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Sommerwonne

Ein winzig kleiner Roman

Das Pensionat war vollauf mit Gästen besetzt: Herren und Damen; sogar aus dem Nachbarlande waren ein paar vorhanden. Den meisten fehlte irgend etwas Unbedeutendes; Männer wie Frauen waren überanstrengt und waren hergekommen, um sich in dem kleinen Fischerdorf am Meere für ein paar Wochen auszuruhen. Die verheirateten waren in der Mehrzahl; und um rechten Frieden zu genießen, hatten sie oft ihre Ehehälfte daheimgelassen und konnten so auf eigne Faust auftreten. Es wurde nicht wenig geflirtet zwischen diesen isolierten Männlein und Weiblein, und unter der Lampe im Salon sah man alternde Leute zu neuen, jungen Menschen werden. Aber alle sagten sie: Das ist die gesunde Luft, das ist das Meer!

Es waren alles gebildete und vornehme Leute, große Kaufleute, ein paar Professorenfrauen, Direktoren. Und es war eine Frau Generalkonsul und eine Frau Etatsrat, beide mit ihren Männern. Ein schwerreicher Herr aus der Hauptstadt, auf dessen Karte bloß: Otto Mengel, Grossist, zu lesen war, wurde Herr Direktor genannt. Die Wirtin besaß ein großes Talent, während des Vorstellens einen jeden in passender Weise um eine Stufe zu erhöhen, von Direktor Mengel ist übrigens nur Gutes zu sagen, er war sicherlich ein einflußreicher Mann und trug die Freimaurerembleme an der Uhrkette. Immerhin erweckte es ein gewisses Erstaunen, als der junge Oxentand, der ein rechter Löwe war und sich bisher vor niemand gebeugt hatte, den Direktor Mengel auffallend tief grüßte, als der im Pensionat auftauchte. Erst später kam es an den Tag, daß Herr Mengel in der Hauptstadt eine ausgedehnte Leihtätigkeit betrieb.

Die Klatschereien, die unter den Gästen im Schwange waren, konnten als bloße Klatschereien unter Freunden ohne unnatürliche Boshaftigkeit angesehen werden. Der Versicherungsagent aus dem Nachbarland aber, der hatte sich von allen Seiten echten Unwillen zugezogen, und zwar durch seine Versuche, mitten im Pensionat Kunden für seine Versicherungsgesellschaften zu werben. Es war, als rechne er damit, daß jemand sterben solle, und es war doch im Gegenteil niemand da, der daran gedacht hätte. Ihn nannte man denn auch Herr Direktor, um seine Selbstachtung zu wecken; aber das war verlorene Liebesmüh. Er selbst nannte sich Agent Anderson, und damit basta, und er korrigierte alle, die ihm den Direktortitel gaben.

Das Hornvieh; er war Geschäftsmann und weiter nichts. Er war nicht im mindesten krank, und die nackte Wahrheit war, daß er gut aß, gut schlief und Kräfte im Überfluß hatte. Eines Tages sagte die Frau Generalkonsul: hinaus mit diesem Herrn Anderson!

Aber Frau Milde wußte wohl, warum die Frau Generalkonsul jetzt verlangte, daß man Anderson hinauswerfen solle: er hatte ihre närrische Sanftmut gegen ihn nicht zu würdigen gewußt. Eines Abends hatte die Frau Generalkonsul allein im Garten im Dunkeln gesessen und geschwärmt, und da war Herr Anderson vorbeigekommen. Sie rief ihn an und nannte ihn Direktor, ja sie deutete sogar an, daß er so gesund und stark sei, und daß es ihre Nerven beruhige, wenn sie ihn nur sehe.

So, so, sagte Anderson.

Und denken Sie, ich glaube, Ihre Arme sind behaart, hahaha, sagte die Frau Generalkonsul. Kommen Sie doch und leisten Sie mir ein wenig Gesellschaft.

Es ist zu dunkel, erwiderte er.

Ja, aber lassen Sie uns nur nicht in all die Helligkeit gehen.

Doch; sehen Sie, ich weiß aus Erfahrung, daß ich im Hellen besser sehe als im Dunkeln, sagte Anderson.

Ein Starrkopf war er, und es war die allgemeine Ansicht, daß er auch die Natur nicht liebe; man hatte ihn dastehen und das Meer mit trocknen, ganz trocknen Augen betrachten sehen. Der Löwe Oxentand versuchte eines Tages, ihn zum besten zu haben, aber das gelang ihm nicht. Es war im allgemeinen recht erheiternd, die Antworten des Agenten anzuhören. Die junge Frau Trampe, die Schönheit, fragte ihn einmal quer über den Tisch:

Sie sind also nicht verheiratet?

Nein, war seine Antwort. Aber ganz ohne Mißgeschick ist's ja doch auch bei mir nicht abgelaufen …

Da sollte nun die neue Dame kommen.

Es lief ein Telegramm aus dem Nachbarland ein, ob das Pensionat Platz für eine Dame habe. Es stand darin, es dürfe ruhig ein kleines Zimmer sein, aber jedenfalls müsse es im Erdgeschoß liegen. Die Wirtin antwortete, ja, es sei Platz vorhanden.

Das ganze Pensionat erwartete nun also die Dame. Warum wollte sie im Erdgeschoß wohnen? War sie lahm? Die jungen Frauen im dritten oder vierten Jahre ihrer Ehe wollten nichts dagegen haben, wenn sie durchaus keine Schönheit wäre. Der Löwe Oxentand sagte: Doch, lassen Sie sie ruhig hübsch sein; mit Ihnen, Frau Trampe, kann sie sich ja doch nicht messen.

Zwei Tage darauf kam sie. Ihr Kutscher fuhr in scharfem Trabe bis vor den Eingang des Pensionats und hielt im Nu an. Die Dame stieg aus. Das Spiel auf dem Tennisplatz stockte plötzlich, und alle blickten auf die Dame. Sie trug einen großen Hut und war sehr vornehm gekleidet, und als sie ausstieg, konnte jeder sehen, wie jung sie war.

Frau Anderson ist mein Name, sagte sie zur Wirtin.

Wie heißt sie? fragte die Frau Generalkonsul.

Anderson! erwiderte Frau Trampe, die Schönheit.

So, so, ein Menschenkind mehr, das Anderson heißt! Es wird unausstehlich hier.

Die Frau Generalkonsul bekam recht, Frau Anderson wurde wirklich unausstehlich – für alle, mit Ausnahme der Herren. In die brachte sie aber ein erstaunliches Leben. So auf den ersten Blick war das gar nicht leicht zu verstehen. Hübsch von Angesicht war sie keineswegs, und sie hatte auch nicht Frau Trampes blanke Augen, an einen Vergleich war nicht zu denken. Aber sie hatte dunkle, gefährliche Augen, ja, die hatte sie; dazu kam, daß ihre Augenbrauen zwei dunklen Blutegeln glichen, die mit den Schnauzen gegeneinander lagen und etwas Mystisches hatten. Und jung und halbblond war sie, und ihr Mund war wie eine Blüte.

Schön …

Frau Anderson stand des Morgens zu spät auf, und die Wirtin mußte sie an die festen Zeiten im Pensionat erinnern: erstes Frühstück präzis um neun Uhr.

Frau Anderson antwortete:

Ich will präzis um neun Uhr erscheinen – nur nicht des vormittags.

Da mußte selbst der Generalkonsul sie ansehen. Er begegnete ihrem Blick. Und niemand brauchte den Generalkonsul zu lehren, in einem Blicke zu lesen. Er entstammte einer bekannten Dichterfamilie und machte selbst vortreffliche Gedichte über die Natur und die Menschen.

Welch offenkundiger Feuerbrand loderte doch in diesen Weiberaugen am hellichten Tage! Der Generalkonsul sah es: das waren Augen, die zu wollen begannen …

Als die Zeit verging und Frau Anderson ihre Rechnung erhielt, bat sie ohne Umstände um Aufschub mit der Bezahlung. Sie besäße kein Geld, sagte sie, doch es werde sich wohl ein Ausweg finden an einem der nächsten Tage.

Am Abend geriet sie ins Gespräch mit Etatsrat Adami. Er stand mitten in seiner zweiten Jugend, diesem letzten Aufflammen, darin das Alter wieder so unnatürlich jung wird. Frau Andersons Fragen und Antworten gereichten dem kahlköpfigen, vornehmen Herrn zu großem Ergötzen.

Als seine Frau ihn herausrief, nahm der Generalkonsul sofort seinen Platz ein. Und er hatte lange auf diesen Moment gelauert.

Er sagte:

Ich habe den Etatsrat um dieses lange Gespräch mit Ihnen beneidet.

Auf Sie habe ich gewartet, Herr Generalkonsul, erwiderte die junge Frau. Unter anderm, um Sie etwas zu fragen und um Ihnen zu danken.

Was ist es denn?

Haben Sie mir Blumen in mein Zimmer stellen lassen?

Blumen? Ich muß gestehen … Hat man Ihnen Blumen –

Verzeihen Sie! sagte Frau Anderson. Ich habe mir auch wirklich zuviel eingebildet.

Die Poesie stieg dem Generalkonsul zu Kopfe infolge dieser geheimnisvollen Blumen, und er brach in die Worte aus:

Gott, ich hätte es tun sollen. Wir alle sollten es tun. Tag für Tag.

Ich liebe Blumen, sagte sie. Aber ich bin zu arm, um mir welche kaufen zu können.

Es traf sich so, daß sie verschiedenes aus ihrem Leben zu erzählen begann, und daß der Generalkonsul ein Gleiches tat. Nie zuvor war er einem Fremden gegenüber so mitteilsam gewesen. Es endete damit, daß er sich ganz und gar zum Narren machte.

Frau Anderson sagte:

Aber Sie sind ja verheiratet, Herr Generalkonsul!

In der Liebe bringt es mehr Glück, vorwärts als rückwärts zu schauen, erwiderte er und seufzte.

Und am folgenden Tage saß beim Mittagessen der Generalkonsul da und war verlegen und fieberhaft gestimmt; ein kleines Gedicht trug die Schuld, das er in Frau Andersons Serviette hineingeschmuggelt hatte. Als sie es fand und es durchzulesen begann, wendete er sich an seinen Nebenmann mit den Worten:

Puh, heute ist es hier wärmer als je!

Man flüsterte sich zu, daß zweifellos der Etatsrat, der alte Kahlkopf, es sei, der die Rosen in Frau Andersons Zimmer hätte setzen lassen. Aber der jungen Dame selbst gegenüber leugnete er es ab.

Nein, nein, ich bin's nicht gewesen, sagte er. Und ich habe nichts zu gestehen.

Die junge Frau sah ihn plötzlich erstaunt an. Sie zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe, diese zwei feinen Blutegel, die sich mit den Schnauzen berührten, und sagte:

Nein, wie hübsch Sie das sagen! Ihre Stimme war wie ein Harfenbaß. Singen Sie, Herr Etatsrat?

Na … das nun nicht gerade, das heißt, ein bißchen hat man ja auch mitgemacht.

Wie ein junger Mann war er. Gewiß hatten ihn die gesunde Luft und das Meer so kernig und feurig gemacht.

Die Frau Etatsrat schickte nach ihm, aber er wich nicht vom Platze.

Ich gehe nicht, sagte er. Man lasse mir doch mein bißchen Frieden. Ach, was will man denn von mir?

Und Frau Anderson nickte und nahm seine Partei: Gewiß, er könne doch sitzen bleiben.

Wir können ja von Geschäften sprechen, sagte sie. Dann dürfen Sie gewiß bleiben.

Ja, mit Ihnen machte ich gern ein Geschäft, gnädige Frau. Lassen Sie hören! Ja, lassen Sie's bloß zu einem kleinen Geschäft zwischen uns kommen!

Nicht zu einem großen Geschäft?

Doch, auch zu einem großen Geschäft. Je größer, desto besser – ha–ha–ha. Gott segne Sie!

Aber Frau Anderson meinte ganz im Ernste: sie wollte sein Leben versichern, ihn assekurieren.

Ach so, sagte der Etatsrat verblüfft. Die gnädige Frau ist Agentin?

Sehen Sie, das war vor ein paar Jahren. Ich mußte meinem Manne verdienen helfen. Was sollte ich anfangen? … Und sie erklärte weiter, daß sie ihn nicht hochnehmen wolle; die Versicherungssumme brauche nicht groß zu sein.

Ja, sagte der Etatsrat, wenn schon, dann auch für eine große Summe. Und vielleicht ist's überhaupt nicht unklug, sich versichern zu lassen.

Ich werde die Papiere meinem Mann nach Hause zur Unterschrift schicken, sagte Frau Anderson. Der Form wegen muß der Arzt Sie untersuchen, trotzdem Sie gesund wie ein Jüngling sind. Der Arzt der Gesellschaft wird unverzüglich kommen.

Als der Etatsrat seiner Frau begegnete, sagte er kurz und bündig:

Ich hatte Geschäfte abzuwickeln und konnte nicht abkommen. Was willst du von mir?

Du hattest Geschäfte abzuwickeln? Mit ihr?

Ich habe mein Leben versichern lassen. Es hat seine ungemeine Bedeutung, versichert zu sein. Sie vertritt die beste Gesellschaft.

Die schlechteste Gesellschaft, war die zweideutige Antwort der Etatsrätin, die schlechteste Gesellschaft vertritt sie.

Der Etatsrat freute sich, daß er sich der Frau Anderson hatte gefällig erweisen können. Er selbst hielt darauf, daß die Angelegenheit so schnell wie möglich erledigt werde, und als der Arzt aus dem Nachbarland erschien, ging der Etatsrat in bester Laune zur Untersuchung.

Natürlich fehlte ihm nichts, nicht das geringste.

Frau Anderson gab ihm die Hand und bedankte sich bei ihm.

Habe ich Ihnen denn wirklich einen Gefallen damit erwiesen? fragte er.

Einen großen Gefallen. Eine Hilfe. Ich möchte nicht gern mehr sagen.

Da ließ der Etatsrat das Aller-, Allerbeste in seiner Natur siegen, und er sagte:

Ich glaube eigentlich, daß ich auch den Generalkonsul dazu veranlassen könnte, dasselbe Geschäft mit Ihnen zu machen, wenn Ihnen daran gelegen ist.

Da nannte Frau Anderson ihn Wohltäter und Freund. Sie sah sich in demselben Augenblick ringsum und errötete wundersam auf beiden Wangen.

Ich meine, wir könnten das jetzt gleich erledigen, solange der Arzt der Gesellschaft hier ist, sagte der Etatsrat zum Generalkonsul, wir tun gewiß ein sehr gutes Werk damit. Nicht etwa, daß sie es direkt gesagt hätte; aber …

Mir hat sie geradezu gesagt, daß sie arm ist, entgegnete der Generalkonsul. Sie tut mir herzlich leid. Ein wunderschönes Kind, gefährliche Augen.

Der Dichter ging mit ihm durch, er wollte nicht zurückstehen, sondern sich für eine ebenso hohe Summe wie der Etatsrat versichern lassen. Er hatte außerdem noch einen kleinen privaten Grund, der Frau Anderson diesen Gefallen zu erweisen: sie hatte ihm kürzlich für sein Gedicht mit so überquellendem Gefühl gedankt, daß man es nicht gut anders als eine Entladung hatte nennen können. Der Dichter rumorte weiter in ihm, und er sagte:

Wie, wenn wir auch unsere Frauen versichern ließen?

Was, unsere Frauen? fragte der Etatsrat. Nein, das geht nicht, ich bringe meine nicht dazu. Sie wissen: die Untersuchung. Nie und nimmermehr.

Ich meinerseits bin der Ansicht, daß wir beinahe dazu verpflichtet sind.

Es entstand eine Pause. Der Etatsrat dachte stark nach.

Sie muß es tun! rief er dann plötzlich. Ich gehe sofort zu ihr.

Selten hatte die Etatsrätin ihren Mann so bestimmt auftreten sehen, er duldete keinen Einwand. Wir sind dazu verpflichtet! sagte er schließlich mit den Worten des Generalkonsuls.

Dazu verpflichtet?

Da spielte der Etatsrat den Geistesgegenwärtigen und Verschmitzten, er verrannte sich ganz und gar nicht, nickte vielmehr ein feierliches Nicken und sagte:

Ja, wir müssen es tun. Wir haben eine Tochter, von der wir einmal fort müssen.

Und trotzdem die Tochter bereits mit zwei Millionen verheiratet war, ließ sich kein, gar kein Einwand erheben gegen diese Feierlichkeit …

Der fremde Arzt hatte die Hände voll zu tun, um die vielen vornehmen Herrschaften inwendig und auswendig zu untersuchen und ihnen Atteste auszustellen, ihrem Zustande gemäß. Er war ein junger, dunkeläugiger Mann in hellgrauem Anzug. Der Löwe Oxentand konnte sich neben ihm nicht behaupten, sondern wurde zu einem Nichts in den Tagen, als der fremde Arzt sich in dem Pensionat aufhielt. Anfangs machte er den Versuch, gleichgültig zu bleiben – als aber auch Frau Trampe, die Schönheit, stärkeren Glanz in die Augen bekam, wenn sie den Arzt sah, da verlor der gute Löwe den Kopf.

Gespielt haben Sie mit mir, sagte er zu Frau Trampe. Er sagte es täglich und wiederholte seine Vorwürfe.

Eines Tages antwortete sie ihm ohne Umschweife – denn sie war seiner überdrüssig:

Ich habe nicht mit Ihnen gespielt. Aber ich liebe Sie nicht so, wie Sie es gern hätten. Und was sollte denn auch daraus werden? Ich bin verheiratet, bedenken Sie das.

Sie hätten damit anfangen sollen, mir das zu sagen, erwiderte er. Aber damit haben Sie ganz im Gegenteil nicht angefangen.

Aber recht, recht gute Freunde wollen wir sein, nicht wahr? fuhr sie fort.

Da lachte der Löwe.

Und Sie wollen mir wie eine Schwester sein, heißt's nicht so? …

Sie war in den Arzt verloren und sprach des Abends im Garten mit ihm.

Ich kenne jemand, der glücklicher sein könnte, sagte sie und wurde sprühend rot.

Aber nicht Sie sind das?

Doch, ich bin es. Sie sind Arzt und verstehen es. Es ist so gefährlich, auf dem Lande zu sein und kerngesund zu werden von der Luft und dem Meer. Und hier ist keiner, mit dem man reden könnte. Hier war keiner, bevor Sie kamen.

Der Löwe Oxentand ging vorüber. Er schien nach jemand zu suchen, um ihn zu erschlagen.

Diese Frau Anderson kann mit Ihnen zusammen sein, wann sie will, sagte Frau Trampe.

Der Doktor lachte:

Nur in geschäftlichen Angelegenheiten. Wir versichern die Leute. Sie verdient Geld wie Heu … Lassen Sie mich mal Ihren Ring sehen. Geben Sie mir doch Ihre Hand. Nicht? Bloß einen Augenblick?

Nein, das wage ich nicht. Tut Frau Anderson es? … Gut, nun lege ich meine Hand in die Ihre, als ob ich in etwas einwilligte. Aber lieber Gott, ich tu' es nicht, ich willige in nichts ein, verstehen Sie mich recht. Aber, mein Bester, was tun Sie da?

Sie zog ihre Hand zurück.

Aber er hatte sie vorher geküßt.

Wie fein und warm Ihre Hand ist! sagte er.

Und Frau Anderson ging vorüber. Wurde die Eifersucht in ihr wach? Ihre Augen schimmerten so seltsam herüber, als sie die beiden sah. Frau Anderson setzte stolz ihren Weg fort; doch als der Löwe Oxentand auf der Veranda saß und sie anzureden begann, da kam sie ihm mit ungewöhnlichem Eifer entgegen. Und sie blieben sitzen in langem, fieberhaftem Gespräch, als hätten sie beide Grund, den zweien im Garten zu zeigen, daß sie einander gefunden hätten.

Frau Anderson hatte keine Furcht mehr vor den Rechnungen. Sie bezahlte in dem Pensionat, als wäre die kleine Schuld ein Nichts gewesen, ein Trinkgeld, das von den großen Versicherungsprämien abfiele. Und der Etatsrat warf an dunklen Abenden große Blumensträuße in ihr Fenster. Sicherlich stand sie hier bei allen Frauen in höchster Ungnade; aber daraus machte sie sich nichts. Sie schien ein Herz von Stein zu haben gegenüber allen, mit Ausnahme derer, für die sie Interesse gefaßt hatte. So verfügte sie über kein Mitgefühl mit ihrem unglücklichen Konkurrenten, dem Versicherungsagenten Anderson. Er war ein Hornvieh, er hielt sich nicht an die Herzen. Aus den wenigen Worten, die sie mit ihm gewechselt hatte, konnten die Umstehenden hören, was die beiden einander gönnten: nichts. Tod und Vernichtung.

Agent Anderson sah aus wie eine einzige gefährliche Verschwörung.

In einer warmen Nacht hatte der Etatsrat sich einmal zum Fenster hinausgelehnt, um sich abzukühlen. Es war finster, und er hörte nur das leise Rauschen der Bäume im Garten. Er hatte den Einfall, ein Auge auf Frau Andersons Fenster im Erdgeschoß zu haben: daß sie geschlossen seien, daß die Lampe gelöscht sei, und daß sie selber schlafe. Da hörte er im Dunkeln ein Fenster sich öffnen, es ist eins von Frau Andersons Fenstern, und ein Mann springt auf die Erde hinunter. Der Etatsrat verspürte ein bösartiges Stechen, und er konnte in dieser Nacht nicht schlafen.

Am Morgen trug er sein fürchterliches Geheimnis wie ein Mann, später am Tage aber ließ er ab von dem Kampf in der Stille. Er begab sich zu Frau Milde und erzählte ihr die Sache.

Es stellte sich heraus, daß diese beiden Pensionsgäste, die sich erst hier kennengelernt hatten, schon weit vorgeschritten waren im gegenseitigen Verstehen. Es war wohl die gesunde Luft, die so Großes vollbracht hatte.

Was geht Frau Anderson dich an, du Lieber! sagte Frau Milde.

Ich ertrag' es nicht! erwiderte der Etatsrat. Man muß in der Nacht seinen Frieden haben!

Frau Milde warf sich ihm um den Hals und weinte und beschwor ihn, nur an sie und wieder an sie zu denken. An niemand sonst. Etwas andres ertrüge sie nicht.

So–so–so! sagte der Etatsrat. Jawohl, nur an dich. Aber … Gewiß, ich sag' es ja, nur an dich.

Aber Frau Milde weinte weiter und machte ihm Vorwürfe, er lasse Tag auf Tag vergehen, und sie treffe ihn nicht. Und sie sagte: Diese fremde Frau hat es dir angetan, und du willst nichts wissen von mir.

Kannst du mir übrigens Auskunft geben, wer der Schlingel ist, den sie des Nachts empfängt? sagte der Etatsrat mitten aus seinen Gedanken heraus.

Da brach Frau Milde los:

Siehst du, nun hast du schon wieder an sie gedacht! Nein, ich halt's nicht aus!

Eine gute halbe Stunde mußte der Etatsrat bei ihr bleiben und sie hätscheln und alles mögliche tun, um ihre gute Laune wieder herzustellen. Bevor er ging, sagte er indessen ganz würdevoll:

Ich glaube, es muß noch dazu kommen, daß wir zwei mehr wie Bruder und Schwester zueinander werden.

Und es war merkwürdig genug, Frau Milde hatte sich dermaßen besänftigt, daß sie die Worte des Etatsrats ohne Tränen anhören konnte. Sie lehnte sich ins Sofa zurück und fiel kurz darauf in ein regelrechtes Schläfchen.

Aber der Etatsrat ging mit seinem Geheimnis weiter zum Generalkonsul. Es war nun auch eine Dummheit von ihm gewesen, sich in solch einer Angelegenheit an Weiber zu wenden.

Nicht Sie hab' ich im Verdacht, daß Sie der Mann heute nacht gewesen seien, sagte er zum Generalkonsul. Und Sie werden's von mir nicht annehmen.

Nein, in alle Ewigkeit nicht, sagte der Generalkonsul in poetischem Überschwang.

Und beider Augen wurden blank vor gegenseitigem Vertrauen.

Sie verhandelten die Sache und rieten auf den Löwen Oxentand als den Täter. Der Etatsrat wurde dazu bestellt, auf die Fenster der verlockenden Frau auch weiterhin ein wachsames Auge zu haben.

Es ist und bleibt verdrießlich, sagte der Etatsrat, daß dieser Oxentand Zutritt zu ihr finden soll. Und dabei sind wir es doch, Sie und ich, die ihre wahren Freunde gewesen sind.

Wenn es Oxentand ist, werde ich mit der Wirtin sprechen, sagte der Generalkonsul. Er soll aus dem Hause. Ich dulde das nicht.

Der Etatsrat antwortete:

Ich ebensowenig. Ich habe kein Auge zugetan heute nacht …

Besagter, der Löwe Oxentand, gab auch wirklich Grund zu starkem Verdacht. Frau Anderson tat es ihm mehr und mehr an, und er bedachte sie in aller Gegenwart mit süßen Redensarten. Und seine vorige Liebe, die Schönheit, glitt mehr und mehr in den Schatten für ihn.

Er zog Otto Mengel, den Grossisten, außer Hörweite und begann mit ihm von Geld zu sprechen, von mehr Geld, einem neuen Darlehen.

Nein, sagte der Wucherer, es läuft zu hoch auf. Sie haben gewiß Schwierigkeiten genug mit dem, was ich Ihnen schon gegeben habe.

Nicht im geringsten. Da irren Sie sich. Außerdem stirbt mein Onkel bald. Ich habe eben einen Brief bekommen: er stirbt in allernächster Zeit.

Ja, wir wollen's hoffen! sagte Otto Mengel.

Aber er wollte dem Löwen nicht mehr helfen.

Und es kamen peinliche Tage für den Löwen. Er hatte angekündigt, er wolle sich bei Frau Anderson versichern lassen, und konnte nun nicht Wort halten. Schließlich bekam er eines Tages ein Telegramm, daß der Onkel tot wäre, und der Grossist Otto Mengel war nun gleich mit dem Gelde bei der Hand. Aber so etwas an märchenhaften Zinsen hatte der Löwe noch nicht bezahlt. Und doch schwieg er zu allem, denn er selbst hatte das Telegramm geschrieben.

Dann geschieht es in einer dunkeln Nacht, daß sich wieder eins von Frau Andersons Fenstern öffnet und ein Mann herausspringt. Der unglückselige Etatsrat Adami liegt da oben auf der Lauer und kann das Ganze sehen, aber nichts, gar nichts andres anfangen. Am Morgen aber nahm er den Generalkonsul mit und untersuchte die Spuren unter Frau Andersons Fenster.

Aparte Spuren sind's, sagte der Generalkonsul.

Sie stammen von Stiefeln mit Eisenbeschlägen unter den Absätzen, so wie die Bauern sie haben, sagte der Etatsrat.

In der nächsten Nacht leuchteten sie auf alle die Schuhe, die zum Putzen in die Korridore hinausgesetzt waren, und sie fanden ein Paar mit Absatzeisen: es waren die Schuhe des Versicherungsagenten Anderson.

Noch nie hatte die zwei alten Herren so ein Erstaunen gepackt. Aber beide waren empört und wollten es nicht länger dulden. Im Laufe des Morgens gaben sie dem Agenten ein paar kleine Winke, und auch der leichtsinnigen Frau wollten sie ein bißchen Quälerei nicht ersparen.

Es waren Leute vor Ihrem Fenster heute nacht, sagte der Etatsrat.

Ja, sagte auch der Generalkonsul, gerade vor Ihrem Fenster. In der tiefen, dunkeln Nacht.

Was sagen Sie! erwiderte Frau Anderson, waren es Diebe?

Ein Mann von gedrungener Gestalt. Dreißigjährig. In dunklem Anzug. Mit Absatzeisen unter den Stiefeln, wie die Bauern sie tragen.

Ich getrau' mich nicht mehr, in dem Zimmer zu schlafen.

Und sie sollte auch keine Gelegenheit mehr haben, in dem Zimmer zu schlafen.

Im Laufe des Tages war Frau Anderson nirgends zu finden, ihr Platz am Mittagstisch stand leer. Daneben stand noch ein leerer Stuhl: der Stuhl des Versicherungsarztes. Wo sind sie geblieben, wo können sie nur geblieben sein? fragten alle und jeder. Aber Versicherungsagent Anderson aus dem Nachbarland biß in seinen Schnurrbart und war firm und fest anzusehen wie eine große Verschwörung.

Seine Mienen wurden keineswegs milder, als die Wirtin ihn auf ihr Kontor berief und ihm mitteilte, daß man ihn in der Nacht das Zimmer der Frau Anderson durchs Fenster habe verlassen sehen.

Und was weiter? sagte Anderson.

Der Herr Direktor sollen abreisen, sagte die Wirtin. So etwas wird in meinem Hause nicht geduldet.

Anderson murmelte:

Wenn das nur das Ärgste wäre, daß ich in ihrem Zimmer war und jetzt abreisen soll.

Ich habe nach einem Wagen für Sie geschickt.

Aber das Ärgste ist, daß sie jetzt abgereist sind, fuhr Anderson fort. Und können Sie mir vielleicht sagen, wohin sie gereist sind?

Darin kann ich Ihnen nicht dienen, erwiderte die Wirtin.

Anderson sprach mit sich selber:

Mißtraut hatte ich ihnen schon lange. Aber ich hoffte, daß sie sich bezähmen würde hier an dem fremden Ort.

Es kommt mir so vor, als wären Sie es, der sich nicht hat bezähmen können.

Anderson begann erregt zu werden und erwiderte: Ich mußte zu ihr hinein, um die Papiere fertig zu machen, ich mußte die Policen unterschreiben. Begreifen Sie nun?

Was haben Sie mit den Policen der Frau Anderson zu tun? Sie ist doch eine fremde Dame für Sie.

Die? Eine fremde Dame? Meine Frau ist sie, und weiter nichts.

Ihre Frau? fragte die Wirtin mißtrauisch.

Sie war meine Frau! schrie Agent Anderson. Hier hab' ich mich abgeplagt und bekam kein Geschäft zustande, da schrieb ich ihr, sie solle kommen. Und nun ist sie mit dem Doktor auf und davon. Hintergangen haben mich die zwei; sie haben alles Geld mitgenommen.

Da schwieg die Wirtin eine volle Minute lang und dachte über die Sache nach. Sie hatte noch einen kleinen Verdacht.

Seine eigene Frau kann man ja am Tage besuchen, sagte sie und nahm einen kleinen Anlauf.

Kann man seine eigene Frau nicht auch in der Nacht besuchen? fragte Anderson verbittert …

Nun durchfuhr das ganze Pensionat ein Chok, alle Herren merkten, daß die listige Frau sie hinters Licht geführt hatte. Agent Anderson legte ein Papier nach dem andern vor und bewies, daß die Dame seine Ehefrau war. Das mußte als unzweifelhaft gelten, und sie hatten beim Versichern des halben Pensionats gemeinschaftlich gehandelt. Der Löwe Oxentand hätte seine Lebensversicherung am liebsten annullieren mögen, aber er mußte den Mund halten, des unseligen Telegramms wegen. Etatsrat Adami und der Generalkonsul drohten Anderson mit einer Anzeige.

Bitte, tun Sie's! erwiderte der Agent. Sie haben sich bei mir versichert, die Policen sind in Kraft, mein Name hat sie gültig gemacht.

Und Agent Anderson brauchte das Pensionat nicht einmal Hals über Kopf zu verlassen, wie ursprünglich verlangt worden war. Alle Herren verurteilten den Geschäftskniff, die eigne Frau als Zwischenhändler zu verwenden; aber die Damen nahmen für den Agenten Partei und begannen, ihm das Leben durch weitgehendes Mitgefühl erträglicher zu machen. In der Freude darüber, daß die gefährliche Frau verschwunden war, gingen sie sogar so weit, daß sie dem Agenten in seinem Mißgeschick direkt Trost zusprachen.

Sie wird schon wiederkommen! sagte Frau Milde. Sie wird einsehen lernen, daß Sie und kein andrer in der ganzen Welt der Rechte sind. So geht mir's wenigstens mit meinem Manne.

Und auch Frau Trampe, die Schönheit, die der dunkeläugige Versicherungsarzt elendiglich hinters Licht geführt hatte, erklärte, daß es auch ihr nicht anders mit ihrem Manne gehe, ja, daß er der einzige auf Gottes Erdboden sei …

Aber Agent Anderson trauerte auf seine eigne Art.

Natürlich kommt sie wieder, sagte er. Ich erwarte sie, denn sie ist so tüchtig im Versicherungswesen. Aber brennt sie noch einmal mit den Prämien durch, so kommt sie mir zu teuer zu stehen, sagte er.

Drei Wochen darauf traf denn auch ein Brief von der durchgebrannten Frau ein, daß sie sich ihm jetzt zu Füßen werfe und auf ihres Mannes Schwelle kniefällig Vergebung erbitte. Und ihre Augen seien voll Tränen, so stand da. Und nach dem Doktor frage mich nicht, stand weiter da, denn der ist davongereist auf Nimmerwiedersehn.

Agent Anderson mußte unwillkürlich nicken:

Was hab' ich gesagt! Ist sie vielleicht nicht wiedergekommen! Aber tut sie's noch einmal und nimmt sie die Kasse mit, so lass' ich einen Steckbrief hinter ihr los.

Und Agent Anderson reiste nach Hause.

Am gleichen Abend ging Frau Trampe, die Schönheit, umher und rang die Hände vor lauter Gesundheit. Sie hatte Zeit gehabt, den Doktor zu vergessen und ihre Gefühle für den Löwen Oxentand wieder aufleben zu lassen. Und da der Löwe Oxentand gleichfalls wieder vollständig genesen war, dank der Landluft und dem Meere, so erfreuten die beiden sich aneinander wie nie zuvor.

Er schlang die Arme um sie und sagte:

Nun können Sie meiner ewigen Liebe nicht länger entgehen.

Sie hatte keine abweisende Antwort zur Hand, sie lächelte und flüsterte: In wonniger Sommerzeit … Und kein Nein entschlüpfte ihrem Munde.

Etatsrat Adami sah keinen Ausweg, als ausschließlich zu Frau Milde zurückzuflüchten. Doch die nahm Rache an ihm, und das gehörig, weil er einmal in seiner Raserei bloß ihr Bruder hatte sein wollen: zwei Abende lang sah und hörte sie keinen andern als den poetischen Generalkonsul. Erst am dritten Abend sagte sie: Zur Probe! und ließ alles wieder gut sein zwischen sich und dem Etatsrat.


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