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Die Stimme des Lebens

Mein Freund, der Schriftsteller H***, erzählt: An dem inneren Hafen von Kopenhagen läuft eine Straße entlang, die Vestavold heißt, ein neuer und einsamer Boulevard. Da sind wenige Häuser, wenige Laternen und fast keine Menschen zu sehen. Selbst zur Sommerszeit geschieht es nur selten, daß jemand dort lustwandelt.

Nun! Vorgestern abend erlebte ich etwas in dieser Straße, und ich will dir erzählen, was ich dort erlebte.

Ich war ein paarmal auf dem Bürgersteig auf und niedergegangen, als eine Dame auf mich zukam. Es sind sonst keine Menschen zu sehen. Die Laternen sind angezündet, aber es ist dunkel und ich kann das Gesicht der Dame nicht erkennen. Es ist eins der gewöhnlichen Kinder der Nacht, denke ich und gehe an ihr vorüber.

Am Ende des Boulevards kehre ich um und gehe zurück, auch die Dame ist umgekehrt, ich begegne ihr wieder. Ich denke bei mir: Sie erwartet jemand, wir wollen doch einmal sehen, wen sie erwartet. Und abermals gehe ich an ihr vorüber.

Als ich ihr zum dritten Mal begegnete, griff ich an den Hut und redete sie an. Guten Abend! Ob sie hier auf jemand warte?

Sie zuckte zusammen. Nein – – ja, sie warte auf jemand.

Ob sie etwas dagegen habe, wenn ich ihr Gesellschaft leistete bis derjenige käme, auf den sie wartete?

Nein sie hätte nichts dagegen. Sie dankte mir. Übrigens, sagte sie, warte sie auf niemand, sie ginge hier nur ein wenig spazieren, weil es hier so still sei.

Wir schlenderten Seite an Seite dahin und wir begannen, über gleichgültige Dinge miteinander zu reden; ich bot ihr meinen Arm.

»Ach nein!« sagte sie und schüttelte den Kopf.

Die Sache wurde mir langweilig. In der herrschenden Dunkelheit konnte ich sie nicht sehen, deswegen zündete ich ein Streichholz an und versuchte, sie zu beleuchten, während ich nach der Uhr sah.

»Halb zehn, gut halb zehn,« sagte ich.

Sie schauderte, als fröre sie. Ich ergriff die Gelegenheit und fragte:

»Es friert Sie, möchten Sie nicht irgendwo hingehen und etwas trinken? Ins Tivoli, oder ins National?«

»Nein, ich kann jetzt nirgends hingehen, wie Sie sehen,« antwortete sie.

Und erst jetzt bemerkte ich, daß sie einen langen, schwarzen Trauerschleier trug.

Ich bat um Entschuldigung und gab der Dunkelheit die Schuld. Und die Art und Weise, wie sie meine Entschuldigung aufnahm, überzeugte mich plötzlich, daß sie nicht zu den gewöhnlichen Nachtschwärmern gehörte.

»Nehmen Sie meinen Arm,« sagte ich nochmals, »das wärmt.«

Sie nahm meinen Arm.

Wir gingen mehrmals auf und nieder. Sie bat mich, nach der Uhr zu sehen.

»Es ist über zehn,« sagte ich. »wo wohnen Sie?«

»Auf dem Gamle Kongevej.«

Ich hielt sie zurück.

»Und darf ich Sie bis an Ihre Hausthür begleiten?«

»Nein, das geht nicht,« erwiderte sie. »Nein, das können Sie nicht. – Sie wohnen in der Bredgade?«

»Woher wissen Sie das?« fragte ich überrascht.

»Ich weiß, wer Sie sind,« antwortete sie.

Pause –. Wir gingen Arm in Arm und bogen in die erleuchteten Straßen ein. Sie ging schnell, ihr langer Schleier flatterte. Sie sagte:

»Lassen Sie uns, bitte, schnell gehen.«

An ihrer Hausthür im Gamle Kongevej wandte sie sich nach mir um, als wollte sie mir für meine Begleitung danken. Ich öffnete ihr die Thür, sie ging langsam hinein, indem sie sich nach mir umsah. Ich stemmte die Schulter leicht gegen die Thür und ging hinter ihr hinein. Da ergriff sie meine Hand. Niemand von uns sprach ein Wort.

Wir gingen ein paar Treppen hinauf und blieben im zweiten Stockwerk stehen. Sie öffnete selber die Windfangthür, öffnete noch eine Thür, nahm mich bei der Hand und führte mich hinein. Es mußte ein Zimmer sein; ich hörte eine Uhr ticken. Die Dame machte einen Augenblick an der Thür halt, schlang plötzlich die Arme um mich und küßte mich heiß und bebend auf den Mund. Mitten auf den Mund.

»Setzen Sie sich jetzt,« sagte sie. »Hier ist ein Sofa. Inzwischen will ich Licht anzünden.«

Und sie zündete Licht an.

Ich blickte um mich, verwirrt und neugierig. Es war ein großes, außerordentlich hübsch ausgestattetes Wohnzimmer, in dem ich mich befand; es standen auch Thüren nach mehreren Nebenzimmern offen. Ich konnte nicht begreifen, was für ein Menschenkind es sein mochte, mit dem ich auf so wunderbare Weise zusammengetroffen war, und ich sagte:

»Wie hübsch es hier ist! Wohnen Sie hier?«

»Ja, dies ist mein Heim,« erwiderte sie.

»Dies ist Ihr Heim? Sie sind also die Tochter des Hauses?«

Sie lachte und sagte:

»Nein, nein. Ich bin eine alte Frau. Jetzt werden Sie es sehen!«

Und sie nahm den Hut mit dem Schleier ab.

»Da sehen Sie!« sagte sie und schlang die Arme noch einmal um mich, plötzlich, gleichsam von unbändiger Leidenschaft getrieben.

Das große, tolle Kind! Sie mochte zwei-, dreiundzwanzig Jahre alt sein; sie trug einen Trauring an der rechten Hand und konnte deswegen auch wirklich eine verheiratete Frau sein. Hübsch? Nein. Sie hatte zu viele Sommersprossen und fast gar keine Augenbrauen. Aber es sprach ein wildwogendes Leben aus ihr, und ihr Mund war geradezu schön.

Ich wollte sie fragen, wie sie heiße, wo ihr Mann sei, falls sie einen habe; ich wollte wissen, in wessen Hause ich mich befand; sie aber schmiegte sich fest an mich, sobald ich den Mund öffnete und verbot mir, neugierig zu sein.

»Ich heiße Ellen,« sagte sie. »Wollen Sie ein wenig genießen? Es macht nichts, ich kann sehr gut schellen. Sie müssen nur so lange da hineingehen, ins Schlafzimmer.«

Ich ging ins Schlafzimmer. Die Lampe aus dem Wohnzimmer warf ein schwaches Licht zu mir herein. Ich sah zwei Betten. Ellen schellte und verlangte Wein, ich hörte, wie ein Mädchen den Wein brachte und wieder hinausging. Nach einer Weile kam Ellen ins Schlafzimmer. Sie blieb an der Thür stehen. Ich ging ihr einen Schritt entgegen, sie stieß einen kleinen Schrei aus und kam im selben Augenblick auf mich zu. – – –

Das war vorgestern abend.

Was weiter geschah? Hab' nur Geduld, es geschah noch mehr. Gestern morgen, als ich erwachte, begann es zu dämmern, das Tageslicht drang zu beiden Seiten des Rouleaux ins Zimmer. Auch Ellen war erwacht. Sie seufzte müde und lächelte mir zu. Ihre Arme waren weiß und sammetartig, ihre Brust schwellend. Ich flüsterte ihr etwas zu, und sie schloß meinen Mund mit dem ihren, stumm vor Zärtlichkeit. Es tagte mehr und mehr.

Zwei Stunden später war ich auf den Beinen, auch Ellen ist aufgestanden, sie nestelt an ihren Kleidern, sie hat schon Schuhe an. Und jetzt erlebe ich etwas, das mich noch in diesem Augenblick durchschauert wie ein böser Traum. Ich stehe am Waschtische, – Ellen hat etwas im Nebenzimmer zu thun, und als sie die Thür öffnet, wende ich mich um und sehe hinein. Ein kalter Lufthauch dringt mir von den geöffneten Fenstern entgegen, und mitten im Zimmer, auf einem langen Tisch, erblicke ich eine Leiche. Eine Leiche, die im Sarge liegt, mit grauem Bart, die Leiche eines Mannes. Seine mageren Kniee stehen in die Höhe wie zwei wütende Fäuste, die unter dem Leichentuch geballt sind, und sein Gesicht ist ganz gelb und Schreck einflößend. Ich sehe alles im hellen Tageslicht. Ich wende mich ab und sage kein Wort.

Als Ellen zurückkehrte, war ich angekleidet und zum Gehen bereit. Ich war kaum imstande, ihre Umarmung zu erwidern. Sie kleidete sich völlig an, sie wollte mich in den Thorweg hinabbegleiten, und ich ließ sie gehen und sagte noch immer nichts. Unten im Thorweg drückte sie sich an die Mauer, um nicht gesehen zu werden und flüsterte:

»Auf Wiedersehen!«

»Morgen?« fragte ich zögernd.

»Nein, nicht morgen!«

»Weshalb morgen nicht?«

»Schweig, Liebster, ich muß morgen zum Begräbnis, ein Verwandter von mir ist gestorben. So, jetzt weißt du es!«

»Aber übermorgen?«

»Ja, übermorgen, hier im Thorweg werd' ich dich erwarten, Leb' wohl!«

Ich ging. – – – –

Wer war sie? Und die Leiche? Wie die die Fäuste ballte, und wie die Mundwinkel in häßlicher Komik herabhingen! Übermorgen würde sie mich wieder erwarten. Sollte ich wieder zu ihr gehen?

Ich lenke meine Schritte direkt nach dem Café Bernina, wo ich um das Adreßbuch bitte, – ich schlage auf, Gamle Kongevej, die und die Nummer, gut, ich sehe den Namen und weiß, wie Ellen heißt. Ich warte eine Weile, bis die Morgenzeitung kommt und stürze mich über das Blatt, um die Todesanzeigen zu studieren, ja, ich finde auch wirklich die ihrige, die erste in der langen Reihe, mit fetten Buchstaben: »Nach langer Krankheit verschied gestern mein Mann in seinem 53. Lebensjahre.« Die Anzeige war von gestern datiert.

Ich sitze lange da und sinne.

Ein Mann hat eine Frau, sie ist dreißig Jahre jünger als er, er ist viele Jahre lang krank und stirbt dann eines Tages. Die junge Witwe atmet auf, das Leben ruft ihr zu mit seiner entzückenden Tollheit, sie gehorcht seiner Stimme und antwortet: Ich komme! Und schon den nämlichen Abend lustwandelt sie auf dem Vestrvold. – – –

Ellen, Ellen, übermorgen!

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