mich in den Wald, oder ich ging auf den Kirchhof und wanderte zwischen Kreuzen und Grabsteinen herum, träumte, dachte und unterhielt mich laut mit mir selber.
Der Pfarrhof lag ungewöhnlich schön, dicht bei der Glimma, einem breiten Strom mit vielen großen Steinen, dessen Brausen Tag und Nacht, Nacht und Tag ertönte. Die Glimma floß einen Teil des Tages südwärts, den übrigen Teil nordwärts, je nachdem Flut oder Ebbe war, – immer aber brauste ihr ewiger Gesang und ihr Wasser rann mit gleicher Eile im Sommer wie im Winter dahin, welche Richtung es auch nahm.
Oben auf einem Hügel lagen die Kirche und der Kirchhof. Die Kirche war eine alte Kreuzkirche aus Holz, und der Kirchhof war ohne Pflanzen und die Gräber ohne Blumen; hart an der steinernen Mauer aber pflegten die üppigsten Himbeeren zu wachsen, eine große und saftige Frucht, die Nahrung aus der fetten Erde der Toten sog. Ich kannte jedes Grab und jede Inschrift, und ich erlebte, daß Kreuze, die ganz neu aufgestellt wurden, im Laufe der Zeit sich zu neigen begannen und schließlich in einer Sturmnacht umstürzten.
Waren da aber keine Blumen auf den Gräbern, so wuchs im Sommer hohes Gras auf dem ganzen Kirchhof. Es war so hoch und so hart, daß ich oft da saß und dem Winde lauschte, der in diesem sonderbar harten Grase sauste, das mir bis an die Hüften ging. Und dann mitten in dies Gesause hinein konnte die Wetterfahne auf dem Kirchturm sich herumdrehen, und dieser rostige, eiserne Ton klang jammernd über den Pfarrhof hin. Es war, als ob dies Stück Eisen gegen irgend ein anderes Eisen die Zähne knirschte.
Wenn der Totengräber bei der Arbeit war, hatte ich gar manches Mal eine Unterhaltung mit ihm. Er war ein ernster Mann, er lächelte selten, aber er war sehr freundlich gegen mich, und wenn er so dastand und Erde aus dem Grabe aufschaufelte, kam es wohl vor, daß er mir zurief, ein wenig aus dem Wege zu gehen, denn jetzt habe er ein großes Stück Hüftknochen oder den grinsenden Schädel eines Toten auf dem Spaten.
Ich fand oft Knochen und Haarbüschel von Leichen auf den Gräbern, die ich dann wieder in die Erde eingrub, wie es der Totengräber mich gelehrt hatte. Ich war so hieran gewöhnt, daß ich kein Grausen empfand, wenn ich auf diese Menschenreste stieß. Unter dem einen Ende der Kirche befand sich ein Leichenkeller, wo Unmengen von Knochen lagen und sich umher trieben, und in diesem Keller saß ich gar manches Mal, spielte mit den Knochen und bildete aus dem zerbröckelten Gebein Figuren auf dem Boden.
Eines Tages aber fand ich einen Zahn auf dem Kirchhof.
Es war ein Vorderzahn, schimmernd weiß und stark. Ohne mir weiter Rechenschaft davon abzulegen, steckte ich den Zahn zu mir. Ich wollte ihn zu etwas gebrauchen, irgend eine Figur daraus zurecht feilen und ihn in einen der wunderlichen Gegenstände einfügen, die ich aus Holz schnitzte.
Ich nahm den Zahn mit nach Hause.
Es war Herbst und die Dunkelheit brach früh herein. Ich hatte noch allerlei anderes zu besorgen, und es vergingen wohl ein paar Stunden, bis ich mich in die Gesindestube hinüberbegab, um an meinem Zahn zu arbeiten. Indessen war der Mond aufgegangen; es war Halbmond.
In der Gesindestube war kein Licht, und ich war ganz allein. Ich wagte nicht, ohne weiteres die Lampe anzuzünden, ehe die Knechte hereinkamen; aber mir genügte das Licht, das durch die Ofenklappe fiel, wenn ich tüchtig Feuer anmachte. Ich ging deshalb in den Schuppen hinaus, um Holz zu holen.
Im Schuppen war es dunkel.
Als ich mich nach dem Holz vorwärtstaste, fühle ich einen leichten Schlag, wie von einem einzelnen Finger, auf meinem Kopfe. –
Ich wandte mich hastig um, sah aber niemand.
Ich schlug mit den Armen um mich, fühlte aber niemand.
Ich fragte, ob jemand da sei, erhielt aber keine Antwort.
Ich war barhäuptig, ich griff nach der berührten Stelle meines Kopfes und fühlte etwas Eiskaltes in meiner Hand, das ich sofort wieder los ließ. Das ist doch sonderbar! dachte ich bei mir. Ich griff wieder nach dem Haar hinauf, – da war das Kalte weg.
Ich dachte:
Was für Kaltes das wohl gewesen sein mag, das von der Decke herunterfiel und mich auf den Kopf traf?
Ich nahm einen Arm voll Holz und ging wieder in die Gesindestube, heizte ein und wartete, bis ein Lichtschein durch die Ofenklappe fiel.
Dann holte ich den Zahn und die Feile hervor.
Da klopfte es an das Fenster.
Ich sah auf. Vor dem Fenster, das Gesicht fest an die Fensterscheibe gedrückt, stand ein Mann. Er war mir ein Fremder, ich kannte ihn nicht, und ich kannte doch das ganze Kirchspiel. Er hatte einen roten Vollbart, eine rote wollene Binde um den Hals und einen Südwester auf dem Kopfe. Worüber ich damals nicht nachdachte, was mir aber später einfiel: wie konnte sich mir dieser Kopf so deutlich in der Dunkelheit zeigen, namentlich an einer Seite des Hauses, wo nicht einmal der Vollmond schien? Ich sah das Gesicht mit erschreckender Deutlichkeit, es war bleich, beinahe weiß, und seine Augen starrten mich gerade an.
Es vergeht eine Minute.
Da fängt der Mann an zu lachen.
Es war kein hörbares, schüttelndes Lachen, sondern der Mund öffnete sich weit und die Augen starrten wie vorhin, der Mann aber lachte.
Ich ließ fallen, was ich in der Hand hatte, und ein eisiger Schauer durchrieselte mich vom Scheitel bis zur Sohle. In der ungeheueren Mundhöhle des lachenden Gesichts vor dem Fenster entdeckte ich plötzlich ein schwarzes Loch in der Zahnreihe, – es fehlte ein Zahn.
Ich saß da und starrte in meiner Angst gerade aus. Es verging noch eine Minute. Das Gesicht fing an, Farbe anzunehmen, es wurde stark grün, dann wurde es stark rot; das Lachen aber blieb. Ich verlor die Besinnung nicht, ich bemerkte alles um mich herum; das Feuer leuchtete ziemlich hell durch die Ofenklappe und warf einen kleinen Schein bis auf die andere Wand hinüber, wo eine Leiter stand. Ich hörte auch aus der Kammer nebenan, daß eine Uhr an der Wand tickte. So deutlich sah ich alles, daß ich sogar bemerkte, daß der Südwester, den der Mann vor dem Fenster auf hatte, oben im Kopfstück von schwarzer, abgenützter Farbe war, daß er aber einen grüngemalten Rand hatte.
Da senkte der Mann den Kopf nach der Fensterscheibe herab, ganz langsam herab, immer weiter, so daß er sich schließlich unterhalb des Fensters befand. Es war, als gleite er in die Erde hinein. Ich sah ihn nicht mehr.
Meine Angst war entsetzlich, ich fing an zu zittern. Ich suchte auf dem Fußboden nach dem Zahn, wagte aber nicht, die Augen von dem Fenster zu entfernen, – vielleicht konnte das Gesicht ja wiederkehren.
Als ich den Zahn gefunden hatte, wollte ich ihn gleich wieder nach dem Kirchhof bringen, hatte aber nicht den Mut dazu. Ich saß noch immer allein und konnte mich nicht rühren. Ich höre Schritte draußen auf dem Hof und meine, daß es eine der Mägde ist, die auf ihren Holzpantoffeln geklappert kommt; ich wage aber nicht, sie anzurufen, und die Schritte gehen vorüber. Eine Ewigkeit vergeht. Das Feuer im Ofen fängt an auszubrennen, und keine Rettung zeigt sich mir.
Da beiße ich die Zahne aufeinander und stehe auf. Ich öffne die Thür und gehe rückwärts aus der Gesindestube heraus, unverwandt nach dem Fenster sehend, an dem der Mann gestanden hat. Als ich auf den Hof hinaus gekommen bin, renne ich nach dem Stall hinüber, um einen der Knechte zu bitten, mich nach dem Kirchhof hinüber zu begleiten.
Die Knechte befanden sich aber nicht im Stalle.
Jetzt unter freiem Himmel war ich indes kühner geworden, und ich beschloß, allein nach dem Friedhof hinauf zu gehen; dadurch würde ich es auch vermeiden, mich jemandem anzuvertrauen und dann später in des Onkels Klauen zu geraten.
So ging ich denn allein den Hügel hinan.
Den Zahn trug ich in meinem Taschentuch.
Oben an der Kirchhofspforte blieb ich stehen, – mein Mut versagte mir seinen ferneren Beistand. Ich höre das ewige Brausen der Glimma, sonst ist alles still. In der Kirchhofspforte war keine Thür, nur ein Bogen, durch den man hindurch ging; ich stelle mich voller Angst auf die eine Seite dieses Bogens und stecke den Kopf vorsichtig durch die Öffnung, um zu sehen, ob ich es wagen könne, weiter zu gehen.
Da sinke ich plötzlich platt auf die Kniee.
Ein Stück jenseits der Pforte, da drinnen zwischen den Gräbern, stand mein Mann mit dem Südwester. Er hatte wieder das weiße Gesicht, und er wandte es mir zu, gleichzeitig aber zeigte er vorwärts, nach dem Kirchhof hinauf.
Ich sah dies als Befehl an, wagte aber nicht zu gehen. Ich lag sehr lange da und sah den Mann an, ich flehte ihn an und er stand unbeweglich und still da.
Da geschah etwas, was mir wieder ein wenig Mut machte: ich hörte einen der Knechte unten am Stallgebäude geschäftig umher gehen und pfeifen. Dieses Lebenszeichen um mich her bewirkte, daß ich mich erhob. Da entfernte sich der Mann ganz allmählich, er ging nicht, er glitt über die Gräber dahin, immer vorwärts zeigend. Ich trat durch die Pforte. Der Mann lockte mich weiter. Ich that einige Schritte und blieb dann stehen; ich konnte nicht mehr. Mit zitternder Hand nahm ich den weißen Zahn aus dem Taschentuch und warf ihn mit aller Macht auf den Kirchhof. In diesem Augenblick drehte sich die eiserne Stange auf dem Kirchturm herum und der schrille Schrei ging mir durch Mark und Bein. Ich stürzte zur Pforte hinaus, den Hügel hinab und nach Hause. Als ich in die Küche kam, sagten sie mir, mein Gesicht sei weiß wie Schnee. – – –
Es sind jetzt viele Jahre seitdem vergangen, aber ich entsinne mich jeder Einzelheit. Ich sehe mich noch auf den Knieen vor der Kirchhofsthür liegen, und ich sehe den rotbärtigen Mann.
Sein Alter kann ich nicht einmal ungefähr angeben. Er konnte zwanzig Jahre alt sein, er konnte auch vierzig sein. Da es nicht das letzte Mal sein sollte, daß ich ihn sah, habe ich auch später noch über diese Frage nachgedacht; aber noch immer weiß ich nicht, was ich über sein Alter sagen soll. – – –
Manchen Abend und manche Nacht kam der Mann wieder. Er zeigte sich, lachte mit seinem weitgeöffneten Munde, in dem ein Zahn fehlte, und verschwand. Es war Schnee gefallen, und ich konnte nicht mehr auf den Kirchhof gehen und ihn in die Erde legen. Und der Mann kam wieder und wieder, aber mit immer längeren Zwischenräumen, den ganzen Winter hindurch. Meine haarsträubende Angst vor ihm nahm ab; aber er machte mein Leben sehr unglücklich, ja unglücklich bis zum Übermaß. In jenen Tagen war es mir oft eine gewisse Freude, wenn ich daran dachte, daß ich meiner Qual ein Ende machen könnte, indem ich mich in die Glimma stürzte.
Dann kam der Frühling und der Mann verschwand gänzlich.
Gänzlich? Nein, nicht gänzlich, aber für den ganzen Sommer. Den nächsten Winter stellte er sich wieder ein. Nur einmal zeigte er sich, dann blieb er lange Zeit fern. Drei Jahre nach meiner ersten Begegnung mit ihm verließ ich das Nordland und blieb ein Jahr fort. Als ich zurückkehrte, war ich konfirmiert und wie ich selber meinte, ein großer, erwachsener Mann. Ich wohnte nun nicht mehr bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof, sondern daheim bei Vater und Mutter.
Eines abends zur Herbstzeit, als ich gerade schlafen gegangen war, legte sich eine kalte Hand auf meine Stirn. Ich schlug die Augen auf und erblickte den Mann vor mir. Er saß auf meinem Bett und sah mich an. Ich lag nicht allein im Zimmer, sondern mit zweien von meinen Geschwistern zusammen; aber ich rief trotzdem keines von ihnen. Als ich den kalten Druck gegen meine Stirn fühlte, schlug ich mit der Hand um mich und sagte: »Nein, geh weg!« Meine Geschwister frugen aus ihren Betten, mit wem ich spräche.
Als der Mann eine Weile still gesessen hatte, fing er an, sich mit dem Oberkörper hin und her zu wiegen. Dabei nahm er mehr und mehr an Größe zu, schließlich stieß er beinahe an die Decke, und da er offenbar nicht viel weiter kommen konnte, erhob er sich, entfernte sich mit lautlosen Schritten von meinem Bett, durch das Zimmer, nach dem Ofen, wo er verschwand. Ich folgte ihm die ganze Zeit mit den Augen.
Er war mir noch nie so nahe gewesen wie diesmal; ich sah ihm gerade ins Gesicht. Sein Blick war leer und erloschen, er sah zu mir hin, aber gleichsam an mir vorüber, quer durch mich hindurch, weit in eine andere Welt hinein. Ich bemerkte, daß er graue Augen hatte. Er bewegte sein Gesicht nicht und er lachte nicht. Als ich seine Hand von meiner Stirn wegschlug und sagte: »Nein, geh weg!« zog er seine Hand langsam zurück. Während all der Minuten, die er auf meinem Bett saß, blinzelte er niemals mit den Augen. – –
Einige Monate später, als es Winter geworden und ich wieder von Hause gereist war, hielt ich mich eine Zeitlang bei einem Kaufmann W. auf, dem ich im Laden und auf dem Kontor half, hier sollte ich meinem Mann zum letztenmal begegnen.
Ich gehe eines abends auf mein Zimmer hinauf, zünde die Lampe an und entkleide mich. Ich will wie gewöhnlich meine Schuhe für das Mädchen hinaussetzen, ich nehme die Schuhe auch in die Hand und öffne die Thür.
Da steht er auf dem Gang, dicht vor mir, der rotbärtige Mann.
Ich weiß, daß Leute im Nebenzimmer sind, daher bin ich nicht bange. Ich murmele: »Bist du nun schon wieder da.« Gleich darauf öffnet der Mann seinen großen Mund wieder und fängt an zu lachen. Dies machte keinen erschreckenden Eindruck mehr auf mich; aber diesmal wurde ich aufmerksamer: der fehlende Zahn war wieder da!
Er war vielleicht von irgend jemand in die Erde hineingesteckt worden. Oder er war in diesen Jahren zerbröckelt, hatte sich in Staub aufgelöst und mit dem übrigen Staub vereint, von dem er getrennt gewesen war. Gott allein weiß das!
Der Mann schloß seinen Mund wieder, während ich noch in der Thür stand, wandte sich um und ging die Treppe hinab, wo er tief unten verschwand.
Seither habe ich ihn nie wieder gesehen. Und es sind jetzt viele Jahre vergangen. – – –
Dieser Mann, dieser rotbärtige Bote aus dem Lande des Todes, hat mir durch das unbeschreibliche Grausen, das er in mein Kinderleben gebracht, sehr viel Schaden zugefügt. Ich habe mehr als eine Vision gehabt, mehr als einen seltsamen Zusammenstoß mit Unerklärbarem, – nichts aber hat mich so tief ergriffen wie dies.
Und doch hat er mir vielleicht nicht ausschließlich Schaden zugefügt, dieser Gedanke ist mir oft gekommen. Ich könnte mir vorstellen, daß er eine der ersten Ursachen gewesen ist, daß ich gelernt habe, die Zähne zusammenzubeißen und mich hart zu machen. In meinem späteren Leben habe ich hin und wieder Verwendung dafür gehabt.
Den ganzen Sommer 1887 arbeitete ich auf einer Sektion von Dalrumples unendlicher Farm in dem Thal des Roten Flusses in Amerika. Außer mir waren dort zwei andere Norweger, ein Schwede, zehn, zwölf Irländer und einige Amerikaner. Wir waren ungefähr zwanzig Mann auf unserer Sektion – nur ein Bruchteil von den Hunderten von Arbeitern der ganzen Farm.
Grüngelb und unermeßlich wie ein Meer lag die Prärie da. Kein Haus war zu sehen außer unseren eigenen Ställen und Schlafschuppen mitten auf der Prärie. Kein Baum, kein Busch wuchs dort, nur Weizen und Gras, Weizen und Gras, soweit das Auge reichte. Da waren auch keine Blumen, nur hin und wieder traf man mitten im Weizen die gelben Quasten des wilden Senfs an, der einzigen Blume der Prärie. Dies Gewächs war durch ein Gesetz verboten, wir jäteten es mit der Wurzel aus, fuhren es nach Hause, trockneten und verbrannten es.
Und kein Vogel flog, kein anderes Leben sah man als das Wogen des Weizens im Winde und der einzige Laut, den wir hörten, war das ewige Zirpen der Millionen Heuschrecken, – der einzige Gesang der Prärie.
Wir schmachteten nach einem Schatten. Wenn der Speisewagen des Mittags zu uns hinauskam, legten wir uns auf den Bauch unter die Pferde, um ein wenig Schatten zu haben, während wir das Essen verschlangen. Die Sonne war oft glühend heiß. Wir gingen in Hut, Hemd, Beinkleid und Schuhen, das war alles, und weniger konnte es nicht sein, denn dann wären wir verbrannt. Riß man sich zum Beispiel während der Arbeit ein Loch in das Hemd, so brannte die Sonne durch und hinterließ eine Blase auf der Haut.
Während der Weizenernte arbeiteten wir bis zu sechszehn Stunden am Arbeitstage. Zehn Mähmaschinen fuhren auf dem halben Acker tagaus, tagein hintereinander, wenn das eine Viereck abgemäht war, fuhren wir auf ein anderes Viereck und mähten auch das nieder. Und so weiter, immer weiter, während zehn Mann hinter uns herkamen und die Garben in Hocken setzten. Und hoch zu Roß, den Revolver in der Hand, ein Auge an jedem Finger, saß der Aufseher da und beobachtete uns. Er ritt jeden Tag seine zwei Pferde müde. Trat irgend ein Unfall ein, zerbrach zum Beispiel eine Maschine, so war er sofort da, besserte den Schaden aus oder schickte die Maschine weg. Er konnte oft weit weg sein, sobald er aber merkte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, war er zur Stelle, da es aber nirgends einen Weg gab, mußte er den ganzen Tag in dem dichten Weizen umher reiten, so daß die Pferde von Schweiß schäumten.
Als der September und der Oktober herankamen, war es des Tages noch grausam warm, die Nächte aber wurden sehr kalt. Es fror uns oft sehr. Und dann bekamen wir lange nicht genug Schlaf; wir wurden oft um drei Uhr des Morgens geweckt, wenn es noch ganz dunkel war. Wenn wir dann die Pferde und uns selber gefüttert hatten und den langen Weg bis zur Arbeitsstelle gefahren waren, dämmerte endlich der Tag und wir konnten sehen, was wir zu thun hatten. Dann zündeten wir einen Heuhaufen an, um unsere Ölkannen aufzutauen, die wir zum Schmieren der Maschinen gebrauchten, und dabei wärmten wir uns selber dann gleich ein wenig. Aber viele Minuten währte es freilich nicht, bis wir wieder auf die Maschine hinauf mußten.
Wir hielten nie Feiertag. Der Sonntag war wie der Montag. Aber bei Regenwetter konnten wir nichts thun, und dann lagen wir im Schuppen. Wir spielten »Kasino« und plauderten miteinander und schliefen.
Unter uns befand sich ein Irländer, der mir anfänglich sehr auffiel; Gott mag wissen, was er im Grunde gewesen ist. Bei Regenwetter lag er immer und las Romane, die er sich mitgebracht hatte. Er war ein großer, schöner Bursche von etwa sechsunddreißig Jahren und sprach eine sehr gewählte Sprache. Er konnte auch deutsch.
Dieser Mann kam in einem seidenen Hemd auf die Farm und fuhr auch die ganze Zeit hindurch fort, in seinem seidenen Hemd zu arbeiten. Wenn das eine vertragen war, zog er ein neues an. Er war kein tüchtiger Arbeiter, er hatte keinen »Griff« für die Arbeit, aber er war ein sonderbarer Mann.
Evans hieß er.
An den beiden Norwegern war nicht viel dran. Der eine von ihnen nahm auch Reißaus, weil er die Arbeit nicht vertragen konnte; der andere hielt aus, – der war auch aus Valders.
Beim Dreschen suchten wir alle einen Platz so weit wie möglich von der Dampfmaschine entfernt zu ergattern; Staub, Spreu und Sand stoben nämlich wie Schneeflocken aus allen Öffnungen und von allen Schaufeln der Maschine. Ein paar Tage befand ich nach mitten im Feuer, dann bat ich den Aufseher, mir einen andern Platz anzuweisen, was er auch that. Er gab mir einen ausgezeichneten Platz draußen auf dem Felde, wo ich bei dem Beladen der Wagen thätig sein sollte. Er vergaß nie, daß ich ihm gleich zu Anfang eine Freundlichkeit erwiesen hatte.
Das trug sich folgendermaßen zu:
Ich besaß eine Uniformjacke mit blanken Knöpfen, die ich noch aus der Zeit besaß, wo ich Pferdebahnschaffner in Chicago gewesen war. Diese Jacke und die herrlichen Knöpfe erregten das Wohlgefallen des Aufsehers; er war ein reines Kind in bezug auf Staat, und hier draußen auf der Prärie war ja kein Staat zu haben. Da sagte ich denn eines Tages zu ihm, er könne die Jacke gern bekommen. Er wollte mir die Jacke bezahlen, ich sollte nur sagen, was ich haben wollte; als ich sie ihm aber schenkte, erklärte er, daß er mir ewig dankbar dafür sein würde. Nach Beendigung der Ernte gab er mir eine gute andere Jacke dafür, weil er sah, daß ich keine hatte.
Aus den Tagen, als ich bei dem Weizenaufladen angestellt war, entsinne ich mich einer Episode:
Der Schwede kam, um das Fuder abzuholen. Er hatte große Stiefel an, in deren Schäften die Hosen steckten. Wir gehen ans Ausladen. Er arbeitete mit Riesenkräften und ich hatte meine liebe Not, ihn im Zaum zu halten. Er trieb immer mehr zur Eile an, und da dies schließlich anfing, mich ein wenig zu ärgern, begann auch ich, aus Leibeskräften drauf los zu arbeiten.
Jede Hocke bestand aus acht Garben, und in der Regel nahmen wir nur eine Weizengarbe auf die Gabel und reichten sie auf das Fuder hinauf, – jetzt nahm ich vier. Ich überschwemmte den Schweden mit Garben, überschüttete ihn förmlich damit. Da stellte es sich heraus, daß in einer der schweren Ladungen, die ich dem Schweden hinaufsandte, eine Schlange gewesen war. Sie glitt in einen seiner Stiefelschäfte. Ich ahnte nichts davon, bis ich plötzlich einen entsetzlichen Schrei höre und sehe, wie sich der Schwede vom Fuder herabstürzt, während ihm die dunkelgefleckte Schlange aus dem einen Stiefelschaft heraushängt. Sie biß jedoch nicht und bei dem Fall auf die Erde fuhr sie aus dem Stiefel und verschwand blitzschnell über den Acker, wir verfolgten sie beide mit unsern Heugabeln, konnten sie aber nicht entdecken. Die beiden Maultiere, die vor das Fuder gespannt waren, zitterten am ganzen Leibe.
Ich höre noch den Schrei des Schweden und sehe ihn in der klaren Luft, während er sich von dem Fuder herabstürzt.
Dann einigten wir uns dahin, daß er in Zukunft mit etwas mehr Vernunft arbeiten solle und daß ich ihm nur eine Garbe zur Zeit hinaufreichen wollte. – – –
Und dann hatten wir gepflügt und gesäet, Heu gemäht und eingefahren, Weizen gemäht und gedroschen, – und nun waren wir fertig und sollten Abrechnung haben. Frohen Herzens und Geld in der Tasche wanderten wir zwanzig Mann stark nach der nächsten Präriestadt, um einen Zug zu finden, der uns nach dem Osten hinabführen sollte. Der Aufseher begleitete uns, er wollte ein Abschiedsglas mit uns leeren, und er hatte die Jacke mit den blanken Knöpfen an.
Wer nie einem solchen Abschied zwischen einer Schicht Präriearbeiter beigewohnt hat, kann sich kaum einen Begriff davon machen, wie mannhaft dabei getrunken wird. Jeder spendiert gleich eine Runde, – das macht zwanzig Glas auf den Mann. Glaubt man aber, daß es hiermit zu Ende ist, so irrt man sehr, denn unter uns sind, weiß Gott, Gentlemen, die auf ihren Anteil gleich fünf Runden auf einmal verlangen. Und Gott gnade dem Wirt, der den Versuch machen wollte, Einspruch gegen eine solche Unmäßigkeit zu erheben. Er würde sofort hinter seinem eigenen Schenktisch vertrieben werden. Eine solche Bande von Sommerarbeitern schlägt alles nieder, was ihnen in den Weg kommt. Sie reißt schon beim fünften Glas die Herrschaft über die Stadt an sich und von dem Augenblick an regiert sie ohne den geringsten Einspruch. Die Ortspolizei ist vorzüglich, sie macht gemeinsame Sache mit der Bande, sie trinkt mit ihr. Und es wird mindestens zwei Tage getrunken, zwei Nächte gespielt und geprügelt und gejuchheit.
Wir Arbeiter waren untereinander außerordentlich liebenswürdig. Während des Sommers war es mit der Liebe zwischen uns oft nur soso lala gewesen; jetzt aber beim Abschied war alle Feindseligkeit vergessen. Je mehr wir tranken, je größer wurden unsere Herzen, wir traktierten einander, bis wir fast umsanken und unsere Gefühle uns einander in die Arme trieben. Der Koch, der ein alter, buckeliger Mann mit Weiberstimme und ohne Bart war, vertraute mir schlucksend auf norwegisch an, daß er Norweger sei, ebenso wie ich, und der Grund, weshalb er sich nicht früher zu erkennen gegeben habe, sei der allgemeine Unwille der Yankees gegen die Norweger. Er habe den Valdersen und mich während der Mahlzeiten oft über sich sprechen hören, und er habe jedes Wort verstanden; jetzt solle aber alles vergessen und vergeben sein, denn wir wären prächtige Burschen. Ja, er sei ein Nachkomme von Altnorwegens kühnen Söhnen und sei am 22. Juli 1845 in Iova geboren. Und deshalb wollten wir gute Freunde und partners sein, so lange die norwegische Sprache von unseren Lippen flösse. – Der Koch und ich umarmten uns. Nie sollte unsere Freundschaft ein Ende nehmen. Alle Arbeiter umarmten sich, wir drückten uns platt mit unseren gehärteten Armen und tanzten vor Begeisterung herum.
Wir pflegten zu einander zu sagen: »Was willst du jetzt trinken? hier ist nichts, was gut genug für dich wäre!« Und dann gingen wir selber hinter den Schenktisch, um das köstlichste herauszufinden. Wir holten sonderbare Flaschen hoch oben von den Borden herunter, Flaschen mit prachtvollen Etiquetten, die hauptsächlich zum Staat dort standen, deren Inhalt wir guten Freunde einander aber einschenkten und austranken und mit lächerlich hohem Preis bezahlten.
Evans war wohl am erpichtesten darauf, Runden zu bestellen. Sein letztes seidenes Hemd sah jetzt traurig aus, die leuchtenden Farben hatten Sonne und Regen vernichtet und die Ärmel waren arg mitgenommen. Evans selber aber stand groß und stolz da und bestellte mit großer Überlegenheit eine Runde nach der andern. Ihm gehörte die Kneipe, ihm gehörte die Welt. Wir andern pflegten eine runde Summe, drei Dollars für die Runde, beizusteuern, Evans aber fragte kurz und bündig, ob er nicht diverse Runden zu sechs Dollars bekommen könne. Denn es befände sich in diesem elenden Schuppen nichts, was gut genug für solche Herren sei, wie er sie hier bei sich habe, sagte er. Da mußten wir denn unsere Zuflucht zu den sonderbaren Flaschen oben auf den Borden nehmen, um die Ware teuer genug zu bekommen. – –
In seiner überströmenden Liebenswürdigkeit nahm Evans mich beiseite und suchte mich zu überreden, für den Winter mit ihm in die Wälder Wisconsins zu kommen und Holz zu hauen. Sobald er sich mit einigen neuen Hemden, ein paar Hosen und einigen neuen Romanen ausgerüstet habe, zöge er seinerseits wieder in die Wälder, sagte er, und bliebe bis zum Frühling dort. Und wenn es Frühling würde, zöge er wieder irgendwo in die Prärie hinaus. Das sei sein Leben. Zwölf Jahre habe er sein Leben zwischen Prärie und Wald geteilt, und er habe sich so daran gewöhnt, daß dies jetzt etwas ganz selbstverständliches sei.
Als ich ihn aber fragte, was ihn eigentlich zu Anfang auf diese Bahn getrieben habe, antwortete er nicht, – wie Betrunkene es in der Regel thun, – mit einem langen und trübseligen Bericht, wie das Ganze sich zugetragen hatte, sondern nur mit den beiden Worten:
»Die Verhältnisse.«
»Wieso?« fragte ich.
»Die Verhältnisse,« wiederholte er. Und mehr wollte er nicht herausrücken.
Ich sah ihn späterhin am Abend in einem Nebenzimmer der Kneipe, wo man mit Würfeln spielte. Evans hatte verloren. Er war ziemlich betrunken und machte sich nichts aus Geld. Als ich hereinkam, zeigte er mir noch einige Scheine und sagte:
»Ich habe noch Geld! Sieh nur!«
Einige rieten ihm, das Spiel zu beenden; einer seiner Landsleute, ein Irländer Namens O'Brien, meinte, er müsse seine Scheine für das Eisenbahnbillet gebrauchen. Das beleidigte Evans.
»Nein, Reisegeld mußt du mir leihen,« sagte er.
O'Brien schlug es ihm kurz ab und verließ das Zimmer.
Das reizte Evans. Er setzte all sein Geld auf einmal ein und verlor. Er nahm es ruhig hin. Er zündete eine Zigarre an und sagte lächelnd zu mir:
»Willst du mir Reisegeld leihen?«
Ich war ein wenig benebelt von dem letzten Gesöff von Wein, der in den Flaschen oben auf den Borden gestanden hatte, ich knöpfte meine Jacke auf und reichte Evans meine Geldtasche mit allem, was darin war. Ich that es, um ihm zu zeigen, wie bereitwillig ich ihm das Reisegeld leihen wollte, und überließ es ihm zu nehmen, was er gebrauchte. Er sah mich an und die Tasche. Eine sonderbare Bewegung zuckte über sein Gesicht, er öffnete das Buch und sah, daß es all mein Geld enthielt. Als er mir den Kopf wieder zuwandte, nickte ich nur.
Dies Nicken mißverstand er. Er glaubte, daß ich ihm das Ganze überließe.
»Ich danke dir!« sagte er.
Und zu meinem großen Schrecken setzte er von meinem Geld ein und begann das Spiel von neuem.
Zuerst wollte ich ihn zurückhalten, besann mich aber. Laß ihn erst sein Reisegeld verbrauchen wie er will, dachte ich bei mir. Wenn er aber eine anständige Summe verspielt hat, nehme ich den Rest zurück.
Evans aber verlor nicht mehr. Er war wie mit einem Schlage wieder nüchtern geworden und spielte bestimmt und schnell. Das Vertrauen, das ihm in Gegenwart so vieler Kameraden erzeigt war, hatte ihn umgewandelt. Groß und schweigend saß er auf dem Whiskyanker, der ihm als Stuhl diente, und setzte ein und nahm seine Gewinne an sich, verlor er einmal, so verdoppelte er das nächste Mal den Einsatz; er verlor drei Mal hintereinander und verdoppelte jedesmal, schließlich gewann er das Ganze wieder. Da setzte er einen ganzen Fünf-Dollarschein auf und sagte, wenn er jetzt gewinne, wolle er aufhalten.
Er verlor.
Und er fuhr fort zu spielen.
Nach Verlauf einer Stunde gab er mir mein Taschenbuch mit dem Geld darin zurück; er hatte im Laufe des Spieles genau Rechnung geführt. Er selber hatte jetzt wieder einen Haufen Scheine. Er spielte weiter. Da setzte er plötzlich alles ein, was er besaß. Ein Murmeln der Zuschauer ging durch das Zimmer.
Evans sagte:
»Mag ich nun verlieren oder gewinnen, aufhalten werde ich jetzt!«
Er gewann.
Evans erhob sich.
»Habt die Güte, mich zu bezahlen!« sagte er.
»Morgen,« antwortete der Bankier, »heute abend habe ich nicht so viel. Ich werde morgen schon einen Ausweg finden!«
Evans sagte:
»Gut, also morgen!«
Als wir hinausgehen wollten, kamen einige Männer schwerfällig trampelnd in das Zimmer. Sie trugen eine verstümmelte Leiche. Es war O'Brien, der Irländer, derselbe, der sich geweigert hatte, Evans das Reisegeld zu leihen. Er war eben von einem Weizenzug überfahren worden, beide Beine waren abgetrennt, das eine hoch oben an der Hüfte. Er war schon tot. Er war aus dem Zimmer hinausgegangen und in der Dunkelheit direkt unter die Eisenbahnräder getaumelt. Man legte die Leiche an die Erde und deckte sie zu. – –
Und dann suchten wir uns ein Bett, wo wir es finden konnten, einige legten sich in der Kneipe auf den Fußboden. Der Balderse und ich fanden ein Lager in der Stadt.
Am Morgen kam Evans in die Stadt hinab.
»Hast du dein Geld von dem Bankier bekommen?« fragte Valdresen.
»Noch nicht!« antwortete Evans. »Ich bin draußen auf dem Felde gewesen und habe ein Loch für unseren Kameraden gegraben.«
Wir bestatteten O'Brien ein wenig abseits von der Stadt in einer Kiste, die wir vor einem Hause wegnahmen. Da die Leiche so kurz abgeschnitten war, reichte die Länge der Kiste Gottlob aus. Wir sangen nicht und sprachen auch kein Gebet, aber wir waren alle versammelt und standen einen Augenblick mit unseren Hüten in der Hand da.
Und dann war die Zeremonie beendet. – – –
Als aber Evans sein gewonnenes Geld haben sollte, zeigte es sich, daß der gerissene Bankier verschwunden war.
Auch dies nahm Evans mit derselben Gemütsruhe hin wie alles andere, es schien ihm ganz gleichgültig zu sein. Er hatte indessen noch viel Geld, er konnte sein Billet lösen und seine Hemden, seine Hose und seine Romane kaufen. Und da war Evans ja für den Winter ausgerüstet.
Wir blieben noch bis zum Abend des nächsten Tages in der Stadt. Wir führten dasselbe Leben und tranken die Kneipe leer. Mehrere von den Arbeitern hatten keinen roten Heller mehr, als sie den Ort verließen, und da sie kein Billet lösen konnten, schmuggelten sie sich in die Lastwagen ein, wo sie sich in den Weizen verkrochen. Aber dem alten, buckligen Koch, dem Norweger aus Iowa, erging es schlecht dabei. Glücklich und ungesehen war er in den Weizen hineingekommen, dadrinnen aber konnte er sich nicht ruhig halten, in seiner Betrunkenheit fing er an, mit seiner Weiberstimme abscheuliche Lieder zu fingen. Da wurde er gefunden und hinausgeworfen. Und als das Männlein durchsucht wurde, hatte er so viel Geld, daß er bequem ein Billet für uns alle hätte lösen können, der Schurke!
Wir zerstreuten uns nach allen Himmelsrichtungen. Der Valderse kaufte sich eine kleine Schießbahn in einer Stadt in Minnesota und der Koch zog gen Westen an die Küste des stillen Ozeans. Evans aber geht sicher noch in seinen seidenen Hemden umher und streut Geld mit vollen Händen aus. Jeden Sommer ist er in der Prärie und erntet Weizen, und jeden Winter liegt er in den Wäldern von Wisconsin und schlägt Holz. Das ist nun einmal sein Leben.
Ein Leben, das vielleicht ebensogut ist wie jedes andere.
Ich wollte in Drammen einen Vortrag über moderne Litteratur halten. Ich hatte beschlossen, mir auf diese Weise eine sehr erwünschte Einnahme zu verschaffen, und das konnte ja geschehen, ohne mir weitere Anstrengungen zu verursachen. An einem schönen Spätsommertage saß ich also im Zuge auf dem Wege nach dieser guten Stadt. Es war im Jahre 1886.
Ich kannte keine Menschenseele in Drammen, und niemand kannte mich. In der Zeitung hatte ich meinen Vortrag auch nicht angemeldet, aber ich hatte mir zu Anfang des Sommers in einem geldreichen Moment fünfhundert Visitenkarten drucken lassen und diese wollte ich nun in Hotels, Wirtschaften und größeren Läden verteilen lassen, um die Leute aufmerksam auf das Ereignis zu machen. Die Karten waren freilich nicht ganz nach meinem Geschmack; mein Name war verdruckt, aber mit etwas gutem Willen konnte man doch herausfinden, daß ich es sein sollte. Und außerdem war mein Name so absolut unbekannt, daß eine Verstümmelung keinen Unterschied machen konnte.
Während ich im Zuge saß, machte ich meinen Status auf. Dies dämpfte meinen Mut keineswegs. Ich war daran gewöhnt, viele Hindernisse mit wenig oder auch ohne Geld zu überwinden. Allerdings war ich auch jetzt nicht reich genug, um so aufzutreten, wie es meines ästhetischen Vorhabens in der fremden Stadt würdig war, aber mit etwas Sparsamkeit würde ich mein Vorhaben schon durchführen. Keine flotten Veranstaltungen! Was das Essen anbelangte, so konnte ich mich des Abends in der Dämmerung in die Keller hinabschleichen und dort essen, und in Bezug auf ein Hotel wollte ich Unterkunft in einem »Logis für Reisende« suchen. Und welche weiteren Ausgaben hatte ich denn sonst noch?
Ich saß im Zuge und studierte meinen Vortrag. Ich wollte über Alexander Kielland sprechen.
Meine Mitreisenden, einige fröhliche Bauern, die in Christiania gewesen waren, ließen eine Flasche unter sich die Runde machen, sie boten auch mir einen Tropfen, aber ich lehnte es dankend ab. Auch später machten sie auf Art betrunkener und wohlwollender Leute allerlei Annäherungsversuche, ich gab mich aber nicht mit ihnen ab. Schließlich verstanden sie wohl aus meiner ganzen Haltung, wie aus den vielen Notizen, die ich machte, daß ich ein gelehrter Mann sei, dessen Kopf mit allerlei Dingen angefüllt war, und ließen mich in Ruhe.
Bei der Ankunft in Drammen stieg ich aus dem Zuge und trug meine Reisetasche nach einer Bank. Ich wollte mich ein wenig besinnen, ehe ich in die Stadt ging. Für die Reisetasche hatte ich eigentlich keine Verwendung, ich hatte sie nur mitgenommen, weil ich gehört hatte, daß es leichter sei, in ein Logis hinein und wieder hinaus zu gelangen, wenn man Gepäck bei sich hatte. Diese armselige Reisetasche aus Teppichstoff war indessen so mitgenommen von Alter und Gebrauch, daß sie nicht einmal eines reisenden Litteraten würdig war, während meine eigene Kleidung, ein dunkelblauer Jackettanzug, mehrere Grade anständiger aussah.
Ein Hoteldiener mit Buchstaben auf der Mütze kam zu mir heran und wollte die Tasche tragen.
Ich schlug es ab. Ich erklärte, ich habe noch keinen Entschluß in Bezug auf ein Hotel gefaßt, ich wolle nur einige Redakteure in der Stadt aufsuchen, ich beabsichtige Vorträge über Litteratur zu halten.
Nun, ein Hotel müsse ich aber doch haben, irgendwo wohnen müsse ich ja doch? Sein Hotel sei ohne Frage das beste seiner Art. Elektrische Glocken, Badezimmer, Lesezimmer. »Es liegt ganz in der Nähe, diese Straße hinauf, dann gleich links.«
Er ergriff meine Reisetasche.
Ich hielt ihn zurück.
Ob ich denn mein Gepäck selber ins Hotel tragen wolle?
Ja natürlich. Zufälligerweise ginge ich denselben Weg wie mein Gepäck, da könnte ich es auf den kleinen Finger hängen, und es folgte mir.
Da sah der Mann mich an und begriff plötzlich, daß ich kein feiner Herr war. Er schlenderte wieder nach dem Zug hinunter und spähte nach anderen Reisenden aus. Da er aber keine entdecken konnte, kam er wieder zu mir zurück, um von neuem mit mir zu verhandeln. Schließlich machte er sogar eine Äußerung, daß er eigentlich nur meinetwegen nach dem Bahnhof gegangen sei.
Ja, das änderte natürlich die Sache. Der Mann war vielleicht von einem Komitee ausgesandt, daß von meinem Kommen gehört hatte, vielleicht von dem Arbeiterverein. Es herrschte offenbar ein sehr reges geistiges Leben in Drammen, ein großes Bedürfnis nach guten Vorträgen, die ganze Stadt in fieberhafter Aufregung. Ich war mir nicht ganz klar darüber, ob Drammen in der Beziehung nicht über Christiania stand.
»Sie sollen natürlich mein Gepäck tragen,« sagte ich zu dem Manne. »Und dann fällt mir ein, es ist doch wohl Wein in Ihrem Hotel zu haben, Wein zu den Speisen?«
»Wein? Allerbeste Marken!«
»Gut, Sie können gehen. Ich komme nach. Ich will nur noch einige Besuche in den Redaktionen machen.«
Der Mann schien mir ganz gewitzt zu sein, deswegen fragte ich ihn um Rat:
»Wen von den Redakteuren würden Sie mir empfehlen? Ich habe keine Lust, alle aufzusuchen.«
»Arntsen ist der vornehmste, ein feiner Mann. Zu dem gehen alle.«
* * *
Redakteur Arntsen war natürlich auf der Redaktion nicht zu finden; aber ich suchte ihn in seinem Hause auf. Ich trug mein Anliegen vor, es handelte sich um Litteratur.
Ja, hier sei nur wenig Sinn für dergleichen. Im vorigen Jahre sei ein schwedischer Student dagewesen und habe über den ewigen Frieden geredet, aber der habe Geld dabei zugesetzt.
»Ich will über Litteratur sprechen,« sagte ich.
»Ja, das habe ich wohl verstanden,« antwortete der Redakteur. »Aber ich will Sie doch darauf aufmerksam machen, daß Sie auch dabei zusetzen werden.«
Noch dabei zusetzen! Herr Arntsen war köstlich. Er ging vielleicht davon aus, daß ich für eine Firma reiste. Ich sagte kurz:
»Wissen Sie vielleicht, ob der große Saal des Arbeitervereins leer ist?«
»Nein,« antwortete der Redakteur. »Der Arbeiterverein ist für morgen Abend vermietet. Dort finden antispiritistische Kunststücke statt. Außerdem sind da Affen und wilde Tiere. Von anderen Lokalen könnte ich Ihnen nur den Parkpavillon in Vorschlag bringen.«
»Würden Sie mir dies Lokal empfehlen?«
»Es ist ein großes, luftiges Lokal. Der Preis? Ja, darüber weiß ich nichts, aber das werden Sie sicher sehr billig bekommen. Sie müssen mit der Direktion reden.«
Ich entschloß mich für den Parkpavillon. Das war das gegebene Lokal. Die Säle der Arbeitervereine waren in der Regel klein und unbequem. wer war in der Direktion?
Rechtsanwalt Carlsen, Kürschner H. und Buchhändler Y.
Ich machte mich auf den Weg zu Rechtsanwalt Carlsen. Er wohnte auf dem Lande, ich ging und ging, und endlich nahm der Weg ein Ende. Ich erklärte ihm mein Anliegen und bat um den Parkpavillon. Der müsse sehr geeignet sein für so ein seltenes Unternehmen wie diese litterarischen Vorträge.
Der Rechtsanwalt überlegte, schüttelte dann aber den Kopf.
Nicht? War denn das Lokal so groß? Es wäre doch ein Jammer, wenn die Leute wegen Mangel an Platz wieder umkehren müßten!
Der Rechtsanwalt erklärte sich genauer. Er könne mir von dem ganzen Vorhaben nur abraten. Hier sei so wenig Interesse für dergleichen, ein schwedischer Student habe auch Vorträge halten wollen – –
»Ja, aber der redete über den ewigen Frieden,« entgegnete ich, – »wohingegen ich über Litteratur, über Schönlitteratur reden will.«
»Außerdem sind Sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen,« fuhr Herr Carlsen fort. »Es ist gerade eine antispiritistische Vorstellung im Arbeiterverein angekündigt, und da find Affen und wilde Tiere –«
Da lächelte ich und sah den Mann an. Er schien zu meinen, was er sagte, und ich gab ihn als hoffnungslos auf.
»Wieviel wollen Sie für den Parkpavillon haben?« fragte ich kurz.
»Acht Kronen,« antwortete er. »Im übrigen muß die Vermietung des Parkpavillons in der Direktionsversammlung beschlossen werden. In einigen Tagen können Sie bestimmten Bescheid erhalten, aber ich glaube wohl, daß ich Ihnen schon jetzt das Lokal versprechen kann.«
Ich machte einen blitzschnellen Überschlag: die beiden Wartetage berechnete ich auf drei Kronen, der Park kostete acht, das waren elf, der Billetverkäufer würde eine Krone bekommen, das machte im ganzen zwölf Kronen. Vierundzwanzig Zuhörer zu fünfzig Öre konnten also die Ausgaben decken, die übrigen hundert oder zweihundert Menschen, die sich einfanden, würden also barer Gewinn sein!
Ich schlug ein. Der Parkpavillon war gemietet.
* * *
Ich fand das Hotel und trat ein. Ein Mädchen fragte:
»Wünscht der Herr ein Zimmer im ersten oder zweiten Stock?«
Ich antwortete ruhig und ungeniert:
»Ich wünsche ein billiges Zimmer, das billigste, das Sie haben.«
Das Mädchen musterte mich. War ich ein Scherzvogel, der sich ein Vergnügen daraus machte, von einem billigen Zimmer zu reden? War ich denn nicht derselbe Herr, der sich bei dem Hausdiener erkundigt hatte, ob es auch Wein zu den Speisen gäbe? Oder trat ich nur so bescheiden auf, um das Hotel nicht in Verlegenheit zu setzen? Sie stieß eine Thür auf. Ich fuhr zurück.
»Ja, dies Zimmer ist frei,« sagte sie, – »das ist für Sie bestimmt. Ihr Gepäck ist schon hier. Bitte schön.«
Hier gab es kein Entrinnen. Ich trat ein. Es war der allerfeinste Salon des Hotels.
»Wo ist das Bett?«
»Da, – ein Schlafsofa. Wir können hier nicht gut ein Bett stehen haben. Aber das Sofa wird des Nachts ausgezogen, dann ist es ein Bett.«
Das Mädchen zog sich zurück.
Ich geriet in eine schlimme Laune. Und da stand meine armselige Reisetasche in dieser eleganten Umgebung! Und meine Schuhe sahen böse aus nach der langen Wanderung auf der Landstraße. Kurz, ich fluchte.
Sofort steckt das Mädchen den Kopf durch die Thür und fragt:
»Befehlen der Herr etwas?«
Herr Gott, nicht einmal in einem kurzen Fluch konnte ich meinen Gefühlen Luft machen, ohne daß ein ganzes Heer von Dienern hereinstürzte.
»Nein,« antwortete ich mürrisch. »Ja, – bringen Sie mir zwei Stück Butterbrot.«
Sie sieht mich an.
»Nichts Warmes?«
»Nein.«
Da begriff sie – – der Magen. – – Es sei der Frühling – – ich habe meine Periode. – –
Als sie mit dem Butterbrot kam, brachte sie auch eine Weinkarte mit. Das wohldressierte Geschöpf ließ mir den ganzen Abend keine Ruhe:
»Wünschen Sie Ihr Bett gewärmt? Dadrinnen ist das Bad, falls Sie –
Als der Morgen kam, sprang ich nervös auf und fing an, mich anzukleiden. Mich fror; natürlich war das verdammte Schlafsofa zu kurz für mich gewesen, und ich hatte schlecht geschlafen. Ich schellte. Niemand kam. Es mußte noch sehr früh sein, ich hörte keinen Laut von der Straße her, und als ich mich ein wenig besonnen hatte, sah ich, daß es noch nicht ganz hell war.
Ich musterte das Zimmer, es war das prächtigste, das ich jemals gesehen hatte. Dunkle Ahnungen stiegen in mir auf, und ich schellte von neuem. Ich stand bis an die Knöchel in dem weichen Teppich und wartete. Jetzt sollte ich meiner letzten Groschen entblößt werden, vielleicht reichten sie gar nicht einmal. Ich fing in aller Eile an, einen Überschlag zu machen, wieviel Geld ich eigentlich hatte; da höre ich Schritte auf dem Gang und halte inne.
Aber es kam niemand. Die Schritte auf dem Gange waren eine Einbildung gewesen. Ich fange von neuem an zu zählen. In welcher schrecklichen Ungewißheit befand ich mich! Wo war denn das Mädchen mit dem aufdringlichen Diensteifer von gestern abend geblieben? Schlief sie noch, die faule Person, obwohl es beinahe heller Tag war?
Endlich kam sie, halb angekleidet, nur einen Shawl um die Schultern.
»Haben der Herr geschellt?«
»Ich wünsche meine Rechnung,« sagte ich so kurz wie möglich.
Die Rechnung? Ja, das habe seine Schwierigkeit, die Madame schlafe noch, die Uhr sei erst halb drei. Das Mädchen war ganz hilflos und starrte mich an. Was für eine Manier war das, so zu starren! Was ging es sie an, daß ich das Hotel so frühzeitig verlassen wollte?
»Das ist ganz einerlei,« sagte ich. »Ich muß die Rechnung jetzt haben, sofort.«
Das Mädchen ging.
Sie blieb eine Ewigkeit fort. Was namentlich meine Unruhe steigerte, war die Furcht, daß das Zimmer möglicherweise für die Zeit, für die Stunde berechnet werden könne und daß ich nun hier stand und mein Geld in unverschuldetem Marten schändlich vergeudete. Ich hatte keine Erfahrung in Bezug auf das feine Hotelleben und fand diese Art und Weise der Berechnung am vernünftigsten. Außerdem war neben dem Waschtisch ein Plakat angeschlagen, auf dem stand daß für ein Zimmer, daß nicht vor sechs Uhr, abends gekündigt würde, ein neuer Tag berechnet werde. Das alles erfüllte mich mit Angst und verwirrte meinen schönlitterarischen Kopf.
Endlich klopfte das Mädchen an die Thür und kam herein.
Nie, – nein, nie im Leben werde ich dem Fatum diesen Narrenstreich vergessen! Zwei Kronen und siebzig Öre, das war das Ganze! Eine Bagatelle, ein Trinkgeld, das ich dem Mädchen für Haarnadeln schenken konnte! Ich warf einige Kronen auf den Tisch, noch eine. »Behalten Sie den Rest für sich! Bitte schön, mein Kind!«
Man mußte doch zeigen, daß man Lebensweise hatte. Gar nicht davon zu reden, daß dies Mädchen Anerkennung verdiente. Ein seltenes Mädchen, ein Herzensmensch, das als Beute für die Willkür der Reisenden in einem Hotel in Drammen gestrandet war. Solche Frauen werden nicht mehr geboren, die Rasse ist ausgestorben. Welche Fürsorge legte sie nicht bis zum letzten Augenblick an den Tag, als sie wußte, daß sie es mit einem reichen Manne zu thun hatte.
»Der Hausdiener soll Ihr Gepäck tragen!«
»Bewahre! Bewahre!« antwortete ich, um ihr keine Mühe zu machen. »So eine Kleinigkeit wie eine Reisetasche. Und noch dazu eine so jämmerliche Reisetasche. Sie müssen wissen, diese Tasche hat mich auf allen meinen litterarischen Tournées begleitet; ich will keine andere haben, das ist eine Eigenheit von mir.«
Aber es half kein Widerspruch, der Hausknecht wartete schon unten. Er sah meine Tasche durchbohrend an, als ich kam. Ach, wie so ein Mann eine Reisetasche ansehen und darauf brennen kann, sie zu ergreifen!
»Ich werde Sie begleiten!« sagte er.
Hatte ich den Rest meines Geldes nicht selber nötig? Konnte ich auf irgend eine Einnahme vor dem Vortrag rechnen? Also wollte ich meine Tasche persönlich tragen!
Der Hausknecht aber hatte sie schon in der Hand. Der überaus sorgfältige Mensch schien sie keineswegs als Last zu empfinden, er schien auch an keine Belohnung zu denken, er trug sie so treuherzig, es schien, als könne er für den in den Tod gehen, der eine solche Reisetasche besaß.
»Halt!« rief ich kurz und stand still. »Wohin tragen Sie die Tasche eigentlich?«
Da lächelte der Wann.
»Das müssen Sie selber bestimmen,« antwortete er.
»Das ist recht,« sagte ich. »Das muß ich selber bestimmen. Ich habe keine Lust, nach Ihrer Pfeife zu tanzen.«
Ich wollte ihn unter keinen Umständen weiter mit haben. Wir waren nämlich an einem »Logis für Reisende« in einem Keller vorübergekommen, und in diesem Keller wollte ich mich anmelden. Aber den Hausknecht eines konkurrierenden Hotels wollte ich nicht als Zeugen haben, ich wollte mich allein da hinunterschleichen.
Ich nahm eine halbe Krone aus der Tasche und gab sie dem Hausknecht.
Er hielt die Hand noch immer hin.
»Ich habe gestern Ihre Tasche auch getragen,« sagte er.
»Das haben Sie für gestern,« erwiderte ich.
»Und dann habe ich sie jetzt getragen,« fuhr er fort.
Der Satan plünderte mich.
»Und das ist für heute,« sagte ich und warf ihm noch eine halbe Krone hin. »Und nun will ich hoffen, daß Sie verschwinden!«
Der Bursche ging. Aber er sah sich mehrmals um und beobachtete mich.
Ich ging auf eine Bank in der Straße zu und setzte mich. Es war ein wenig kalt, als aber die Sonne aufging, wurde es besser. Ich schlief ein und muß eine ganze Weile geschlafen haben; als ich erwachte, waren mehrere Menschen auf der Straße und aus verschiedenen Schornsteinen stieg Rauch auf. Da ging ich in den Keller hinab und einigte mich mit der Frau um ein Logis. Ich sollte für die Nacht eine halbe Krone bezahlen.
* * *
Als die beiden Wartetage verstrichen waren, begab ich mich wieder zu Rechtsanwalt Carlsen auf das Land hinaus. Er wiederholte seinen Rat, von dem Vortrag abzusehen, aber ich ließ mich nicht bereden; inzwischen hatte ich mir sogar in Arentsens Blatt eine Annonce geleistet, in der Zeit, Ort und Thema mitgeteilt waren.
Als ich die Miete für das Lokal gleich bezahlen wollte, wodurch ich mich allerdings meines letzten Hellers entblößt haben würde, sagte dieser sonderbare Mann:
»Die Bezahlung hat ja Zeit bis nach dem Vortrag.«
Ich mißverstand ihn und fühlte mich beleidigt.
»Glauben Sie etwa, daß ich keine acht Kronen habe?«
»Mein Gott ja,« antwortete er. – »Aber offen gestanden, es ist gar nicht sicher, daß Sie Verwendung für das Lokal haben werden, und dann brauchen Sie ja nicht dafür zu bezahlen.«
»Ich habe den Vortrag schon angekündigt,« entgegnete ich.
Er nickte.
»Das habe ich gesehen,« antwortete er. Nach einer Weile fragte er: »Würden Sie reden, auch wenn nicht mehr als fünfzig Menschen kämen?«
Ich war im Grunde ein wenig beleidigt; aber ich dachte darüber nach und sagte, daß fünfzig Menschen ja freilich ein spärliches Publikum seien, daß ich es aber trotzdem thun würde.
»Vor zehn würden Sie aber nicht reden?«
Da lachte ich laut.
»Nein, entschuldigen Sie. Aber es giebt Grenzen!«
Dann sprachen wir nicht mehr darüber und ich bezahlte das Lokal, wir fingen an, über Litteratur zu reden. Der Rechtsanwalt erschien mir nicht mehr so hoffnungslos wie bei meinem ersten Besuch, er war offenbar ein Mann mit Interessen, aber seine Ansichten erschienen mir im Vergleich zu meinen eigenen ja nicht viel wert.
Als ich Abschied nahm, wünschte er mir ein recht volles Haus für meinen Vortrag am nächsten Abend.
Ich kehrte in meinen Keller zurück, von den besten Hoffnungen erfüllt. Jetzt war alles zur Bataille bereit. Schon am Vormittag hatte ich für anderthalb Kronen einen Mann gemietet, der durch die Stadt gehen und meine fünfhundert Visitenkarten ausstreuen sollte. Das Ereignis war jetzt in Haus und Hütte bekannt.
Ich geriet in eine gehobene Stimmung. Der Gedanke an den wichtigen Tag, der bevorstand, machte mir den Aufenthalt in dem Keller mit dem ordinären Publikum ungemütlich. Alle wollten wissen, wer ich sei und warum ich dort wohnte. Die Wirtin, die Frau hinter dem Ladentisch, erklärte, ich sei ein gelehrter Mann, der den ganzen Tag dasäße und schrieb und studierte, und sie sorgte dafür, daß man mich nicht mit Fragen peinigte. Sie war mir eine große Hilfe. Die Leute, die dies Lokal aufsuchten, waren hungrige Seelen in Blousen und Hemdsärmeln, Arbeiter und Lastträger, die in den Keller hinuntertauchten, um sich eine Tasse warmen Kaffee oder einen Knacken Brot mit Butter und Mysekäse geben zu lassen. Zuweilen wurden sie unangenehm und traktierten die Wirtin mit groben Worten, weil das Gebäck zu alt oder die Eier zu klein waren. Als sie hörten, daß ich im Parkpavillon reden wollte, verlangten sie zu wissen, was das Billet kosten sollte; einige von ihnen erklärten, sie wollten gern meine Rede hören, aber eine halbe Krone sei zu viel, und nun begannen sie, mit mir um den Preis zu feilschen und zu handeln.
Ich nahm mir vor, mich von diesen Menschen nicht in meiner Würde kränken zu lassen; ihnen ging ja jegliche Bildung ab.
Ein Herr bewohnte ein Zimmer neben mir. Er sprach eine schreckliche schwedisch-norwegische Sprache, und die Wirtin nannte ihn Herr Direktor. Wenn dieser Mann zu uns anderen in den Keller stolziert kam, erregte er das größte Aufsehen, unter anderem, weil er immer den Staub mit seinem Taschentuch von dem Stuhl schlug, ehe er sich hinsetzte. Er war ein feiner Mann mit teuren Gewohnheiten; wenn er Butterbrot haben wollte, verlangte er jedesmal »frisches Brot mit bester Butter.«
»Sind Sie der Herr, der den Vortrag halten will?« fragte er mich.
»Ja, das ist der Herr!« antwortete die Wirtin.
»Eine schlechte Spekulation,« fuhr der Herr Direktor zu mir gewendet fort. »Sie annoncieren ja nicht! Haben Sie denn nicht gesehen, wie ich annonciere?«
Jetzt stellte es sich heraus, wer der Herr war: der Antispiritist, der Mann mit den Affen und den wilden Tieren.
»Ich annonciere mit Plakaten von der Größe!« fuhr er fort. »Ich kleistere sie an jede Straßenecke, überall, wo ich ankommen kann; mit ganz dicken Buchstaben. Haben Sie meine Buchstaben nicht gesehen? Es sind auch Abbildungen von Tieren darauf.«
Mein Vortrag handle von Schönlitteratur, wandte ich ein, – also Kunst, geistige Dinge.
»Darauf pfeife ich!« entgegnete er. Und in seiner Frechheit fuhr er fort: »Eine andere Sache wäre es, wenn Sie bei mir in Dienst treten wollten. Ich muß einen Mann haben, der die Tiere erklären kann, möchte dazu am liebsten einen fremden Mann haben, der hier in der Stadt nicht bekannt ist. Kommt ein bekannter Mann zum Vorschein, so schreit das Publikum: »Ach, das ist ja Pedersen! Was weiß der von tropischen Tieren!«
In schweigender Verachtung wandte ich dem Mann den Rücken. Ich hielt mich zu erhaben, um auf eine solche Frechheit zu antworten.
»Überlegen Sie sich die Sache,« sagte der Herr Direktor. »Überlegen Sie es sich. Ich bezahle fünf Kronen für den Abend.«
Da erhob ich mich, ohne ein Wort zu sagen, von meinem Stuhl und verließ den Keller. Ich fand, das war das einzige, was mir zu thun übrig blieb. Der Herr Direktor fürchtete natürlich meine Konkurrenz, ich würde das ganze Publikum der Stadt anlocken; er wünschte, sich mit mir abzufinden, mich zu bestechen. Niemals! sagte ich zu mir selber; nie soll mich jemand verlocken, meinen geistigen Interessen den Rücken zu wenden! Mein Weg ist der ideale!
* * *
Der Tag verging und der Abend kam. Ich bürstete sorgfältig meine Kleider, zog reine Wäsche an und machte mich auf den Weg nach dem Parkpavillon. Die Uhr war sechs. Ich hatte meinen Vortrag mit großem Fleiß studiert, mein Kopf war voll von all den hohen und schönen Worten, die ich gebrauchen wollte, und und im Geiste durchlebte ich einen herrlichen Erfolg, vielleicht würde sogar der Telegraph in Bewegung gesetzt, um von der Schlacht zu berichten, die ich schlagen wollte.
Es regnete. Das Wetter war gerade nicht allzu günstig, aber ein litterarisch interessiertes Publikum würde sich von etwas Regen nicht zurückhalten lassen. Mir begegneten ja Menschen auf der Straße, ein Paar nach dem anderen, das unter demselben Regenschirm ging. Es fiel mir freilich auf, daß sie nicht dieselbe Richtung einschlugen wie ich, – nach dem Parkpavillon. Wo wollten sie nur hin? Ach, es waren wohl die niederen Schichten der Bevölkerung, die Hefe, die sich auf dem Wege nach dem Arbeiterverein zu den Affen befanden.
Der Billetverkäufer war auf seinem Posten.
»Ist schon jemand da?« fragte ich.
»Noch nicht,« antwortete er, »aber es ist ja noch eine gute halbe Stunde bis zum Anfang.«
Ich ging in den Saal, in den unendlichen Raum, in dem meine Schritte widerhallten wie Pferdegetrappel. Ach du lieber Gott, wenn jetzt ein ausverkauftes Haus dadrinnen gesessen hätte, Kopf an Kopf, Damen und Herren, die nur auf den Redner warteten! – Keine Menschenseele!
Ich wartete die lange halbe Stunde; niemand kam. Ich ging zu dem Billetverkäufer hinaus und fragte nach seiner Ansicht. Sie war etwas vorbehalten; trotzdem tröstete sie mich. Die Ansicht des Billetverkäufers ging dahin, daß heute abend kein Wetter für einen Vortrag sei, die Leute gingen bei so starkem Regen nicht aus; – übrigens, – sagte er, – könne man den größten Teil wohl jetzt, in den letzten Minuten, erwarten.
Und wir warteten.
Endlich kam ein Mann, regentropfend und hastig, er löste sein Billet mit einer halben Krone und ging hinein.
»Jetzt fangen sie an zu kommen,« sagte der Billetverkäufer und nickte. »Eine verdammte Angewohnheit von den Leuten, massenweise im letzten Augenblick zu kommen.«
Wir warteten. Es kam niemand mehr. Schließlich verließ mein einziger Zuhörer den Saal und sagte:
»So ein Hundewetter!«
Es war Rechtsanwalt Carlsen.
Jetzt schämte ich mich und wäre am liebsten in die Erde gesunken.
»Ich fürchte, heute abend wird niemand kommen,« sagte er; »es gießt ja förmlich.« Er bemerkte meine verzagte Miene und fügte hinzu: »Ja, ich sah es am Barometer, der sank ja zu plötzlich! Deshalb riet ich Ihnen ab, den Vortrag zu halten.«
Der Billetverkäufer wollte mir noch immer Mut machen:
»Wir wollen doch noch eine halbe Stunde warten,« meinte er. »Es müßte ja sonderbar zugehen, wenn nicht schließlich doch noch zwanzig, dreißig Menschen kämen.«
»Ich glaube es nicht,« sagte der Rechtsanwalt und knöpfte seinen Regenrock zu. »Dabei fällt mir ein,« sagte er zu mir gewendet, »Sie haben natürlich nichts für das Lokal zu bezahlen.«
Er nahm den Hut ab, grüßte und ging.
Der Billetverkäufer und ich warteten noch eine halbe Stunde und besprachen die Sache eingehend miteinander. Es war eine fatale Situation und ich fühlte mich sehr gedemütigt. Der Rechtsanwalt hatte oberdrein seine halbe Krone im Stich gelassen, die er hätte zurück haben müssen. Ich wollte dem Mann mit dem Geld nachlaufen, der Billetverkäufer hielt mich aber davon zurück.
»Dann behalte ich die halbe Krone,« sagte er. »Sie schulden mir dann nur noch eine halbe.«
Aber ich gab ihm noch eine ganze Krone. Er war getreulich auf seinem Posten gewesen und ich wollte ihm meine Anerkennung erzeigen. Er dankte auch aufrichtig und reichte mir, als er ging, die Hand zum Abschied.
Als geschlagener Mann wanderte ich heim. Die Enttäuschung, das Verschmähtsein lähmte mich fast, willenlos schlenderte ich die Straßen hinab und dachte nicht darüber nach, wohin ich ging. Der Gipfelpunkt des Unglücks war jetzt, daß ich nicht mehr die Mittel besaß, um nach Christiania zurückkehren zu können.
Der Regen strömte noch immer hernieder.
Ich war an ein großes Haus gelangt; von der Straße aus sah ich einen erleuchteten Billetverkauf der Diele. Es war der Arbeiterverein. Von Zeit zu Zeit ging ein Nachzügler hinein, löste ein Billet an der Klappe und verschwand durch die großen Thüren in den Saal. Ich fragte den Billetverkäufer, wie viele Menschen da drinnen wären. Es war jetzt fast ausverkauft.
Der elende Direktor hatte mich mit Glanz besiegt.
Dann schlich ich mich in den Keller zurück. Ich aß und trank nicht, sondern ging stillschweigend zu Bett.
In der Nacht klopfte es bei mir an und ein Mann trat ein. Er trug ein Licht in der Hand. Es war der Herr Direktor.
»Wie ging es mit Ihrem Vortrag?« fragte er.
Unter anderen Umständen würde ich ihn zur Thür hinausgeworfen haben, jetzt war ich zu geknickt zu einem so kühnen Auftreten, und so antwortete ich ihm denn nur, daß ich den Vortrag aufgegeben habe.
Er lächelte.
Es sei kein Wetter zu einem Vortrag über Schönlitteratur gewesen, erklärte ich. Das müsse er doch selber einsehen!
Er lächelte noch immer.
»Sie sollten nur wissen, wie kolossal das Barometer gefallen ist,« sagte ich.
»Ich hatte ausverkauftes Haus,« entgegnete er. Übrigens lächelte er nicht mehr, sondern bat um Verzeihung, daß er mich gestört habe. Er komme mit einem Vorschlag.
Sein Vorschlag war ganz seltsamer Art: er kam, um mir von neuem ein Engagement als Redner bei seinen Vorstellungen anzubieten.
Ich fühlte mich in meinem Innersten gekränkt, und ich bat ihn auf das bestimmteste, mir meine nächtliche Ruhe nicht länger zu entziehen.
Statt zu gehen, setzte er sich mit dem Licht in der Hand auf mein Bett.
»Wir können ja über die Sache reden,« sagte er. Er erklärte mir, der Drammener, den er engagiert habe, um die Tiere zu erklären, sei zu bekannt. Er selber – der Direktor – habe einen phänomenalen Erfolg mit seinen antispiritistischen Kunststücken erzielt, aber der Drammener Redner habe ihm die ganze Wirkung verpfuscht. »Ach, das ist ja Björn Pedersen!« hätten die Leute gerufen; »wo hast du den Dachs her?« Als aber Björn Pedersen nach dem Programm erklärte, daß es kein Dachs, sondern eine Hyäne aus dem Buschland sei, die bereits drei Missionare aufgefressen habe, da schrieen die Leute vor Erbitterung, weil er sie zum Narren haben wolle. – »Ich begreife das nicht« sagte der Direktor, – »ich hatte ihm sein Gesicht ganz schwarz gemacht und ihm eine große Perrücke aufgesetzt, trotzdem wurde er aber erkannt.«
Das alles ging mich nichts an, und ich drehte mich nach der Wand um.
»Überlegen Sie sich die Sache,« sagte der Herr Direktor, ehe er ging. »Vielleicht gehe ich bis zu sechs Kronen den Abend, wenn Sie Ihre Sache gut machen.«
Nie würde ich zu einer so gemeinen Hantierung herabsinken, wie er sie mir vorschlug! Man hatte doch noch Ehre im Leibe!
* * *
Am nächsten Tage kam der Herr Direktor zu mir und bat mich, mir den Vortrag einmal anzusehen, der von den Tieren handelte. Wenn ich ihn hier und da korrigieren und die Sprache ein wenig verbessern wolle, würde er mir zwei Kronen dafür geben.
Trotz meiner Abneigung übernahm ich die Arbeit. Ich erwies dem Mann ja eine Wohlthat damit, und es war doch gewissermaßen eine Arbeit im Dienste der Litteratur. Außerdem hatte ich die zwei Kronen sehr nötig. Aber ich ersuchte ihn, meine Mitarbeiterschaft auf das strengste geheim zu halten.
Ich arbeitete den ganzen Tag, machte eine ganz neue Rede von Anfang bis zu Ende, legte viel Gefühl und viel Witz in diese Beschreibung, stattete sie reich mit Bildern aus und ward mehr und mehr von meiner eigenen Arbeit gefesselt. Es war ein wahres Kunststück, so viel aus ein paar elenden Tieren herauszubringen. Als ich gegen abend dem Herrn Direktor mein Werk vorlas, behauptete dieser Mann, nie im Leben etwas Ähnliches von einer Rede gehört zu haben. Einen solchen Eindruck hatte sie auf ihn gemacht. Er gab mir aus Anerkennung drei Kronen.
Dies rührte und ermunterte mich. Ich fing an, neue Hoffnung für meine litterarische Mission zu schöpfen.
»Hätte ich nur jetzt einen tüchtigen Mann, um diese Rede zu halten!« sagte der Direktor. »Einen solchen Mann giebt es hier aber nicht!«
Ich fing an, mir die Sache zu überlegen. Es wäre im Grunde ärgerlich, wenn irgend ein beliebiger Björn Pedersen über eine so auserwählte Rede herfallen und sie durch seinen elenden Vortrag verpfuschen sollte. Ich konnte den Gedanken daran nicht ertragen.
»Unter gewissen Bedingungen könnte ich am Ende die Rede halten,« sagte ich.
Der Direktor rückte näher heran.
»Welche Bedingungen stellen Sie? Ich zahle Ihnen sieben Kronen!«
»Ja, das genügt mir. Aber die Hauptsache ist, daß es strenge zwischen uns beiden bleibt, wer Ihr Redner ist.«
»Das verspreche ich!«
»Ja, denn Sie werden doch verstehen,« sagte ich, »daß ein Mann mit meinem Beruf nicht gut Vorträge über Tiere halten kann.«
Ja, das verstand er.
»Dann will ich Ihnen also wirklich diesen Dienst erweisen.«
Der Direktor dankte.
Als die Uhr sieben war, gingen wir zusammen nach dem Arbeiterverein. Ich sollte mir die Tiere ansehen und mich ein wenig mit ihrer Behandlung vertraut machen.
Es stellte sich heraus, daß es zwei Affen, eine Schildkröte, ein Bär, zwei junge Wölfe und ein Dachs waren.
Über die Wölfe und den Dachs enthielt meine Erklärung kein Wort, um so mehr über eine gewisse Hyäne aus dem Buschlande, einen Zobel und einen Marder, »schon aus der Bibel bekannt«, wie über einen ungeheuren amerikanischen grauen Bären. Von der Schildkröte hatte ich den köstlichen Witz gemacht, daß sie eine feine Dame sei, die von nichts weiter als von echter Schildkrötensuppe lebe.
»Wo sind der Zobel und der Marder?« fragte ich.
»Hier!« antwortete der Direktor und zeigte mir die beiden jungen Wölfe.
»Und wo ist die Hyäne?«
Da zeigte er, ohne sich zu besinnen, auf den Dachs und sagte:
»Die Hyäne ist hier!«
Ich wurde dunkelrot vor Zorn und sagte:
»Auf die Weise geht es nicht; das ist Betrug! Ich muß glauben, was ich verkündigen soll; das muß meine innerste Überzeugung sein.«
»Wir wollen uns doch nicht um eine solche Bagatelle veruneinigen«, sagte der Direktor. Er holte eine Branntweinflasche aus einer Ecke und bot mir einen Schluck an.
Um ihm zu zeigen, daß ich nichts gegen seine Person habe, sondern nur gegen seine schmutzige Sache, nahm ich das Glas und trank es aus. Er selber trank nach mir.
»Stürzen Sie mich nicht ins Unglück!« sagte er. – »Die Rede ist so herrlich, die Tiere sind auch nicht schlecht, wirklich nicht; sehen Sie nur, welch ein großer Bär! Halten Sie nur jetzt die Rede, dann geht alles gut!«
Die ersten Menschen fingen jetzt an, sich im Saal einzufinden, und der Direktor wurde immer unruhiger. Ich hielt sein Schicksal in meiner Hand, und es war nur natürlich, daß ich meine große Macht mit Maß benutzte. Ich sah außerdem die Unmöglichkeit ein, die vielen Änderungen in meiner Rede in der kurzen Zeit vorzunehmen, die mir jetzt noch blieb; außerdem würde es völlig unmöglich sein, dasselbe tiefe Gefühl in die Beschreibung eines Dachses zu legen wie in die Schilderung von dem Leben einer schrecklichen Hyäne. Durch Veränderungen würde also mein literarisches Werk mehr verlieren, als ich verantworten konnte. Das sagte ich dem Herrn Direktor.
Er verstand alles sofort. Er schenkte mir noch einen Schnaps ein, und ich trank.
Die Vorstellung begann vor ausverkauftem Hause, der Antispiritist machte Kunststücke, die kein Teufel begreifen konnte; er zog Taschentücher aus seiner Nase, holte den Coeur-Buben aus der Tasche einer alten Frau ganz unten im Saal, ließ einen Tisch über den Fußboden tanzen, ohne ihn auch nur zu berühren; schließlich wurde der Herr Direktor ein Geist und versank durch eine Lücke in den Fußboden. Das Publikum war entzückt, trampelte wie besessen. Jetzt kam die Reihe an die Tiere. Der Herr Direktor führte sie eigenhändig vor, eines nach dem anderen, und ich sollte die Erklärung dazu geben.
Ich war mir gleich darüber klar, daß ich einen Erfolg wie den des Herrn Direktors nicht erzielen konnte; aber ich hegte die Hoffnung, daß die wirklich verständnisvollen unter dem Publikum Interesse für meine Leistung haben würden. Und diese Hoffnung sollte nicht zu Schanden werden.
Nachdem die Schildkröte vorgeführt war, hatte ich nur noch mit Landtieren zu thun, und so nahm ich denn meinen Ausgangspunkt von Noah, der ein Paar von allen Tieren, die nicht im Wasser leben konnten, in seine Arche nahm. Aber die Vorstellung machte keinen rechten Eindruck, der Humor hatte das Publikum verlassen. Der Zobel und der Marder wurden nicht nach Gebühr bewundert, obwohl ich erzählte, in wie viele dieser köstlichen Tiere die Königin von Saba während ihres Besuchs bei Salomo gekleidet gewesen sei. Jetzt fühlte ich übrigens, daß ich gut sprach; durchglüht von dem biblischen Thema und den beiden Schnäpsen wurde meine Rede farbenreich und schön, ich wich von meinen Papieren ab und schuf einen Text auf eigene Hand, und als ich geendet hatte, riefen mehrere Stimmen unten im Saal »Bravo!« und das ganze Haus klatschte.
»Da hinter dem Vorhang steht ein Schnaps!« flüsterte der Herr Direktor mir zu.
Ich trat zurück und fand den Schnaps. Die Flasche stand daneben. Ich setzte mich einen Augenblick auf einen Stuhl.
Inzwischen führte der Direktor ein neues Tier vor und wartete auf mich. Ich schenkte mir noch einen Schnaps ein und setzte mich wieder hin. Die Wartezeit war dem Herrn Direktor wohl zu lang erschienen, deswegen begann er selber eine Erklärung in seinem unmöglichen Kauderwelsch, und ich hörte zu meinem Entsetzen, daß er die Hyäne vornahm; schließlich versprach er sich und sagte der Dachs. Da ergriff mich ein gerechter Zorn, ich trat auf die Bühne, führte den Herrn Direktor mit einer Armbewegung beiseite und ergriff selber das Wort. Die Hyäne war der Trumpf der Vorstellung, ich mußte sprechen wie nie zuvor, um sie zu retten, und schon bei meinem Erscheinen, als ich den Direktor mit meinem Arm entfernte, hatte ich das Publikum auf meiner Seite. Ich desavuierte den Herrn Direktor, sagte, er habe nie im Leben eine Hyäne gesehen, und ich begann mit der Schilderung des zügellosen Lebens eines solchen Raubtieres. Die Schnäpse wirkten, meine Begeisterung stieg zu einer schwindelnden Höhe; ich hörte selber, daß meine Worte heftiger und röter wurden, während die Hyäne zu Füßen des Herrn Direktors stand und geduldig mit ihren winzig kleinen Augen blinzelte, »halten Sie sie gut fest!« schrie ich dem Direktor zu. »Sie steht auf dem Sprung, sie lechzt nach meinem Gedärm! Halten Sie die Pistole in Bereitschaft für den Fall, daß sie sich losreißen sollte!«
Der Direktor mußte selber nervös geworden sein, er zerrte die Hyäne an sich heran, – das Band zerriß und das Tier schlüpfte zwischen seine Beine. Ein Gekreische von Frauen und Kindern stieg aus dem Saal auf, die Hälfte des Publikums erhob sich. In diesem Augenblick war die Spannung groß. Da enteilte die Hyäne mit schnellen Schritten über die Bühne in ihr kleines Loch. Der Direktor schlug die Thür hinter ihr mit einem lauten Knall zu.
Wir atmeten alle auf, und ich beschloß meinen Vortrag mit einigen Worten. Diesmal seien wir glücklich davongekommen, sagte ich, und es solle noch heute abend für eine starke, eiserne Kette für das Ungetüm gesorgt werden. Dann verneigte ich mich und trat zurück.
Da brach der Beifall los, er wurde geradezu ohrenbetäubend, und man rief den Redner hervor, – den Redner. Ich trat vor und verneigte mich von neuem, und ich hatte wirklich einen ungeheuren Erfolg zu verzeichnen. Selbst der letzte Mensch im Saal klatschte noch bis zur Thür.
Der Direktor war zufrieden, er dankte mir aufrichtig für meinen Beistand. Er würde sicher noch oft ein volles Haus erzielen.
Als ich nach Hause gehen wollte, wartete draußen an der Thür ein Mann auf mich. Es war mein Billetverkäufer aus dem Pavillon. Er hatte der Vorstellung beigewohnt und war entzückt. Er rühmte in hohen Tönen mein Rednertalent, ich dürfe unter keinen Umständen den Vortrag im Parkpavillon aufgeben, jetzt sei es Zeit ihn anzukündigen, jetzt, wo die Leute gehört hatten, was ich taugte. Zum Beispiel eine Wiederholung der Rede über die Hyäne, namentlich wenn ich das Tier mitbrächte.
* * *
Aber der Herr Direktor, der schändliche Kerl, wollte am nächsten Tage das Geld nicht herausrücken. Wenn ich mich nicht schriftlich verpflichtete, auch noch am nächsten Abend aufzutreten, wollte er die Lache durch das Gericht entscheiden lassen, sagte er. Der Schwindler, der Schurke! Wir schlossen schließlich eine gütliche Übereinkunft: Er sollte mir fünf Kronen bezahlen. Mit den drei, die er mir schon gegeben hatte, waren es dann acht, und ich hatte jetzt das Reisegeld für die Rückfahrt nach Christiania. Die geschriebene Rede wollte er aber behalten. Über diesen Punkt verhandelten wir lange, da ich ihm ungern die Rede zur Profanation überlassen wollte. Auf der anderen Seite war sie unleugbar sein Eigentum, da er dafür bezahlt hatte. Schließlich gab ich nach. Er legte einen ungeheuren Wert auf die Arbeit.
»Eine solche Rede habe ich noch nie gehört,« sagte er. »Gestern hat sie mich tiefer ergriffen als je eine Predigt.«
»Ja, da können Sie sehen«, entgegnete ich. »Das ist die Macht der Litteratur über die Gemüter.«
Dies waren die letzten Worte, die ich an ihn richtete. Mit dem Mittagszug kehrte ich nach Christiania zurück.