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Dritter Akt

Der gleiche Schauplatz wie zuvor.

Im Hintergrunde rechts am Seeufer zwischen Turm und Bühnenzelt ist ein Holzstoß aufgeschichtet. Vorne vor der Fontäne ist ein großes mit Blumen und Weinlaub umkränztes Weinfaß auf einem niedrigen Gestell hergerichtet. Rechts davon am Fuß der Anhöhe steht ein Kredenztisch mit Bechern, Krügen, Gläsern, sowie verschiedenen kalten Speisen. Schemel und Gartenstühle sind rings verstreut.

Es ist zwei Stunden später. Die Sonne ist am Untergehen. Rotes und violettes Licht liegt über See und Bergen. Danach tritt Dämmerung ein. Der Mond erscheint groß und rund am Horizont.

Hinter dem Kredenztisch stehen Dorothee, Hedwig und Frau Römerschmidt in eifriger Arbeit des Anrichtens und Austeilens von belegtem Brot, kaltem Braten, Wurst, Kuchen, Käse, Eis. Dorothee ist in hellem Sommerkleid. Hedwig trägt ein strenges Reformgewand. Frau Römerschmidt, üppige, hochblonde Vierzigerin, ist schneeweiß à l'enfant angezogen. Vor dem Tisch und auf dem Platz drängen sich in buntkostümiertem Durcheinander Lanzinger als Pierrot, Rasumoff im russischen Nationalkostüm, Dräger in Robespierre-Tracht, Kasper als Holzknecht mit bunten Hosenträgern, Spielhahnfeder und nackten Knieen, Rehbein, schmächtige Kandidatenerscheinung mit Brille, langem überhängenden Haar, Jägerrock und Jägerwäsche, Marquardt im schwarzen Sonntagsrock, Finsterlin wieder im weißen Talar mit Priestertiara, Frau Lindenblatt im Rokokokostüm.

Außer den Genannten sieht man noch eine Anzahl von slawischen und skandinavischen Studenten, Studentinnen, Malern und Malerinnen in charakteristischen Kostümen.

Alles schiebt und stößt durcheinander, drängt gegen den Kredenztisch oder verteilt sich in bunten Gruppen lachend, schwatzend, essend und trinkend rings um die Fontäne.

Am Weinfaß kniet Jürgen im hellen Sportsanzug, zapft Wein in die bereitgehaltenen Becher, Krüge und Gläser. Afra und Bärbeli, beide in Schweizer Tracht, gehen bedienend durch die Menge.

Vor dem Weinfaß ist ein großer Teppich ausgebreitet. Auf dem Teppich sitzt mit untergeschlagenen Beinen Schätzli-Stüßli, ein graubärtiger Sechziger von riesenhaftem Umfange in persischer Nationaltracht, Krummsäbel an der Seite, Turban auf dem Kopf. Er überwacht mit gezogenem Säbel die Hantierungen Jürgens und der andern am Faß.

Vor Aufgehen des Vorhanges hört man Geschrei, Gelächter und Gesang.

Rufe am Kredenztisch rechts Mir, Frau Dorothee! Mir! Mir! Hierher! Hierher! ... Ich habe noch gar nichts! ... Mir! Mir! Zwanzig Hände strecken sich über den Tisch und greifen nach den Schüsseln.

Dorothee gleichzeitig abwehrend und austeilend Ruhe, Kinder! Kalt Blut! Jeder bekommt sein Teil! Keiner verhungert! Wollt ihr nicht gleich die Schüsseln mitessen? Zu Rasumoff, der sich vordrängt Du, laß das, ja! Sie schlägt ihn derb auf die Finger Man faßt nicht mit den schmutzigen Pfoten in die Sardinenbüchse! Dazu ist die Gabel da!

Rasumoff Nehm' ich gleich die ganze Dose! Er greift wieder nach der Sardinenbüchse, nimmt sie an sich.

Dorothee fällt ihm in den Arm Holla! Hand weg! Andere Leute wollen auch Sardinen haben!

Rasumoff zieht sich schleunigst mit der Büchse zurück Teil' ich mit Brüder meinige! Er hält die Dose in die Luft, präsentiert eine Sardine zwischen Daumen und Zeigfinger Brüder und Schwestern! Jedem ein Fisch! Rasumoff teilt brüderlich! Komm' her, Schwester Xenia Wladimirowna! Er winkt einer jungen russischen Studentin, wird sogleich von einer Gruppe von Landsleuten umgeben.

Dräger mit Blick zur Gruppe Ferkelbande!

Marquardt eifrig kauend Alles eins, Genossen! Es kommt ja doch in denselben Magen.

Lanzinger Atavistische Urinstinkte aus der asiatischen Steppe! Was weiter!

Dorothee ausrufend Wer will Roastbeef, kaltes Huhn, Zervelatwurst ...

Stimmen aus der Menge Hier! Hier! ... Ich! Ich!

Dorothee Kommt, Kinder, kommt! Nachtragen kann ich's euch nicht! Holen und essen müßt ihr's selber!

Neues Gedränge um den Kredenztisch.

Stimmen Hoch Frau Dorothee! Hoch die Mutter vom Ganzen! Hoch! Hoch!

Dorothee Ja, laßt mich leben, Kinder! Es ist das einzige, was man hat! Ich bin ja so verliebt ins Leben! Ich möchte euch alle nehmen und mit euch tanzen! Zu einem, der sie von hinten umfaßt Holla, wer ist der Frechling? Sie reißt sich los, dreht sich um, droht Du, nimm dich in acht! Ich mache kurzen Prozeß! Ausrufend Kalter Braten! Wurst! Schinken! Belegte Brötchen!

Frau Römerschmidt ebenfalls ausrufend Käse! Butter! Käse!

Viele Stimmen Hoch Frau Dorothee! Hoch unsere Inselfee!

Dorothee zu den Umstehenden Warum singt ihr nicht, Kinder? Singt und tanzt doch! Musik! Musik!

Stimmen Musik! Musik!

Kasper tritt zu Dorothee Ist das Gerede über Bruno wahr, Frau Dorothee?

Dorothee zu Kasper Komm', Freund! Wir tanzen!

Kasper Was auch geschieht, Frau Dorothee, mich habt ihr sicher!

Dorothee mit kräftigem Handschlag Dank, guter Kerl! Dank! Im Hintergrunde ertönt Geigen- und Lautenspiel.

Kasper Holtriaho! Er umfaßt Dorothee, tanzt mit ihr durch die Menge. Andere Paare folgen. Lärm, Tanz und Fiedelklang.

Finsterlin im Gespräch mit Frau Lindenblatt vorüberwandelnd, deutet kopfschüttelnd auf die tanzende Menge O Schleier der Maja, der du uns das wahre Gesicht der Dinge verbirgst! ... Ja, ja, beste Lindenblatt! Wir jubeln und tanzen und sehen nicht, daß schon das Alter und der Tod uns über die Schulter gucken.

Frau Lindenblatt Deine masochistischen Sachen von heute nachmittag wollen mir gar nicht aus dem Kopf, Meister. Wundervoll die Rückenstellung der knieenden Sklavin ...

Finsterlin Ja, Michel Angelo und ich werden wohl die einzigen sein, die das Problem zeichnerisch gelöst haben.

Frau Lindenblatt Du weißt, Meister, ich bin sexuell eine Zwischenstufe ... Vielleicht habe ich darum ein besonders feines Gefühl, wie tief du da wieder geschürft hast. Sie verschwinden in der Menge.

Frau Römerschmidt hat vom Kredenztisch her die beiden beobachtet, stößt Hedwig an Sieh nur! Sieh nur die beiden! Müssen sich die aber Neuigkeiten zu erzählen haben!

Hedwig Sie haben sich eben gefunden ... am Johannistag. Andere verlieren sich am Johannistag.

Frau Römerschmidt Du bist verstimmt ... Armes Ding!

Hedwig Ach, was weißt du!

Frau Römerschmidt Es ist ja schon ganz bekannt, daß er fortgeht. Er hat mir's selbst verraten.

Hedwig Dir hat er's verraten? Wiegand sollte dir so was anvertrauen ...

Frau Römerschmidt Wiegand? Ich meine doch Lanzinger.

Hedwig Lanzinger? Pah!

Frau Römerschmidt Schau! Schau! Sie dämpft ihre Stimme Ja, was sagst du zu der tollen Geschichte? Wenn Wiegand wirklich Minister wird, fliegt doch die ganze Insel auf!

Dräger tritt zu Hedwig mit Handschwenken Melde mich zu einem Walzer.

Hedwig Danke! Ich tanze heut' nicht.

Dräger Schade! Vielleicht ist es das letzte Tänzchen, das wir durch die Gnade unseres erhabenen Protektors hier abhalten. Er geht weiter.

Marquardt verbeugt sich mit linkischer Grazie vor Frau Römerschmidt Darf ich untertänigst um einen Tanz bitten, huldreiche Göttin?

Frau Römerschmidt Ei, wie galant unser Revolutionär! Und der fesche Bratenrock!

Marquardt Man kann doch nicht immer so'n Stoffel und Ruppsack bleiben. Innerlich braucht man darum noch lang' nicht anders zu werden. Noch lang' nicht. Er macht einen Kratzfuß Na, wollen wir ein bißchen?

Frau Römerschmidt Ich fürchte nur, man transpiriert zu sehr bei der Hitze?

Marquardt I, das trocknet schon wieder. Auf 'm Bau wird man hundertmal am Tag naß und wieder trocken. Mit neuem Kratzfuß Gnädigste Huldin? Er zählt die Schritte Eins, zwei! ... Eins, zwei! Sie tanzen fort.

Rehbein tritt zu Hedwig mit schüchterner Haltung Ach, Fräulein Hedwig ... Wenn ich noch ... Ich meine ... wenn ich noch ein wenig ...? Ich esse nämlich so furchtbar gern Eis ...

Hedwig nimmt seinen Teller, legt reichlich auf, gibt ihm den Teller zurück.

Rehbein stotternd Ich danke ... Ich meine ... Ich wollte ... Ich meine, daß die andern ... Er steht mit dem Teller in der Hand, sieht sie hilflos an.

Hedwig Auf der Insel der Seligen kümmert man sich nicht um die andern! Auf der Insel der Seligen nimmt jeder, was er kriegen kann!

Rehbein Das ist ja auch mein Standpunkt ... Theoretisch meine ich ... Praktisch natürlich ... Wir sind ja Raubtiere, wir Menschen ... Raubtiere ... gewiß! Aber dennoch ... Sehen Sie, Fräulein Hedwig ...

Hedwig Was soll denn das ewige Fräulein und Sie? Ich denke, man duzt sich hier. Das gehört mit zu unserm freien und herrlichen Raubtiertum ...

Rehbein wieder sehr verwirrt Man ist es ... Ich bin es noch gar nicht so ... Ich meine, es ist doch erst ein paar Wochen her ... Früher auf dem Seminar und dann später ... als Idiotenlehrer ... Er stockt, sieht Hedwig an Ich bin nämlich ... Ich bin eine Zeitlang Idiotenlehrer ...

Hedwig Ich weiß. Es ist ja auch keine Schande.

Rehbein flüssiger Eine Schande ... O nein, ganz gewiß nicht! Aber wenn man dann so hier ... Er zeigt in die Runde Das alles ... das ist ja wie eine neue ... wunderschöne Welt! All die bedeutenden ... die ... die merkwürdigen Menschen! Die herrliche Natur! Und hier so stehen ... mit Ihnen ... und zusehen, wie getanzt wird ... Und das prachtvolle Eis essen ... Wie ein Traum! Ein wunderschöner Traum!

Hedwig Und vergänglich wie alle Erdenträume!

Rehbein Aber die Hauptsache ... Daß man ihn geträumt hat ... wollt' ich sagen, das ... das ist die Hauptsache! Er sieht sie voll an Daß man ihn geträumt hat, Fräulein Hedwig! Er wirft ihr einen schüchtern bittenden Blick zu, wendet sich dann fort.

Hedwig sieht ihm erstaunt nach Daß man ihn geträumt hat, den Traum ... das ist die Hauptsache! Gar nicht so dumm, der Idiotenlehrer! Gar nicht so dumm!

Dorothee hat zuerst mit Kasper, dann mit andern getanzt, reißt sich von ihrem Tänzer los Danke, es ist genug! Sie drängt sich durch die Menge zu Jürgen Wo steckt denn mein Sohn Jürgen, mein hoffnungsvoller Sprößling?

Jürgen der am Faß sitzt und einzapft, ruft ihr zu Hier, Mutter! Hier! Komm' hierher!

Dorothee Gib mir zu trinken, du Schwarm meiner Tage, Traum meiner Nächte!

Jürgen schlägt auf den Bauch des Fasses Wein die Masse, Mutter! Da hör' nur, wie es gluckst! Er reicht ihr einen Becher.

Schätzli-Stüßli erhebt sich, kreuzt die Arme in tiefer Verbeugung Allah mit dir, schöne Sultanin! Tritt ein in das Zelt deines getreuesten Knechts Schätzli-Stüßli, genannt Scheik Ibrahim von Teheran!

Dorothee hat getrunken, atmet tief auf Ah, tut das wohl! Sie fährt auf Jürgen los Wie siehst du aus, du Raubritter du? Gesteh', du hast Wein getrunken!

Jürgen Nicht einen Tropfen!

Dorothee Aber einen ganzen Humpen voll! Ich kenn' dich doch, mein Früchtchen! Was lachst du? Weil du deine Mutter angelogen hast?

Jürgen verbeißt sich mühsam das Lachen Wenn mir so was vorgeworfen wird, muß ich immer lachen! Das ist ja mein Unglück! Nachher glaubt einem keiner, daß man wer weiß wie unschuldig ist!

Dorothee Also lach', lach' dich aus, du Opferlamm weiß wie Schnee! Ich glaub', ich geh' auch noch mal mit Lachen in die Ewigkeit! Lieber Herrgott, sag' ich, du weißt, ich bin die Dorothee und hab' schon als kleines Mädchen lachen müssen, wenn ich die Rute bekommen sollte, weil ich den Finger in den Honigtopf gesteckt hatte! Und so ein dummes Luder bin ich mein Lebtag lang geblieben! Hab' ein Einsehen mit mir, großer Gott!

Schätzli-Stüßli sinkt vor ihr auf die Knie Beim Barte des Propheten! Die Pforten des Paradieses sollen dir offen stehen. Ich breite meinen teuersten Chorassan unter deine Füße, holdeste der Frauen!

Dorothee Machst du noch immer Liebeserklärungen, alter Schwerenöter, wie dazumal zwischen Täbris und Ispahan, als du uns Unterschlupf vor den Kurden gegeben hattest?

Schätzli-Stüßli ächzend Seitdem ist viel Wasser durch den Euphrat geflossen.

Dorothee Denk' mal an die gewisse Nacht im Zelt! Ich lieg' auf meinen Teppichen und schlafe! Auf einmal steht ein Ungeheuer mit solchem Bauch im Mondlicht vor mir und murmelt was von ewiger Liebe! Herrgott, hab' ich lachen müssen!

Schätzli-Stüßli Der Gerechte muß viel leiden ... Ich wollte dir ein Polster anbieten kommen.

Dorothee Sei froh, daß Bruno in der anderen Ecke wie ein Besenbinder schnarchte, sonst hätte er dich gepolstert! Aber gründlich!

Schätzli-Stüßli zu den Umstehenden Kinder, ich sag' euch, was ich in meinem Leben ausgefressen hab', ganz Tausend und eine Nacht ist eine Lumperei dagegen! Wollt ihr mir glauben, daß sie mich den Herzenbrecher von Teheran genannt haben? So wahr ich ein ehrlicher Muselmann bin! Den Herzenbrecher von Teheran! Wie findet ihr das?

Stimmen Hoch der Herzenbrecher von Teheran! Der größte Lügenbeutel des Ostens hoch!

Schätzli-Stüßli Gackerndes Federvieh ihr! Seid ihr mal siebenunddreißig Jahre auf dem Kamel durch die Wüste geritten wie ich! Habt ihr mal die kostbarsten Dhagestans und Ferahans gegen lumpige Kattunkittel eingehandelt! Seid ihr mal in allen Kurdenzelten, in allen Basars und in allen Harems vom Amudarja bis zum Tigris zu Hause gewesen!

In diesem Augenblick ertönen dumpfe Posaunenklänge. Aus dem Zelt links hinten treten paarweise Lothario und die Imhof-Adolphy, Roderich und Nelly von Schildburg, Marcipansky und Lamormain. Ihnen voran schreiten zwei Posaunenbläser in schwarzen Talaren und mit schwarzen Baretten. Die Schauspieler tragen die Kostüme des Stücks der Moritura. Lothario als fahrender Gaukler, die Imhof-Adolphy als Kupplerin, Roderich als Gralsritter, Nelly von Schildburg Frau Minne, Marcipansky Hanswurst, Lamormain im schwarzen Trikot mit Stundenglas und Hippe als Tod. Sie kommen in feierlichem Zuge langsam durch die sich teilende Menge nach vorne. Die Musik setzt ab.

Rufe Die Komödianten! Die Komödianten! Seht mal den Tod! Den Tod mit der Sense! Bravo! Hochrufe und Bravoklatschen.

Lothario nach rechts und links winkend und sich verbeugend Dank! Dank, ihr Bürger und Bürgerinnen kommender Jahrhunderte! Dank!

Marcipansky Quatsch mit Sauce! Gibt es nichts zu futtern?

Lothario zu den Umstehenden Nichts für ungut, edle Zukunftsapostel, es ist ein etwas rauher und borstiger Kujon und versteht sich nicht auf die Manieren der feinen Gesellschaft.

Kasper tritt zu ihm, deutet nach rechts Da drüben gibt's zu futtern genug! Immer angetreten!

Lothario Heißen Dank, mächtiger Gönner! Wir treten zur Tafel. Die Musik bläst einen Tusch. Er winkt den Posaunenbläsern, geht mit der Gruppe nach rechts zum Essen. Es ertönen neue Posaunentöne. Das Turmfenster oben wird aufgestoßen.

Medardus Neumann streckt seinen Kopf hinaus, ruft hinunter Blast! Blast! Blast, ihr Sendboten des Auferstehungstages! Blast, ihr Drommetenträger der ewigen Wiederkunft! Blast! Er schlägt das Fenster wieder zu.

Viele Stimmen Herunterkommen, Bruder Medardus! Herunterkommen!

Medardus Neumann öffnet von neuem das Fenster In den Staub mit euch, dumpfe Erdenklöße! Da! Da! Seht ihr die Feuergarben, die Walhalls Zinnen umloh'n? Seht ihr das Flammenschiff in Dunst und Rauch über die heilige Meeresflut dahinziehn? Auf die Knie mit euch, schlotternde Unterweltslemuren! Zurück in die Nacht, qualmende Grubenlämpchen! Armselige Fünfminutenbrenner!

Mich aber laßt hier oben beten im Licht
Zur uralten Mutter mit brennendem Angesicht!

Er hat die Verse in gesteigerter Ekstase gesprochen, steht in entrückter Haltung hoch aufgerichtet am Turmfenster. Es herrscht augenblickliches Schweigen.

Dräger Wenn er so einen Brand hat, gebt ihm doch zu saufen! Schickt ihm Wein hinauf!

Viele Stimmen Ja, ja, schickt ihm Wein hinauf! Schickt Wein hinauf! Becherschwenken zum Turm hinauf.

Schätzli-Stüßli zu Jürgen Page, zapf' ihm ein!

Jürgen schwingt einen mächtigen Krug, ruft zum Turm hinauf Ist der da groß genug?

Medardus Neumann beugt sich herunter Wein wollt ihr mir heraufschicken, wimmelnde Pygmäenbrut? Leibhaftigen Saft der Reben, in euren Niederungen da unten ausgeglüht? ... Wohl denn, mein Ganymed! Dein Zeus erwartet dich! Er zieht sich zurück.

Jürgen hat eingezapft, hebt den Krug auf die Schulter Hurra hopp! Jetzt geht's auf die Reise nach dem Mond! Er geht in der Richtung auf den Turm nach rechts zum Fuß der Anhöhe.

Dorothee die in ängstlicher Spannung zur Anhöhe rechts hinaufgeschaut hat, bemerkt Jürgen, vertritt ihm den Weg Wo willst du hin?

Jürgen Den Mann im Mond mit Wein versorgen! Laß mich durch, Mutter!

Dorothee Der Mann im Mond bist du wohl selbst, du Zechbruder, du?

Jürgen Aber nein, so ein Unsinn! Sie schreien doch alle, ich soll Medardus Neumann was zu trinken bringen .... Ich möcht' wissen, wo du heut' wieder deine Gedanken hast!

Dorothee Dumme Frage! Soll ich dir vielleicht um den Hals fallen? Alles hat man allein auf seinem Kopf! Auf keinen kann man sich verlassen! Man sitzt in der Angst und Aufregung ....

Jürgen Mutter, ist das wahr, was Onkel Dubsky erzählt ....

Dorothee Laß dir nur von Dubsky den Kopf verdrehen! Ein netter Umgang ist mir das!

Jürgen Schön! Also wenn du gnietsch sein willst .... Er will fort.

Dorothee Heraus mit der Sprache! Was hat dir Dubsky erzählt?

Jürgen Daß wir fort sollen, und daß Vater irgend so ein großes Tier werden soll .... Ist das wahr? Ehrenwort, Mutter!

Dorothee Was weiß ich! Frag' den Vater! Unsereins hat ja bloß zu kuschen! Gegen euch Herren der Schöpfung ist man ja nur so eine ganz untergeordnete Gattung.

Jürgen Aber nicht für mich! Ich bin doch nicht so zu dir, wenn man auch mal ein Wort zu viel sagt!

Dorothee I, du bist gerade so ein Taugenichts wie alle andern Mannsbilder!

Jürgen nachdenklich Mutter, glaubst du denn, daß es für den Vater gut wäre, wenn er hier 'raus kommt und wir beide mit?

Dorothee Dummer Kerl! Die einzige Rettung wär's für deinen Vater und für mich! Für uns alle! Sonst nimmt es kein gutes Ende!

Jürgen Warum geht dann der Vater nicht?

Dorothee Weil man euch Mannsbildern immer umsonst Vernunft predigt!

Jürgen Alle Männer sind doch nicht gleich. Ich zum Beispiel ...

Dorothee Du bist schon ein Held! Wenn man dran wackelt!

Jürgen Man muß Vater bloß mal ein gutes Beispiel geben.

Dorothee Ein Beispiel geben? Grundgütiger Heiland! Jetzt will der auch schon Beispiele geben! Als ob man seinen Vater predigen hörte!

Jürgen Hast du nicht oft genug gedroht, du wirst mich nehmen und mit mir zusammen fortgehen? Dann wird der Vater schon nachkommen.

Dorothee Du siehst ja, ich bin immer noch da.

Jürgen Dann muß eben einmal Ernst gemacht werden, Mutter. Ich an deiner Stelle tät's.

Dorothee Du wirst den Kohl schon, fett machen, du Hexenmeister, du!

Jürgen Adieu, Mutter! Jetzt geht die Reise los!

Dorothee Welche Reise?

Jürgen Na ja, zum Mann im Mond!

Dorothee Dann bestell' ihm einen schönen Gruß! Und ob er sich gewaschen hat?

Jürgen Ich werd's ausrichten, Mutter! Er geht nach hinten zu.

Dorothee für sich Ideen hat der Junge! Sie will ihm nach, ruft Du, Jürgen!

Jürgen schon im Hintergrunde Was, Mutter?

Dorothee Was war das für ein merkwürdiges Gefrage?

Jürgen Ich bin nicht so ein Taugenichts, wie du denkst! Du wirst schon sehen, daß du dich auf mich verlassen kannst, und der Vater auch! Adieu, Mutter! Er winkt ihr schnell zu, verschwindet rechts hinten.

Lothario der mit der Schauspielertruppe am Kredenztisch steht und eifrig einhaut Dies ist das göttlichste Roastbeef, das je gebraten worden ist! Also noch eine Scheibe davon.

Marcipansky Halt! Halt! ... Natürlich! Den ganzen Rest genommen!

Lothario Irgendein jus primae noctis muß doch dem Direktor übrigbleiben, nicht wahr, süße Nelly?

Nelly von Schildburg essend zu Roderich Der Direktor hat gewiß wieder etwas recht Unanständiges gesagt, Liebling, nicht?

Roderich vornehm Es war griechisch! Ich habe nicht acht gegeben.

Lamormain Ob man noch ein belegtes Brötchen riskiert?

Die Imhof-Adolphy sich umsehend, hastig Nimm! Nimm und iß! Und was du nicht aufkriegst, steck' ein! So 'ne gute Gelegenheit kommt nicht wieder! Ich hab' schon den ganzen Beutel voll.

Lamormain Ich fürchte nur, man füllt sich den Magen zu sehr an, und kann nachher seine Rolle nicht spielen. Ein Tod mit Bauch würde die Illusion stören.

Lothario das Büfett visitierend Ah, Schinken in Brotteig! Der Traum meiner Jugend! Er nimmt reichlich davon.

Die Imhof-Adolphy Bei der Bauernhochzeit damals in Kaltengundelfingen gab's auch mal so guten Schinken, erinnerst du dich, Fritz?

Lothario Ach, Adolphine, wenn wir beide uns an alles erinnern wollten ...

Die Imhof-Adolphy Schwein du! Im Hintergrunde hat wieder gedämpftes Fiedel- und Lautenspiel eingesetzt. Das Tanzen beginnt von neuem.

Rasumoff tritt zu Nelly, umfaßt sie Komm, Schwesterchen, wir tanzen!

Nelly klatscht in die Hände Ach ja! Tanzen! Tanzen!

Roderich Die Dame steht unter meinem persönlichen Schutz, mein Herr!

Rasumoff Unsinn, Brüderchen! Nix persönlicher Schutz! Nix Privateigentum hier auf der Insel der Seligen! Meine Frau deine Frau! Dein Mädchen mein Mädchen! Komm', Schwesterchen! Rasumoff beste Tänzer von ganz Kleinrußland! Wie im Himmel wirst du sein! Er zieht sie fort.

Nelly zu Roderich Halt' so lange meinen Fächer, Herz! Sie wirft ihm den Fächer zu, tanzt mit Rasumoff ab.

Lothario trällernd

Es war einmal ein stolzer Mops,
Trari, trara, hau, hau!
Stahl sich vom Tisch den schönsten Klops,
Trari, trara, wau, wau!
Da kam ein böser Schäferhund,
Trari, trara, hau, hau!
Holt' ihm den Klopsen aus dem Schlund,
Trari, trara, wau, wau!
Und fraß ihn auf in guter Ruh',
Trari, trara, hau, hau!
Der Mops, der sah von weitem zu,
Trari, trara, wau, wau!

Es haben in das Lied zuerst Marcipansky und Lamormain, dann fortschreitend der ganze Chorus eingestimmt.

Dubsky ist auf der Höhe des Waldweges links oben erschienen, wird nach einigen Augenblicken bemerkt.

Rufe Dubsky! Dubsky! Seht Dubsky!

Dräger drängt sich durch die singende und tanzende Menge, schreit aus Leibeskräften Heil Dubsky! Heil!

Einige Stimmen Heil! Heil! Heil!

Dubsky winkt den Rufenden von oben zu Ich bitte, das zu lassen, meine Herren! Es könnte an gewisser Stelle übel genommen werden. Es ist währenddes still geworden, die Musik schweigt. Bei den letzten Worten Dubskys Köpfezusammenstecken und gedämpftes Murmeln.

Dräger hat sich bis zur halben Höhe des Waldweges links vorgedrängt, schreit Unser Freund Dubsky fürchtet, es könnte von gewissen Leuten übel genommen werden, wenn wir ein Hoch auf ihn ausbringen! Wollen wir das auf uns sitzen lassen, Genossen?

Rufe Nein! Nein! Dubsky soll leben!

Dräger Ich fordere euch daher auf, Genossen ...

Kasper ist mit ein paar Sätzen auf die Anhöhe rechts neben Dorothee gestürmt, so daß er der Gruppe Dubsky gerade gegenüber steht, ruft mit alles übertönender Stimme Ich fordere euch auf, Freunde, wir lassen zuerst mal die beiden Menschen leben, die uns dies Fest und diese Insel und so vieles andere gegeben haben. Angesichts der sinkenden Sonne da, die heut' vor drei Jahren um die gleiche Stunde unsern Bund hier werden sah, rufe ich: Hoch Bruno Wiegand! Hoch seine schöne, liebe Frau Dorothee! Hoch! Hoch! Hoch! Er schwenkt seinen Hut.

Brausende Rufe Frau Dorothee soll leben! Bruno Wiegand hoch! Hoch Frau Dorothee!

Dorothee hält sich die Ohren zu Kinder ...! Kinder ...! Sie tritt zu Kasper, schüttelt ihm die Hand.

Dräger ruft von der linken Höhe herüber Wo ist denn Wiegand? Warum zeigt sich denn Wiegand nicht?

Dorothee ruft von der rechten Höhe zurück Warte doch ab! Er wird schon seinen Mann stehen! Sie wendet sich zu Kasper Wo er nur stecken mag! Unbegreiflich der Mann!

Kasper Soll ich ihn suchen gehn?

Dorothee Nein! Nein! Bleib'! Wir dürfen jetzt nicht fort! Sie spricht leise mit Kasper weiter.

Dubsky auf der Anhöhe links zu Dräger, indem er hinuntersieht Hast du den Leuten auch ordentlich an den Puls gegriffen?

Dräger Verlaß dich drauf! Die Gärung ist allgemein. Besonders bei der russischen Bagage!

Dubsky Warum haben sie denn wie besessen bravo geschrien, als der Viehtreiber die Rede auf Wiegand hielt?

Dräger Mumpitz! Du weißt ja, wenn sie nicht schreien können, ist ihnen nicht wohl. Im Herzen sind sie für dich. Gütergemeinschaft ist ihre schwache Seite. Noch lieber Weibergemeinschaft. Das fressen sie, wie die Katzen Baldrian! übrigens galt ihr Hoch mehr ihr als ihm.

Dubsky Das schien mir auch. Die Mine ist also präpariert?

Dräger Fehlt nur noch das ominöse Zündhölzchen!

Dubsky Das überlaß, bitte, mir!

Dräger Wo warst du denn?

Dubsky Ich saß drüben im Wald und schrieb meinen Brandartikel.

Dräger Ich kenne manchen, der sich an die Nase fassen wird, wenn der Krempel hier auffliegt und das Schlaraffenleben ein Ende hat.

Dubsky Sind wir vielleicht die Hereingefallenen dabei? Ich dächte, wer so vorsichtig in der Wahl seiner Eltern gewesen ist wie du, kann auch wo anders als auf der Insel der Seligen leben.

Dräger Ich weiß nicht, weshalb du dich aufregst.

Dubsky Weil ich nichts für überflüssiger halte, als die Interessen von Dummköpfen zu wahren. Für Dummköpfe wird schon von Staats und Gesellschafts wegen gesorgt. Für mich handelt es sich darum, einen Mann, den ich im übrigen hochschätze, von seinem Größenwahn zu heilen und die Insel der Seligen nach meinen Ideen umzubilden. Wenn ich damit zugleich die Geschäfte des Gesindels da unten besorge, so ist das eine immanente Ironie des Schicksals, für die ich nichts kann!

Dräger Kann man den Artikel gegen Wiegand nicht sehen?

Dubsky Hier! Lies ihn ordentlich durch, du sollst ihn öffentlich vortragen! Er zieht eine Rolle aus der Brusttasche, reicht sie Dräger Du hast eine Stimme wie eine Blechtrompete. Damit wirst du zum Angriff blasen.

Dräger liest die Aufschrift Offener Brief an Bruno Wiegand ...

Dubsky sieht nach rechts Da kommt ja auch Marenholdt! ... Sakrament noch eins! Das ist das Zündhölzchen!

Dräger lesend Famos! ... Famos! ... Ein Treffer beim andern! ... Pyramidal!

Dubsky Mach, daß du fertig wirst! Mich juckt's nach Feuerwerk!

Dräger sieht nach unten Da fangen sie schon damit an!

In der Lichtung unten werden die Lampions langsam angezündet. Fackeln werden hin und her geschwenkt.

Rufe im Hintergrund Das Sonnwendfeuer! Das Sonnwendfeuer!

Andere Stimmen Den Holzstoß anzünden! Wir wollen durchs Feuer springen!

Die Menge drängt nach hinten, wo während des folgenden der Holzstoß am Seeufer in Brand gesetzt wird und hoch aufflammt.

Dubsky zu Dräger Ich werde also einen Streit mit Marenholdt provozieren. Wenn ich winke, läßt du dir eine Fackel geben, damit du sehen kannst, und legst los!

Dräger hat den Artikel überflogen Glänzend! Du hast dich selbst übertroffen! Das ist Wiegands Todesurteil!

Dubsky Ich gehe jetzt, die Stimmung unten sondieren. Er steigt in die Lichtung hinab, läßt sich Wein einschenken, mischt sich dann unter die Menge.

Marenholdt der einen leichten Strandanzug trägt, hat sich inzwischen zu Kasper und Dorothee gesellt und deutet nach gegenüber Der Kriegsrat scheint beendigt. Er läßt sich auf die Aussichtsbank nieder.

Kasper Es sieht aus, als wenn Dräger etwas auswendig lernt.

Marenholdt Vielleicht ist es Herrn Dubskys Aufruf an sein Volk.

Dorothee Ja, er hat schon mehrmals gedroht, er wird was gegen Bruno schreiben. Er kommt sich wie Satan in eigener Person vor! Man muß gleich in den Abgrund sinken, denkt er, wenn er bloß die Feder spitzt!

Kasper Wenn das wirklich so ein Wisch ist ... Ich sage weiter nichts! Aber lang' wird das nicht vorgelesen!

Dorothee sieht sich unruhig um Das macht mich ganz kribbelig, daß Bruno immer noch nicht da ist!

Kasper Er wird sich mal ordentlich ausgelaufen haben.

Dorothee Der Junge ist auch wie weggeblasen! Der müßte doch längst vom Turm herunter sein.

Kasper Da kennst du ihn schlecht. Den siehst du nicht eher, als bis der Weinkrug oben leer ist. Er unterbricht sich Verdammtes Pack! Nicht mal die Lampions können sie richtig anzünden! Wartet, ich bring' euch! Er stürmt hinunter. Im Hintergrunde flammt jetzt der Holzstoß. Ein Reigen hat sich darum gebildet und umtanzt ihn mit wildem Jubel.

Eine Männerstimme stimmt an

Beim lodernden Feuer am Sonnwendtag
Wir grüßen der Freiheit fern jauchzende Auen
Und sollen wir fallen vom Wetterschlag,
Die Ungeborenen werden sie schauen.

Während Paar um Paar jauchzend durch die Flammen springt, öffnet sich oben das Turmfenster

Medardus Neumann streckt seinen grauen wirren Kopf heraus, umfaßt mit der Linken den neben ihm stehenden Jürgen, schaut lauschend hinunter. Wie der Gesang zu Ende ist, ruft er Hast du's gehört, mein Knabe? Sie singen meine Verse aus jungen Tagen dort unten! So hat Medardus Neumann doch nicht umsonst gelebt!

Eine Stimme Silentium! Medardus Neumann zu Ehren wiederholt der Chorus die Verse noch einmal.

Rundgesang in den alle einstimmen

Beim lodernden Feuer am Sonnwendtag
Wir grüßen der Freiheit fern jauchzende Auen
Und sollen wir fallen vom Wetterschlag,
Die Ungeborenen werden sie schauen.

Medardus Neumann am Turmfenster zu Jürgen Sie singen nicht übel, die Sterblichen dort unten! ... Aber jetzt komm', mein lockiger David! Spiel' deinem alten grauhaarigen Saul noch ein weniges auf der Harfe vor!

Er zieht ihn fort, schließt das Fenster.

Dorothee läßt sich in plötzlicher Erschütterung auf die Aussichtsbank oben rechts neben Dubsky niedersinken, drückt in stillem aber heftigem Schluchzen das Gesicht in die Hände.

Marenholdt Was hast du, Dorothee? Beruhige dich doch, was ist denn geschehen?

Dorothee sieht auf, sucht sich zu fassen Es kam so über mich! Ich weiß selbst nicht ... Ich hatte das Gefühl, dem Jungen müßte was zugestoßen sein. Auf einmal steht er oben am Turmfenster und lacht. Da mußt' ich losheulen, so dumm es ist!

Marenholdt Wohl dem, der's noch kann! In den Heidesand kommt man noch früh genug.

Dorothee Mit dem Bengel ist nämlich nicht zu spaßen. Der macht mir nochmal irgendeine Dummheit. Vorhin hat er erst wieder so großspurige Reden geführt. Überhaupt ... Eine gesegnete Speisekarte steht einem noch bevor! Früher rappelte es dem Mann allein. Jetzt dem Mann und dem Jungen. Gnad' mir Gott!

Marenholdt Es ist eben für euch alle drei die höchste Zeit, daß ihr in ruhigere ... in mehr reguläre Verhältnisse kommt.

Dorothee Ja, du weißt ja noch gar nicht! Die Geschichte mit Dubsky hat sich auch höchst erbaulich entwickelt. Ich habe deswegen eine schreckliche Szene mit Bruno gehabt. Er hat mich in meiner ganzen Gemeinheit erkannt, will sich von mir trennen! So eine Idee! Was mach' ich dann ohne das Ungeheuer?

Marenholdt klopft ihr lächelnd auf die Schulter Liebe Dorothee! Das alte Gesellschaftsspiel unter Eheleuten! Wie bei der Polka-Mazurka! Man trennt sich, um sich desto stürmischer zu vereinigen!

Dorothee Der soll sich unterstehn! Dann bin ich bockbeinig!

Marenholdt Überhaupt immer das gleiche Gesicht! Die Paare da unten finden sich, springen durchs Feuer und treten ab. Dann kommen neue und machen's ihnen nach.

Dorothee Es gibt doch auch Einschichtige, die zusehen.

Marenholdt Ja, es gibt auch Einschichtige, die zusehen. Er deutet nach dem See hinüber, wo gerade der Vollmond erscheint Wie der alte Grand-Seigneur da drüben, der gerade durch die Bäume guckt! Er fröstelt, steht auf Aber es wird einem kühl dabei. Mein altes Reißen meldet sich. Wie wär's, wenn man hinunterstiege, und du mir ein Brötchen zurechtmachtest? Er greift nach Dorothees Arm Willst du mir deinen Arm geben, Dorothee? Es ist etwas dunkel und unsicher hier.

Dorothee lächelt Ja, ja, die Einschichtigen! Sie führt ihn langsam den Weg in die Lichtung hinunter.

Rehbein tritt schüchtern auf Hedwig zu, die heiß vom Tanzen nach vorne in die Nähe des Fasses gekommen ist Ach, wenn ich vielleicht ... Ich meine ... Ich wollte ...

Hedwig Wieder Eis von mir haben? ... Unmöglich, mein Freund! Der ganze Gletscher ist radikal aufgetaut! Das Eis ist hin, aber vielleicht, wenn du morgen wieder nachfragst, gestrenger Idiotenlehrer!

Rehbein Ich ... Ich wollte nämlich ... Ich meine ... Ich wollte ... nicht von Eis sprechen ...

Hedwig Wolltest du mich vielleicht um einen Tanz bitten?

Rehbein Tanzen ... Tanzen? ... Das möchte ... Das dürfte seine Bedenken haben! Aber vielleicht ... wenn es erlaubt ist ... zusammen durchs Feuer springen!

Hedwig Bravo, mein Freund! Springen wir miteinander durchs Feuer!

Lanzinger hat sich den beiden von hinten genähert, tritt zu Hedwig Dürfte ich dich um ein paar Worte unter vier Augen bitten?

Hedwig mustert ihn kalt Du mich? Nein! Sie wendet sich zu Rehbein Schnell, mein Freund! Sonst brennt uns der Holzstoß herunter.

Rehbein zu Lanzinger Ent... entschuldige ... bitte!

Hedwig ihn fortziehend Wie war das doch mit dem Traum, den man einmal geträumt haben muß, Herr Idiotenlehrer? Sie gehen nach hinten zum Feuer.

Dubsky der sich in der Menge hinten umgesehen hat, nähert sich dem Vordergrunde.

Frau Römerschmidt am Arm von Marquardt, hält ihn an Wie amüsierst du dich, infernalischer Luzifer, und warum so gar nicht im Kostüm?

Dubsky Luzifer ist sich selbst Kostüm und Maske genug, liebe Römerschmidt.

Frau Römerschmidt Deine Logik ist schlagend wie immer.

Dubsky Wir wollen einmal die Probe aufs Exempel machen!

Marenholdt steht mit Dorothee am Büfett rechts und verzehrt ein Brötchen.

Dubsky zieht den Hut Guten Abend, Herr Baron von Marenholdt!

Marenholdt zieht ebenfalls den Hut Ah, guten Abend, Herr Dubsky!

Dubsky Man wundert sich ein wenig, Herr Baron von Marenholdt ...! Er hält inne, sieht ihn mit herausfordernder Verkniffenheit an.

Marenholdt mit kühler, ironischer Reserve So? Wundert man sich? ... Na ja, warum denn nicht, Herr Dubsky!

Dubsky Es scheint, ich muß deutlicher werden!

Marenholdt Bitte, gern! Deutlichkeit ist die Tugend der Anspruchslosen.

Dubsky Man wundert sich, Herr Baron von Marenholdt, Sie hier in diesem Kreise zu sehen!

Marenholdt Ich wundere mich vielleicht auch, den oder jenen hier zu sehen, Herr Dubsky. Das Erstaunen scheint gegenseitig.

Dubsky Nur mit dem Unterschiede, daß unser Hiersein durch die Zugehörigkeit zu unserer Gemeinschaft legitimiert ist, Sie dagegen, Herr Baron von Marenholdt, sich in diese Gesellschaft eingeschlichen haben!

Die Menge hat sich bei dem Wortwechsel langsam nach vorne gedrängt, umgibt die beiden Beteiligten in dichtem Kreise.

Dräger springt auf die Anhöhe links, ruft schmetternd Bravo, Dubsky! Bravo!

Zahlreiche Stimmen in der Menge Bravo! Bravo! Hört! Hört!

Kasper hat sich durch den Kreis hindurch gedrängt, wendet sich zurück Ruhe! In des Teufels Namen! Oder ...! Murren im Hintergrund.

Dubsky Haben Sie keine Antwort auf meine Frage, Herr Baron?

Marenholdt Was fragten Sie mich eigentlich, Herr Dubsky? Es ist mir wirklich schon wieder entfallen.

Dubsky Sie scheinen sehr schwach von Gedächtnis, Herr Baron!

Marenholdt Mein Gott, so uninteressante Dinge ...! Übrigens eine Schwäche, für die ich wohl niemand Rechenschaft schuldig bin?

Dubsky Ich wiederhole also, daß Sie sich hier eingeschlichen haben, Herr Baron von Marenholdt! Es ist mäuschenstill geworden.

Marenholdt Über diese Frage, Herr Dubsky, nehme ich Belehrungen nur von dem an, dessen Gast ich hier bin. Mich mit Ihnen darüber zu unterhalten, verbietet mir meine Erziehung.

Dubsky mit überschnappender Stimme Haben die Herren gehört? Der Baron von Marenholdt spielt seine Erziehung gegen die unsere aus! Der Baron von Marenholdt setzt sich uns Inselgenossen gegenüber aufs hohe aristokratische Roß!

Rufe Ho! Ho! Unverschämt!

Kasper die andrängende Menge zurückhaltend Zurück! Wer ihm zu nahe tritt, den mach' ich zu Brei!

Rehbein einen Schritt aus der lärmenden Menge vor, zu Dubsky Ich meine ... Ich wollte sagen ...

Dubsky Du wolltest sagen, daß du mir recht gibst, lieber Rehbein. Ich danke dir!

Rehbein Ich ... Ich wollte das Gegenteil sagen. Er tritt zurück. Lachen in der Menge.

Eine Stimme Bravo, Rehbein! Forcht dich net!

Marquardt aus der Menge heraus zu Dubsky Es tät' schon gut, wenn alles mehr in Ruhe geschähen tät'! Immer nach Recht und Gerechtigkeit!

Schätzli-Stüßli der an dem Faß geblieben ist, schwenkt den Humpen Prosit, Kinder! Vertragt euch! Und trinkt! Trinkt! Unser Leben dauert zwei Sekunden, sagt Hafis der Weise, eine zum Lieben und eine zum Trinken! Denn in der dritten sind wir tot!

Viele Stimmen Scheik Ibrahim hat recht! Prosit! Prosit!

Die Menge beginnt zurückzufluten.

Dubsky Also gut! Wenn sich die Herren die Unverschämtheiten dieses Einschleichers länger gefallen lassen wollen ... Er deutet auf Marenholdt.

Dorothee ist bisher von Marenholdt und Kasper mühsam zurückgehalten worden, reißt sich los, stürzt auf Dubsky zu Wie kommst du dazu, unsern Gast zu beleidigen? Du, der seit Jahren in unserem Hause herumlungert! Bei diesen Worten bricht wilder Lärm aus. Zischen, Pfeifen, schüchternes Händeklatschen.

Brausende Rufe Unerhört! Zurücknehmen!

Dubsky schreiend Der Geldsackstandpunkt, meine Herren! So entwickelt man sich zum Minister! Und dieser Spitzel da ...

Wildes Lärmen Ein Spitzel! Ein Spitzel!

Dorothee zu Dubsky Du ...! Du ...!

Marenholdt So geht das nicht, liebe Dorothee! Dies ist meine Sache! Er tritt dicht vor Dubsky Ich würde Ihnen die gebührende Antwort erteilen, wenn ich Handschuhe angezogen hätte ...

Dubsky duckt sich wie ein geprügelter Hund Er will mich schlagen! Nehmt mich in Schutz! Schlagen will er mich!

Er wird von der Menge umringt.

Dubsky Ich danke euch, ihr Freunde! Ich danke euch! Ihr wißt, was hinter den Kulissen vorgeht! Man will sich also wieder einmal häuten. Man will sich wieder einmal entwickeln. Und diesmal gleich gründlich! Aus dem alten Revolutionär soll ein veritabler Minister werden!

Rufe Pfui! Nieder mit Wiegand! Pfui!

Dubsky Vorläufig hoffe ich noch, daß es sich nur um eine akute Geistesverblendung meines alten Freundes Bruno Wiegand handelt ...

Kasper zu Dorothee Es geschieht noch was! Er sucht mühsam an sich zu halten.

Rufe Ausreden lassen! Wir stehn für Dubsky!

Dubsky hat Dräger mehrmals vergeblich zugewinkt, schreit ihn jetzt ganz laut an In Satans Namen! So fang' doch an!

Dräger auf der Anhöhe links, schwenkt Dubskys Manuskript in der Luft, ruft mit schmetternder Stimme Silentium, Genossen! Silentium! Silentium für einen wichtigen Brief!

Viele Stimmen Silentium! Ein Brief! Ein Brief! Still! Still! Ruhe!

Dräger wie vorher Ein Brief von einem unserer prominentesten Genossen!

Stimmen Von Dubsky! Er ist von Dubsky! Hört! Hört! Ruhe! Murmeln in der Menge.

Dubsky Gebt ihm doch eine Fackel, damit er lesen kann, ihr Herren!

Stimmen Eine Fackel! Eine Fackel! Eine Fackel wird Dräger hinaufgereicht.

Dräger schwingt die Fackel Die Fackel der Freiheit, Genossen!

Brausende Rufe Die Fackel der Freiheit! Bravo! Bravo!

Dräger entfaltet die Rolle, schmettert mit erhobener Fackel Offener Brief an Bruno Wiegand oder wie man Minister in Teklenburg wird ... In diesem Augenblick wird ihm die Fackel aus der Hand gerissen.

Kasper ist mit ein paar gewaltigen Sätzen durch die Menge hindurch auf die Anhöhe links gestürmt, mit dröhnender Stimme Hinter dem Rücken von Bruno Wiegand werden hier keine offenen Briefe an ihn vorgelesen! Er stößt die entrissene Fackel auf den Boden, daß sie erlischt.

Dubsky schreiend, aber in sicherer Entfernung Er hat die Fackel der Freiheit ausgelöscht!

Wilde Stimmen Die Fackel der Freiheit ausgelöscht!

Die Menge stürmt gegen Kasper an. Ein kurzes, wildes Handgemenge entspinnt sich. Stöcke werden geschwungen, Fackeln geschwenkt. Schreien und Lärm.

Die Moritura ist während des Vorhergehenden auf der Anhöhe rechts erschienen und mit wilden, beschwörenden Gesten den Waldweg hinunter zur Schauspielergruppe gestürmt, die eng zusammengedrängt sich ganz rechts hält. Man sieht, wie von der andern Seite Dubsky und Dorothee auf Lothario einsprechen, und wie dieser den beiden Posaunenbläsern zuwinkt. Gleich darauf ertönen in das Handgemenge hinein dumpfe Posaunenklänge.

Rufe Die Posaunen! Die Posaunen! Das Handgemenge läßt nach, der Lärm beginnt sich zu legen.

Lothario mit Stentorstimme Meine Damen und Herren! Edle Zukunftsapostel! Die Vorstellung beginnt! Stöcke, Schlagringe und Revolver, bitte, in der Garderobe abzugeben! Allgemeines Gelächter. Es wird ruhiger.

Die Moritura Mein Werk! Mein armes Werk! Jetzt in der Stimmung soll gespielt werden!

Dubsky Laß das Geflenn! Wir haben jetzt keine Zeit für Kindereien!

Die Moritura Kindereien? Sie stürzt auf Dubsky los, gibt ihm zwei kräftige Maulschellen Da! Und da! Es ist ganz still geworden.

Dubsky wischt sich die Backen ab, fletscht die Zähne Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit! Sie hat mir frische Kraft gegeben! Allgemeines Gelächter.

Rufe Bravo, Dubsky! Bravo, Moritura! Vertragt euch!

Lothario Die Vorstellung, meine Herren, die Vorstellung!

Eine Stimme Erst den Brief an Wiegand vorlesen! Wir wollen den Brief an Wiegand hören!

Viele Stimmen Ja, ja! Den Brief an Wiegand! Den Brief! Erst den Brief!

Kasper drohend aufgerichtet Wer den Brief vorliest, ehe Bruno Wiegand da ist, soll seine Knochen vorher zählen! Er schüttelt die Fäuste gegen die Menge. Lärm und Geschrei.

Wiegand ist schon während der letzten Reden auf der Anhöhe rechts oben erschienen, ohne bemerkt zu werden, da alles nach links drängt, ruft über die Köpfe der Menge Kasper zu Der Adressat des Briefes ist zur Stelle!

Dräger schreit von links her Jetzt wird man ja sehen, ob es hier bloß noch das Recht zum Maulhalten gibt!

Wiegand auf halber Höhe des Waldweges Genossen! Was geht euch vor? Ein papierner Brief oder ein Mensch von Fleisch und Blut? Hier stehe ich und bitte euch: Hört erst mich! Und dann den Brief! Ich habe die letzten Tage hart gekämpft! Könnt' ich mit einer klaren Entscheidung vor euch hintreten, so würde es mir wohl leichter zumut sein. Aber noch seh' ich nicht Weg und nicht Ziel. Ich habe manches gegen euch auf dem Herzen wie ihr gegen mich! Deshalb müssen wir zuerst uns aussprechen! Müssen Abrechnung halten! Müssen reinen Tisch miteinander machen!

Stimmen Ja, Wiegand soll sprechen! Wiegand soll sprechen!

Dräger Zur Geschäftsordnung! Mein Brief geht vor! Ich habe mich eher zum Wort gemeldet! Ich protestiere!

Andere Stimmen Jawohl! Erst den Brief! Erst den Brief!

Wiegand Ich bitt' euch, Freunde, laßt mich sprechen! Mein Herz ist übervoll! Wenn ich mich diesmal in euch täusche ...

Dubsky Ich meinerseits bitte um Abstimmung! Oder soll wieder einmal die Mehrheit vor dem Willen eines Einzelnen kapitulieren?

Viele Stimmen Bravo, Dubsky! Abstimmen! Abstimmen! Nieder mit Wiegand! Nieder mit dem Reaktionär!

Wiegand auf die Menge zu Reaktionär! ruft ihr mir zu? Reaktionär? Ein Wort wie andre Worte! Klebt ihr noch immer an Worten? Sperrt ihr euch noch immer in den Bretterzaun zusammengeleimter Begriffe? Reaktionär! O ihr patentierten Seelenforscher und Herzenskünder! Versteht ihr euch so schlecht auf Menschenherzen, daß ihr euch einbildet, der Wiegand, der hier vor euch steht, der jahrelang Leid und Freud, Glück und Gut mit euch geteilt hat, der sein Leben durch nichts als Freiheit, innere geistige Freiheit gesucht hat, und das wißt ihr, wißt ihr alle ... der gleiche Wiegand könnte sein tiefstes Wesen, sein innerstes Gesetz umstülpen wie man einen Handschuh dreht? Laßt mich lachen! Reaktionär! Habt ihr noch nie von Leuten gehört, die jeden Tag auf dem Papier die Welt umstürzten und doch wie der feigste Philister ausrissen, sobald es um die winzigste Tat ging? Und übersteigt es eure Fassungskraft, daß man sich ein freies Herz bewahren kann, auch wenn man alt und kalt genug geworden ist, um nicht mehr auf ein tausendjähriges Reich zu hoffen?

Dubsky Ein Bekenntnis! Ein Bekenntnis! Eine Absage! Er hat sich von uns losgesagt! Ich fordre Gericht über Bruno Wiegand!

Wildes Geschrei Gericht! Gericht! Verräterei!

Wiegand Ja! Richtet mich! Richtet den Verräter! Ich habe mein Lebtag nach der Wahrheit gesucht und bin doch mein Lebtag in die Irre gegangen! Ich habe zwanzig Jahre um Erkenntnis gerungen und alle Erkenntnis ist mir davongeflogen wie Spatzen, die einer mit dem Hut gefangen hat! Soll ich mir vorlügen, jetzt, grade jetzt hielt' ich den Stein der Weisen in der Hand? Nein! Auf den Irrtum war mein Leben gestellt und im Irrtum mag es sich denn vollenden. Wenn ihr den Stein der Weisen habt ... Gut! So richtet mich! Widerlegt mich! Verurteilt mich! Ich will glauben, daß die Gottheit aus euch spricht. Aber gebt mir ein Zeichen dafür! Nur ein Zeichen! Ich warte auf das Zeichen!

Die Menge ist verstummt. Es herrscht tiefes Schweigen. Medardus Neumann ist hinten am Fuß des Turms erschienen, kommt mit dem Weinkrug in der Hand nach vorne.

Rufe Medardus Neumann! Bruder Medardus!

Medardus Neumann mit Grabesstimme Welch Waffenklirren hier unten in der Tiefe! Welch rauhe Worte! Widriges Getümmel! O ewige Klarheit meiner Höhen! Wäre nicht der Opferkrug zur Neige gegangen ... Er deutet auf den Weinkrug.

Dorothee hat Medardus Neumann wie eine Erscheinung angestarrt, stürzt jetzt auf ihn zu Und Jürgen? Wo ist denn Jürgen? Wo hast du denn meinen Jungen gelassen?

Medardus Neumann Nach deinem entschwundenen Knaben fragst du, ahnungslose Kassandra?

Dorothee starrt ihn an Verschwunden ist er, sagst du? Mensch, bist du von Sinnen? Verschwunden, sagst du?

Medardus Neumann Entschwunden, sagt' ich, gestrenge Hüterin! Entschwunden deinem leiblichen Gesicht! Doch nicht verschwunden! Denn was verschwände wohl im ewigen Haushalt der Natur!

Dorothee Willst du mich rasend machen, Mensch? Entschwunden oder verschwunden! Ich frage dich, wo er ist? Lebt er überhaupt noch? Ja oder nein, du Jammerbild! Sie schüttelt ihn heftig.

Medardus Neumann Gnade, Löwenmutter! Gnade! Er lebt! Er lebt!

Dorothee Er lebt! Das sprach dein guter Geist für dich! Er lebt, aber wo lebt er? Wo hast du ihn gelassen? Antwort, Unglückswurm!

Medardus Neumann Antwort heischest du? Weißt du denn, ob nicht ein siebenfacher Schwur mir den Mund versiegelt? Soll ich die Rache der Unterirdischen auf mein graues Haupt rufen?

Wiegand hat bis jetzt schweigend, ohne recht zu verstehen, zugehört, tritt auf die Gruppe zu Es handelt sich um Jürgen? Was ist geschehen? Verschwunden soll er sein?

Dorothee Du hörst es ja, entschwunden! Frag' ihn doch selbst, den alten Unglücksraben! Vor einer Viertelstunde haben sie sich oben am Fenster noch in den Armen gelegen! Ich hab' gleich nichts Gutes gedacht! Zu Medardus Neumann Vorwärts, gebeichtet! Oder gnad' dir Gott!

Wiegand Ohne Umschweife, lieber Neumann! Was ist dir bekannt? Wo ging er von dir aus hin?

Medardus Neumann Medardus Neumann hat geschworen, und sein Schwur ist heilig. Aber fragt die Wogen, die des Weltumseglers Kahn tragen! Fragt die Möwen, die seinen Mast umkreischen! Fragt den Mondstrahl, der in seinem Segel blinkt!

Wiegand Das heißt also auf gut deutsch: Der Junge hat Reißaus genommen!

Dorothee Ja, in sein Boot hat er sich gesetzt und ist auf den See und fort! Jetzt ist mir alles klar! Die Ahnung hab' ich gehabt!

Medardus Neumann legt die Hand auf ihre Schulter Trockne deine Tränen, schmerzenvolle Niobe! Dein Kolumbus wird einst ruhmgekrönt ins Vaterhaus zurückkehren. Er hat es mir in der heiligen Stunde des Abschieds gelobt.

Dorothee zu Wiegand Die Nacht ist klar, Gott sei Dank! Und der See spiegelblank! Wir müssen ihm nach! Was stehst du da und sprichst kein Wort? Siehst du? Das ist deine geliebte Seglerei und Kahnfahrerei!

Wiegand grüblerisch Der Junge hat Reißaus genommen! Der erste, der von der Insel der Seligen Reißaus genommen hat! Der erste, der den Mut dazu gehabt hat!

Dorothee Ja, ich weiß, weshalb er's getan hat. Jetzt weiß ich's!

Wiegand zu Medardus Neumann Was gab er denn als Grund für seine Flucht an?

Medardus Neumann Dunkle Rätselworte! Forscht nicht weiter! Treue halt' ich dem Freund!

Dorothee fährt auf ihn los Dir hat er's anvertraut! Und du hast ihn ziehen lassen! Hast ihn womöglich noch hinausdeklamiert! Oh, was seid ihr für eine Menschheit!

Medardus Neumann Wandern ward uns als Los auf Erden geworfen. Bin ich ein Gott, daß ich es wenden kann?

Wiegand hat sich währenddes mit Kasper und Marenholdt besprochen.

Kasper eilt nach hinten zum Bootshaus, verschwindet dort.

Dorothee Wir müssen ihm nach! Wir müssen ihn einholen!

Marenholdt Ja, man muß den See absuchen!

Dubsky Es könnte ja auch eine bloße Spazierfahrt sein, und der ganze Lärm wäre unnütz.

Dorothee Ach du! Sei du doch still!

Dubsky Ich wasche meine Hände in Unschuld.

Dorothee Schwöre doch beim Grabe deiner Mutter! Ich warte schon darauf!

Dubsky wendet sich achselzuckend ab.

Wiegand Wenn er wirklich über den See gegangen ist, muß ein Boot im Bootshaus fehlen. Drei lagen da! Zu Kasper, der eilends von hinten zurückkommt Nun, wie steht's?

Kasper Möwe und Eisvogel sind da! Die Utopia fehlt!

Dorothee Die Utopia! Das ist sein Kahn! Damit ist er hinaus!

Wiegand Also hinterher und alle Segel aufgesetzt! Zu Kasper Du nimmst den Eisvogel, ich die Möwe! Er will fort.

Dorothee läuft ihm nach.

Wiegand Weib, was willst du?

Dorothee Ich bin seine Mutter! Ich fahre mit!

Wiegand Es kann eine lange Fahrt werden, Dorothee!

Dorothee Ist es die erste Fahrt, die wir zusammen machen, Bruno?

Wiegand Und wird auch nicht die letzte Fahrt sein! Also auf!

Verschiedene Stimmen Wir fahren auch mit! Wir helfen!

Kasper Niemand von euch kommt mit! Wir brauchen niemand weiter!

Marenholdt tritt zu ihm Aber mit mir bitte ich eine Ausnahme zu machen. Ich bin nämlich eine alte Wasserratte, und so eine Mondscheinpartie in der Johannisnacht ...

Kasper Sie sind ein Mann! Vorwärts! Eilends mit Marenholdt nach hinten zu ab.

Wiegand schon hinten, wendet sich noch einmal, ruft zurück Wenn wir uns wiedersehen, wird abgerechnet! Mit Dorothee ab.

Die Moritura zu Lothario Und mein Werk? Was wird aus meinem Werk?

Lothario Wenn die Wirklichkeit auf die Szene tritt, geehrte Dichterin, dann schweigen alle Flöten! Die Vorstellung wird abgesagt!

Vorhang.


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