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1.

Das Dasein eines jeden von uns vollzieht sich auf verschiedenerlei geistigen Ebenen, die sich – etwa wie die Blätter eines Fächers – alle an einem gemeinsamen Punkt in unserem seelischen Raum schneiden und eben dort in ihrer Zusammenfassung unser Zentral-Ich bilden. Je vielfältiger diese Ebenen unseres geistigen Bewußtseins, desto reicher die individuelle Sphäre unserer planetarischen Existenz. Bei Shakespeare, der seines Zeichens ein Schauspieler, Stückeschreiber und Theaterdirektor war, kann man, weit über dieses persönliche Betätigungsfeld hinaus, Dutzende solcher geistigen Ebenen nur aus den Bildern und Vergleichen seiner Stücke und ohne sonstige Kenntnis seines ziemlich unbekannten Lebens erschließen. Goethe – von Amts wegen weimarischer Staatsminister und durch göttliche Berufung Dichter des »Götz«, des »Werther«, des »Faust«, um nur sie zu nennen – war daneben und darüber hinaus Zoologe, Osteologe, Botaniker, Mineraloge, trieb Physik, Chemie und nicht zuletzt Farbenlehre, malte und zeichnete, war Bergrat und Forstmann, hat unzählige juristische und verwaltungstechnische Aktenstöße gewälzt und über ein Menschenalter lang das Weimarische Theater geleitet. Fast unbegreiflich scheint es, wie alle diese in dem Ich eines einzigen Menschen sich schneidenden geistigen Ebenen ihre Vereinigung vollziehen konnten, ohne die Harmonie jenes Ichs zu verwirren, wo nicht gar zu zerstören.

Ist es erlaubt, die so viel geringeren Maße der eigenen Persönlichkeit mit dem heroischen Übermaß jener unsterblichen Geister auch nur in entfernten Vergleich zu setzen? Man kann die Frage als Ausgeburt des Größenwahns verneinen. Aber vielleicht liegt es doch näher, sie zu bejahen, vorausgesetzt, daß man den richtigen Sehwinkel dafür findet. Denn woher in aller Welt sollte schließlich ein Vergleichsmaßstab auch für das Kleinere und Geringere gewonnen werden, wenn nicht aus dem Beispiel des Größten und Besondersten? Der Meterstab ist der zehnmillionste Teil des Meridianquadranten zwischen Äquator und Nordpol. Nur diese Beziehung ist es, die eine Art von gemeinsamem Blickpunkt für die beiden Werte herstellt. Im übrigen weiß jeder, wie es gemeint ist, und der Meterstab, wie man von ihm hoffen darf, sicher am besten. Bedarf es noch einer Nutzanwendung für den eigenen Fall?

Was gesagt werden soll, ist dies. Wer meine Lebensgeschichte bis hierher verfolgt hat, dem wird nicht entgangen sein, daß mir von früher Jugend an und über meine Jahre hinaus eine Verschiedenartigkeit der geistigen Interessen zu eigen gewesen ist, die den Gang meiner Entwicklung nicht nur günstig, sondern unter Umständen auch nach der ungünstigen Seite hin hätte beeinflussen können. Die Gefahr der Zersplitterung – um nur ein Beispiel zu nennen – lag in dieser Richtung nahe genug. Daß der tatsächliche Verlauf ein anderer, glücklicherer für mich gewesen ist, verdanke ich wohl zumeist einem in meiner Natur vorhandenen Schutzelement: einem gewissen Drang zum Zusammenhalt, zur Konzentration aller meiner Kräfte auf den jeweils im Vordergrund stehenden Lebensinhalt und Lebenszweck.

Diese Verschiedenartigkeit und Vielfältigkeit meiner geistigen Palette bringt es mit sich, daß ich – ebenso wie im ersten Teil vor der Schilderung meiner Frühzeit – so auch diesem zweiten großen Lebensabschnitt einen allgemeingehaltenen Abriß des Zeithintergrundes vorausschicke, auf dem sich meine kommenden zwanzig Lebensjahre abspielen sollten. Manche Einzelheiten des allgemeinen Zeitcharakters werden durch ein solches Pauschalverfahren der Darstellung ein für allemal in das rechte Licht gerückt werden, so daß ermüdende Wiederholungen im Fluß der Erzählung fortfallen können. Jedenfalls soll auch dieser zweite Teil meines Lebensberichtes, die Schilderung meiner Mannesjahre und grade sie, sich nicht auf das rein Persönliche und Berufliche beschränken, sondern darüber hinaus ein Gesamtbild des Zeitalters im engsten Zusammenhang mit einem immerhin nicht alltäglichen Einzelschicksal zu entwerfen suchen, um es den Enkeln als Spiegel einer sich vorbereitenden gewitterschweren und doch noch von allen Sonnenstrahlen des Glücks beleuchteten Zeitenwende weiterzugeben.

Was ist es, das dem Blick eines heutigen Betrachters zuvörderst an jenem um vier Jahrzehnte Geschrieben 1933. zurückliegenden Abschnitt unserer deutschen Geschichte und Kultur auffallen wird? Mir scheint, wenn man die Augen auf das große Ganze richtet, daß die Antwort lauten müsse: Die Abwesenheit jedes tieferen politischen Interesses in den breitesten deutschen Volksschichten, von unten bis nach oben hinauf. Dies natürlich nur sehr summarisch genommen. Denn ich weiß sehr wohl und erinnere mich vollauf daran, daß es in jenen Neunzigerjähren eine große sozialistische Bewegung gegeben hat, die sich – nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes – gerade damals anschickte, sehr bedeutende öffentliche Machtstellungen zu beziehen und im Reichstag ein entscheidendes Wort mitzusprechen. Und doch will mir, gemessen an der zunehmenden politischen Hochspannung des letzten Jahrzehnts bis zum gegenwärtigen Augenblick, selbst die stürmischste politische Debatte jener so viel geruhsameren Zeit etwa wie eine bessere Spielzeuglokomotive gegenüber den Dampfkesseln unserer heutigen Fernzugmaschinen vorkommen. Dies ist natürlich eine Sache der Schätzung, des Fingerspitzengefühls. Denn eine Möglichkeit, damalige und heutige politische Siedehitze gegeneinander abzuschätzen, gibt es ja nicht. Aber wer beide erlebt hat und noch erlebt, der kann nicht im Zweifel sein, daß das politische Blickfeld jener damaligen deutschen Menschheit sehr stark durch wirtschaftliche Fragen und Kämpfe eingeengt, durchkreuzt und jedenfalls beeinflußt war, in demselben Maße aber auch viel an rein politischer Spannkraft seiner Atmosphäre einbüßen mußte: daß es, wie fast alle damaligen geistigen Belange, eben eine ausgesprochen materialistische, relativistische und also im Grunde unpolitische Färbung trug, während man von der heutigen politischen Erhitzung und Leidenschaft in ihrer Ausschließlichkeit wohl mit Recht sagen kann, daß dies Politik in Reinkultur sei, ganz gleich, wie man sich sonst dazu stellen möge.

Ich glaube dieses Urteil abgeben zu können, weil ich selbst ja aus einer noch früheren Zeit herstamme, die – ähnlich wie die heutige – mit politischen Energien über und über erfüllt war und von ihren Entladungen dem heranwachsenden und dies alles zum erstenmal aufnehmenden Knaben einen Begriff bis in seine Kinderstube hinein beibrachte. Ich meine den Siebzigerkrieg und die Kulturkampfzeit, über ihnen beiden den gewaltigen Schatten Bismarcks, den man die Verkörperung der politischen Idee überhaupt, den Politiker an sich, nennen kann und der jedenfalls als das größte politische Phänomen unserer hierin nicht gerade sehr reichen und glücklichen Geschichte vor der Menschheit der Neunzigerjahre dastand. Vor eben der deutschen Menschheit, die erst wenige Jahre vorher seinen Sturz bejubelt, beklatscht hatte und nun mit der gleichen Hemmungslosigkeit den wiedererstandenen Achtzigjährigen feierte. Kann es für die im tiefsten Grunde unpolitische Geistesverfassung des deutschen Bürgers und Arbeiters von 1895 einen schlüssigeren Beweis geben, als dieses so durch und durch schwankende, haltlose, halb und halbe Einerseits-Andrerseits-Verhältnis zu Bismarck und der in ihm verkörperten Monumentalität der deutschen Staatsidee? Hatte sich hierin denn irgend etwas seit 1890, seit Bismarcks Sturz geändert? Ganz gewiß nicht. Was also verwandelte Liberale, Demokraten, Zentrumsleute, sogar gesinnungstüchtige Sozialdemokraten, zu guter Letzt selbst den vom Bismarck-Koller besessenen Doktor Sigl vom »Bayerischen Vaterland« so urplötzlich in Bismarck-Verehrer und ließ sie Hymnen auf das eben noch verlästerte »Götzenbild« anstimmen? Nicht politische Bekehrung und Erleuchtung! Überhaupt keine eigentlich politischen Beweggründe! Die tiefste Ursache war nichts als eine allgemeine deutsche Verärgerung, als eine Art von »Raunzertum« des gesamten deutschen Volkes! Derjenige aber, dem diese allgemeine Aufsässigkeit und Unzufriedenheit galt, war eben der, den man als den Hauptexponenten der deutschen Geistes- und Seelenverfassung während dieses ganzen Zeitalters und zugleich als den wesentlichen Gegenspieler Bismarcks zu betrachten hat.

Es war Kaiser Wilhelm II. Es war der Kaiser. (Schon begann das Fremdwort »der Kaiser« in die englischen und französischen Zeitungen überzugehen.) Die ersten fünf Jahre seiner Regierung lagen zu der Zeit, von der hier die Rede ist, hinter ihm und dem deutschen Volk. Sie hatten genügt, die hochfliegenden Hoffnungen weiter Volkskreise gründlich herabzustimmen und immer neue gewitterige Störungen der politischen Atmosphäre heraufzubeschwören. Stets wendet sich ja in Monarchien die ungestillte und wohl auch nie zu stillende Sehnsucht der veränderungssüchtigen Menge dem Thronfolger zu als dem Träger der Zukunft, als dem Sinnbild aller Hoffnungen und Träume des Volkes von einem schöneren Morgen nach den Enttäuschungen des Heute und des Gestern. In diesem besonderen Fall hatte die lange Regierungszeit des uralten Kaisers, der schon alt gewesen war, als er den Thron bestieg, die Ungeduld zumal der jungen Generation noch um ein Bedeutendes gesteigert; hatte schließlich das tragische Düster über den neunundneunzig Tagen seines dahinsterbenden Nachfolgers die Seelen aller nur um so empfänglicher für das heraufsteigende Licht eines neuen und schöneren Tages gestimmt. Selten ist der Antritt eines jungen Fürsten von so überschwenglichen Wünschen, Hoffnungen begleitet gewesen wie der Wilhelms II. (Ich erinnere mich wie heute an die begeisterte Feier seines ersten Geburtstages als Kaiser an jenem sonnenklaren Wintertage des 27. Januar 1889.) Und selten hat ein junger, durch hohe Gaben ausgezeichneter Fürst seinem Volk eine so große Enttäuschung bereitet wie Wilhelm II.

Es wäre ungerecht, hierfür den Kaiser allein verantwortlich machen zu wollen. Wie immer wird die Schuld auf beiden Seiten zu suchen sein. Das Volk hatte sich übertriebene Vorstellungen von dem neuen Herrscher und seinen Wundertaten gemacht. Auch ein Größerer als Wilhelm II. wäre schwerlich imstande gewesen, solche unwahrscheinlich gesteigerten Erwartungen zu erfüllen. Konnte der Kaiser dafür, daß man sich zuviel von ihm versprochen hatte? Es liegt für mich nahe, so absonderlich es klingen mag, an einen Vergleich mit meinem eigenen Fall zu denken, wie ich ihn in Hinsicht auf den Erfolg meiner »Jugend« vorhin beschrieben habe. Nichts wird uns von der Welt schwerer verziehen, als wenn wir sie überrascht, verblüfft, überrumpelt haben. Im Falle des Kaisers lag ein ähnliches, wenn auch nicht durchaus artgleiches Moment in der Tatsache, daß er – wenn auch ungewollt und passiv – Hoffnungen erweckt hatte, die er durch seine nachherigen Handlungen nicht erfüllen, geschweige übertreffen konnte. Keinesfalls ist ihm aber der redliche Wille abzusprechen, durch erhöhte, wo nicht gar übersteigerte Leistungen die Enttäuschungen wettzumachen, die er wohl oder übel seinem Volke hatte bereiten müssen; also gewissermaßen Hoffnungen zu erfüllen, die man gar nicht in ihn gesetzt hatte. Aber dies wird, wie die Menschen nun einmal sind, zumeist nicht anerkannt und geschätzt; ja es fordert womöglich erst recht zum Widerspruch heraus.

Vielleicht werden wir hier die einfachste und zugleich menschlichste Lösung für das in der Gestalt Wilhelms II. uns entgegentretende geschichtliche Problem finden: für dieses ruhelos und rastlos dahinhetzende, unstet sich überstürzende und danebengreifende, auf hunderterleiweise sich bemühende und nirgends so recht zum Ziel gelangende Neurasthenikerdasein. Sicherlich hat dieser Mann einen großen Teil seiner ihm vergönnten langen Regierungszeit im Schlafwagen, zu Schiff und später im Kraftwagen verbracht. Er ist sozusagen immer »auf der Walz« gewesen, hierin nicht unähnlich den großen alten Kaisern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, den Ottonen, den Saliern, den Staufern, die ja auch immer zwischen Rhein und Donau, zwischen Eider und Po, zwischen Köln, Mainz, Mailand, Rom und Palermo unterwegs waren. Manchesmal mag dem letzten deutschen Kaiser im nächtlichen Rollen der Eisenbahnräder das Rätsel seines eigenen Wesens erschienen sein und ihn fragend, mahnend, warnend angeblickt haben. Aber nicht Selbsteinkehr, Sammlung, Selbstbescheidung, Demut vor der überwältigenden Fülle der Aufgaben und Pflichten, nicht Erkenntnis der eigenen Grenzen war die Folge solcher nächtlichen Besuche des geheimsten Ichs: vielmehr nächsten Tages nur neue Hetze, Übersteigerung, Unrast, nicht Hörenwollen auf den Rat der andern, auf die Stimme des eigenen Ichs, immer neue Jagd nach blendenden, überraschenden Sensationen der inneren wie der äußeren Politik. Eine chamäleontische Gestalt! In tausend Farben schillernd, vor den Augen einer verblüfften Weltarena unermüdlich sich produzierend, für niemanden so recht zu greifen, zu packen, aber auch seinerseits keinen so recht packend, ergreifend, begreifend, allzu brillant und allzu geschäftig: eine chamäleontische und zugleich dekadente Gestalt! Spiegel und Abbild eines ebenso chamäleontischen und dekadenten Zeitalters.

Hundert Gaben waren diesem Kaiser verliehen, von denen ein Bruchteil vielleicht genügt hätte, um daraus einen der größten Herrscher auf den Thronen der Weltgeschichte zu machen. Was aber war das Fazit dieses selbst in der Tragik nicht durchkomponierten, bruchstückhaften Lebens? Eine niedergelegte Krone. Ein zerbrochenes Reich. Man sage nicht: Die höhere Gewalt der Sterne, des Schicksals! Auch einem Friedrich, seinem Ahn, war ihre Gunst versagt gewesen. Und doch ward er Herr über den Zwang von Sternen und Schicksal, indem er sich selbst bezwang. Hier scheint mir der Schlüssel des wilhelminischen Rätsels zu liegen. Diesem mit großen geistigen und Herrschereigenschaften begnadeten Manne hat ebenso wie seinem Großoheim Friedrich Wilhelm IV., dem Romantiker auf Preußens Thron, die gerade für einen Monarchen wichtigste Gabe der Selbstkritik gefehlt: die Fähigkeit, sich selbst in Zucht zu nehmen, alles Beiwerk abzuwerfen und ins Wesentliche vorzudringen; die Selbstbescheidung, die der auf diesen Höhen besonders gefährlichen Eigenliebe und Vergottung tapfer entsagt und nichts für sich beansprucht als dem Volk, dem Staat zu dienen.

Das Volk aber, auf dessen Schultern ja schließlich der Staat ruht, pflegt eine gute Witterung, eine feine Nase für solche Herrschernaturen zu haben. Es lehnt sie, sobald dies erst ruchbar geworden ist, aus seinem innersten Empfinden heraus ab. Und selbst das hitzigste Bemühen, es dennoch zu gewinnen, bleibt fruchtlos, schlägt auf die Länge sogar leicht ins Gegenteil um. Das Beispiel Wilhelms II. ist in dieser Hinsicht lehrreich genug. Es könnte in einem Leitfaden für Monarchen und solche, die es werden wollen, geradezu als ein Musterstück Aufnahme finden. Man werfe mir nicht vor, ich sei voreingenommen gegen die trotz allem imposante Gestalt des Kaisers und unterschätzte sie. Ich fühle mich vollständig frei von einem solchen Vorwurf, glaube sogar eher, daß man das Gegenteil von mir sagen könnte. Ich habe nie zu den Feinden des merkwürdigen Mannes gehört, habe dies auch oft genug im engeren Kreise bekannt, wozu damals – in einer sehr begreiflichen Umkehrung – eine gewisse Zivilcourage gehörte, denn die Gefahr, in bestimmten intellektuellen und sehr ausschlaggebenden Kreisen deshalb als rückständig und stockreaktionär verschrien zu werden, lag nahe genug. Zudem war es wirklich manchmal nicht leicht, ihn gewissermaßen vor sich selbst in Schutz zu nehmen, wenn wieder und wieder die barocken Bekundungen seines Gottesgnadentums den biedern deutschen Bürger in Wallung versetzten, »die Volksseele zum Kochen brachten«, wie das schöne Schlagwort jener Tage lautete.

Begreiflich genug, daß das fruchtlose Ringen eben um diese Volksseele, worüber er sich ja trotz alles höfischen Weihrauchs auf die Dauer nicht täuschen konnte, den Kaiser allmählich immer gereizter stimmen, ein Gefühl der Verbitterung, der Verkennung in ihm großzüchten und ihn dadurch erst recht von seinem Volk entfernen mußte. Die Nation und ihr Herrscher verstanden sich immer weniger und weniger. Von hier aber ist es für gekrönte und ungekrönte Machthaber nur noch ein Schritt zum Haß, zur Rachsucht, zum Cäsarenwahn. Nicht wenige der großen Despoten der Weltgeschichte, von deren Namen die Menschheit sich mit Schaudern abwendet, sind es erst aus dem Gefühl des Unverstandenseins, der unerwiderten Liebe, der Verkennung ihrer vermeintlich besten Absichten geworden und haben den ihnen angetanen Schimpf in einem: Meer von Blut abzuwaschen versucht. Wilhelm II. hat, wie man ja weiß, diesen oft nur kurzen Schritt von einem Extrem zum andern nicht getan, ihn ja auch schwerlich tun können, da im Zeitalter alle wesentlichen Vorbedingungen dafür fehlten. Aber es ist ja bekannt, daß die Gemütsverfassung des letzten Kaisers im Lauf der Jahre immer bitterer geworden, sich immer mehr verdüstert und einem andern Extrem zugewandt hat, einem von finsteren Ahnungen verfolgten Mystizismus.

In der Mitte der Neunzigerjahre etwa, also eben in der Zeit, von der hier die Rede ist, erschien zuerst anonym eine Schrift über den Cäsarenwahn der römischen Kaiser, als deren Verfasser sich dann der nachmals in der »Friedensbewegung« hervorgetretene Historiker Ludwig Quidde öffentlich bekannte. Dieses Werkchen – die Gegner nannten es ein Pamphlet – ist damals in Deutschland so etwas wie eine Sensation gewesen, wozu es seinem Stoff nach eigentlich nicht die geringsten Voraussetzungen besaß. Denn das ihm zugrundeliegende Problem war der Cäsarenwahn des Kaisers Caligula; hierüber hätte sich schließlich niemand in Deutschland besonders aufzuregen brauchen. Woher also der Erfolg? Das Ganze wurde als eine verkleidete Anspielung auf das augenblickliche kaiserliche Deutschland umgedeutet, und jedermann, einerlei, ob in den Studentenbuden oder in den Kanzleien der Ministerien, suchte und fand Vergleichspunkte mit dem Kaiser darin. Das Schriftchen wurde denn auch staatsanwaltlich eingezogen, sein Verfasser strafrechtlich verfolgt, entging aber – wenn ich mich recht entsinne – der Haft durch Übersiedlung ins Ausland. War hier nicht ein bezeichnendes Symptom für die allgemeine Zeitstimmung, für das Bild, das man sich besonders im gebildeten Bürgertum von dem Kaiser machte, ja für das, wessen man sich in Zukunft von ihm versah? Der Weg, den die Charakterentwicklung Wilhelms II. nachher in Wirklichkeit einschlagen sollte, hat jene damals herrschenden Befürchtungen widerlegt. Aber jedenfalls beweist die Aufnahme der Quiddeschen Schrift – und nicht nur sie –, daß sie in weiten Kreisen bestanden.

Zum lautesten, bittersten und gefährlichsten Wortführer aller dem Kaiser feindlichen Volkskreise erwuchs in diesen Jahren der jüdische Pamphletist Maximilian Harden. Gesellschaftskritische Aufsätze hatten den vom kleineren Provinztheater zur hauptstädtischen Publizistik hinübergewechselten Mimen in Berlin rasch bekannt und gefürchtet gemacht. Sie waren in einem überladenen, verkrampften, verschachtelten, extravaganten Stil geschrieben, der mit seinem Ballast oft nur angelesenen und unverdauten Wissensstoffes besonders die halbgebildeten Leser, also die große Mehrzahl, mächtig verblüffte und in die Knie zwang. Harden hatte die schwache Seite des deutschen Bildungsphilisters mit dem ihm eigenen scharfen und ätzenden Verstand richtig erkannt und für seine persönlichen Zwecke in Rechnung gestellt. Daß diese Rechnung ihn nicht getrogen hat, beweist der Welterfolg seines publizistischen Organs, der »Zukunft«, durch mehr als zwanzig Jahre. Und doch ist auch diesem erfolgreichsten und skrupellosesten Pamphletistendasein, von dem wir in Deutschland wissen, ein politischer und wohl auch menschlicher Schiffbruch am Ende, damit zugleich aber auch eine Art von tragischer Lösung beschieden gewesen, durch die uns nachträglich die ganze Laufbahn des furiosen Mannes wie unter einem fahlen Gewitterlicht erscheint.

Ich selbst habe Maximilian Harden erst verhältnismäßig spät, erst 1907, persönlich kennengelernt. Auch ist meine Bekanntschaft mit ihm nur von kurzer Dauer gewesen. Aber ihr stürmischer Rhythmus, wie ich wohl sagen kann, ihr explosiver Verlauf haben mir doch in die Abgründigkeit dieses intellektuellen Vulkans tiefere Einblicke gewährt, als man sie sonst bei so kurzen Beziehungen zu bekommen pflegt. Die alles bewegenden Triebfedern in Hardens Persönlichkeit waren ein geradezu krankhafter, pathologischer Ehrgeiz und eine maßlose hysterische Eitelkeit. Gewiß nur zum kleineren Teil eine Eitelkeit im landläufigen Sinn, wiewohl auch diese schon deutlich genug aus der äußeren künstlich zurechtgemachten Maske des ehemaligen Mimen sprach. In viel höherem Maße aber jene eiskalte intellektuelle Eitelkeit, jener furchtbare geistige Hochmut, von dem es in der Glaubenslehre der katholischen Kirche heißt, daß er eine der sieben Todsünden ist und daher weder auf Erden noch im Himmel verziehen werden kann. Einer der tiefsten Gedanken der katholischen Lehre! Denn die dieser Todsünde des geistigen, des intellektuellen Hochmuts Verfallenen tragen, wie die Erfahrung lehrt, ihre Hölle in der Tat schon hienieden im Busen mit sich herum und verzehren sich in einer ewig schwelenden Flamme, in einer Art von kaltem Feuer, das sich von dem echten, alles verwandelnden und neuschaffenden Feuer des Genies eben dadurch unterscheidet, daß es nach seinem innersten Wesen unfruchtbar und unschöpferisch ist und wohl zerstören, aber nichts wiedergebären kann.

Und hier stoßen wir zu dem Schlüsselpunkt vor, der uns das geheimste Kämmerchen dieser und aller ihr verwandten luziferischen Naturen erschließt: daß sie nämlich unfruchtbar, unschöpferisch sind und sich dessen in klaren Stunden auch auf eine erschütternde Weise bewußt werden. Sie haben wohl den Drang, aber nicht die Fähigkeit des Erzeugens. Wenn sie es aber dennoch immer wieder und wieder versuchen, wie sie ja müssen, so entstehen Homunkulusse und lemurische Gestalten. Und daß sie dies vermöge der ihnen innewohnenden kritischen Einsicht selbst am besten erkennen, wenn sie sich auch hüten, es auszusprechen, das ist ihre furchtbarste Qual und eine niemals heilende Wunde an ihrem Lebensnerv: an ihrer Eitelkeit. Es macht sie zu immer Beleidigten und Gekränkten, zu ewig Argwöhnischen, zu Verkündern und Trägern einer unbedingten Opposition gegen alles und jedes, wie Luzifer selbst einer war.

Wenn man Maximilian Harden unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, wie es mir persönliche Erkenntnis und Erfahrung nahelegt, so wird man nicht umhin können, diesem mit dem düstern Feuermal der Unterirdischen gezeichneten Zerstörer und Verneiner ein gewisses tragisches Mitleid entgegenzubringen. Ihm selbst sind freilich solche Empfindungen gegenüber Freund und Feind zeitlebens fremd geblieben. Sie wären ihm als törichte Sentimentalitäten erschienen. Er, der jedes Wort des andern auf die Waagschale legte, überall versteckte Feindschaft und Bosheit witterte, hat sich niemals über die Wirkung des eigenen Worts Rechenschaft abgelegt, ist sich der mit seiner zielsicheren Feder ihm auferlegten Verantwortung, trotz aller schönen Reden darüber, niemals bewußt gewesen. Als Herausgeber der »Zukunft«, als Politiker und Gesellschaftskritiker, nicht zuletzt auch als Theaterrezensent, ist Maximilian Harden der Prototyp einer ganzen Galerie ihm nachfolgender und verwandter, meist jüdischer Erscheinungen geworden, von denen freilich keine einzige ihm an Bedeutung und Einfluß, an Schärfe der Negation und an todbringendem Gift des Wortes gleichgekommen ist.

Man muß bis auf die Tage der Renaissance und des Humanismus zurückgehen, um etwa in Pietro aus Arezzo, den die Geschichte den Aretino nennt, einen ihm wesensähnlichen Nachbargeist zu finden. Wesensähnlich nicht nur im Vollgewicht des Talentes, sondern auch in der hochentwickelten Fähigkeit, aus den Bußpredigten, die er den andern hielt, ein glänzendes Lebensgeschäft für sich selbst zu machen. Schicksalsähnlich schließlich auch darin, daß sich seiner – des Aretino – die Großen und Mächtigen der Spätrenaissance ebenso gegen ihre Feinde bedienten, wie dreihundert Jahre später Bismarck sich Hardens gegen den Kaiser bedient hatte, als er mit dem Herausgeber der »Zukunft«, mit der gefürchtetsten und hemmungslosesten Feder der deutschen Publizistik, in engste persönliche Verbindung trat. Es liegt eine grausame Ironie – fast möchte man es einen Witz nennen – der Weltgeschichte darin, daß derselbe Mann, der zeitlebens eine Politik von Blut und Eisen gemacht und im Grunde seines Herzens (wiewohl selbst ein glänzender Schreiber) das Schreibervolk verachtet hatte, nun am Ende seiner Laufbahn zu einem von ihnen, allerdings einem König in seiner Gilde, seine Zuflucht genommen hat und daß wir das typische Genie des Bluts mit dem typischen Halbgenie des Intellekts Arm in Arm durch die Geschichte wandeln sehen. Grund genug, dem infernalischen Manne, der auf den dämonenkundigen Alten doch merkwürdig anziehend gewirkt haben muß, auch in diesem persönlichen Zeit- und Lebensbericht einen größeren Platz einzuräumen. Denn die Drachensaat, die er auf den Spuren seiner Schritte zurückließ, sollte nur zu bald aufgehen und ein Geschlecht skrupelloser Verneiner ans Tageslicht fördern. Freilich hat sich keiner von ihnen zu einer solchen Rolle aufschwingen können, wie sie dem Herausgeber der »Zukunft« in dem weltgeschichtlichen Dreieck Bismarck-Wilhelm II.-Harden beschieden gewesen ist.

War es nur ein Zufall, daß just zu der Zeit, in der Maximilian Harden mit seinen schwülstigen, ausladenden Satzkonstruktionen das Entzücken der bildungssüchtigen und reichgewordenen Bourgeoisie hervorrief, eben diese zur Herrschaft antretenden Schichten sich ihre Häuser in einem wildgewordenen Renaissance- oder Barockstil aufschmetterten, in Giebeln, Erkern und Balkonen, in Stuck, Gips, Marmor schwelgten und aus jeder Mietskaserne, jedem Bierhaus einen Fürstenpalast zu machen suchten? Die Straßen des neuen Berliner Westens vermitteln uns ja noch heute das charakteristische Bild jenes patzigen und aufgeplusterten Zeitstils. Hier wohnten die damaligen Neureichen (nur nannte man sie noch nicht so, vielleicht weil man noch zu viel Respekt vor ihrem Portemonnaie hatte); hier wurzelte auch der eigentliche Kern des Hardenschen Lesepublikums. Liegt der Schluß auf den inneren geistigen Zusammenhang nicht nahe genug?

Die Blütezeit des deutschen Bürgertums begann, wenn man unter Blütezeit vor allem auch Wohlstand und Wohllebigkeit verstehen will. Von Heinrich IV. von Navarra, dem ersten Bourbonenkönig auf Frankreichs Thron, wird berichtet, es sei das höchste Bestreben seines landesväterlichen Herzens gewesen, daß sonntags jeder Bürger und jeder Bauer in seinem Staate sein Huhn im Topf habe. Man könnte die Anekdote für das Zeitalter Wilhelms II. sinngemäß dahin abwandeln, daß damals am Sonntag jedes bessere Bürgerhaus seine Flasche deutschen Sekt im Kübel haben mußte.

Man hatte in meiner Kindheit bei uns zu Hause, wie überall an der Wasserkante, bei mehr oder minder festlichen Gelegenheiten seine Flasche Bordeaux, seinen »Rotspon«, daneben besonders in katholischen Pfarrhäusern den »gezehrten« Oberungar getrunken. In Berlin und weiterhin nach dem Westen war es statt Rotwein Mosel gewesen, in München ein dazumal recht dünner Pfälzer oder Tiroler Schoppenwein. Die eigentlichen deutschen Weinländer hatten sich natürlich an ihrem eigenen Tropfen gütlich getan. Auch deutschen Sekt gab es seit einem halben Jahrhundert, vielleicht schon etwas länger. Aber weder das Wort noch der Begriff waren bis dahin so recht eingeführt und volkstümlich gewesen. Man sprach noch von Champagner, mit besonderer Ehrfurcht vom »Pommery« und von der schon etwas altmodischen »Witwe Cliquot«, und bezog darin so nebenbei auch den deutschen Schaumwein mit ein. Ich erinnere mich nicht, vor Anfang der Neunzigerjahre dem Wort »deutscher Sekt« begegnet zu sein. Aber jetzt begann seine Zeit, worauf denn auch schon bald das neue Wort dafür erschien und schnell Eingang fand. Man kann den nun folgenden Zeitabschnitt bis zum Weltkrieg geradezu als das Zeitalter des deutschen Sekts bezeichnen und würde damit nicht übel den eben damals erreichten Höchstgrad einer allgemeinen deutschen Wohllebigkeit charakterisieren.

In den reicheren Berliner Bürgerhäusern gehörte es um diese Zeit zum guten Ton, daß bei größeren Einladungen sieben bis acht Gänge gereicht wurden, wovon die Hauptgänge, Fisch, Wild, Geflügel, noch mit je zwei Unterabteilungen in Erscheinung traten. Ich selbst habe solchen Gastmählern verschiedentlich beigewohnt, besonders auch im Hause eines der größten Berliner Theaterverleger, der auch der meinige war, und war Zeuge, wie in einer solchen Stunde das Wort eines witzigen dramatischen Kollegen zu unserem Gastgeber fiel: »Nun, Herr X., wie schmeckt es Ihnen bei uns?«, womit dieser kluge Mann offenbar sagen wollte, daß all der köstliche Überfluß eigentlich aus unseren Taschen, nämlich als Provision von unsern Tantiemen, geflossen sei.

Weiter nach dem Westen hin, im Industriegebiet, in Köln, in Frankfurt, wohin mich um diese Zeit mein Weg nur selten führte, wird es in den begüterten Kreisen nicht viel anders gehalten worden sein. Für den ganzen Norden des Reiches war schon damals das Berliner Beispiel maßgebend geworden und wurde es von Jahr zu Jahr mehr. In Magdeburg, in Dortmund, in Stettin, in Chemnitz, in Breslau, bald auch in Köln und Frankfurt wurde gebaut wie man in Berlin baute, entstanden funkelnagelneue Straßenzüge ganz im massigen Stil des Kurfürstendamms, errichtete sich der reichgewordene Fabrikant oder Bankier sein schloßähnliches Familienhaus nach dem Urbild der Grunewald-Kolonie. Als ich in der Mitte des hier geschilderten Zeitraums, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, öfters nach Frankfurt und Köln kam, unterschied sich die dortige private und öffentliche Geselligkeit, was den dabei entfalteten Luxus anlangt, kaum mehr von den Berliner Gastereien, hielt nur durch den frischeren, freieren Ton, durch diese leichte, gefällige, prickelnde rheinische Art einen erfreulichen Abstand von der Berliner Geheimratsgrandezza, die selbst in der Atmosphäre kunst- und theaterfreudiger Berliner Häuser nie ganz verschwand.

Für mich selbst, um dies schon hier vorwegzunehmen, für mein eigenes Dasein hat der Widerwille gegen diese Art von Lebenshaltung sehr wichtige, noch bis heute reichende Folgen gehabt. Ich erkannte in diesem meiner innersten Natur zuwiderlaufenden knalligen Gesellschaftswesen und Literaturtreiben, in der endlosen Jagd von Einladungen, die nicht nur an den körperlichen, sondern auch an den geistigen Verdauungsapparat die höchsten Ansprüche stellten, schon früh genug, schon in den meiner Entdeckung folgenden Wintermonaten, eine mir drohende schwere Gefahr und faßte kurzerhand den Entschluß, mich ihr zu entziehen, koste es, was es wolle.

Man hat es mir in Berlin, das ja in Hinsicht auf den Lokalpatriotismus nicht seinesgleichen in Deutschland findet, als groben Undank ausgelegt, daß ich der Stadt, die mich soeben erst auf den Schild erhoben hatte, schon nach kurzem den Rücken kehrte (aus tiefinnersten Gründen den Rücken kehren mußte), und hat es mir eigentlich bis heute nicht verziehen, soweit man sich dort überhaupt noch mit meiner Person beschäftigt. Ich habe aber ganz genau gewußt, was ich tat und warum ich es tat: aus einem Selbstschutzbedürfnis, einem Selbsterhaltungszwang meiner Natur. Ihr zu folgen, ist mir von Jugend an oberstes Gebot gewesen; auch damals, als ich Berlin für immer verließ, wiewohl ich mir von vornherein darüber klar war, daß diese Flucht vor Berlin – wenn man es so nennen darf – mir meinen Lebenskampf und Lebensweg unendlich erschweren werde. Was ja dann auch pünktlich eingetroffen ist. Denn nicht nur für Rom gilt, daß Rom verliert, wer Rom verläßt. Als ich Berlin verließ, um auf dem Umwege über die Schweiz nach München zu gehen, wovon ja im Folgenden zu berichten sein wird, hatte ich bei der maßgebenden Berliner Kritik eigentlich für immer verspielt, wenn dies auch erst allgemach in Erscheinung treten sollte. Man spreche nicht von Übertreibung oder Selbsttäuschung: es ist mir oft genug aus dem Munde führender Berliner Kritiker und Theaterdirektoren jener Tage entgegengeklungen, und zuweilen höre ich es noch heute.

In Süddeutschland, in München zumal, das ja nun bald meine zweite Heimat werden sollte, hatte die großbürgerliche und kapitalistische Entwicklung noch bei weitem nicht das sprunghafte Tempo angenommen wie in Berlin und im industriellen Westen. Sie ist ja auch – man kann sagen, zu ihrem Glück – selbst in der Zeit der größten Hochkonjunktur dem im Norden und Westen angeschlagenen Eilschritt niemals nachgekommen. Hier auf uralt bajuwarischem Bauernboden, unter vielfach noch ganz urtümlichen Lebensverhältnissen, die noch der heranwachsenden Halbmillionenstadt den eigenen Reiz des Primitiven verliehen, ja für viele Fremde eine fast perverse Anziehungskraft besaßen, hatte der sich aufblähende Mammonismus, hatte auch der frisch importierte amerikanische Mammutismus kein sehr günstiges Erdreich vorgefunden. Der bajuwarische Stamm, vielleicht zäher als irgendein anderer der deutschen Stämme an Überlieferung und Herkommen festhaltend, brachte den beiden neuzeitlichen Gewächsen weder Liebe noch Verständnis entgegen. Es fehlten die verwandten und kongenialen Naturen, um ihnen auf diesem kargen Boden, in dieser rauhen Luft die erforderliche Pflege und Wartung angedeihen zu lassen. Der Götzendienst des Geldes und der seine Schleppe tragende Luxus sind für den Komplex München (als Ganzes genommen) immer Fremdkörper geblieben. So war es 1895. So war es 1910, als ganz Deutschland im Glück zu schwimmen schien. Und so verhält es sich erst recht natürlich auch heute Geschrieben 1933.

Dennoch konnte es nicht ausbleiben, daß auch die Stadt, deren berühmteste Kultstätte das Hofbräuhaus, deren himmelanstrebendes Wahrzeichen die beiden Maßkrügel auf Unserer Lieben Frau Dom war, auf ihre Weise ebenfalls von all dem angesteckt wurde, was nun einmal in der Luft der Zeit lag. Gewiß! Man trieb keinen Wohnungsluxus, huldigte keinen gastronomischen Schwelgereien wie in Berlin. Die Straßen bewahrten nach wie vor ihre dreistöckigen Fronten, die Häuser ihre gemäßigten, nicht überladenen Fassaden, entarteten auch nicht zu Wolkenkratzern, diesen hemmungslosen Gebilden amerikanischer Elefantiasis. Die Menschen, die darin wohnten – dieses Gemisch von Alteingesessenen und Zugereisten – trugen auch ferner nach Vätersitte den Lodenmantel (Kleiderluxus war das Letzte, was man dem damaligen Münchner nachsagen konnte), aßen des Abends ihren Radi und tranken ihre Maß, pilgerten zur Weißwurst, zu Bock- und Salvatorpartien, begannen eben damals Rad (Veloziped) zu fahren und allerlei andern Sport, zumal den autochthonen des Bergkraxelns, zu treiben: kurz, sie hielten es in vielen Dingen noch so, wie es die Alten getan hatten.

Und doch nicht in allem. Eben um diese Zeit geschah es, daß alle Welt in Deutschland zu reisen begann. Und diese Passion – auch sie ein Ausdruck zunehmenden Wohlstandes und Wohlergehens – ergriff nun auch das sonst so fest wurzelnde Münchnertum und trieb selbst den eingefleischten Stammtischbesucher zur österlichen Baumblüte, zur herbstlichen Weinlese nach Bozen oder dem Gardasee. In prangender Sommerszeit wiederum griff man zum Rucksack und fuhr ins Salzburgische; »ins Tirol«, nach den Tauern oder Dolomiten, statt wie früher zur Villeggiatur am Starnberger See. (Einen Wintersport gab es ja noch nicht.) So wurden denn auch in München die Zeichen der Zeit immer deutlicher wahrnehmbar. Man konnte sich nun eben auch hier etwas leisten, brauchte nicht mehr so ängstlich auf den Groschen zu sehen, wie es noch Vater und Mutter getan hatten. Jedermann reiste ja doch. Reiste nach der Riviera, nach der Levante und nach dem Nordkap. Gab nicht der Kaiser selbst das Beispiel dafür, so angefochten er sonst auch war? Der Reisekaiser, so sagte man von ihm, aber man tat es ihm nach. Und erweiterte man denn nicht seine Kenntnisse, bereicherte seine Bildung (Bildung! Von je ein Schlagwort der Halbgebildeten!), wenn man in die Fremde, wenn man in das ahndevoll mit der Seele gesuchte Welschland fuhr?

Warum hätten die guten Münchner es den nun in Massen erscheinenden norddeutschen Brüdern nicht gleichtun sollen, die ja zudem noch eine Tagesreise weiter nach den Bergen, nach dem Süden hatten? Zwischen dem Palmsonntag und dem Weißen Sonntag konnte man in den nun kommenden Jahren seine Münchner Bekannten eher auf dem Bozner Waltherplatz als auf dem heimischen Odeonsplatz treffen. Und wenn dann abends die Scharen sich in der Torggelstube, im Batzenhäusl zusammenballten, so konnte, wer Glück hatte, an einem Nachbartisch Otto Erich Hartleben sitzen sehen, wie er grade bei der sechsten Flasche seiner lyrischen Muse Audienz gab. Ich habe ihm nicht ganz selten dabei Gesellschaft geleistet. O weinlaubbekränzter Schatten Otto Erichs! In welche Fernen entschwandest du? Und wie weit ist der Weg seit jenen Tagen der Jugend, der Freundschaft, der Begeisterung (nicht selten auch des Hasses) und des roten Magdaleners!

Ja, man hatte es jetzt auch in München dazu. Und wie der Volkscharakter es mit sich brachte, legte man, was übrig blieb, lieber in Flüssigem als in Festem an. Die Kultur der Küche – man steinige mich nicht! – ist wenigstens im älteren München nie sehr zu Hause gewesen. (Eine neue Zeit hat auch darin manches gewandelt.) Kundige sagen, daß Wein den Gaumen verfeinere, Bier ihn vergröbere. Sicher ist, daß man in Weinländern besser zu essen pflegt als in Bierländern. So wird es wohl seine Richtigkeit mit jenem Satz haben. Aber auch für ihn, wie überall, gelten Ausnahmen. Man wird im Gegensatz zu München Berlin schwerlich eine Weinstadt nennen können. Bier ist doch auch hier das Nationalgetränk. Und doch entstanden hier gerade in diesen Jahren jene bürgerlichen Schlemmerlokale, wie man sie wohl nennen darf, in denen auch der Gaumen des Kaufmanns, des Journalisten, des Amtsgerichtsrats, also des wohlhabenden und gehobenen Bürgers, für wenige Mark in den Finessen der Küche, in Austern, Kaviar, Krebsen und andern Delikatessen schwelgen konnte. Sie hatten sofort außerordentlichen Zulauf und mußten sonntags und an jüdischen Feiertagen wegen Überfüllung polizeilich gesperrt werden. In München haben sich solche Schlemmerlokale des Mittelstandes nie durchsetzen können. Ein paar Versuche, die im Lauf der Zeit gemacht wurden, gingen meist von Berliner Unternehmern aus und schlugen fehl. Man hielt sich hier streng innerhalb der Grenzen des überkommenen Geschmacks, kam nie sehr weit über den Kalbsnierenbraten, den Jungschweinsbraten, den Gansbraten hinaus, die bereits die Festtafel geziert hatten, als der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm. Dafür erlebte das wohlhabend gewordene München der Neunzigerjahre einen Aufschwung der Bierkultur, der wiederum jenen Urgroßeltern wie ein schöner Märchentraum vorgekommen wäre. Jahrhundertelang hatte es in München nur ein einziges Salvator gegeben, den Labetrunk einer bevorrechtigten Brauerei, den man sich eine Woche lang zwischen Aschermittwoch und Ostern mit Ausdauer einverleibte, um seine durch die Entbehrungen der Fastenzeit dahinschwindenden Kräfte wieder etwas aufzufrischen. Plötzlich tauchten damals in der gesegneten Stadt ein halbes Dutzend ähnlich gehaltvoller Starkbiere auf, die natürlich die Kenner (und wer war es nicht?) zu vielen ernsthaften Proben und Vergleichen herausforderten und statt der bisherigen einen Woche alle sieben Wochen der Fastenzeit bekömmlich ausfüllten. Da der Ostertermin ja nie allzuweit vom Maianfang entfernt liegt, zu welchem Zeitpunkt nicht nur alle Knospen, sondern auch die Banzen des Hofbräuhausbocks aufspringen, so war dafür gesorgt, daß in der Münchner Stadt die Gemütlichkeit nie aufhörte, wie ich es schon zu Beginn meines ersten Münchner Semesters, zehn Jahre zuvor, im Platzl hatte singen hören.

Man tadle mich nicht, daß ich es den landläufigen Wochenplaudereien der Zeitungen nachzutun scheine, indem ich bei dem Kapitel München immer wieder auch auf das Thema vom Münchner Bier komme. Aber dies gehört nun einmal zur Atmosphäre der wunderlichen und wunderbaren Stadt, also zu dem, was jedem zuerst in die Augen fällt und wovon er, wollend oder nicht, so wenig loskommen kann wie etwa vom Wetter. Dies ist ja bekanntlich ein Lieblingsthema jeder Unterhaltung. Man schilt es banal und kommt doch immer wieder darauf zurück, was zu beweisen scheint, daß es eines der menschlichen Urprobleme ist, das nur die meisten sozusagen von der lächerlichen oder von der ärgerlichen Seite her, also auf eine rein persönliche Weise behandeln, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, daß es auch eine sehr ernsthafte Wissenschaft der Meteorologie, der gelehrten Wetterkunde gibt.

Ich möchte den Vergleich hier nicht zu Tode hetzen, aber es kann kein Zweifel bestehen, daß es die wichtigsten Folgen für eine Stadt, einen Menschenschlag haben muß, wenn jahrhundertelang (seit dem endenden Mittelalter, bis dahin war München merkwürdigerweise eine Weinstadt) etwas in so hohem Maße Volksnahrungsmittel gewesen ist wie in München das Bier. Es ist gewiß nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, nicht nur die gesellschaftliche und kulturelle, sondern auch die künstlerische und sogar die politische Entwicklung Münchens und Altbayerns wäre anders verlaufen als sie ist, wäre nicht der Biergenuß gewesen und man wäre statt dessen etwa beim Wein geblieben. (Wozu in allermerkwürdigster Umkehrung noch zu sagen wäre, daß es im heutigen München unzählige Weinwirtschaften gibt, die alle leben und gedeihen, und demnach fast so etwas wie eine Rückläufigkeit zur Weinstadt sich bemerkbar zu machen scheint.)

Seit der Mitte der Neunzigerjahre begann der Münchner Fasching, der schon immer im stillen gediehen war, seine bunteste Blütenpracht zu entfalten. Ein ganzes Jahrhundert München – seit den Tagen der ersten pfälzischen Wittelsbacher, in deren Gefolge der Maler, der Bildhauer, der Schriftsteller, jede Art von Künstlertum in die zuerst widerstrebende Stadt eingezogen waren – hatte das Erdreich vorbereitet, aus dem das in allen Farben schillernde Gewächs jenes Münchner Faschings um die Jahrhundertwende seine besten Lebenssäfte bezog. Gerade nun in jenen Jahren sollte der Zustrom von künstlerischen Kräften jeder Art, der schreibenden wie der bildnerischen, seinen höchsten, nachmals nie mehr übertroffenen Pegelstand erreichen. Für die künstlerische Jugend aller Grade wurde das München der Jahrhundertwende zu einer Art von Mekka, bis dann nicht lange vor dem Weltkrieg Berlin in scharfen künstlerischen Wettstreit mit München zu treten begann.

Diese späteren Neunzigerjahre sahen alles, was auf dem Felde der Kunst jung und hoffnungsvoll war und seine Flügel regen wollte, beinahe wie auf Verabredung in München sich versammeln. Hier war vor kurzem in der »Sezession« eine Arena für alle Kämpfe und Kämpfer der neuen Malergeneration erstanden. Man drängte sich zu ihren Eröffnungen, zur jedesmaligen »Vernissage«, debattierte über die Realistik Uhdes, die Problematik Habermanns, bestaunte die mir schon damals leer scheinende Monumentalität Stucks (vor seinem »Krieg« sah man in jenem Sommer die Besucher zu Haufen stehen) und erhitzte sich im Für und Wider der beiden gegnerischen Lager. Denn auf der andern Seite stand ja noch in fast unerschütterter Publikumsgunst die alte Phalanx der Künstlergenossenschaft, die Jahr für Jahr eine gewaltige Massenschau ihrer Heerscharen veranstaltete. Hier zog auf den bespannten Wänden, bunt zusammengewürfelt, ein verwirrendes Durcheinander aller in den vorigen Menschenaltern modern gewesenen Kunstströmungen, Altes und Ältestes, Gutes und weniger Gutes, viel ehrlich Gekonntes und roch mehr geschäftstüchtig Gemachtes, am Beschauer vorüber.

Und neben diesem allen, ja über dies alles hinaus – eine Welle, an Schwung scheinbar jede andere überspringend, jeder andern voraus – erschien jetzt in der strudelnden Fülle all dieses künstlerischen Geschehens die junge feurige Bewegung der angewandten, der dekorativen Kunst. Auf den Teppichen von Obrist, von Eckmann schien auf einmal die ganze Feldblumenpracht der Wiesen von Rottach und Tegernsee zu erblühen. Unvergeßlich, wie diese blühenden Wunder plötzlich vor unseren Augen erschienen! Es war, als habe grade hier, auf dem Felde der angewandten Kunst, der Naturalismus sein Bestes, sein Stärkstes zeigen wollen. Seine befruchtenden Säfte teilten sich diesem ganzen vielgegliederten Gebiet der dekorativen Kunst und dadurch sehr bald unmittelbar dem öffentlichen Leben selbst mit, gleichsam jeden Zollbreit dieses Bodens bereichernd, erneuernd, verjüngend. Mit einem Schlage wurde eine ganze Reihe neuer Namen bekannt, viele von ihnen längst wieder vergessen, manche noch heute in altmeisterlichen Ehren unserm Gedächtnis erhalten.

Jetzt sollte es seine Früchte tragen, daß dieses oft verlästerte »bierselige« München in lässigem Behagen jeden, der da war, nach seinem Gusto hatte leben und walten lassen, keinen Unterschied (wenigstens nicht im Hofbräuhaus) zwischen Reich und Arm, Vornehm und Gering, ja nicht einmal zwischen Minister und Droschkenkutscher machte: das Erstaunen aller von Norden Gekommenen und so manchem – den Erschlossenen unter ihnen – wie eine Befreiung vom Alpdruck, vom Angsttraum kaum erträglichen Kastengeistes der Heimat. Was war es denn anderes, was alle diese jungen Leute, alle diese vom Dämon der Kunst Besessenen nach München trieb, als eben diese Atmosphäre der Ungezwungenheit, der gesellschaftlichen Freiheit und Lässigkeit, des unbefangenen Nebeneinander der Stände? So kamen sie. Kamen alle aus Nord und West und Ost. Kamen, weil sie mußten, weil sie es gar nicht anders kannten, als daß es eben nur München gebe, wenn man zur Kunst wolle, dies eine München und keine andere Stadt neben ihm.

In dieser Republik der Geister war kein Rangunterschied als der des Könnens, des Talents. Auch der Ärmste konnte sich hier schließlich durchsetzen, mochte es auch Kampf genug kosten, der ja aber auch dem Begüterten nicht erspart blieb. Denn die Auslese der Besten, der Fähigsten in diesem unerhörten Wettbewerb von so viel Jugend und Können war streng wie nie, vollzog sich nach den ureigenen Gesetzen des künstlerischen Schaffens. Wer nicht rastlos an sich arbeitete, nicht unermüdlich vorwärtsstrebte, unentdecktem Lande entgegen, der blieb bald zurück, wurde mitleidslos abgetan. Es wehte eine scharfe Luft in den Ateliers, in den Arbeitsstuben der damaligen Malenden und Schreibenden, Dichtenden. Zwei satirische Zeitschriften erstanden zu gleicher Zeit aus diesem schwangeren Boden, aus der heitern und zugleich stählernen Atmosphäre des damaligen Münchens: »Jugend« und »Simplicissimus«. Jene mehr den besinnlichen Humor, das farbenfreudige Bild pflegend. Dieser von unerbittlicher Schärfe der Kritik und Treffsicherheit der satirischen Zeichnung. Um die führenden Köpfe in beiden Blättern sammelte sich ein ansehnlicher Kreis von Mitarbeitern, von Talenten der ersten und zweiten Ordnung. Auch das »Schlawinertum« (wovon schon im ersten Teil berichtet), dieses nach München verpflanzte ost- und südosteuropäische, ethnographisch stark durcheinandergemanschte Zwittergebilde, das mit seinem penetranten Parfüm von Ungewaschenheit und Zigarettendunst dem eingesessenen Urmünchnertum keine reine Freude bereitete, bereicherte die malende und zeichnende Jugend jener Tage um einige originelle Spezialitäten.

Welch eine Fülle der schöpferischen Kräfte, allein auf den Gefilden der bildenden Kunst, barg doch das München dieser späteren Neunzigerjahre! Ihre Namen zu nennen, würde Seiten füllen. Hier ist nicht der Platz dafür. Soweit Einzelerscheinungen meinen Weg gekreuzt haben und lange Jahre mit mir zusammengegangen sind, wie Corinth, wie später Weisgerber, wird zur gegebenen Zeit von ihnen die Rede sein.

Mußte nicht aus diesem Überfluß, aus dem Überschuß des jugendlichen Zusammenspiels aller dieser schöpferischen Kräfte etwas ganz Eigenes, ganz Besonderes noch neben der eigentlichen Kunst, der hohen wie der angewandten, erwachsen, worin man sich gleichsam von sich selbst wieder befreite, loslöste, der eigenen künstlerischen Strenge und Fron auf kurze Zeit ein Schnippchen schlug, gewissermaßen nach der Arbeit einen Purzelbaum machte, wie man im Zirkus nach dem tödlichen Schweigen des Saltomortales den Clown seine schallenden Witze machen hört? Und hier fügte es sich nun ganz von selbst, daß dieser entfesselte Strom künstlerischen Übermuts, losgelassener Jugend sich in das bereits kanalisierte Bett ergoß, das er aus Väterzeit vorfand.

Es war der Karneval, der Münchner Fasching, wie er von jetzt ab mit Vorliebe genannt wurde. Ich sagte schon, daß es ihn auf eine stillere, bescheidenere, gleichsam anonyme Art stets hier gegeben hatte. Aber niemand wäre es bis dahin beigekommen, ihn mit seinen berühmten Verwandten in Köln oder Mainz oder Nizza in einem Atem zu nennen. (Der römische Karneval gehörte ja schon damals der Vergangenheit an.) Jetzt begann die Kunde vom Münchner Fasching sich überall in Deutschland zu verbreiten und besonders den norddeutschen Fremden anzuziehen. Alle guten Geister einer sinnenfrohen und doch gebändigten, nie verletzenden Ausgelassenheit und eines künstlerisch farbenfreudigen Geschmacks schienen sich auf den Redouten und Balparés des neugegründeten »Deutschen Theaters«, bei den Kostümfesten der Maler- und Literaturjugend ein Stelldichein zu geben. Das glückliche Temperament der Stadt, dieses erdhafte, naturnahe, sinnliche, pralle, strotzende Wesen des Bajuwarentums, vereinigte sich mit den wahlverwandten Eigenschaften der hierher verpflanzten Künstlerjugend zum glücklichsten Bund. Es waren Feste der Schönheit, der Sinnenfreude, der Jugend, des Talents, wie wir Älteren sie nie wieder erleben werden und wie sie vielleicht auch den kommenden Geschlechtern nicht so bald wieder beschieden sein werden.

O glückliches, wohllebiges, genießerisches Deutschland vor vierzig, vor dreißig, zuletzt auch noch vor zwanzig Jahren Geschrieben 1933.)! Deine Städte blühten und wuchsen. Deine Bauern hatten genug, in manchen Gauen sogar im Überfluß. Deine Arbeiter, trotz vieler Not, Beschwerden und Klagen, kannten noch nicht die Hölle der Arbeitslosigkeit. Deine Schiffe zeigten ihre Flagge auf allen Meeren. Dein Handel umspannte den Erdball. Deine Macht war gefürchtet in allen Landen. Deine Wissenschaft rang vor den andern um die Palme des Sieges. Deine Technik eroberte die Welt. Welch eine Sonne, welch ein Glanz über diesem Zeitalter von 1895 bis 1914! Über diesen zwanzig Jahren deutscher Geschichte! Woran erinnert uns das doch alles? ... Ganz ähnlich so, wenn man den selbstverständlichen Zivilisationsunterschied abzieht, auch die politischen Machtfaktoren entsprechend umschaltet: ganz ähnlich so war es um das Deutschland von 1600 bestellt, dessen Wohlstand und Üppigkeit von keinem folgenden Zeitalter, erst wieder in unseren Tagen erreicht und dann freilich auch übertroffen worden ist.

Deutschland von 1600. Grollt nicht in seine üppigen Träume bereits das erste unterirdische Raunen des großen Weltbebens, das man mit dem Namen des Dreißigjährigen Krieges umschreibt? Und unser Deutschland von 1900? Ist es nicht auch hier wie eine Vorahnung von kommenden ungeheuren Schrecknissen, die seine fiebernde und dekadente Phantasie verfolgt und als fahles Gewitterlicht, fernher am Horizont aufsteigend, grell gegen den heiteren, sonnenbeschienenen Vordergrund absticht? Denn eben zu der Zeit, in der dieser Teil meines Lebensberichts seinen Anfang nimmt, 1893 oder 1894, setzt bereits die Serie der kleineren oder größeren Kriege ein, die in fast ununterbrochener Folge die nächsten zwei Jahrzehnte erfüllen und, nach Art der Vorbeben und Vorwehen unseres feuerflüssigen Erdschoßes, zu dem ungeheuren Vulkanausbruch des Weltkrieges hinüberleiten sollten. Es waren – in flüchtiger Aufzählung – der serbisch-bulgarische, der italienisch-abessinische, der griechisch-türkische, der spanisch-amerikanische, der Buren- und der chinesische Boxerkrieg, dann in stark ansteigender Fieberkurve der russisch-japanische Krieg, die marokkanische und die bosnische Krisis, beide Deutschland bereits aufs höchste treffend und bis hart an den Krieg führend, schließlich das Balkan-Chaos, schärfer umrissen darin der bulgarisch-türkische und der um den Besitz von Tripolis geführte türkisch-italienische Krieg. Kündigten nicht die Zeichen am Himmel, die feurige Lohe der fernen Brände den bevorstehenden Gerichtstag, die kommende Weltenwende an? Aber die Menschheit wiegte sich in Träumen von Glück und Frieden, lachte und tanzte, während schon die Flanken der Mutter Erde kreißend zuckten und barsten und drohendes Donnerrollen erklang.


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