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Frauensieg

Ich war Straßenbahnschaffner in Chikago.

Zuerst war ich auf der Halsted-Linie angestellt, einer Pferdebahn zwischen Stadtzentrum und Viehmarkt. Wir vom Nachtdienst waren alles andre eher als geschützt auf dieser Linie wegen aller der fragwürdigen Leute, die den Weg zur Nachtzeit passierten, wir durften auf niemand schießen und niemand töten, weil die Straßenbahngesellschaft gegebenenfalls ersatzpflichtig war; ich meinesteils hatte auch keinen Revolver und mußte darum meinem Stern vertrauen. Übrigens, ganz wehrlos ist man selten: So hatte ich den Schwengel der Bremse, der sich im Nu abnehmen ließ und ein treffliches Hilfsmittel abgab. Das heißt, mehr als einmal habe ich seiner nicht bedurft.

Im Jahre 1886 stand ich alle Weihnachtsnächte hintereinander auf meinem Straßenbahnwagen, ohne daß etwas vorgefallen wäre. Es kam ein großer Trupp Irländer vom Viehmarkt her und befrachtete meinen Wagen ganz und gar, sie waren besoffen und hatten Flaschen bei sich, grölten nach Noten und wollten nicht recht ans Zahlen heran, trotzdem wir schon angefangen hatten zu fahren. Sie hätten der Gesellschaft nun wieder ein ganzes Jahr lang, abends und morgens, fünf Cent gezahlt, sagten sie, und nun sei Weihnachten, und da wollten sie einmal nicht zahlen. Sie war gar nicht so unsinnig, diese Auffassung; aber sie frei durchzulassen wagte ich nicht, aus Furcht vor den »Spionen«, die im Dienste der Gesellschaft standen und über die Ehrlichkeit der Schaffner zu wachen hatten. Ein Konstabler stieg auf. Er stand ein paar Minuten da, sagte ein paar Worte über Weihnachten und das Wetter und sprang dann wieder ab, weil wir so schwer beladen waren. Ich wußte recht wohl, daß auf ein Wort an den Konstabler alle Passagiere ihre fünf Cent hätten zahlen müssen – ich sagte aber nichts. Warum haben Sie uns nicht angezeigt? fragte einer. Ich hielt das für überflüssig, erwiderte ich, ich habe es ja mit Gentlemen zu tun. Darauf fingen ein paar an, mich herzlich auszulachen; ein paar aber hielten es mit mir und fanden einen Ausweg, indem sie für alle zahlten.

Zur nächsten Weihnacht war ich auf die Cottage-Linie gekommen. Das war ein großartiger Wechsel. Ich hatte jetzt einen Zug von zwei, manchmal drei Wagen, die durch ein unterirdisches Kabel getrieben wurden; das Publikum in diesem Stadtteil war vornehm, und ich mußte meine Fünfer in Handschuhen einsammeln. Zum Ersatz fehlte hier alle Spannung, und man wurde es bald müde, diese Villenmenschen anzusehen und anzuhören.

Ein kleines Erlebnis war mir dann doch vorbehalten für Weihnachten l887.

Am heiligen Abend fuhr ich am Vormittag meinen Wagen zur Stadt hinein; ich hatte damals Tagesdienst. Ein Herr steigt auf und fängt ein kleines Gespräch mit mir an; mußte ich in die Wagen hinein, so wartete er, bis ich auf die hinterste Plattform, wo mein Platz war, zurückkam, und nahm dann das Gespräch wieder auf. Er war um die Dreißig herum, blaß, trug einen Schnurrbart und war sehr vornehm gekleidet, aber ohne Überrock, trotzdem es ziemlich kalt war.

Ich bin von zu Hause fortgefahren, wie ich ging und stand, sagte er. Ich wollte meiner Frau zuvorkommen.

Weihnachtsgeschenke, bemerkte ich.

Ganz recht! antwortete er und lächelte.

Es war aber ein seltsames Lächeln, eine Grimasse mit dem Munde, ein nervöses Feixen.

Wieviel verdienen Sie? fragte er.

Es ist das keine ungewöhnliche Frage im Yankeelande, und ich gab also an, wieviel ich verdiente.

Wollen Sie zehn Dollars extraverdienen? fragte er.

Ich sagte: Ja.

Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte mir ohne weiteres die Banknote. Er bemerkte, er habe Vertrauen zu mir.

Was soll ich tun? fragte ich.

Er verlangte, meinen Zeitplan zu sehen, und sagte: Sie fahren heute acht Stunden?

Ja.

Auf einer Ihrer Touren sollen Sie mir einen Dienst leisten, hier an der Ecke der Monroestraße kommen wir über einen Schacht, der zu dem unterirdischen Kabel hinunterführt. Es ist ein Deckel über dem Schacht; diesen Deckel hebe ich ab und steige hinunter.

Sie wollen sich das Leben nehmen?

Nicht ganz. Aber so tun will ich.

Aha!

Sie sollen Ihren Wagen anhalten und mich aus dem Loch heraufschaffen, auch wenn ich Widerstand leiste. Das soll geschehen.

Ich danke Ihnen. Ich bin übrigens nicht geisteskrank, wie Sie vielleicht annehmen! Ich tue das alles meiner Frau wegen, sie soll sehen, daß ich mir habe das Leben nehmen wollen.

Ihre Frau wird dann also in meinem Auge sitzen?

Ja. Sie wird in The grip sitzen.

Ich stutzte. The grip war der Wagen, auf dem der Führer stand und lenkte; er war offen und ohne Wände, es war kalt darin während des Winters, und niemand setzte sich dann hinein.

Sie wird in The grip fahren, wiederholte der Mann. Sie hat es in einem Brief an ihren Liebhaber versprochen, heute darin zu fahren und ihm ein Zeichen zu geben, wenn sie kommt. Ich habe den Brief gelesen.

Gut. Aber ich muß Sie daran erinnern, daß Sie den Deckel möglichst rasch von dem Schacht abnehmen und ohne Aufenthalt hinuntersteigen. Sonst wird uns ein neuer Zug einholen, wir fahren in Zwischenräumen von drei Minuten.

Ich weiß das alles, entgegnete der Mann. Der Deckel wird gelöst sein, wenn ich komme. Er ist schon jetzt in diesem Augenblick gelöst.

Noch eins: Wie können Sie wissen, welchen Zug Ihre Frau benutzt?

Darüber bekomme ich telephonisch Nachricht. Ich habe Leute, die ihre Schritte lenken. Meine Frau wird ein braunes Pelzkostüm tragen, Sie können sie leicht erkennen – sie ist sehr schön. Wenn sie ohnmächtig werden sollte, so schaffen Sie sie in die Apotheke an der Monroeecke.

Ich fragte:

Haben Sie auch mit meinem Führer gesprochen?

Ja, sagte der Mann. Und ich habe ihm die gleiche Summe gegeben wie Ihnen. Aber ich will nicht, daß ihr zwei miteinander spaßen sollt über die Sache. Ihr sollt gar nicht davon reden.

Nein.

Sie postieren sich auf The grip, wenn Sie sich der Monroestraße nähern, und halten gut Ausguck. Sehen Sie meinen Kopf über dem Schacht, so geben Sie das Haltezeichen, und der Zug kommt zum Stehen. Der Führer wird Ihnen helfen, mich zu übermannen und aus dem Schacht hervorzuziehen, wenn ich auch behaupte, sterben zu wollen.

Ich dachte ein wenig über das Ganze nach und sagte:

Mir scheint, Sie hätten Ihr Geld sparen können und keinen in Ihr Vorhaben einzuweihen brauchen. Sie hätten einfach in das Loch hinuntersteigen können.

Du großer Gott! rief der Mann, angenommen, der Führer bemerkte mich nicht! Sie bemerkten mich nicht! Niemand!

Sie haben recht.

Wir sprachen noch von diesem und jenem, der Mann fuhr bis zur Endstation mit, und als mein Zug umkehrte, fuhr auch er mit zurück.

An der Ecke der Monroestraße sagte er:

Da ist die Apotheke, in die Sie meine Frau bringen sollen, wenn sie ohnmächtig wird.

Dann sprang er ab.

Ich war um zehn Dollars reicher; Gott sei Dank, es gab doch auch glückliche Tage im Leben! Den ganzen Winter über hatte ich mich über Brust und Rücken mit einer Schicht Zeitungen wattiert gegen den schneidenden Wind; bei jeder Bewegung knarrte ich in der unangenehmsten Weise, und die Kameraden hatten ihren Spaß mit mir. Nun sollte es unter anderm zu einer Pelzweste von wundersamer Dichte reichen! Wenn dann die Kameraden das nächste Mal kämen und sich an mich heranmachten, um zu hören, wie ich knarrte, so würde ich es nicht dulden …

Ich mache zwei, ich mache drei Touren zur Stadt; nichts geschieht. Als ich eben zum vierten Male von der Cottagestation abfahren wollte, stieg eine junge Dame auf und nahm Platz in The grip. Sie trug ein braunes Pelzkostüm. Als ich zu ihr nach vorn kam und ihre Zahlung in Empfang nahm, sah sie mich mit dem ganzen Gesicht an. Sie war sehr jung und schön, die Augen tief unschuldig und blau. Ärmste, es steht Ihnen ein großer Schrecken bevor, dachte ich; aber Sie haben gewiß einen kleinen Fehltritt begangen, und nun sollen Sie Ihre Strafe haben. Jedenfalls werde ich Sie mit Wonne behutsam in die Apotheke tragen.

Wir rollten der Stadt zu.

Von meiner Plattform bemerkte ich, daß der Führer plötzlich mit der Dame zu sprechen begann. Was konnte er ihr zu sagen haben? Es war ihm außerdem nicht gestattet, sich während des Dienstes mit den Passagieren zu unterhalten. Zu meiner großen Verwunderung sehe ich, daß die Dame sich sogar einen Platz näher an den Führer heransetzt, und da steht er nun an seiner Maschine und hört gespannt zu, was sie sagt.

Weiter rollen wir in die Stadt hinein, halten an und lassen Leute einsteigen, halten an und setzen Leute ab, alles geht seinen Gang. Wir nähern uns der Monroestraße. Ich denke bei mir: der exzentrische junge Mann hat sich seine Stelle klug ausgesucht, die Monroeecke ist eine stille Ecke, wo man ihn kaum stören wird beim Hinabsteigen in den Schacht. Und ich denke weiter, daß ich dann und wann die Leute der Straßenbahngesellschaft in diesen Schächten habe stehen und ausbessern sehen, was da unten in Unordnung geraten sein mochte. Aber sollte es einmal einem Arbeiter einfallen, in dem Loch stehen zu bleiben, wenn der Zug darüber fuhr, er würde schlecht und recht um mehrere Zoll kürzer werden; die Gabel, die von The grip aus zu dem Kabel hinabführte, würde seinen Kopf vom Halse trennen. Da Monroe die nächste Straße war, ging ich nach vorn auf The grip.

Weder der Führer noch die Dame sprachen jetzt. Das letzte, was ich bemerkte, war, daß der Führer nickte, als sei er mit sich über etwas ins reine gekommen, dann starrte er geradeaus und fuhr mit voller Geschwindigkeit drauf zu. Und es war doch der große Pat, der Irländer, den ich als Führer hatte. Slack her a bit, sagte ich im Jargon zu dem Führer. Das heißt: Fahr ein bißchen sachter. Ich sah nämlich einen schwarzen Punkt mitten auf dem Geleise, es konnte ein Menschenkopf sein, der aus dem Boden herausragte.

Ich sah mir auch die Dame an, sie hatte die Augen auf denselben Punkt geheftet und griff hart an ihren Sitz. Schon ist sie besorgt eines möglichen Unglücks wegen, dachte ich: was wird sie tun, wenn sie sieht, daß es ihr eigner Mann ist, der sterben will!

Der große Pat jedoch verlangsamte die Fahrt nicht. Ich rief ihm zu, es seien Menschen in dem Bassin – keine Änderung, wir sahen jetzt deutlich den Kopf, es war der tolle junge Bursche, der in seinem Loch stand, das Gesicht uns zugekehrt. Da setzte ich die Pfeife an den Mund und ließ ein starkes Haltesignal ertönen; Pat fuhr mit gleicher Geschwindigkeit; in einer Viertelminute mußte ein Unglück geschehen. Ich schlug an die Glocke, sie läutete, und dann sprang ich nach vorn und ergriff die Bremse. Doch es war zu spät, kreischend fuhr der Zug über den Schacht, bevor er zum Stehen kam.

Ich sprang ab; ich war verstört und besann mich nur darauf, daß ich einen Mann angreifen sollte, der Widerstand leisten würde. Über ich bestieg gleich wieder The grip und hatte überhaupt an keinem Fleck Ruhe. Auch der Führer war wie verstört, er fragte ohne Sinn und Verstand, ob Leute in dem Schacht gewesen seien, und wie es habe kommen können, daß er nicht anhielt. Die junge Dame rief: Fürchterlich! Fürchterlich! Ihr Gesicht war blutlos, und krampfhaft hielt sie sich am Sitze fest. Aber sie wurde nicht ohnmächtig, und kurz darauf stieg sie ab und ging ihrer Wege.

Es sammelten sich viele Leute an; wir fanden den Kopf des Verunglückten unter dem hintersten Wagen, sein Leib stand noch in dem Schacht; die Gabel der Maschine hatte ihn unter dem Kinn erfaßt und seinen Kopf mitgerissen, wir schafften den Toten vom Geleise weg, es kam ein Konstabler hinzu, der ihn fortbringen sollte. Der Konstabler schrieb auch viele Namen auf, und mir konnten alle Passagiere bezeugen, daß ich geläutet und gepfiffen und zuletzt zur Bremse gegriffen hatte. Übrigens hatten wir Straßenbahnleute selbst unserm Bureau Rapport zu erstatten. Der große Pat bat mich um mein Messer. Ich verstand ihn falsch und sagte, das Unglück sei ohnehin groß genug. Da lächelte der große Pat und zeigte mir seinen Revolver zum Zeichen, daß es ihm an einer Waffe nicht fehle, und daß er das Messer zu keinen Dummheiten brauchen wolle, sondern zu ganz andern Dingen. Als er das Messer erhielt, sagte er mir Lebewohl: nun könne er nicht länger im Dienst bleiben; es tue ihm leid, aber ich müsse selber meinen Zug bis zur Endstation führen, da werde man mir einen andern Fahrer geben. Und er erklärte mir, wie ich's anzufangen habe. Das Messer müsse ich ihm überlassen, sagte er, er wolle in einen ruhigen Hausflur gehen und da seine Uniformknöpfe abschneiden.

Damit ging er.

Es war nichts zu machen, ich mußte selbst zur Station fahren; es standen jetzt mehrere Züge hinter mir, die nur darauf warteten, daß ich von der Stelle komme. Und da ich von früher ein bißchen Übung mit der Maschine hatte, lief es ohne Unfall ab …

 

Eines Abends zwischen Weihnachten und Neujahr war ich dienstfrei und schlenderte durch die Stadt. Als ich an einen Bahnhof kam, trat ich einen Augenblick ein, um mir den gewaltigen Verkehr da drinnen anzusehen. Ich ging bis ganz auf einen der Perrons hinaus und schaute mir einen Zug an, der abfahren sollte. Plötzlich ertönt mein Name, ein lächelnder Mann steht auf einem Wagentritt und ruft mich an. Es war der große Pat. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn erkannte, er steckte in feinen Kleidern und hatte sich den Bart abnehmen lassen.

Mir entfuhr ein kleiner erstaunter Schrei.

Pst, nicht so laut! Wie ist die Affäre eigentlich abgelaufen? fragte Pat.

Wir sind vernommen worden. Man sucht dich.

Pat sagte:

Ich reise in den Westen. Was hat man hier vom Leben? Sieben, acht Dollars in der Woche, aber davon viere zum Unterhalt. Ich nehme mir Land, ich werde Farmer, versteht sich, ich habe das Geld dazu. Wenn du mitkommen willst, wollen wir uns drüben in Frisco Land suchen.

Ich kann nicht weg.

Eben denk' ich dran: hier ist dein Messer. Schönen Dank. Nein, siehst du, das Leben bei der Straßenbahn hat keine Zukunft. Ich habe drei Jahre gedient und bis jetzt nie Gelegenheit gehabt, die Sache an den Nagel zu hängen.

Der Zug pfiff.

Ja, adieu, sagte Pat. Hör' mal, wieviel hast du von dem Mann bekommen, der überfahren wurde.

Zehn Dollars.

So viel hab' ich auch bekommen. Na, er war eigentlich ein ehrlicher Zahler. Aber die Frau war tüchtiger.

Die Frau?

Die junge Frau, ja. Ich habe ein kleines Geschäft mit ihr gemacht. Es kam ihr nicht an auf ein-, zweitausend, denn sie wollte den Mann loswerden. Wenn ich jetzt ein leichteres Leben anfangen kann – geschiehts von ihrem Gelde.


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