Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Tag und Nacht.

Zur bestimmten Stunde stand Judith am anderen Morgen an der Pforte von Trinità dei Monti, schellte, wurde eingelassen, als sie ihren Namen nannte, und in ein Zimmer geführt, wo sich bereits eine Dame befand. Diese hatte ihren dichten schwarzen Schleier herabgelassen, so daß es unmöglich war, ihr Gesicht zu erkennen. Als Judith eintrat, ging sie ihr entgegen, reichte ihr die Hand und sagte mit einer bewegten sanften Stimme:

»Ich danke Ihnen, Signora, daß Sie gekommen sind.«

In ihrer Haltung, ihren Bewegungen, ihrem Ton lag etwas so Edles, daß Judith sich heimlich fragte: Bin ich an eine verbannte Königin geraten? Dieser Frau kann ich unmöglich Geld anbieten .... und wenn es Millionen wären!

»Und ich werde Ihnen danken, Signora,« erwiederte sie, »sobald ich weiß, womit ich Ihnen dienen kann.« »Ich habe erfahren, daß Ihnen das überschwängliche Glück zu Teil werden soll, das heilige Sakrament der Taufe zu empfangen. Da ich nun nicht zweifle, daß Sie in dem Augenblick, wo ein göttliches Lösegeld für die Rettung Ihrer Seele von unserem Heiland mit seinem Blut gezahlt wird – erkennen werden, wie kostbar eine Seele ist: so flehe ich Sie an, Signora, die Hand zur Rettung einer armen verirrten Seele zu bieten, die in der Verblendung einer traurigen Leidenschaft ihre Würde, ihre Pflicht, ihre Ehre mit Füßen tritt, ihrer Familie Schmach bereitet und der Welt ein furchtbares Ärgernis gibt.«

»Aus ganzem Herzen biete ich dazu die Hand!« rief Judith. »Die Liebe zu den Seelen, zu den unbekanntesten, den fremdesten, den elendesten Seelen, ist etwas so Himmlisches, daß der Heiland sie ganz gewiß vom Himmel herab gebracht hat und durch himmlische Mittel in den christlichen Herzen entzündet; denn die Welt weiß nichts von dieser Liebe. Sie ist dem Christentum eigentümlich: so liebt der Erlöser die Seelen und so liebt sie der Erlöste. So werde auch ich lieben und dann erst wissen, was Liebe ist! .... Also, Signora, was hab' ich zu tun?«

»Darf ich fragen, ob Sie sich an einen katholischen Geistlichen gewendet haben?«

»Gewiß!« rief Judith, »an einen Priester hab' ich mich gewendet, der von der Kirche, also aus dem Herzen Gottes heraus, Weihe, Sendung und Vollmacht zum Apostolat hat.«

»Gottes Gnade lenkt sichtbar Ihre Schritte,« sagte die Dame gerührt. »Sie wissen also auch, daß der Sohn Gottes selbst die Kirche gestiftet hat, als er zu Petrus sprach: »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen!« und zu allen Aposteln sprach: »Wer euch höret, der höret mich;« und tausend andere Verheißungen gab, welche seine Heilsanstalt zu einem göttlichen Werk machen, das unwandelbar und unerschütterlich die ewige Wahrheit offenbart.«

»Ich weiß und glaube es,« entgegnete Judith.

»Glaubt der Mensch überhaupt an den Erlöser, so muß er auch glauben dürfen, daß er eine untrügende Kunde über das Erlösungswerk irgendwo auf Erden finden könne. Kann niemand ohne den wahren Glauben selig werden – und ist der Zweck des Erdenlebens, nach der Seligkeit zu ringen: so wird der Gott, der aus Liebe zu den Menschen am Kreuze starb, nicht so lieblos oder so unweise gewesen sein, ihnen die ächte Glaubenskunde in einer Reihe mit menschlichen Lehren vorzuführen. Göttliche Weisheit und Liebe stiftete die Kirche auf Erden, und der Geist Gottes, der ihr blieb, als der menschgewordene Sohn Gottes von ihr schied, bewahrt die Lehre in ungetrübter Reinheit, so daß die Kirche nichts hinzutun, nichts hinwegnehmen darf. Sie verkündet die göttliche Lehre; aber sie erfindet sie nicht. Das glaube ich.«

»Nun, Signora,« sagte die Dame, »die arme Seele, von der ich rede, will sich von dieser göttlichen Heilsanstalt losreißen, weil der himmlische Glaube von der irdischen Leidenschaft ein Opfer begehrt; will die Absicht Gottes vereiteln, seine Liebe, die ihn an's Kreuz gebracht hat, verachten; will mit dem Abfall vom Glauben den Abfall zur Sünde zudecken.« .... –

»Ha, das ist's, was der Abbate sagte!« rief Judith; »Sünde ist die Verachtung der Liebe Gottes« .... und einer Liebe, die ihn gekreuzigt hat! Der Abfall vom Glauben vereitelt auf ewig die Absicht Gottes, den Menschen durch die ewige Wahrheit zur Seligkeit zu führen. Es ist ein freiwilliges Aufgeben der Gnade, ein freiwilliger Übertritt zu allem, was nicht von Gott und aus Gott ist: zur Sünde, zur Lüge, zum Untergang.

O, Signora, wir müssen diese arme, arme Seele retten!«

Das Gespräch war bisher französisch geführt worden. Jetzt schlug die Dame ihren Schleier zurück und sagte in deutscher Sprache und mit zärtlicher Bitte in Ton und Blick:

»Wohlan, Signora, retten Sie Orest.«

Judith hatte Corona in Interlaken wohl öfters von Ferne gesehen, war auf Spaziergängen an ihr vorüber gestreift und bewahrte keine andere Erinnerung von ihr, als das Bild einer ganz jungen, wunderhübschen, unbedeutenden Frau. Es ist ja auch nicht selten, daß Personen, welche zu einer wirklichen, tiefen Seelen- und Charakterbildung gelangen, in der Jugend – und namentlich bei ihrem Auftreten in der Welt, zuerst den Eindruck von Unbedeutendem machen. Das Weltleben ist ihnen etwas Fremdes und Neues, das sie nicht auf der Stelle bewältigen können, weil sie sich nicht, wie die wirklich Unbedeutenden, gedankenlos von der allgemeinen Strömung ergreifen und treiben lassen, und nicht auf der allgemeinen Höhe des Stromes schwimmen. Ihr Wesen ist noch unreif, noch unentwickelt, eine grüne Knospe. Nur Geduld! sie wird sich entfalten, diese Knospe, zu einer schönen duft- und farbenreichen Blume – und um so schöner, je weniger sie von Außen dazu gedrängt wird. So war es mit Corona. Ihre Seelenbildung fand innerlich statt: der Schmerz war deren Wurzel und der Glaube ihre Sonne. Corona glich einer Passionsblume, die das Kreuz umrankt: so zart, so geistig edel war sie. Dazu ihre verweinten Augen, ihre Blässe, ihr Traueranzug – und Judith, die sich die Gräfin Windeck als eine höchst alltägliche Frau ausgemalt hatte, begriff nicht, wer vor ihr stehe.

»Orest!« sagte sie überrascht.

»Ich bin Corona Windeck,« sagte Corona sanft und glitt vor Judith auf die Knie; »und um des Blutes Jesu willen bitte ich Sie, retten Sie Orest's Seele.«

Mit einem Ausdruck, der an Entsetzen gränzte, schlug Judith ihre Hände in einander und rief:

»Corona Windeck! .... und Sie sprechen liebevoll zu mir .... und bitten mich .... und knieen vor mir .... und flehen um Rettung einer Seele! O, was muß das sein, Liebe zu den Seelen – die eine so himmlische Demut gibt.«

»Ach,« sagte Corona, »denken Sie an unseren göttlichen Erlöser, der am Kreuz für seine Peiniger betete: Vergib ihnen! sie wissen nicht, was sie tun! – Auch Sie haben es bis jetzt nicht gewußt.«

»Gnädige Gräfin,« sagte Judith, und hob ehrerbietig Corona auf; »als mir die Ahnung dämmerte, was das Christentum sei, da sagt' ich: Christen müssen dem Herzen nach Christusträger sein. Ich sehe an Ihnen, daß ich Recht hatte. Sie hassen mich nicht, Sie verachten mich auch nicht, Sie lassen sich mild zu einer Person herab, die das Glück Ihres Lebens zerstört hat und ferner es bedroht. Ach, ich weiß nicht, ob es möglich ist, in aller Stille hochherziger zu sein.«

»Signora!« unterbrach Corona sie lebhaft, »es handelt sich um die Rettung einer Seele – und diese Rettung soll von Ihnen ausgehen. Dagegen verschwindet meine arme Person gänzlich.«

»Immer und immer diese wunderbare Liebe zu den Seelen!« entgegnete Judith sinnend. »Ach, sie ist ansteckend! Könnte ich mit meinem Blut Graf Orest vom Abfall zurückhalten – ich tät' es.«

»O, es muß auch andere Wege geben!« rief Corona.

»Ja, einen weiß ich,« entgegnete Judith: »ich muß für Graf Orest verschwinden. Das kann ich – und das will ich. Vorstellungen fruchten nichts bei ihm; das werden Sie so gut wissen, als ich. Er muß tatsächlich einsehen, daß die Erfüllung seiner Wünsche an der Unmöglichkeit scheitert. Ich kann nicht behaupten, daß er dann ein guter Gatte und Vater sein werde; allein er wird den gräßlichen Gedanken des Abfalles aufgeben, und dadurch gewinnt hoffentlich die Gnade wieder Macht über ihn. Seien Sie getrost, gnädige Gräfin, die Judith verschwindet! Es war längst mein Wunsch, daß sie verschwinde – nur freilich in anderer Weise. Ich will nicht umsonst die Gnade empfangen, im Blut Jesu meine Sünden abzuwaschen. Ich will auch, dem Herzen nach, ein Christusträger werden. Ich will auch die Seelen lieben, wie der göttliche Erlöser meine Seele geliebt hat.«

Ein milder Glanz von zerschmelzenden Tränen trat in ihr dunkles mächtiges Auge. Corona breitete die Arme zu ihr aus, und überwunden von dieser Welt neuer, starker, großer Empfindungen, sank Judith weinend an das Herz dieser Frau, der sie ein so namenloses Weh bereitet hatte. Der Engel des Lichts öffnete die Pforten des Paradieses – und die Peri trat ein.

»Und wohin wollen Sie gehen?« fragte Corona.

»Ich weiß es nicht,« entgegnete Judith, und legte die Hand an ihre heiße Stirn. »Mein erster Schritt muß jetzt zum Sakrament der Taufe sein.

Ich sehne mich – Christin zu werden und mit meiner Vergangenheit zu brechen.«

»Sie müssen eine Taufpatin haben; darf ich es sein?« fragte Corona.

»Ein neuer Trost!« rief Judith.

»Aber Orest darf nichts von unserer Zusammenkunft ahnen; es würde ihn erbittern,« sagte Corona.

»Ich nehme alles auf mich,« entgegnete Judith. »Ich bin eingetreten in das wunderbare Reich, welches man das der Gnade nennt. Da begegnen uns Wunder und da geschehen Wunder an uns, die unberechenbar sind. Das hat Graf Orestes nicht bedacht. Ich aber habe es bis jetzt nicht gewußt. Man wird nicht Christin, wie man sich eine neue Rolle für die Oper einstudiert und wie ich es in meiner Unwissenheit wähnte. Graf Orest selbst hat auf meine Taufe gedrungen; er muß die Folgen hinnehmen. Heute oder morgen kommt ein Priester zu mir, mit dem ich den letzten Schritt überlegen will, und dann, gnädige Gräfin, lasse ich Ihnen Nachricht zukommen, wann und wo meine Taufe stattfinden soll.«

»Ich habe Ihnen hier ein Vermächtnis zu übergeben,« sagte Corona mit bebender Stimme. »Gestern Abend kam die Trauerbotschaft vom Tode meiner geliebten Schwester« .... –

»Der Karmelitesse! .... gestern Abend!« rief Judith. »Ach, gestern Abend sprach man bei mir von großen Opfern aus Liebe zu Gott – und da wurde auch sie genannt.«

»Sie ist nun in der Heimat der Seelen,« sagte Corona. »Als Orest mir seine schreckliche Absicht mitteilte und zugleich auch Ihr Vorhaben, teure Signora, die Taufe zu empfangen, da schrieb ich meiner lieben Schwester und bat sie um ihr Gebet, daß diese trostlose Verwirrung zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen sich lösen möge. Dieser Brief kam in Regina's letzten Tagen an, und von ihrem Sterbebett schickt sie Ihnen dies Andenken, das ich ebenfalls gestern Abend erhielt.«

Judith öffnete das kleine Kästchen und nahm die Perlenschnur eines Rosenkranzes von Onyx, woran ein goldenes Kruzifix hing – dann ein versiegeltes Blatt heraus. Sie erbrach es. Die Handschrift war kaum zu entziffern, so hatte Regina's Hand von Fieber und Schwäche gezittert. Judith las beklommen:

»Geliebte Seele! Auf Erden sind wir uns flüchtig begegnet, um uns nie wieder zu sehen. Aber die Gnade umfängt und trägt Sie, und dereinst, hoffe ich, begegnen wir uns vor dem Throne Gottes und singen ein endloses Alleluja dem Lamme, in dessen Blut wir das Kleid unserer Seele weiß gewaschen haben. Nicht wahr, so wird es sein? Ich kann nicht glauben, daß eine vom Strahl der Gnade berührte Seele diese Gnade benutzen könnte, um Gott zu beleidigen. Nein! sie wird ihn verherrlichen, indem sie ihr Opfer bringt und ihr Kreuz annimmt. Dazu stehe ihr bei Maria, die Königin der kreuztragenden Seelen. Der Rosenkranz aber erinnere sie an die Dornen, die der göttliche Vielgeliebte für uns getragen hat, damit aus unseren umdornten Herzen die Rose der heiligen Liebe erblühen könne. Mit dieser Liebe umfange ich Ihre Seele und sage: Auf Wiedersehen unter den Seligen. Schwester Therese vom Lamm Gottes.«

»Vom Himmel und aus dem Grabe und wohin ich auf Erden sehe und höre, erklingt dies wunderbare Lied von der Liebe der Seelen zwischen all dem Schellengeklingel menschlicher Torheit,« sagte Judith erschüttert. »Wehe mir, wenn ich es überhören wollte!« Sie kniete vor Corona nieder und sagte unter sanften Tränen:

»Ich kann nicht fort, ohne Ihre Vergebung erhalten zu haben, gnädige Gräfin, und Sie sehen so gut und liebevoll aus, daß ich wirklich zu hoffen wage, Sie werden mir von Herzen vergeben.«

»Ach, ich hab' es vergessen, daß ich Ihnen etwas, zu verzeihen hatte!« sagte Corona lieblich und umarmte Judith, die nun rasch ihrer Wohnung zueilte, in der Hoffnung, daß der Abbate Don Cinthio, wie Pasqualina ihn genannt hatte, im Laufe des Morgens zu ihr kommen werde. Als sie durch das große Tor in ihren Palast eintrat, kam Florentin ihr entgegen und rief im Ton höchster Überraschung:

»Ganz allein? zu so früher Stunde schon heimkehrend! Signora, woher kommen Sie?«

»Da ich nicht frage: Signor, wohin gehen Sie? so sind wir quitt!« entgegnete Judith und ging kalt an ihm vorüber die Treppe hinauf, durch die öden Gemächer, deren Luft sie frostig anwehte, in ihr Zimmer. Da stand Hyazinth am Kamin.

»Das ist gut!« rief Judith, hastig Hut und Shawl abwerfend; »Signor Abbate, seitdem ich mit Ihnen gesprochen habe, dreht sich mir die Welt nach der andern Seite um. Ich will nicht mehr Gräfin Windeck werden, allein ich möchte gern eine recht gute Katholikin und lieber heute als morgen getauft werden.«

Hyazinth sah bleich und angegriffen aus; aber jetzt verklärte sich sein Antlitz und mit dem Freudenausruf:

»O heilige Mutter Gottes!« faltete er dankbar seine Hände. Dann setzte er besonnen hinzu: »Ihr Entschluß scheint mir sehr schnell gereift zu sein. Ist er in der Tat reif, Signora?«

»Fragen Sie mich nicht zu viel, Signor Abbate! ich weiß nur eines: ich will katholisch werden, weil ich zur Kirche gehören will, die der gekreuzigte Gott zur Beseligung und Heiligung der Menschheit gestiftet hat; in der er fortwirkt durch den heiligen Geist und fortlebt durch die heilige Eucharistie! und in der sein göttliches Leben in den Menschenseelen geheimnisvoll aufblüht als Liebe zu den Seelen. Dies weiß ich! alles übrige glaube ich – und will es glauben; .... denn Gott selbst hat es gelehrt.«

»Das genügt!« sagte Hyazinth. »Das ist das Bekenntnis des Petrus: Ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! und sein Ausruf: Wohin anders könnten wir gehen? Du, Herr, hast Worte des ewigen Lebens.«

»So ists!« sagte Judith.

»Wer hat es bewirkt?« fragte Hyazinth.

»Die Gnade,« erwiderte sie; »und sie bediente sich dazu der verschiedensten Werkzeuge! In der allerersten Zeit war es Ernest; aber ich hörte nicht hin. Dann, im vorigen Herbst, kam Lelios Bekehrung; ich hörte nur halb hin. Vor drei Wochen kamen Sie, Signor, und da hörte ich zu viel, um es übertäuben – viel weniger es vergessen zu können. Gestern kam ich statt zu Lelio, den ich aufsuchte – zu seiner Mutter. Sie sagte himmlische Dinge. Aber dies Himmlische war das Eigentümliche, das Natürliche, ich möchte sagen, der gesunde Pulsschlag des katholischen Glaubens: Liebe zu den Seelen. Dann kam die Welt zu mir! wovon sprach sie? von himmlischen Dingen im katholischen Leben, von großen Bekehrungen aus Liebe zu Gott – und von deren Frucht: Liebe zu den Seelen. Lelios Mutter hatte mir einen Katechismus gegeben. Ich nahm ihn spät abends zur Hand – und durchwachte die Nacht mit ihm. Signor! ich habe in meinem Leben ungeheuer viel gelesen, ernste Bücher, von klugen, geistvollen, denkenden Männern geschrieben; aber etwas so Kluges, das die höchsten und zugleich die wissenswürdigsten Fragen so einfach und genügend – aber auch mit jenem logischen Zusammenhang, der den Stempel unverwüstlicher Wahrheit trägt, beantwortete; so himmlische und hohe Ideen, die in dem Dogma eine so tiefsinnige Begründung und eine so himmlisch klare Lösung finden, hab' ich nie gelesen. Den Katechismus sollten die modernen Weltverbesserer studieren und danach sich selbst und die Menschheit zu bilden suchen. Lebte sie so, wie dies kleine Buch es lehrt, so wäre sie im wahren Fortschritt begriffen. Aber die Seelen, die Gott durch so himmlische Vorschriften, Veranstaltungen und Mittel zur Seligkeit führen will, sucht der Satan durch die Sünde zu verblenden und in seinen Abgrund zu stürzen. Nun, Signor, ich fing an, zu verstehen, was Gott von mir verlangt. Und jetzt eben komme ich von einer Frau, bei der es mir ganz klar geworden ist. Ich habe mit der Gräfin Windeck gesprochen.«

»Mit Corona?« rief Hyazinth froh überrascht.

»Mit ihr, Signor! aber wer sind Sie, daß Sie, Lelios Freund, die Gräfin bei ihrem Namen nennen?« fragte Judith gespannt.

»Verzeihung, Signora! ach, ich bin Orests Bruder,« erwiderte Hyazinth bewegt.

»O ihr Windecker!« rief sie; »auf der einen Seite stehen die Himmlischen unter euch und reichen mir die rettende Hand; auf der anderen Seite die irdischen, um mich in den Untergang zu ziehen. Jetzt verstehe ich den Weg zu beiden Schicksalen. Der meine ist gewählt: ich folge dem Kreuz, das Regina von ihrem Sterbebett mir geschickt hat.«

Sie reichte ihm den Brief und den Rosenkranz. Mit tiefer Wehmut sagte Hyazinth:

»Reginas Gebet hat vielleicht all' die Gnaden erwirkt, welche über Sie zusammengeströmt sind, Signora. Regina hat den Kern des Glaubenslebens gründlich erfaßt: das Opfer. Dem Opfer folgen Gnaden; das ist eine so tiefe Wahrheit, eine so unleugbare Tatsache, daß die ganze vorchristliche Welt dies geheimnisvolle Gesetz einer höheren Macht anerkannte und sich davor beugte. Die Wiedergeburt der Menschheit ging aus dem Opfer hervor, das der Sohn Gottes zur ewigen Sühne darbrachte – und alles Gute, Große und Schöne, was seitdem auf Erden geschieht, ist eine Neugeburt dieses Opfers in dem Menschen, der es ausführt. Das Beste, Größte und Schönste, was hienieden geschehen kann, ist die Rettung der Seelen. Darum erheischt sie die größten Opfer. Darum muß der Hirt der Seelen, der Priester – ein Opfernder sein. Darum muß der Missionär, der Ordensmann, die Klosterfrau, die sämtlich den Beruf zur Rettung der Seelen haben und ihre Aufgabe durch äußere und innere Tat vollziehen: darum müssen sie ein Opferleben führen. Darum müssen ganze Epochen in der Weltgeschichte oder große Erscheinungen in der Epoche den Charakter des Opfers tragen. Das Christentum war tötlich bedroht in den ersten Jahrhunderten durch heidnische Verfolgung; die Martyrer, die nach Millionen zählen, opferten sich mit Blut und Leben: und es siegte. Es war tötlich bedroht durch die wütenden Häresien des Orients; und eine ganze Welt von Asceten erhob sich zum stillen Opfer der Irdischkeit: es war gerettet. Tötlich bedroht war es Jahrhunderte hindurch von den barbarisch vernichtenden Stürmen und Zügen der Völkerwanderung; da erschienen die großen Glaubensboten und Ordensmänner, dreifach sich opfernd, als Apostel, Märtyrer und Asceten, streuten, schützten, pflegten himmlische Saaten – und das Christentum war gerettet. Tötlich bedroht war es im Mittelalter teils durch häretische Sekten, die im Gewande falscher Heiligkeit ihr Gift verspritzten, teils durch die gewaltige Neigung der Welt zu den Lüsten der Erde und den breiten behaglichen Genüssen der sinnlichen Freuden. Ein Heer von opferfreudigen Seelen erhob sich in solcher Masse, daß der Jüngling die Braut nicht fand und die Jungfrau keinen Gatten; so waren die Herzen entbrannt in Liebe zur Armut und zur Entsagung, wie St. Franziskus, der Seraphische sie lehrte und übte. Das Christentum fand durch sie seinen Nerv und seine Kraft wieder. Und abermals war es bedroht durch den grausigen Abfall des sechzehnten Jahrhunderts, den der Welt- und Erdgeist in Verbindung mit der Häresie stifteten; und abermals wurde es gerettet durch Scharen von Heiligen, die das Kreuz ins Herz und in die Hand nahmen und mit einer alles überflügelnden Opferliebe die Tage des Apostolats und des Martertums durch sich selbst, ihre Zöglinge und geistlichen Söhne erneuerten und auf dem ganzen Erdball das Christentum teils retteten, teils verbreiteten. Auf jedem Kampfplatz erschienen sie, auf jede Bresche sprangen sie, jeden schwachen Punkt verteidigten und befestigten sie. Der große Erzbischof von Mailand Karl Borromäus, in dem die Seele des Johannes und des Paulus verschmilzt, beginnt die Reform der Kirche bei den geistlichen Hirten selbst, während der liebenswürdige Bischof von Genf, Franz von Sales, durch den Zauber seiner seelenvollen Beredsamkeit in Controverse und Predigt tausend Betörte von Calvins Irrlehre befreit. Loyola stiftet die glaubens- und todesmutige Schar seiner Söhne, die man St. Michaels Söhne nennen müßte – so kämpfen sie auf der Welt für das Reich Gottes gegen den uralten Lügengeist. Franz Xaver gewinnt in Asien Völker und Länder für das Christentum; Franz Solano in Südamerika. Vinzenz von Paulo ruft in Paris die barmherzigen Schwestern ins Leben; Johannes von Gott in Granada die barmherzigen Brüder. Therese von Jesu führt gottliebende Seelen in die Gebetsstille des mystischen Carmels ein; Katharina Fiesco-Adorno, die Dogentochter, dient im großen Spital zu Genua – und beide verfassen Schriften, in denen die Kirche eine himmlische Weisheit, gepaart mit himmlischer Liebe anerkennt. Alle Orden erneuern sich und treiben frische Sprossen. Neue Kongregationen erblühen, neue Genossenschaften treten zusammen. Wo eine Lücke im kirchlichen Leben ist, wo ein geistiges Bedürfnis sich kund gibt – da ist auch schon eine opferwillige Seele zur Hand, die mit der Erfindungsgabe, welche der heiligen Liebe eigen ist, gerade das trifft, was eben zur Abhilfe not tut. Und wozu das alles? wozu diese grenzenlose unermüdliche, heroische, demütige Hingebung an ein langes, langes Opferleben? um Seelen für Christus zu retten, die durch Sünde, Irr- und Unglauben ihm verloren gingen! Wieder wurde das tötlich bedrohte Christentum durch das Opfer gerettet. Und jetzt? ist es denn jetzt anders? wir stehen mitten im Gewühl und im Staube des Kampfes, wo wir nur das allernächste schauen können; sind auch viel zu kurzsichtig, um unseren Blick über den Tag von heut und morgen zu erheben; viel zu armselig, um Großes von einer Zeit zu hoffen, in der die Menschheit von unserem Schlage ist; viel zu kleinmütig, um mit unwandelbar hochherzigem Vertrauen die Spuren des Lebens unter den Zuckungen des Todes zu verfolgen. Aber wir wissen seit achtzehn Jahrhunderten und durch sie: für das Christentum sind Zeiten des Kreuzes – Zeiten der Gnade; Tage der Drangsal – Tage der Heiligung. Heiligen aber kann sich niemand, der nicht aus voller Seele das Opfer umfaßt – das Opfer, aus dessen Flamme das Christentum fort und fort als ein unsterblicher Phönix hervorgeht. Schrecken Sie davor nicht zurück, Signora?«

Sie sah ihn fest an und sagte ruhig lächelnd:

»Nein, denn ich werde mich an das Kreuz meines Gottes schmiegen.«

»Und wollen Sie das ganze Christentum umfassen mit seinen wonnevoll trostreichen Glaubenslehren und seinen unerbittlich herben Sittenlehren; mit seinen lieblichen Tugenden und seinen mühseligen Kämpfen; mit seinen himmlischen Kronen und seinem irdischen Dornenkranz?«

»Mit Kronen und Dornenkranz, Signor! Aber lassen Sie mich zum Bade der Wiedergeburt eilen! lassen Sie mich mein Opfer bringen! Jede Minute der Zögerung ist ein unermeßlicher Verlust für mich – lassen Sie mich ein Kind Gottes werden .... und dann fliehen, mich begraben in irgend einer Einsamkeit und beten, ach beten, daß Ihres Bruders Seele gerettet werde.

»Und Ihre Mutter?«

»Gott wird sie trösten. Ich kann sie nicht in mein Geheimnis ziehen; sie begreift es nicht. Den größten Teil meines Vermögens lasse ich ihr. Nach Jahren, wenn alle Gefahr für Orest vorüber ist, wird sie mich wiederfinden.«

»Also wirklich – begraben mit Christus?« fragte Hyazinth gerührt.

»Ja! Leben für Leben!« sagte sie entschieden. »Ach,« rief sie plötzlich mit schmerzlicher Erinnerung, »habe ich dem armen Orest nicht versprochen: Alles für alles!«

»Er darf Ihnen nicht alles bieten, nicht seine Hand, nicht sein Wort; denn beides gehört ihm nicht mehr;« erwiderte Hyazinth. »Er hat es Gott verpfändet, als er das Sakrament der Ehe empfing. Sein Taufgelübde, das er bei dem Empfang der heiligen Erstkommunion wiederholte und bestätigte, war schon zuvor an Gott verpfändet für die Gnade, im katholischen Glauben leben und sterben zu dürfen. Also auch darüber darf er nicht mehr schalten und walten, und folglich hat er Ihnen nicht das »alles« anzubieten, wofür Sie »alles« versprochen haben. Er kann freilich sein zwiefaches Versprechen brechen, denn er ist keine Maschine, die von der Gnade getrieben wird, wie das Mühlrad vom Nach. Er kann der Gnade Widerstand leisten und sich in die ewigen Abgründe stürzen, aber nur um den Preis schwerer Beleidigung Gottes und freiwilliger Verzichtung auf das ewige Leben. Und wenn er dann wagte, Ihnen »alles« anzubieten, ach! wie müßten Sie gerade dann erst recht ihm antworten: alles? – aber du hast ja nichts! .... denn was hat der, der Gott nicht hat! Und Sie selbst, Signora, Sie haben nicht das Recht, irgend einem Geschöpf »alles« zu versprechen. In jedem Verhältnis, in jeder Lage muß Gott zu Rate gezogen werden: dazu gab er seine Gebote, dazu erteilte er seine Ratschläge. Wenn das unmündige Kind seinem lieben Spielgefährten sagt: ich schenke dir die Güter meines Vaters; so hat ein solches Versprechen keinen Sinn. Ihr unmündiger Geist wähnte ein Recht zu haben, nach Belieben schalten und walten zu dürfen, weil er nichts Höheres kannte, als das Ich, dem er diente. Aber die Bestimmung Ihres Geistes, Ihres Herzens, Ihres ganzen Wesens ist: Gott zu dienen und – in welches Verhältnis Sie eintreten mögen. Ihr höchstes Gut, welches zugleich das Gut Ihres himmlischen Vaters ist – Ihren Willen! an Gott hinzugeben. Sie können ihn Gott entziehen und dem Geschöpf dienstbar machen; aber um denselben Preis, wie Orest: um den Preis der Sünde. Alles für alles! dürfen Sie getrost nur zu Ihrem Herrn und Heiland sagen, denn nur Er, der das unerhörteste Liebesopfer bringt, versteht das Opfer des liebenden Herzens anzunehmen und zu vergelten. Das Geschöpf versteht es nicht. Es ist etwas so Himmlisches im Menschenherzen, daß es das Gottesherz braucht, um sich daran auszuleben und auszulieben. Dann hat »alles für alles« einen ächten Sinn – und dann dürfen Sie gewiß sein, daß die Kreatur dabei nicht zu kurz kommt. Ströme von Liebe werden aus dem Liebesmeer der Gnade in ein solches Herz sich ergießen und überfließen .... auf Vater und Mutter, auf Gatte und Kind, auf Sünder und Heilige, auf Feind und Freund .... in Wort und Tat, in Gebet und Tränen, in unscheinbaren Werken und heroischen Handlungen. Gott ist der Ursprung dieser Liebe, Gott ist ihr letztes Ziel; in der Mitte liegt die Liebe zu den Seelen.«

»Ach, gibt es denn Seelen, die sich nicht entzünden lassen von der Liebe Gottes?« rief Judith in Tränen.

Hyazinth lächelte traurig und entgegnete:

»Ich dächte, Sie hätten ein lebendiges Beispiel vor Augen .... an Orest.«

»Und an Florentin,« setzte sie hinzu; »an Ihrem Jugendgenossen, der, vom Wahnwitz des Radikalismus ergriffen, an die Verwirklichung wilder und blutiger Theorien seine Kräfte vergeudet und in dem Schiffbruch seiner besseren Verhältnisse seit Jahren schon mein Privatsekretär ist. Da aber Lelio, der ganz auf seinem Standpunkt sich befand, sich zu Gott bekehrt hat, so kann dasselbe ja auch an Orest und Florentin geschehen«

»Werden Sie so fromm, daß der liebe Gott Ihnen nichts abschlagen kann,« erwiderte Hyazinth freundlich; »aber wähnen Sie nicht, daß das die Sache von ein paar Tagen oder Jahren – oder daß es überhaupt Menschensache sei. Die Bekehrung vom Irrtum zur Wahrheit, von der Sünde zur Tugend ist immer eine geistige Schöpfung, also mehr, als irgend etwas hienieden – eine Gottestat. Wir können nichts dabei tun, als uns Gott zum Werkzeug anbieten durch Hingebung unseres Willens. Aber wenn wir das auch in einer Vollkommenheit täten, wie wir es, ach leider! nicht tun: so würden wir darum doch nicht immer den gewünschten Erfolg haben. Das Atom unserer Arbeit am Werk Gottes geht nicht verloren, wenn wir es in die unendlich wirksame Kraft des Blutes Jesu eingetaucht hatten; aber in der großen Einheit der christlichen Kirche kann dies Atom, nach Gottes verhülltem Ratschluß, ihn mehr verherrlichen an einer Seele, die uns unbekannt ist; oder er will uns prüfen, ob wir beharrlich hoffen und glauben – auch ohne durch äußere Erfolge gestärkt zu werden, und das ist eine heilsame Prüfung, denn sie erhält uns in Demut. Und endlich gibt es ja auch Seelen, die der Gnade widerstreben wollen.«

»Ach, man muß viel leiden, wenn man die Seelen liebt!« sagte Judith; »ich fange schon an, das zu begreifen. Wer sich damit abgibt, setzt das Leiden des Erlösers fort; und da diese Liebe das Merkmal und der Stempel ist, den Christus mit seinen Wunden ihr aufgeprägt hat: so zeigt sie sich gerade in diesem Leid als seine Stellvertreterin.«

Judith sagte Hyazinth, daß Corona ihre Taufpatin sein wolle und fragte, ob es nicht möglich sei, daß diese heilige Handlung durch Coronas Vermittlung zu Trinità dei Monti stattfinden könne; dort hätten sie ja auch ihre Zusammenkunft gehabt. Hyazinth erwiderte, das sei sehr wohl möglich. Corona, in einer Anstalt des Sacrè Coeur erzogen, habe hier eine der Damen wiedergefunden, welche die Lehrerin ihrer Kindheit gewesen sei – und er zweifle nicht an der Bereitwilligkeit der Damen, in ihrer Kirche die heilige Feier von ihm vornehmen zu lassen und alle nötigen Vorkehrungen zu treffen.

»Nur möglichst still und schnell,« bat Judith. »Es wäre mir am liebsten, morgen in aller Frühe, in den ersten Stunden des Tages – damit Orest vorher nichts erfahre.«

»Wie soll ich Ihnen eine Antwort zukommen lassen, Signora?«

»Durch Lelio – er ist zuverlässig,« sagte sie.

Hyazinth ging auf demselben Wege zurück, auf dem er gekommen war: die kleine Treppe hinab und zur Nebentüre des Palastes, die in ein Seitengäßchen führte, hinaus. Auf den untersten Stufen der Treppe lag ein Facchino und schlief. Hyazinth ging vorsichtig an ihm vorüber, um ihn nicht zu stören, und eilte zu Corona. Von seinem ersten Besuch bei Judith hatte er ihr nichts gesagt, um keine voreilige Hoffnungen in ihr zu wecken und ein ähnliches Gefühl hatte auch sie geleitet, da sie ihm ihre Absicht, mit Judith eine Zusammenkunft zu haben, nicht mitteilte. Wie freute er sich jetzt auf ihre Überraschung, und wie dankte er Gott, der ihnen beiden das Vertrauen gegeben hatte, sich an Judith zu wenden, deren Seele, wie eine zusammengebogene Springfeder, geradeauf schnellte, als sie den Druck der Leidenschaft, der eigenen und der fremden, von sich abschüttelte. Reginas Abscheiden warf keinen Schatten mehr in seine stille Seligkeit. Leben und Tod schienen ihm eine und dieselbe Hymne von dem Triumph des Lichtes und der Gnade über Nacht und Sünde anzustimmen.

Bei Corona waren sie alle versammelt, Graf Damian, Uriel und Orest. Mit Tränen im Auge rief Graf Damian ihm entgegen:

»Hyazinth, Onkel Levin ist Regina schnell gefolgt! Hier ist das Telegramm vom Pater Guardian. Blutsturz und Lungenschlag machten binnen zwölf Stunden seinem Leben ein Ende.«

»Ruhe in Frieden, heiliger Greis!« sagte Hyazinth gefaßt; aber seine Stimme brach in Tränen.

»Mir ist zu Mut, als müsse Unheil über Windeck einbrechen, jetzt – da Onkel Levin es nicht mehr bewacht!« rief Graf Damian; »und deshalb, Kinder, reise ich zurück! Sind es diese beiden Donnerschläge aus heiterem Himmel, oder ist es sonst etwas .... aber es drängt mich fort von hier. Ich meine, es müsse alles drunter und drüber gehen. Onkel Levin war ein lebendiger Teil meines eigenen Lebens. All' dessen Phasen hat er durchgemacht, inniger und treuer als ein Vater, unzertrennlich von Windeck! es ist eine Ruine ohne ihn.«


Niemand versuchte ihn zu trösten. Uriel war außer sich vor Schmerz, den Onkel Levin gleichsam im Tode verlassen zu haben. Corona beweinte ihren zärtlichen und treuen Ratgeber und Tröster. Orest war von stumpfer Niedergeschlagenheit zerdrückt. Der Tod .... und wieder der Tod! und er behandelte das Leben und dessen Erscheinungen, als ob diese Welt voll vergänglicher Schatten – eine ewige Welt wäre! Aber der schneidende Gegensatz brachte ihn nicht zur Besinnung! War das Leben so flüchtig und der Tod so überraschend nah, dachte er, welch ein Wahnsinn dann, auch nur eine Stunde des Glücks – ja, nur eine Minute zu versäumen! So dachte auch Judith. Aber jeder dachte so auf dem Wege seines Schicksals! Corona bat den Vater inständigst, seine Abreise zu verschieben; sie könne ihn unmöglich in dieser rauhen Jahreszeit zurückbegleiten und er werde, allein bei Tante Isabelle, in dem vereinsamten Windeck auch keinen Trost finden.

»Onkel Levin war die Seele des Hauses,« sagte sie; »er belebte es und machte es traulich, und wenn er ganz allein da war, so hatte Windeck nie die kalte Öde eines verlassenen Schlosses. Jetzt wird es Dir sehr unheimisch vorkommen, liebster Vater.«

»Ja, Kind, ich weiß! Aber ich würde .... ich weiß nicht was! drum geben, wenn ich mich stante pede mit euch allen samt und sonders nach Windeck zaubern könnte. Bei Trauerfällen, wie sie uns eben heimsuchen, ist es am passendsten und sozusagen am sichersten, sich in seinen eigenen vier Wänden aufzuhalten. Da hat man gewissermaßen Stütze und Verteidigung in den ruhigen und gleichförmigen Gewohnheiten, Geschäften und Umgebungen. Die unhäusliche Fremde paßt gar nicht für ein trauriges Gemüt. Ach, meine Regina, mein herrliches Mädchen! wie hab' ich sie gequält! wie hab' ich so gar nicht den Schatz erkannt, den ich, den wir alle an ihr besaßen.«

»Es geschah ja aus Liebe, mein guter Vater,« erwiderte Corona und küßte zärtlich seine Hand.

»O Kind, die Selbstliebe war vorherrschend,« entgegnete er mit großer Aufrichtigkeit.

Er ging in sein Zimmer, um Briefe zu schreiben. Orest ging fort. Niemand fragte wohin. Uriel sagte:

»Ich will zum Kalvarienberg gehen, den man Vatikan nennt. Da wird man Herr über jeden Schmerz.«

Als Hyazinth mit Corona allein war, setzte er sie von seinen Erlebnissen mit Judith in Kenntnis und fügte hinzu:

»Sieh, wie gut ist Gott, über unsere vergängliche Trauer eine ewige Freude aufgehen zu lassen und unsere Tränen durch einen solchen Trost zu stillen. Dies Ereignis gehört zu den magnalia Dei«, zu den wunderbaren Großtaten Gottes, wie es in der Apostelgeschichte heißt – die so ganz außerhalb aller menschlichen Berechnung und Voraussicht liegen.«

»Sie muß ein starkes, gerades Herz haben, diese Judith,« sagte Corona, »um mit einer solchen Entschiedenheit und Opferwilligkeit dem Stern der Gnade zu folgen. Sie geht so recht mit den heiligen drei Königen der armen Krippe von Bethlehem zu .... diese Königin aus dem Morgenlande.«

Dann beratschlagten sie, ob Judiths Wunsch zu erfüllen und sie in der nächsten Morgenfrühe zu taufen sei.

»Warum nicht? sie glaubt ja! und ist erst das Licht der Gnade in ihre Seele gegossen, so wird sie leicht lernen und fassen, was sie jetzt noch nicht versteht. Laß uns zu Trinità dei Monti hinaufgehen und die Oberin um ihre Einwilligung und um Verschwiegenheit bitten.«

Sie gingen hinauf und trugen ihr Anliegen vor, ohne Namen und Verhältnisse der Katechumene zu bezeichnen. Es war auch nicht nötig, um die lebhafteste Teilnahme der Oberin zu erregen, die es als eine große Gnade betrachtete, daß eine Tochter Israels in ihrem Hause das Sakrament der Taufe empfangen solle; und so kam man überein, um fünf Uhr morgens die heilige Feier zu vollziehen. Um vier Uhr sollte Judith sich einstellen und Corona wollte sie empfangen. Gegen fünf Uhr wollte Hyazinth kommen und den treuen Lelio, der mehr als alle auf Judith gewirkt hatte, mitbringen. Die Oberin erklärte sich gern bereit, die Neophitin länger im Hause zu behalten, für den Fall, daß diese wünschen sollte, einige Tage in vollkommener Zurückgezogenheit von der äußeren Welt und in stiller Sammlung und Betrachtung zu leben; und man trennte sich unter seligem Frohlocken über Gottes unergründliche Barmherzigkeit. Hyazinth begleitete, Corona bis an ihre Türe und ging zu Lelio.

Als Orest Judiths Palast betrat, ersuchte ihn der Portier, sich zum Signor Fiorino zu bemühen, der schon zwei Stunden auf den Herrn Grafen warte.

»Wo bleibst Du denn heute!« rief ihm Florentin höchst aufgeregt entgegen; »ich habe Dir äußerst wichtige Nachrichten mitzuteilen.«

»Von der Central-Nenta oder aus dem Grand-Orient?« fragte Orest schneidend. »Ich habe auch Nachrichten bekommen. Onkel Levin ist tot.«

»Den Verlust wirst Du doch leicht verschmerzen,« erwiderte Florentin kalt. »Die religiösen Schwärmer können unmöglich Deine Freunde sein! Also ist er tot, der alte Mann! wie er sich betrogen hat im Leben durch diese schwärmerische Verschmähung alles Schönen, das es bietet!«

»Das ist noch die Frage, die wir nicht lösen können! .... Du gewiß nicht! – Auch Regina ist tot!«

»Regina!« rief Florentin erbleichend und mit verfassender Stimme; »o Jammer um sie!« Doch schnell gefaßt setzte er hinzu: »Da siehst Du es: dem finsteren fanatischen Geist der katholischen Kirche ist sie als Opfer gefallen. Orest! Orest! rette Judith! ich sage Dir: es gibt eine Sorte von Weiberköpfen und – man muß es leider gestehen – auch von Männerköpfen, die sich, trotz einer entschiedenen Tendenz zur Unabhängigkeit und trotz einer lebhaften Neigung für Wahrheit, Schönheit und Größe, dennoch von den Schlingen der Dunkelmänner einfangen und umspinnen lassen. Hast Du nicht bemerkt, was sie gestern Abend für katholische Ansichten aussprach?«

»Nein, gar nicht! ich hörte nicht was .... nur wie sie sprach. Sie sah unbegreiflich schön aus.« Florentin schwieg eine Weile, legte dann mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns seine Hand auf Orest's Schulter und sagte:

»Vergib' mir, Orest, ich werde Dir wehe tun .. aber Du mußt es wissen.«

»Ha, Deine Nachrichten!« rief Orest mißtrauisch.

»Sind zu beachten, lieber Freund! Judith hat geheime Zusammenkünfte. Heute morgen gegen acht Uhr kam sie ganz allein, raschen Schrittes zu Hause. Ich selbst begegnete ihr im Tor. Um so früh heimzukehren .... wann muß sie ausgegangen sein .... und weshalb? Ich war dermaßen überrascht, daß ich einen Facchino, der sich hier herum zu treiben pflegt, einen braven Kerl« ... –

»Späher der Venta, ohne Zweifel!« warf Orest ein, um seiner Aufregung etwas Luft zu machen.

»Ein sehr brauchbares Subjekt!« fuhr Florentin gleichgültig fort. »Ich trug ihm auf, etwas Acht zu geben, wer allenfalls zu Judith komme – und es mir mitzuteilen. Um halb zehn Uhr erschien er bei mir mit der Nachricht: so eben habe ein Priester Judith verlassen, sei durch das Zimmer ihrer Kammerfrau vorsichtig die Nebentreppe hinab und dann schnell zur kleinen Tür des Palastes hinausgegangen – ein großer schlanker Mann, mit jugendlich leichten Bewegungen. Mehr konnte Gaëtano, der sich schlafend stellte, nicht wahrnehmen. Da er seit acht Uhr auf seinem Posten war und jenen schwarzen Jüngling nicht in den Palast kommen sah, so ist es klar, daß sich derselbe schon vor acht Uhr in ihrem Zimmer, ihrer Einsiedelei – wer weiß seit wann! befunden habe.«

»Es ist nicht wahr!« rief Orest wütend.

»Diese Tatsachen verbürge ich Dir,« entgegnete Florentin kalt und bestimmt. »Ob das nicht wahr ist, was Du denkst .... oder fürchtest – weiß ich nicht! allein ich rate Dir als treuer Freund, Judith auf die Probe zu stellen, auf eine entscheidende.«

»Ja!« rief Orest mit kochendem Zorn, »ich will sie fragen .... sie soll sich verteidigen« .... –

»Ah bah!« unterbrach ihn Florentin. »In der Kunst der Verteidigung sind die Weiber Meisterinnen! die ist ihnen angeboren. Stellt man sie auf den Punkt, so behalten sie immer Recht. Wäre der Advocatus diaboli an heiliger Rota ein Weib: so würde keine Kanonisation von sogenannten Heiligen zu Stande kommen – so geschickt würde dieser Advocatus die Sache des Teufels verteidigen.«

»Ich könnte Dich erwürgen,« sagte Orest dumpf.

»Ah bah!« wiederholte Florentin hämisch; »dann hättest Du deinen besten Freund verloren. Nein, folge meinem Rat und bitte Judith um einen ganz geringen Beweis ihrer Liebe.«

»Und der wäre?« –

»Bitte sie, sich nach dem protestantischen Ritus taufen zu lassen. Willigt sie ein, so darfst Du ruhig sein; dann hat sie ihre geistige und sittliche Freiheit noch nicht verloren. Schlägt sie es ab – so weißt Du, wie es mit ihr steht, und daß Du dich fortan nicht mehr auf sie verlassen kannst. Sie ist dann ein Werkzeug, welches den Plänen, Zwecken etc. etc. der Dunkelmänner blindlings gehorcht; ist um so gefährlicher, als sie klug und brauchbar ist – und Du hörst dann auf, ihr Herr und der Deine zu sein.«

»Ja!« rief Orest, »das ist eine gute, einfache, vernünftige Probe! ich danke Dir, Florentin, ich will sie sogleich anstellen.« –

Judith war noch in ihrem Zimmer. Sie schrieb an ihren Banquier in Paris gewisse Bestimmungen über ihr Vermögen, das sich größtenteils in der Londoner Bank befand. Orest schob den Diener beiseite, der ihn melden wollte, klopfte an und wartete kaum Judiths »Herein!« ab, um einzutreten. Sie sah befremdet über ihren Schreibtisch hinweg ihn an, schloß ruhig ihr Portefeuille, nickte ihm zu und sagte, ohne ihren Platz zu verlassen:

»Wie kommt es, Graf Orestes, daß Sie mich schon zum zweiten Male in diesem Zimmer aufsuchen, in welchem ich mich doch nur dann aufhalte, wenn ich allein sein will?«

»Da Sie in diesem Zimmer den Herren Geistlichen Audienz erteilen, so darf ich doch wohl dasselbe Recht beanspruchen,« entgegnete Orest gereizt.

Auf Judith's Lippen schwebte eine stolze Antwort; allein sie bemeisterte sich und sagte sanft:

»Wenn Ihr Anliegen eine so ungestörte Besprechung mit mir erfordert, wie das meine mit dem Geistlichen, so sein Sie willkommen!«

Sie stand auf, setzte sich auf die Causeuse am Kamm und sagte, mit ihrem großen grünen Fächer spielend, aber innerlich beklommen:

»Ich bin ganz Ohr, Graf Orestes.«

Er ging im Zimmer auf und nieder, blieb plötzlich vor ihr stehen und rief:

»Judith! es ist mir ein wahrer Greuel, daß die Religion bei unserer Liebe ein Wort mitsprechen will. Könnte ich um meinen beabsichtigten Übertritt vom Katholizismus zum Protestantismus herum kommen: ich würde mein halbes Vermögen drum geben, denn ich spiele nicht gern religiöse Farcen und sehe sie auch nicht gern. Aber, Judith, es ist der Weg, der einzige, zu Ihrem Besitz. Ich gehe ihn .... und führte er durch die Hölle .... oder zu ihr. Deshalb ertrage ich nicht die Vorstellung, daß dieser religiöse Wirrwarr vergrößert werden soll, indem Du, Geliebte, gerade dem Katholizismus, den ich verlasse, Dich zuwendest. Ach Judith, es ist ja schon so vieles vorhanden, das uns trennt, – wozu denn auch noch das Glaubensbekenntnis? Ich weiß, daß wir dies früher anders besprachen; daß ich leicht meine Zustimmung gab. Doch jetzt, wo für uns Beide der Schritt nah und näher kommt, jetzt quält mich alles, was wie eine Kluft zwischen uns aussieht. Und deshalb, geliebte Judith, bitte ich auf den Knien um den geringen und einfachen Liebesbeweis, daß Du dich nach irgend einem akatholischen Ritus taufen läßt. Es gibt hier anglikanische Geistliche genug; ich selbst kenne einige von meinen Jagdpartien her – vortreffliche Schützen! Sie werden mit Freuden diesem Wunsch entgegenkommen.«

Während Orest sprach, fühlte Judith, daß die Stunde ihres Bekenntnisses und die Strafe ihrer Sünden da sei. Aber sie sprach zu sich selbst: Ich werde meinen Glauben nicht verläugnen, nicht Orest vierundzwanzig Stunden täuschen! Gott will es nicht. Wär' es sein Wille, so wäre Orest nicht gerade heute mit dieser Bitte gekommen. Morgen soll ich getauft werden und heute hintergehen! ... das kann ich nicht.... breche über mich ein, was da wolle.

»Teurer Orest,« entgegnete sie mit einer weichen Innigkeit, die sonst durchaus nicht in ihrem Wesen lag, »ich bin auf dem Wege des Glaubens zu nah an die ewige Wahrheit heran getreten, um jetzt wieder umkehren zu können. Ich halte die Glaubenslehre der katholischen Kirche für die einzig wahre göttliche Offenbarung. Hat man diese Überzeugung, so ist es Feigheit, sie zu verläugnen; Sünde .... sie aufzugeben.«

»Also richtig! also wirklich!« ächzte Qrest. »Betört, umgarnt, verloren!«

»Das alles war ich!« entgegnete Judith sanft. »Gottes Barmherzigkeit rettet mich .... und will auch Sie retten.«

»Ha, Schlange!« rief Orest außer sich. »Schlange, der ich mein Herz, mein Leben, mein Glück hinwarf! ist dieser Verrat der Lohn meiner Treue!«

»Ich verrate Sie nicht, Graf Orestes. Sie haben gewünscht – nicht ich! – daß ich die christliche Taufe empfangen möge. Wir knüpfen beide irdische Hoffnungen daran; ... ich hatte ja keine Ahnung von himmlischen! Die göttliche Liebe gewährt mir diese, indem sie jene zerstört. Ist das Verrat?«

»O Schlange, die dem Priester Gehör gibt, seiner Weisung folgt, ihm gehorcht, ihm glaubt – mir aber den kleinen armseligen Wunsch versagt, demjenigen religiösen Bekenntnis sich anzuschließen, dem ich, aus grenzenloser Liebe zu ihr, folgen will.«

»Wehe mir, wenn es dahin mit Ihnen käme, teurer Graf. Ich bin so unglücklich gewesen, Sie der heiligen Kirche zu entfremden – o lassen Sie mir die Hoffnung, Sie zurückzuführen.«

»Wissen Sie denn nicht, daß wir dann auf immer getrennt sind?«

»Teurer Orest, wir sind es in jedem Fall,« sagte Judith mild aber bestimmt.

Er faßte ihre beiden Hände über dem Gelenk in seiner Hand wie in eiserner Klammer zusammen, riß sie von der Causeuse empor und rief mit einem so wilden Ausdruck: »Wiederhole das und ich töte Dich!« daß Judith voll Entsetzen innerlich seufzte: O Herr, erbarme dich meiner! und dann gefaßt sagte:

»Wohlan, Orest, töten Sie mich! ich hab' es verdient.«

Grimmig rief Orest, indem er immer ihre Hände festhielt und zuweilen wütend schüttelte:

»Schlange, die mich Jahrelang mit ihrem Blick bezaubert, mit ihren Windungen umringelt hat .... Schlange, die klug nie Gewährung gab, nie Hoffnung nahm ... Schlange, die endlich, endlich! ihre Zusage halten, ihr Versprechen erfüllen soll, und nun mir entschlüpfen will. Ich träume von Paradiesen in irgend einem entlegenen Winkel der Welt .... paradiesisch nur durch ihren Besitz; ich habe keinen anderen Gedanken, als den, mich mit ihr aus dem wüsten, langweiligen Menschengewühl zu flüchten und von ihr allein mein Glück zu verlangen; mir brennt der Boden unter den Füßen, so lange zwischen ihr und mir verhaßte Schranken gezogen sind; ... und in dem Augenblick, wo sie fallen sollen, da will die Schlange sich glatt und kühl mir entwinden?! Nein, Signora! das läßt sich der Orest nicht gefallen.«

»Was denken Sie also zu tun, Herr Graf?« fragte Judith ruhig.

»Ich lasse nicht von Dir!« rief er in einem anderen Ton, doch nicht weniger stürmisch.

Sie schüttelte sanft den Kopf und sagte:

»Ich verdiene Ihren Haß, Ihre Verachtung, Ihren Zorn! Ich sage nicht eine Silbe, um mich für meine Vergangenheit bei Ihnen zu entschuldigen; aber, teurer Orest .... fortan trennen sich unsere Wege.«

»Judith!« rief er und sank ihr zu Füßen, »wie ist es denn möglich, einen so gräßlichen Treubruch zu begehen, weil man ein paar Worte von einem Priester gehört hat!«

»Ach, Orest, es sind ja Worte, die plötzlich dem Leben einen neuen Inhalt, eine neue Bestimmung, ein neues Ziel geben! ich wußte ja nichts von der gefallenen Natur, die durch die Sünde von dem höchsten Gut, von der ewigen Liebe, der göttlichen Liebe getrennt ist; nichts von dem zärtlichen Erbarmen Gottes, der dieser dahingesunkenen Menschheit Gnade schickt durch des eingeborenen Sohnes Opfer im Leben, im Leiden, im Sterben – als Gott-Mensch, als Erlöser; nichts von der Kirche, welche für alle Weltzeiten der Menschheit diese Gnade vermitteln soll; nichts von der reinigenden und heiligenden Kraft seines göttlichen Blutes in den Sakramenten; nichts von seiner beseligenden eucharistischen Gegenwart; nichts von der Wonne des Opfers; nichts von der Herrlichkeit der himmlischen Liebe; nichts von der Sünde, als Beleidigung Gottes; nichts von der Tugend, als Verähnlichung mit Gott; nichts vom Leid, als Nachfolge Gottes; nichts von Christus! Begraben in dem Kerker des Staubes vegetierte meine Seele nach den Instinkten und für die Leidenschaften der gefallenen Natur – und immense Kräfte hab' ich verschwendet, suchend, versuchend, traurig, unbefriedigt, rastlos, ohne glücklich zu sein oder glücklich zu machen. So haben Sie mich gekannt. Ich hatte keine Richtschnur, die höher gelegen hätte, als mein Ich. Jeder glaubenslose Mensch ist sein eigener Gesetzgeber – ganz logisch; der letzte Grund der hohen Gesetze, die das Opfer des Ichs, die Selbstverläugnung, die Entsagung vorschreiben, ist in Gott – und fallen weg, wenn der lebendige Glaube an ihn wegfällt. Ich wollte durchaus glücklich sein. Ich hoffte es mit Ihnen zu werden. Achtung vor fremdem Recht, wenn es meinen Egoismus beeinträchtigte, hatte ich nicht. Ich versprach, Ihre Frau werden zu wollen, und ich versichere Sie, ich wollte es mit der äußersten Entschiedenheit. Einen edlen Instinkt hatte ich .... zwischen vielen unedlen; und das war meine Neigung zur Wahrheit. Nur wußte ich durchaus nicht, ob es denn auch eine absolute objektive Wahrheit gebe, die unabhängig sei von allem Menschenwitz. Sie ist mir aufgegangen wie eine übernatürliche Sonne, in deren Licht ich mich selbst und das All zu erkennen beginne. Aus der Schattenwelt meines Individualismus trete ich in den Tag der Offenbarung – aus meinem subjektiven Denken und Meinen an die überwältigende Majestät der katholischen Glaubenslehre heran; und da sollte mein Leben in seinem früheren Geleise fortgehen .... gottbeleidigend, sündhaft, weltlich? da sollt' ich nicht suchen, gemäß meiner Erkenntnis zu leben? da sollte meine Handlungsweise die Wahrheit verläugnen, die mein Herz anbetet? Sie sehen wohl ein .... das ist unmöglich! Die paar Worte, die ich von dem Priester gehört habe, sind keine anderen, als die, welche vor achtzehnhundert Jahren die glaubenslose Welt zu Füßen des Kreuzes niederwarfen.«

»O sprich! .... sprich weiter! sprich noch mehr, Du angebetetes, Du göttliches Geschöpf!« rief Orest. »Was Du sagst, verstehe ich! was Du glaubst, will auch ich glauben, wohin Du gehst, folge ich Dir – aber mit Dir, Judith! nicht ohne Dich. Mit Dir will ich in Deinen Himmel, zu Deinem Gott! Mit Dir .... will ich vor dem Kreuz knien, das Du anbetest! Mit Dir .... soll kein Opfer mir zu hoch, zu schwer sein! Aber Judith! ohne Dich – fahre die Welt zur Hölle .... und ich zuerst. Weißt Du jetzt mehr von den Dingen der Ewigkeit als zuvor, so wirst Du auch wissen, daß man einen Menschen, dem man Glück verheißen hat, nicht in ewiges Elend stoßen darf. Weißt Du mehr von einer höheren Liebe, so wirst Du um desto bereitwilliger sein .... Opfer zu bringen .... ein geringes Opfer. Knie vor dem Kreuz, bete Deinen Erlöser an; aber tue es als Protestantin! Da ist ja für Dich, was Deinen Glauben betrifft, gar kein Unterschied; und Deine Liebe bewegt sich in größerer Freiheit, also in schönerer Entfaltung, denn sie schließt auch mich in ihren Kreis ein.«

»Und Gott aus, teurer Orest!« sagte Judith. »O begreifen Sie denn nicht, daß der Glaube seine Verpflichtungen nach sich zieht? Als Sie Soldat waren – genügte es da etwa, daß Sie sagten: Ich diene meinem Kaiser! oder: Mein Kaiser ist der größte Kaiser der Welt! Keineswegs! Sie mußten Ihre Ergebenheit durch Gehorsam und Hingebung äußern, und Blut und Leben für Ihren Kaiser in die Schanze schlagen – und gerade da, wo Ihr Dienst es erheischte. Sie durften nicht sagen: Vor den Mauern von Wien – oder in der ungarischen Pusta will ich ihm dienen; nein! es mußte geschehen in den Gefilden der Lombardei. Und dies Gesetz im natürlichen Leben: Gehorsam dem höchsten Herrn; sollte im übernatürlichen nicht gelten? Ich glaube, daß der Sohn Gottes für mich am Kreuz gestorben ist, um mich auf dem Wege seiner Nachfolge zur ewigen Seligkeit zu führen, für die er mich geschaffen hat. Glaube ich das, so muß ich mich den Lehren und Vorschriften unterwerfen, die Er zu diesem Zweck gegeben hat. Verfehle ich mich aus Schwäche oder unvollkommener Erkenntnis gegen sie: so findet die demütige, bußfertige Reue Vergebung. Widersetzt sich aber mein Wille aus böser Leidenschaft seinen Lehren und Geboten: so treib' ich Spott mit meinem Gott – und zwar einen ganz anderen Spott, als wenn Sie etwa sagen würden: Ich liebe meinen Kaiser innigst, und um ihm das zu beweisen, trete ich aus seinem Dienst und gehe zum türkischen Sultan – der jetzt auch Krieg hat und schlage mich für dessen Sache; ein Spott, der Sie entweder dem Irrenhause oder der allgemeinen Verachtung überweisen würde. Nein, Orest, wir müssen Dem dienen, der unser rechtmäßiger Herr ist. Da nun zu den Glaubenslehren, die unser göttlicher Herr offenbart hat, auch die von der Unauflöslichkeit der Ehe gehört: so müssen wir dieselben mit allen übrigen Offenbarungslehren – entweder annehmen oder verwerfen. Ich nehme sie als ein Ganzes an, wie das nicht anders sein kann, da sie aus Gott geboren, von Gott gegeben ist. Was Sekten annehmen oder verwerfen, betrifft mich nicht! sie sind Menschenwerk, und ich habe mit Gott zu tun. Widersprechen sie seiner Lehre, so sind sie im Irrtum: das ist sonnenklar.«

»Sonnenklar ist es,« rief Orest mit verzweiflungsvoller Geberde, »daß der finstere Geist des Priestertums sich mit satanischer Schlauheit Ihrer bemächtigt, Ihren Verstand umwölkt, Ihr Urteil umnebelt hat. Dem lichten Geist der letzten Jahrhunderte, mit seiner Bildung, seiner Wissenschaft, war es unmöglich, mit einer Lehre sich zu befremden, die in den dumpfen Hörsälen des Mittelalters von der scholastischen Theologie ausgebrütet ist.«

»Teurer Orest,« unterbrach Judith ihn lächelnd, »verlieren Sie sich nicht in Florentins Phrasen und Floskeln. Sein Ingrimm gegen die katholische Kirche hat nicht wenig dazu beigetragen, mich auf ihre Vortrefflichkeit aufmerksam zu machen; denn das können Sie mir glauben: nicht um seiner – sondern um ihrer Tugend willen haßt er die Kirche.«

»Das weiß ich!« rief Orest.

»Und doch leben Sie auf vertrautem Fuß mit ihm, gönnen ihm Einfluß!« sagte Judith warnend.

»Er ist ja auch Ihr Hausgenosse!«

»Mein Gott!« erwiderte sie schmerzlich, »die jüdische Sängerin muß vorlieb nehmen! Als Lelio sich bekehrte, verließ er mich; Leute von Florentins Schlag aber drängen sich an mich! Übrigens habe ich nie dem armen Florentin – und zwar zu seinem größten Verdruß – auch nur den geringsten Einfluß zugestanden und deshalb staune ich, daß Sie mit seinen hohlen Worten reden mögen. So unbewandert in der Kulturgeschichte soll niemand sein, der auf Bildung Anspruch macht, um nicht zu wissen, daß an der Lehre der katholischen Kirche Geister sich entwickelt haben, die wie Titanen die Pygmäen der neueren Zeit überragen. Teurer Orest! die Lehre, welche dem Genie eines Dante Grundlage und Nahrung gab – welche seiner Wissenschaft von menschlichen und göttlichen Dingen nicht als Beschränkung erschien: die Lehre wird der Entwickelung unserer geistigen Fähigkeiten auch keinen Schaden tun. Ich bin weder betört, noch umgarnt. Ich habe nur Das getan, was viele, viele Millionen vor mir getan haben: ich habe die frohe Botschaft des Evangeliums angenommen. Diese Botschaft auszubreiten, ist die heilige Sache des Lehramtes in der Kirche, das Christus gestiftet und ihm die Verheißung gegeben hat, bei ihm zu sein alle Tage bis an's Ende der Welt – und das jener Erzbekehrte meines Volkes, der Apostel Paulus: »die Säule und Grundfeste der Wahrheit« nennt. Der Priester ist der gottgesandte Verkündiger des Evangeliums.«

»Also ein höheres Wesen, dem man blind zu vertrauen hat, nicht wahr?« fragte Orest zitternd vor Zorn.

»In Sachen des Glaubens hat man ihm zu vertrauen – ja,« entgegnete sie ruhig.

»Ist er jung oder alt ... Ihr Priester!« rief Orest, der sich um so weniger mäßigen konnte, als Judith sich nicht aus ihrer Gelassenheit bringen ließ.

Sie entgegnete mit der stillen Einfachheit, die eine Beleidigung gar nicht an sich heran kommen läßt:

»Der Priester ist der übernatürliche Mensch. Er hat kein Alter.«

»O Schlange, die mir ausweicht!« brach Orest aus.

»Genug!« rief Judith entschieden. »Lassen wir dies Gespräch fallen, teurer Orest. Es kommt nicht auf Worte an, sondern auf die Tat. Gott zeigt mir meinen Weg ... und der führt mich von Ihnen fort. Könnte ich mit meinem Blut die Judith aus Ihrer Vergangenheit verwischen – so würde ich es mit Freuden vergießen! vielleicht nimmt der barmherzige Gott statt dessen meine Tränen an. Unsere Trennung aber ist unerläßlich. Der Gatte einer anderen Frau kann nicht der meine sein. Und wenn Sie zu einer akatholischen Sekte abfallen und sich nach deren Prinzipien von Ihrer Gemahlin scheiden wollten: so könnte dadurch weder die objektive Wahrheit der kirchlichen Lehre, noch meine Überzeugung die Veränderung eines Atoms erleiden. Christus lehrt die Unauflöslichkeit der Ehe, die Kirche ist nur sein Organ! In welcher zügellosen Empörung der bösesten Leidenschaften, in welcher trostlosen Verkehrtheit des Verstandes und Willens muß sich ein Menschengeist befinden, um die Ehe aus der himmlischen Gnadenordnung, die Christus ihr angewiesen hat, heraus zu reißen und sie zu berauben der sakramentalischen Weihe, des edlen Purpurgewandes, das sein Blut ihr gibt. Nein, Orest, wir wollen nicht zu diesen Unseligen gehören!«

»Und Sie bilden sich wirklich ein,« fragte er mit finsterem Hohn, »daß die Sache damit abgetan wäre?«

»Keineswegs! für mich beginnt die Buße.«

»Welch Gaukelspiel bezeichnen Sie mit diesem Wort?«

»Die Umkehr der Seele zu Gott. Was ich verachtet habe, will ich lieben: Gott. Was ich geliebt habe, will ich verachten: mich selbst.«

»Judith!« rief er, immer von Neuem unter ihren Zauber zurückfallend, »Du bist und bleibst ein göttliches Geschöpf!«

»Das wird mir nicht leicht werden,« fuhr sie fort, ohne seinen Ausruf zu beachten. »Ich habe mich sehr lieb gehabt – und gemäß dieser Liebe – hatte ich mir die Zukunft ausgemalt. Das ist nun vorbei ... Sie dürfen mir glauben, meine Buße wird kein Gaukelspiel sein.«

Tränen traten in ihre Augen; aber sie schüttelte sie von den Wimpern und rief: »Heil mir! ich darf das Kreuz umfangen!«

»Nein!« rief Orest, »wirf es weg! es kostet Dir Tränen!«

»Es hat meinem Erlöser sein Blut gekostet: ich behalte es ... und ich hoffe, Orest, es kommt der Tag, wo auch Sie es annehmen werden.«

Er hub bitter zu lachen an. Judith machte eine Bewegung, in den Salon zu gehen. Er stürzte ihr in den Weg und rief:

»Barmherzigkeit! verlaß mich nicht ... nicht so plötzlich ... nicht gleich! Versprich mir das!«

»Ich verspreche nichts, Orest, ich weiß ja selbst noch gar nicht, was aus mir wird.«

»Ha!« rief er, »Du weißt es nicht – aber ein anderer wird es wissen ... Dein Priester, nicht wahr? Der soll über Dich bestimmen, und Du, der Unabhängigsten eine, willst ihm folgen, wie ein unmündiges Kind! Liebst Du ihn denn so grenzenlos?«

»Man muß gewiß eine grenzenlose Liebe zu Gott haben,« entgegnete sie sanft, »um auf Kundgebung des göttlichen Willens zu harren, wenn man gerne einen raschen Entschluß fassen möchte.«

»Mich zu verlassen– schon heute – nicht wahr?« rief er in fürchterlicher Aufregung.

»Nein,« sagte sie, »heute nicht.... gewiß nicht. Und jetzt begleiten Sie mich in den Salon.«

Er folgte ihr. Aber er ging hindurch und zu Florentin.


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