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Eine Straßenrevolution

Eines Morgens im Sommer 1894 wurde ich von dem dänischen Schriftsteller Sven Lange geweckt, der in mein Zimmer in der Rue de Vaugirard trat und sagte, jetzt sei Revolution in Paris ausgebrochen.

Was? Revolution?

Die Studenten haben jetzt die Sache in die Hand genommen und machen Revolution in den Straßen.

Ich war schläfrig und wütend und sagte:

Richten Sie einen Wasserschlauch auf die Kerle und spritzen Sie sie von den Straßen herunter.

Hierüber aber wurde Sven Lange ärgerlich, denn er nahm die Partei der Studenten, wurde verdrießlich und ging.

Die »Sache«, die die Studenten in die Hand genommen hatten, war folgende:

Der Verein oder die Gesellschaft »Die vier schönen Künste« wollte einen Ball in dem Vergnügungslokal Moulin Rouge abhalten. Die vier Damen, die auf diesem Ball die vier schönen Künste personifizieren sollten, traten so gut wie nackt auf, sie hatten eigentlich nur ein seidenes Band um die Taille. Nun ist die Pariser Polizei langmütig und an allerlei gewöhnt, hier aber trat sie dazwischen, der Ball wurde untersagt und das Etablissement geschlossen.

Hiergegen erhoben die Künstler Protest. Die Studenten im ganzen Quartier Latin nahmen die Partei der Künstler und erhoben ebenfalls Protest.

Ein paar Tage später ging eine kleine Polizeipatrouille den Boulevard St. Michel hinab, vor einer der zahlreichen Kneipen sitzen einige Studenten, die der Patrouille im vorübergehen höhnische Bemerkungen zurufen. Die Pariser Polizei ist langmütig und an allerlei gewöhnt, jetzt aber wird der eine Konstabler wütend, er nimmt einen schweren Streichholzbehälter aus Stein, der draußen auf einem Tisch am Boulevard steht, und schleudert ihn nach dem Unruhstifter. Er zielt indessen schlecht, der Behälter fliegt durch das Fenster in die Kneipe hinein und trifft einen ganz harmlosen Studenten an den Kopf, so daß das unglückliche Opfer auf der Stelle tot ist.

Und da geschah es, daß die Studenten die »Sache« in die Hand nahmen …

Als Sven Lange sich entfernt hatte, stand ich auf und ging aus. Große Unruhe in den Straßen, eine Menge Leute, Polizisten zu Pferd und zu Fuß. Ich drängte mich durch, erreichte mein Restaurant, frühstückte, zündete mir eine Zigarette an und wollte wieder nach Hause gehen. Als ich aus dem Restaurant herauskam, war die Unruhe und die Volksmenge noch gewachsen. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten, war jetzt auch die Nationalgarde zu Fuß und zu Pferd ausgerückt. Als diese sich zuerst auf dem Boulevard St. Germain zeigte, wurde sie mit Johlen und Steinwürfen vom Volk empfangen. Die Pferde bäumten sich, schnoben, waren nicht zu halten. Das Volk zertrümmerte den Asphalt der Straßen und benutzte ihn als Wurfgeschoß.

Ein Mann fragte mich ganz empört, ob ich fände, daß es jetzt Zeit sei, eine Zigarette zu rauchen. Ich ahnte gar nicht, daß so große Gefahr vorhanden war; verstand auch nur wenig oder gar kein Französisch, so war ich gewissermaßen entschuldigt. Der Mann aber rief mit verzweifelter Gebärde:

Revolution! Revolution!

Da warf ich die Zigarette weg.

Jetzt waren es nicht mehr die Studenten und Künstler allein, die auf den Beinen waren, die Hefe von Paris zu Zehntausenden war herbeigeströmt, Lazzaroni, Müßiggänger, gescheiterte Existenzen. Sie kamen aus allen Ecken der Stadt, tauchten aus den Seitenstraßen auf und mischten sich unter die Menge. Mehr als ein anständiger Mensch büßte seine Uhr ein.

Ich ließ mich von dem Strom treiben. Das Kreuz, das die beiden Boulevards St. Michel und St. Germain bilden, war der Brennpunkt für den Tumult, und dort schien es außerordentlich schwer, die Ordnung aufrechtzuhalten. Das Volk tat lange Zeit, was es wollte. Ein Omnibus kam von dem andern Seine-Ufer über die Brücke; als er auf dem Platz St. Michel haltmachte, trat ein Mann aus der Menge hervor, lüpfte den Hut und sagte:

Meine Damen und Herren, wollen Sie gefälligst aussteigen?

Und die Fahrgäste stiegen aus.

Dann wurden die Pferde ausgespannt und der Omnibus unter lautem Jubel mitten auf der Straße umgestürzt. Der nächste Omnibus erfuhr dasselbe Schicksal. Die Straßenbahnen, die vorüberkamen, wurden angehalten und ebenfalls umgestürzt, und bald zog sich eine hohe Barrikade quer über die Straße von einem Bürgersteig bis zum andern. Der Verkehr stockte, Leute, die weiter wollten, konnten sich nicht hindurcharbeiten, sondern wurden von der wogenden Menschenmenge mit fortgerissen, aus ihrem Wege geführt, tief in Seitenstraßen hineingedrängt oder gar durch die verriegelten Türen in die Häuser hinein.

Ich war wieder ungefähr bis zu meinem Ausgangspunkt, dem Restaurant, zurückgeführt, ich wurde weitergetrieben, immer weiter, bis ich an ein hohes, schwarzes, eisernes Gitter kam, das ein Museum umschloß – hier klammerte ich mich fest. Man riß mir fast die Arme vom Leibe, aber ich hielt stand. Plötzlich ertönte ein Schuß, und noch einer. Eine Panik bemächtigte sich der Menge, sie stürzte sich unter fürchterlichem Geschrei in die Seitenstraßen; gleichzeitig benutzte die Polizei die Gelegenheit, in verschiedenen Richtungen dem Pöbel nachzureiten, ihn niederzutrampeln, mit dem Säbel um sich zu hauen.

In diesem Augenblick hatte man eine Empfindung von Krieg.

Ich war so glücklich, mich am Gitter halten zu können, wo jetzt kein Gedränge mehr stattfand. Ein Nachzügler kam atemlos auf mich zu, wahnsinnig vor Angst. Er hielt seine Visitenkarte in die Höhe, er preßte mir die Karte in die Hand und flehte um Gnade, er glaubte, ich wollte ihn töten. Auf der Karte stand: Dr. Hjohannes. Während er vor mir stand, zitterte er wie Espenlaub. Er erklärte mir, er sei Armenier und befinde sich auf einer Studienreise in Paris, sonst sei er Arzt in Konstantinopel. Ich schonte sein Leben und nahm es ihm nicht. Ich entsinne mich des Mannes noch ganz genau, namentlich seines ganz verstörten Gesichts mit dem schwarzen, spärlichen Bart und den großen Zwischenräumen, die zwischen den Zähnen in seinem Oberkiefer waren, obwohl er keinen Zahn verloren hatte.

Es verlautete jetzt, die Schüsse seien aus einem Schuhladen gekommen, oder eigentlich aus der Werkstatt darüber. Es seien »italienische« Arbeiter, die auf die Polizei geschossen hätten – natürlich waren es Italiener, denen man die Schuld gab. Jetzt kehrte der Mut bei der Menge zurück, und diese strömte wieder auf den Boulevard. Die reitende Polizei versuchte jetzt, den Brennpunkt gegen weitere Zuströmung von Menschen aus anderen Teilen der Stadt durch einen Kordon abzusperren: sobald die Menge diesen Trick bemerkte, fing sie an, die Fenster in den Zeitungskiosken zu zertrümmern, die Gaslaternen mit Steinen einzuwerfen und die eisernen Stangen zu entfernen, die die Kastanienbäume auf den Boulevards beschützen, alles, um der Polizei anderes zu schaffen zu machen, als die Strecke abzusperren. Als dies nichts nützte, galt es, die sich bäumenden Pferde der Polizei bis aufs äußerste zu erschrecken, deswegen wurden die Barrikaden aus den umgestürzten Omnibussen in Brand gesteckt. Man fuhr auch noch immer fort, das Asphalt zu Wurfgeschossen aufzubrechen, und da dies ein schweres Stück Arbeit war und der Bedarf keineswegs gedeckt wurde, so griff man nach anderen Auswegen. Die zerbrochenen eisernen Stangen um die Kastanienbäume wurden in kleine Stücke zerhauen, man riß das Holzwerk der Treppengeländer nieder, und bald kam auch die Reihe an mein eigenes, großes, schönes Eisengitter. Und dann warf man und schrie und zerstörte und floh und kehrte zurück.

So vergingen die Stunden.

Da wurden die Aufrechterhalter der Ordnung durch Truppen aus Versailles verstärkt. Ein Chok ging durch die Menge. Die Polizei und die Nationalgarde hatte man verhöhnt und ihr alles erdenkliche Böse zugefügt, sobald sich aber die Truppen zeigten, rief das Volk aus: Es lebe die Armee! Es lebe die Armee! Und die Offiziere griffen an die Mütze und dankten für die Huldigung. Kaum aber waren Offiziere und Soldaten vorübergeritten, als das Treiben mit der Polizei und den Fensterscheiben und dem Gitterwerk von neuem begann und derselbe Zustand wieder eintrat.

Und es wurde Abend.

Da schrien die Studenten:

Bespuckt Lozé!

Lozé war der Polizeipräfekt. Und nun ordnete sich ein unermeßlicher Zug, der nach dem Hotel des Polizeipräfekten wollte, um Lozé »zu bespucken«. Der Zug setzte sich in Bewegung. Und die zurückgebliebenen Tausende setzten ihre Ausschreitungen fort.

Da es so schien, als wenn es heute nicht mehr viel zu sehen geben würde, begab ich mich wieder in mein Restaurant, aß und kehrte auf einem langen, langen Umweg heim …

Aber die Tage vergingen, und die Tumulte nahmen ihren Fortgang.

Gleich wenn man aus seinem Zimmer und auf die Straße hinauskam, sah und hörte man ungewöhnliche Dinge. Eines Abends wollte ich wieder nach meinem Restaurant gehen, um zu essen. Es regnete ein wenig, und ich nahm den Regenschirm mit. Ungefähr auf halbem Wege wurde ich von einer Bande angehalten, die beschäftigt war, eine zeitweilig aufgestellte Balustrade niederzubrechen, die die Vorübergehenden verhindern sollte, in eine Vertiefung der Straße hinabzustürzen. Die Balustrade war aus Balken und Brettern. Ich wurde in sehr bestimmtem Ton ersucht, bei dem Herunterreißen behilflich zu sein, ich sähe stark aus und müsse zu gebrauchen sein. Ich wußte, es würde nichts helfen, mich zu widersetzen, und so antwortete ich denn, ich würde entzückt sein, ihnen behilflich sein zu können. Und dann fingen wir an zu brechen und niederzureißen. Es nützte aber nichts, wir waren vielleicht fünfzig Mann, aber wir arbeiteten nicht im Takt und konnten der Balustrade nicht Herr werden. Da kam ich auf den Einfall, einen Rufgesang anzustimmen, wie ihn die norwegischen Steinbrecher zu brüllen pflegen. Das half. Bald fing es an, in den Planken zu knacken, und nach einer Weile stürzte die Balustrade zusammen. Da schrien wir Hurra!

Ich wollte meinen Weg nach dem Restaurant fortsetzen. Da kommt ein zerlumpter Mann gegangen und nimmt ohne weiteres meinen Regenschirm, den ich hingestellt hatte, und spaziert damit von dannen. Er wollte ihn nicht wieder ausliefern, er sagte, es sei sein Regenschirm. Ich schaffte Zeugen unter meinen Kameraden bei der Balustrade herbei, die bestätigen mußten, daß ich diesen Schirm bei mir hatte, als ich kam.

Ja, sagte der Mann. Aber ist denn nicht Revolution?

Da schwiegen meine Genossen und ließen den Mann Recht bekommen.

Das wollte ich jedoch nicht, ich nahm ihm den Schirm mit Gewalt ab, und da sich dies nicht glimpflicher machen ließ, als daß wir beide, der Mann und ich, kopfüber auf die Straße rollten, fing der Mann an, um Hilfe zu schreien. Die Genossen kamen abermals herbei, und als der Mann sich beklagte, daß ich ihn überfallen habe, antwortete ich:

Ja freilich! Aber ist denn nicht Revolution?

Und dann nahm ich meinen Schirm und ging …

Des Abends, wenn ich meine Tagesarbeit beendet hatte, ging ich gewöhnlich aus und wohnte den Tumulten in angemessener Entfernung bei. Die Straßen waren sehr dunkel, fast alle Glaslaternen waren zertrümmert, und die Gegend wurde daher im wesentlichen durch das Licht aus den Läden erleuchtet, die man aus Furcht vor Plünderung nicht ganz dunkel lassen wollte. Die Gardisten ritten auf den Bürgersteigen, ihre großen Pferde sahen aus wie Ungeheuer in dem nebligen Licht, und man hörte ununterbrochen, ununterbrochen das Getrampel der Hufeisen auf dem Asphalt und das Geheul irgendeiner Bande in den Seitenstraßen.

Inzwischen hatten die Studenten – als sie sahen, welch einen Umfang das Unwesen annahm – eine Proklamation erlassen, worin sie die Verantwortung für die stattgefundenen Zerstörungen und Verbrechen von sich wiesen. Es waren jetzt nicht mehr die Studenten, die gegen das Auftreten der Polizei auf dem Ball in der Moulin Rouge protestierten, sondern die Hefe von Paris, und die Studenten wollten jeden einzelnen auffordern, jetzt innezuhalten. Die Proklamation war in vielen Exemplaren erschienen und an den Bäumen am Boulevard angeschlagen.

Aber ihre vernünftigen Worte fruchteten natürlich nicht mehr im geringsten.

Die Menge hatte es auf die Polizei abgesehen. Man fuhr fort, in großen Zügen zur Polizeipräfektur zu marschieren und Lozé zu »bespucken«, man bewarf Polizisten überall, wo man ihrer habhaft werden konnte, mit Steinen und schoß auf sie, und als ein armer Konstabler eines Abends spät eine der Seinebrücken mit einer Order passieren wollte, wurde er von der Menge ergriffen und in den Fluß geworfen. Er trieb am nächsten Tage weit abwärts von Notre-Dame ans Ufer und wurde in die Leichenhalle gebracht.

Eines Abends trug sich auf dem Boulevard St. Michel etwas zu, das großes Aufsehen erregte. Ein Konstabler hatte sich ganz allein unter die Menschenmenge auf den Bürgersteig verirrt. Da zieht ein Herr eine lange Duellpistole aus der Tasche und erschießt den Konstabler auf der Stelle. Bei dem Knall sprengte die Polizei herbei, in größter Hast wurde gefragt und geantwortet und einige Verhaftungen vorgenommen. Aber den Schuldigen fand man nicht. Nachdem er die Pistole abgefeuert hatte, trat der Mörder ein paar hastige Schritte zurück, die Menschenmenge schlug über seinem Wege zusammen und er war für immer verschwunden. Aber der Herr war Ritter der Ehrenlegion, das hatten die Zunächststehenden gesehen. Und sie schienen auch zu wissen, wer er war, obwohl sie ihn nicht ausliefern wollten – ein Herr mit einem Namen, den ganz Paris kannte, den Frankreich, ja ein großer Teil der Welt kennt. Dieser Mann hat also an jenem Abend einen Menschen töten wollen: der Mord- und Revolutionsinstinkt der Franzosen war in ihm erwacht und in hellen Flammen aufgelodert …

Eines Abends wurde ich beim »Asphaltzertrümmern« angestellt. Ich kam ganz ruhig eine Straße hinabgegangen, wo ich sah, daß ein Haufe Menschen mit etwas beschäftigt war. Als ich nahe genug herangekommen war, wurde ich angerufen, man überreichte mir ein Brecheisen und stellte mich an. Eine Kompanie der Garde war in einiger Entfernung postiert, um die Straße abzusperren, und soweit ich verstehen konnte, handelte es sich darum, mit dem losgebrochenen Asphalt die Garde zu steinigen und sich Zutritt zu der verbotenen Straße zu erzwingen. Es war eine schändliche Sklaverei, in die ich hineingeraten war, und ich bereute bitter, nicht einen anderen Weg eingeschlagen zu haben. Jetzt gab es indes keinen Ausweg mehr, ich mußte Asphalt zertrümmern. Und ich war nicht der einzige bei dieser Arbeit, mehrere Brecheisen waren in Tätigkeit, und man löste sich gegenseitig ab. Der Pöbel stand da und schrie und beriet, was nun aus der Garde werden sollte: ach, es würde der Garde schlecht ergehen, es sollten nicht viele von der Garde am Leben bleiben!

Da hörten wir plötzlich, wie kommandiert wurde:

Fällt das Bajonett!

Wir sehen auf.

Dieselbe Stimme schrie:

Vorwärts mit dem Bajonett!

Und die Gardekompanie kam gerade auf uns zu.

Da warfen wir feige unsere Brecheisen hin und rannten davon. Du lieber Gott, wie wir rannten! Wir hinterließen dem Feind alle unsere Kugeln, all unseren köstlichen Asphalt und flohen. Jetzt kam es mir sehr zugute, daß ich lange Beine hatte und sie so gut wie nur ein Hase zu gebrauchen verstand, und ich muß es selber eingestehen, ich habe noch nie einen Mann so brillant fliehen sehen wie mich. Ich entsinne mich noch, daß ich einen kleinen Franzosen quer gegen eine Mauer rannte, mit einer solchen Gewalt, daß er umfiel und ein Röcheln von sich gab. Natürlich überholte ich die meisten meiner fliehenden Genossen, und als die vordersten endlich haltmachten, benutzte ich die allgemeine Verwirrung, um mich von der Asphaltfabrikation wegzuschleichen.

Ich bin auch nie wieder dazugekommen.

Nach Verlauf zweier Wochen fing das Unwesen in den Straßen an abzunehmen, und nach drei Wochen war Paris wieder so unterwürfig wie vorher. Nur die aufgewühlten Straßen zeugten noch längere Zeit von den Zerstörungen der letzten französischen Revolution. Einen reellen Nutzen hatten die Tumulte: der Polizeipräfekt, der »bespuckte« Lozé, mußte abdanken.


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