Ida Gräfin Hahn-Hahn
Maria Regina. Zweiter Band
Ida Gräfin Hahn-Hahn

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Drei Jahre im Ehestand.

Während der Genfer See in Sonnenglanz und Farbenpracht funkelte und strahlte, hingen graue Wolken über den Odenwald; am Morgen lagen schwere Nebel auf den Tälern und am Abend sauste der Sturm durch die entlaubten Wälder und drehte kreischend die Wetterfahne des Schloßturms von Stamberg. Im Schloß herrschte tiefe Stille, kein Laut war zu hören, keine Bewegung zu sehen, kein Gehen und Kommen von Dienern und Untergebenen wahrzunehmen. Kein Pferd stampfte im Stall, kein Hund spielte im Hof. Ein trübes Gestirn schien über dem Schloß zu walten, so daß sich seit den Tagen der Gräfin Juliane kein frisches Leben darin entfalten konnte. Und doch war es mit Luxus und Komfort eingerichtet! von der Eingangshalle bis zum Speisesaal – und vom Salon bis zu den Zimmern für Gäste – allüberall Behagen und Eleganz! die weichsten Teppiche, die bequemsten Polster, die ausgesuchtesten Möbel, um in behaglichster Weise zu sitzen, zu liegen, zu lesen, zu schreiben, zu essen, zu ruhen – kurz, um dem Körper schlafend und wachend ein Nonplusultra des Wohlseins zu bereiten. Überdies arbeitete der Koch im weißen Baret und mit der weißen Schürze äußerst tätig in der Küche und der Haushofmeister saß mit der Feder in der Hand und führte Buch über den Inhalt des Weinkellers, und die Kastellanin wandelte mit einem Federwedel in der Hand durch die unbewohnten Gemächer, um sie zu lüften und von jedem Stäubchen zu befreien. Es war also nicht ausgestorben, das stattliche Schloß und doch so tot! denn es fehlte in diesen prächtigen Räumen das etwas, das Leben hervorruft: das häusliche Glück.

In einem runden Turmkabinet befand sich die Herrin des verzauberten Schlosses – Corona Windeck, mit ihrer kleinen Tochter Felicitas. In diesem Gemach war Leben – ja, gleichsam ein Brennpunkt alles Lebens: eine traurige Frau und ein fröhliches Kind. Das Kabinett war mit der höchsten Eleganz eingerichtet; die Wandtapeten, die Vorhänge vor den beiden Spitzbogenfenstern und vor der Türe, der Möbelbezug, alles war dunkelblauer Damast. Die Tische und die in der Dicke der Mauer eingelassenen Wandschränkchen mit zierlichen gothischen Türen waren von der schönsten eingelegten Holzarbeit mit seinen Metallstreifen und Perlmutterverzierungen. In dem weißen Marmorkamin brannte ein munteres Feuer, und auf dessen Gesims stand eine Garnitur Vasen von Meißener Porzellan in Blau und Gold, unter einem prächtigen Spiegel. In dem einen Fenster stand Corona's Schreibtisch, ganz überladen mit den Millionen von Sächelchen, welche einen Schreibtisch höchst elegant – und höchst unbequem zum Schreiben machen. Überdas hatte sie eine kleine Gemäldegallerie von Familienportraits, sehr schön in Aquarell ausgeführt, darauf eingerichtet. Im anderen Fenster stand ihr Stickrahmen und daneben auf besonderem Gestell zwei große chinesische Deckelkörbe voll Seide, Wolle, Garn, Stickmuster und allem, was die weiblichen Arbeiten erfordern.

Ein ganz niedriges Kindertischchen, mit Spielzeug und Bildern dermaßen überladen, daß die Hälfte davon auf dem sammtweichen Teppich am Boden lag, verriet – auch wenn sie beide nicht dagewesen wären – daß Corona's Kabinett auch das Zimmer ihres Kindes sei. Sie saß am Schreibtisch und hielt einen Brief in der Hand, den sie überlas, um ihn zu beantworten. Aber es traten oft Tränen in ihre Augen und dann blickte sie über das Blatt hinweg mit namenloser Zärtlichkeit auf Felicitas. Zwischen den Fenstern stand ein breites Sopha, und auf demselben hatte sich die Kleine mit ihren Puppen häuslich niedergelassen und eingerichtet. So oft Corona's Blick auf das Kind fiel, flog ein Sonnenstrahl über ihr Antlitz; allein er verschwand, wenn er wieder in den Brief fiel. Er war aus Genf und lautete:

»Da ich in diesen Tagen mit einigen lieben Freunden nach Genua gehen und dort Seebäder brauchen will, so leidet unser Reiseplan eine kleine Veränderung, liebe Corona. Ich kann unmöglich nach Stamberg zurückkehren, um Dich abzuholen, was ja auch ganz überflüssig ist, da Du an dem guten Papa einen besseren Reisemarschall hast, als an mir. Ich gehe von Genua direkt nach Rom, wahrscheinlich Ende November. Du wirst am besten tun, wenn Du Dich sogleich nach Windeck begibst, und wenn Ihr von dort aus die Reise nach Rom antretet, wie und wann es Euch genehm ist. Schreibt nur vorher an Hyazinth, daß er Quartier mache, Piazza di Spagna, Via Condotti – oder da so herum. Laß Dir vom Rentmeister Geld geben, wenn Du es notwendig brauchst. Ich meine aber, der gute Papa könnte die sämtlichen Reisekosten zahlen. Kurz, möglichst wenig Geld laß Dir geben, denn ich gebrauche enorm viel. Ich habe mir ein paar superbe Reitpferde gekauft und will sie mitnehmen nach Genua und Rom. Du darfst auf keinen Fall einen Diener mitnehmen. Für die Reise genügt der des Papa – und in Rom der meine. Adieu, gutes Kind! Befiehl im Stall, daß die Pallas nie über eine halbe Stunde täglich spazieren geführt werde, damit es sich erhole, – das pompöse Tier; und küsse Felicitas. Dein Orest.«

So schrieb der Gatte dieser Frau und der Vater dieses Kindes – immer derselbe Orest von Jugend auf; nur fortschreitend – aber auf seiner Bahn; und immer rascher und gesteigerter, je fester er sie verfolgte. Ein Ruf vom Himmel zieht das Menschenherz aufwärts; die Stimme des Erdgeistes – abwärts. Die ersten Schritte nach beiden Richtungen hin gehen langsam, schwankend, mit Ungewißheit, ja mit Rückschritten sogar: der Zug zum Himmlischen läßt nach; der Zug zum Irdischen begegnet besseren Einflüssen. Die Kämpfe, welche hieraus entspringen, stählen entweder den Willen, der das köstlichste Gut, seine Freiheit, bewahrt und mit ihr auf der Bahn des Lichtes mehr und mehr aufwärts steigt; oder die Willenskraft läßt sich besiegen vom verlockenden Bösen, läßt sich von den Leidenschaften in Fesseln schlagen, wird immer ohnmächtiger zum Guten und läßt das Menschenherz mehr und mehr einem Abgrunde zurollen, dessen Tiefe das sterbliche Auge nicht ermißt. Auf diesem Wege flieht der Mensch alles, was seine Genüsse und Freuden stören und ihn an seine Pflicht erinnern könnte. Er verliert den Sinn der himmlischen Dinge; er schätzt nur die Irdischkeit, kennt nur materielle Interessen, versteht nur die Neigungen, die Bestrebungen, die von der Erde stammen. Er ist gefesselt an die Gebilde des Staubes, er ist der Knecht der Sünde. Dieser innere Zustand des Menschen wirft einen furchtbaren Schatten auf ihn, den Schatten des ewigen Todes, der langsam, frostig, vernichtend an der Seele hinaufkriecht und sich zwischen sie und Gott ausbreitet. Davor weichen alle Ströme der Gnade zurück! daran erlöschen alle Strahlen höheren Lichtes! dadurch vertrocknet allmählig das übernatürliche Leben nicht bloß – sondern auch alle höheren Fähigkeiten des Menschen. Seine Intelligenz verdunkelt sich, sein Herz verhärtet sich, sein Verstand schwächt sich. Jeder Erkenntnis, welche über die Materie hinausliegt, wird er unfähig. Er begräbt seine entwürdigte Seele in dem Kerker seiner gefallenen Natur. So stand es mit Orest. Sein Wahlspruch: froher Genuß des Lebens! hatte ihn dahin gebracht, daß er des schönsten Lebens nicht froh wurde und all sein Glück nicht zu genießen verstand. Daß das Glück Opfer fordere und daß aus den Verhältnissen Pflichten hervorgehen, fand er über allemaßen lästig, und was ihm lästig war, dem wich er aus. Selbstverleugnung, Selbstbeherrschung hatte er nie geübt, nie zu einem kräftigen gesunden Willen sich erhoben. Von seinen Launen und Einfällen, von seinen Neigungen und augenblicklichen Eindrücken ließ er sich wiegen und tragen, bestimmen und hinreißen. So geriet er auch manchmal an ein gutes Wollen; aber es hielt nicht Stand. Durch gute Aufwallungen wird der Mensch nicht gut! der Wind ist zu schwach, um sein Schifflein flott Zu machen, wenn es auf eine Sandbank gelaufen ist. Nur ernster Beharrlichkeit und unermüdlicher Selbstüberwindung ist die Tugend erreichbar; denn Tugend ist Beschränkung des Ich's nach allen Richtungen hin. Orest aber pflegte sein Ich nach allen Richtungen wie eine äußerst kostbare und edle Pflanze, und so wurde denn dieses Ich in der moralischen Welt zu einem Upasbaum, der alles Leben tötet, das in seine Nähe kommt. Einen Augenblick war er von Corona's Lieblichkeit ergriffen genug gewesen, um verschiedene gute Vorsätze zu fassen und seinen Ehestand mit dem Entschluß zu beginnen, Judith nicht wiederzusehen. Aber wie das immer zu gehen pflegt: hat man große Entschlüsse gefaßt, so treten stets eine Menge Umstände ein, um sie wankend zu machen. Das ist ganz in der Ordnung; denn wie könnte sich ein Entschluß bewahren ohne Prüfung. Wer aber nicht geneigt ist, ihnen treu zu bleiben, klagt über sein unerhörtes Schicksal und die zwingende Gewalt der Umstände – und gibt sie auf. So machte es Orest. Gleich nach seiner Vermählung trat er mit Corona eine Reise in's Berner Oberland an und traf in Interlaken – auf Judith, auf seine schwarze Sonne, wie er sie nannte. Aber sie ließ kalt und stolz keinen Strahl auf ihn fallen. Sie übersah ihn bei jeder öffentlichen Begegnung, und als er ihr seinen Besuch machen wollte, nahm sie ihn nicht an. Dies war ganz genug, um seine Eitelkeit zugleich zu verwunden und zu befriedigen. Sie war verletzt, oder wenigstens beleidigt; folglich war er ihr nicht gleichgültig. Je frostiger sie sich zeigte, desto heftiger wurde der Reiz, eine Kälte zu überwinden, die nur der Schild vor ihrem Herzen war – wie er hoffte und wie Judith es ihn zuweilen, wie durch ein leises Wetterleuchten, ahnen ließ. Noch in Interlaken, kaum drei Wochen seine Frau, sah Corona ihn in Judiths Fesseln und sich selbst in der Vernachlässigung, welche fortan ihr Los blieb. Es könnte befremden, daß ein so oberflächlicher Charakter wie Orest, dem es hauptsächlich nur darum zu tun war, den Schaum vom Lebensbecher zu schlürfen, in eine solche verzehrende Leidenschaft verfiel; aber einesteils war er sehr hartnäckig, wenn es galt, das, was er sein Glück nannte, zu verfolgen – wie es Jäger gibt, die auf der Jagd voll Feuereifer, übrigens aber ganz phlegmatisch sind – und anderenteils zeigt leider die traurige Erfahrung, daß nicht selten Menschen, welche in jedem geheiligten Verhältnis eine Last finden und eine Sklaverei sehen, durch unheilige Verhältnisse in ganz erstaunlicher Weise sich binden lassen. Es ist die natürliche Strafe ihrer Verkehrtheit: sie wollten nicht die edle Freiheit ihres Willens üben, drum sind sie unfrei – und in einem solchen Grade, daß sie ihre Gefangenschaft für die rechtmäßigste und natürlichste Sache von der Welt halten.

Corona war zu unerfahren und zu rein, um von diesen traurigen Verirrungen eine Vorstellung zu haben. Sie hatte, ohne die mindeste Neigung für Orest, dem Wunsche ihres Vaters, der Fügung Gottes gehorcht und, war je ein Traum von Liebe durch ihr junges Herz gezogen, so war es nicht Orest, der ihn hervorgerufen hatte. Aber sie reichte ihm mit dem festen Entschluß die Hand am Altar, daß sie ihn lieben wolle, wie es sich für eine christliche Ehefrau ziemt. Orest machte es ihr sehr schwer. Für die Feinheit ihrer Empfindung, für die zarte Jungfräulichkeit ihres Herzens fehlte ihm durchaus jedes Verständnis. Tausendmal verletzte er sie, quälte er sie durch seine Scherze, durch seine Bemerkungen, durch seine Handlungsweise, durch seine Auffassung von Welt und Leben; sie litt und schwieg. Sehr selten erlaubte sie sich eine Einwendung, aber so bittend und demütig, daß Orest, der ohnehin schon, vermöge seiner Selbstsucht, vielmehr ihr Herr als ihr Gatte sich fühlte, dadurch in seiner Despotenlaune bestärkt wurde. Ihr Ton hätte sehr ernst und äußerst bestimmt sein müssen; dann würde sie ihm imponiert haben, wie ihm das zuweilen bei Regina geschehen war; aber diese unüberwindliche Entschiedenheit, die, auf dem innersten Grunde von Reginas geistigem Sein beruhend, ihre ganze Wesenheit gleichsam illuminierte – war nicht in Corona. Bei ihrem Vater hatte sie gehorchen gelernt! an ihre Schwester hatte sie sich gelehnt wie an eine zärtliche und weise Mutter; einem Orest war sie nicht gewachsen. Aber sie hatte die Tradition ihrer frommen Mutter und das Vorbild ihrer frommen Schwester! Die Baronin Isabella und Regina hatten ihr oftmals erzählt, wie diese Mutter durch Milde, durch Stillschweigen, durch Opferwilligkeit dem Egoismus des Vaters begegnet sei und wie sie ihn damit gewonnen habe. Die Mutter, die kaum in ihrer Erinnerung lebte – lebte, umso mehr in ihrer Gegenwart als ein Vorbild stiller, unscheinbarer Tugend und an dem Streben, diesem Beispiele nachzufolgen, entwickelte sich die tiefe Frömmigkeit, die von der Wiege an ihrem Gemüt eingesenkt, aber nicht entfaltet war und jetzt aus einer grünen Knospe in voller Blüte hervorbrach. Corona erkannte schnell, daß sie in ihren Verhältnissen himmlischen Beistand nötig habe, denn kein irdischer genügte ihr, noch bot er sich ihr. Ihr Vater hatte nun einmal beschlossen, daß Orest und Corona miteinander glücklich zu sein hätten. Der arme Vater! sprach Corona zu sich selbst; hat er nicht bei Regina, Hyazinth und Uriel sich an seinen Hoffnungen getäuscht gesehen und auf seine Wünsche und Erwartungen verzichten müssen! ich will ihm, so viel an mir liegt, keinen Kummer machen; ich werde glücklich sein, glücklich – die Bestimmung zu erfüllen, die Gott mir angewiesen hat. Und so machte sie sich denn an das Heldenwerk der Heiligen: in übernatürlicher Weise glücklich zu sein.

Zu Orest's quälenden Eigenschaften gehörten auch die, daß er, wenn er nicht in irgend einer Spannung und Erregung war, sich beständig langweilte. Die soldatische Disziplin, dies und das und jenes zu der und der Stunde pünktlich verrichten zu müssen, war ihm anfangs äußerst lästig, allmählig aber ganz lieb gewesen; denn sie gab ihm täglich die Befriedigung, die aus einer, wenn auch noch so geringen Pflichterfüllung hervorgeht. Überdas machte es der ganze Schwarm der Kameraden, unter denen sich doch mancher rebellische Kopf und störrische Nacken befand, genau so wie er, weil die Unannehmlichkeiten, welche der Mangel an Disziplin nach sich zog, doch am Ende noch lästiger waren, als die militärische Subordination, Aber auf Stamberg gab es keine Lebensregel für ihn. Er konnte schalten und walten wie – tun und treiben, was ihm beliebte. Hatte er heute ein Geschäft begonnen, so zwang ihn niemand, es morgen fortzusetzen. Er konnte es ganz liegen lassen, oder es nach acht Tagen wieder aufnehmen, oder es dem Rentmeister, dem Förster, oder sonst dem betreffenden Beamten zur Fortsetzung zuschicken. Letzteres geschah denn auch regelmäßig! Er fand alle Geschäfte, die Art sie zu führen, den Gang, den sie gingen, tötlich langweilig, und da die Beamten nun einmal auf diese Langeweile eingeübt waren und dafür bezahlt wurden, auch die Sache viel pünktlicher und schneller machten: so gab er es sehr bald ganz auf, sich um seine Geschäfte, seine Verhältnisse, den Zustand der Herrschaft, die Verwaltungsart seiner Beamten, um das Gute, das zu tun, um die Mißbräuche, die abzustellen waren, zu bekümmern. Drei Arten von Beschäftigungen hatte er auf Stamberg, und die trieb er abwechselnd mit einer Art von Wut: jagen, reiten, lesen. Die Jagdzeit war seine Lieblingszeit; da trieb er sich vom frühen Morgen bis zum späten Abend in Flur und Wald umher und ermüdete sich dergestalt, daß seine etwaige üble Laune bei der Heimkehr – in Schlaf unterging. Reiten war seine zweite Liebhaberei, nämlich Pferde zuzureiten. Das verstand er meisterhaft, und je böser das Pferd war, desto lieber übernahm er dessen Erziehung und »brachte die Bestie zur Raison« – wie er es nannte. Das war denn aber auch der Hauptspaß! war einmal das Pferd zugeritten, so hatte er keine Freude mehr daran. Deshalb verschwendete er Unsummen für den Ankauf junger roher Pferde, die er zuritt und dann für ein Billiges verkaufte, um sie nur wieder los zu werden und Platz in den Stallungen für neue Zöglinge zu gewinnen. Endlich, wenn er bis zur äußersten Abspannung im Walde ein Nimrod und in der Reitbahn ein Rossebändiger gewesen war – pflegte er zu sagen: »Jetzt erhole ich mich an Leib und Geist bei den schönen Wissenschaften;« legte sich auf einen breiten, niedrigen Divan von braunem Saffian, rauchte ein orientalisches Nargileh und las dutzendweise französische Romane greulichster Art. Dermaßen war er dann in seine Lektüre versunken, daß er nicht selten bei Tisch mit seinem Buch erschien und, da Corona sich seine Vorlesung verbat, während des Essens still für sich las. Diese Bücher trugen natürlich nicht dazu bei, ihm Lust und Liebe zum häuslichen Herd und zu dessen Freuden und Beschäftigungen zu geben. Mißmut überfiel ihn; die Bücher wurden ihm verhaßt; Corona sollte ihn unterhalten. Wie. gern hätte sie das getan! allein er fand sie nicht munter, nicht aufgeweckt genug.

»Als Kind hattest du Anlagen zu einer Lionne!« rief er einmal höchst mißmutig; »aber die fromme Erziehung hat sie bis auf's letzte Fünkchen ausgelöscht. Du bist eine ganz alltägliche Person geworden.«

»Darin hast Du recht, lieber Orest,« sagte sie demütig. Und sie hatte doch einen feinen Verstand und eine liebenswürdige Munterkeit; aber freilich, einbalsamiert in geistige Grazie, so daß alles Scharfe, Exzentrische, Leidenschaftliche – alles, was nicht bestehen konnte neben zarter Sitte und heiliger Wahrheit – dem Kreise ihrer Anschauungen und Urteile, dem Gang ihrer Gedanken fern blieb. Ein solcher Geist war nicht nach Orest's blasiertem Geschmack. Er machte den Versuch, sie in seinem Sinn höher zu bilden und sie mit einer gewissen traurigen Richtung des Geistes in literarischen Erzeugnissen bekannt zu machen, an welche manch' großes Talent sich wegwirft. Er brachte ihr solche Bücher und empfahl ihr dringend, sie zu lesen: Sie las den Namen der Autoren, machte die Bücher zu und sagte:

»Ich danke Dir tausendmal, aber lesen kann ich diese Bücher nicht.«

»Was ich Dir gebe, darfst Du lesen!« fuhr Orest auf.

»Gewiß – insofern es nicht gegen Glauben und Sittlichkeit ist. Onkel Levin hat mir aber eben diese Autoren als solche genannt, die gegen beides verstoßen und mich vor ihnen gewarnt.«

»Onkel Levin! ... ich bitte Dich, rede doch nicht so kindisch! der siebzigjährige Greis hat andere Ansichten über Lektüre, als die siebzehnjährige Frau.«

»Andere – aber richtigere,« lieber Orest.«

»Höre, Corona, Du tust mir leid, daß Du mit Deinem bisschen Verstand fortwährend zwischen den Scheuklappen vegetieren sollst, die Onkel Levin Dir anbindet. Darum stelle ich Dir die Bücher hier in's Wandschränkchen und schenke sie Dir erb- und eigentümlich. In einem Augenblick mit Langeweile nimmst Du sie doch vielleicht zur Hand und guckst neugierig hinein, und hast Du das nur erst getan, so wirst Du auch schon weiterlesen. Schau', wie sie gut eingebunden sind dunkelblauer Saffian, ganz in Harmonie mit Deinem Kabinett! eine wahre Zierde Deiner Bibliothek!«

»Da Du mir die Bücher schenkst, lieber Orest, so sage ich Dir meinen schönsten Dank,« sagte Corona.

Die Bücher blieben unverändert auf ihrer Stelle! Orest, der eine Ahnung hatte, als ob sie vielleicht verschwinden könnten, öffnete von Zeit zu Zeit das Wandschränkchen; aber da standen sie in Reih' und Glied. Weiter brachte er es jedoch nicht bei Corona. Fragte er, ob sie gelesen habe, so verneinte sie es. Da rief er einmal zornig:

»Nun! willst Du sie nicht lesen, so sollst Du sie hören!« und griff ein Buch heraus. Es klappte in seiner Hand zusammen, denn es war nur ein Deckel: das Buch selbst war herausgeschnitten. Corona sagte ungemein freundlich:

»So sind sie alle. Du hast sie mir geschenkt, folglich durfte ich über sie verfügen, und sie sind längst dem Feuer übergeben. Den Einband ließ, ich stehen, weil er Dir gefiel und unschädlich ist.«

»Warum gabst Du mir nicht meine Bücher zurück, wenn Du sie durchaus nicht haben wolltest« – murrte Orest.

»Weil ich keine schlechten Bücher verschenke und gern alle, die je geschrieben wurden, von der Erde vertilgen möchte.«

»Das ist einmal ganz à la Regina gesprochen! sie – im Fanatismus für den Glauben; Du – im Fanatismus für die Tugend!« rief er spöttisch. Allein er versuchte nicht wieder, sie mit dergleichen Büchern zu belästigen. Weil er aber immer in unzufriedener Laune war, so mäkelte er an ihr vom Morgen bis zum Abend.

»Was machst Du für Toiletten, Corona! bist Du denn ein altes Weiblein von dreißig Jahren? was helfen schöne Stoffe, wenn man sie nicht zu tragen versteht!«

Corona kleidete sich sehr gut und standesmässig elegant, wie sie das bei ihrem Vater gewohnt war. Sie war aber ein durchaus edles Wesen; deshalb kam ihr ein Herausschmücken ihrer Person, ein Geltendmachen ihrer Schönheit nie in den Sinn, und sie kleidete sich, wie es sich schickt für die züchtige vornehme Frau.

»Corona, Dein Gesang ist eben nicht Deine glänzendste Seite – umsoweniger, als Deine Aussprache des Italienischen auch Vieles zu wünschen läßt.«

»Lehre mich die richtige,« sagte sie bittend.

»Sprachmeister meiner Frau zu sein – horrender Gedanke! kolossale Zumutung! Nein, gutes Kind, willst Du durchaus singen, so singe deutsch.«

Und sang sie deutsch, so klagte er über die unmelodische, ächt Odenwäldische Musik! Jeder dieser kleinen Nadelstiche war für Corona ein Schmerz, den sie zu überwinden hatte. Ihre feine Natur fühlte die leiseste Verletzung und empfand sie tief; das war ihre schwächste Seite, und weil sie es war, so sorgte Gott, der alle Menschen für das ewige Leben erziehen und sie stark machen will, dafür, daß gerade auf dem schwächsten Punkte die Angriffe nicht aufhörten. Auf Mindeck war sie das verzogene Kind gewesen. Wie das oft in zahlreichen Familien geht: das jüngste Kind wird allgemeiner Liebling. Für ihn lassen die Eltern nach von früherer Strenge oder von allzu großen Ansprüchen. Für ihn haben die übrigen Geschwister, die sich zuweilen schroff genug gegenüber stehen, ein Herz. Ein solcher Liebling des ganzen Hauses war Corona und – so weit sie in der Welt erschienen war – auch dort. Ihrem Vater hatte sie gehorchen müssen; allein dafür trug er sie auch auf den Händen. Jetzt mußte sie lernen, sich ihrem Mann zu fügen, ohne je die Genugtuung zu haben, daß er zufriedengestellt sei. Und wäre es nur bei den kleinen Nadelstichen geblieben!

Corona's heißester Wunsch stand nach Hausgottesdienst. Noch als Braut hatte Orest ihr die Zusage machen müssen, die Kapelle zu vollenden und einzurichten, welche Uriel begonnen hatte, eine Messe zu stiften und einen Hausgeistlichen anzustellen; damals hatte Orest zu allen diesen Wünschen Ja gesagt. Als sie sich nun aber auf Stamberg niederließen und Corona ihren Mann an das Notwendigste: den Ausbau der Kapelle erinnerte, da hieß es, im nächsten Frühling solle er vorgenommen werden. Aber im nächsten Frühling hieß es: die Kasse sei eben leer. Corona, die von ihrem Vater ein reichliches Nadelgeld erhielt, bat Orest, zu gestatten, daß sie die Kosten des Ausbaues bestreiten dürfe.

»Und die Einrichtung, soll die vom Himmel fallen?« rief er unmutig. »Die kostet enorm viel und eines zieht das andere nach sich. Besser der Ausbau unterbleibt. Mir liegt nichts an der Kapelle, ich möchte lieber die Stallungen erweitern, und Du fährst ja so pünktlich jeden Sonntag zum Gottesdienst, daß Du dich an den Werktagen schon mit dem Gebet in Deinem Zimmer begnügen kannst.«

»Ich kann es freilich! aber es quält mich, daß ich es nicht möglich machen kann, sämtliche katholischen Dienstboten Sonntags dem Gottesdienst anwohnen zu lassen. Bei der Entfernung der Pfarrkirche geht der Vormittag darauf; da können sie nicht alle fort. hätten wir Kapelle und Hausgeistlichen – ach, welch ein Trost!«

»Hausgeistlichen! das fehlte noch, um die Langeweile des Hauses komplett zu machen! Nein! den Gedanken laß total schwinden. Ich – mit einem Schwarzrock unter einem Dache!«

»Lieber Orest, vergiß nicht, daß Onkel Levin und Hyazinth geistlich sind und daß dies eine Gnade und Ehre für uns alle ist.«

»Nun ja, die gehören einmal zur Familie – und was in der Familie geschieht, wird gut geheißen. Da ist ein esprit de corps, wie im Soldatenstande. Da läßt auch keiner irgend etwas auf sein Regiment kommen. Doch von den beiden ist hier nicht die rede! Übrigens möchte ich keinen von beiden hier auf Stamberg anders haben, als zum Besuch. Um wie viel weniger einen anderen von diesen schwarzen – Diamanten! Denn wahrhaftig! rar wie schwarze Diamanten sollen ja diese Herren sein, weil kein vernünftiger Mensch geistlich werden mag. Das kann Dich trösten: der Bischof würde uns keinen Hausgeistlichen geben.«

»Hast Du ihn denn darum gebeten?«

»O nein! ich bitte nicht um Dinge, von denen ich weiß, daß man sie mir abschlägt.«

»Es kommt darauf an, wie man die Bitte stellt und mit welchen Gründen man sie unterstützt. Ich wollte sie gleich wagen – wenn ich nur Deine Genehmigung hätte.«

»Zuerst müßte denn doch eine Kapelle vorhanden sein und diese hier .... wird wohl eingehen müssen wegen notwendiger Erweiterung der Stallgebäude!« sagte Orest und begab sich zu seinen Pferden.

Corona's Herz wollte aufwallen und heiße Tränen hingen an ihren Wimpern. Aber da kam ihr der Gedanke, sie sei der Gnade nicht wert, daß unter ihrem Dache die Feier der heiligsten Geheimnisse begangen werde. Und die Aufwallung des jungen raschen Herzens legte sich. Sie trat in die Schule der Demut ein und übte sich mehr und mehr in der Kunst der Heiligen, welche der Psalmensänger in dem Wort zusammenfaßt: »Drücke dein Herz nieder und leide.«

Orest hatte in Interlaken gehört, Judith werde den Winter an der italienischen Oper in Paris singen. Im Karneval erklärte er plötzlich seiner Frau, er müsse sich jetzt vierzehn Tage in Paris amüsieren und sie könne während der Zeit nach Windeck gehen. Corona zuckte schmerzlich zusammen. So wenig froh ihr Leben an Orest's Seite war, so fühlte sie doch instinktmäßig, daß es besser für sie und für ihn sei, wenn er sich nicht daran gewöhne, sich fern von ihr in den Strudel der Welt zu stürzen. Über das hatte sie sich noch nicht so recht auf Stamberg eingewohnt. Das junge Ehepaar hatte viele Besuche gemacht und empfangen; vielen Festen beigewohnt, die ihm zu Ehren von den Nachbarn gegeben wurden. Es hatte sich am Hof des Landesfürsten vorgestellt und das Weihnachtsfest im Vaterhause zu Windeck zugebracht. Corona sehnte sich nach Ruhe. Sie war leidend. Alle Hoffnungen der Erde sind mit Leiden gemischt: auch die auf Mutterglück. Sie wäre gern auf Stamberg geblieben und sie sagte ihrem Mann, sie hoffe die Einsamkeit von vierzehn Tagen aushalten zu können. Er aber, der in seinem Sinn schon an eine Abwesenheit von sechs bis acht Wochen dachte und sie doch nicht so lange ganz allein wissen wollte, drang darauf, daß sie nach Windeck gehe. Sie tat es – und ihr vierzehntägiger Besuch dehnte sich auf drei Monate aus – denn Orest blieb in Paris. Da setzte sich Graf Damian hin und schrieb ihm: »Lieber Sohn! ich kenne Dich; also wundere ich mich nicht, daß Du nicht urplötzlich mit beiden Füßen zugleich in den vernünftigen Ehestand hineinspringst, sondern noch ab und an ein Stückchen Junggesellenleben fortlebst. Lieber wär' es mir freilich, wenn Du – um mit jenem Holländer zu sprechen – bereits ausgerast hättest. Da dies aber nicht der Fall ist, so sehe ich mich veranlaßt, Dir eine väterliche und freundschaftliche Bemerkung zu machen. Und das ist diese: man läßt seine Frau nicht allein in einer Katastrophe, die ihr das Leben kosten kann, um sich in Paris zu amüsieren. Das ist gegen Anstand, Gefühl und Gebrauch. Diese Katastrophe wird des nächsten für Corona eintreten. Deshalb begleite ich sie morgen mit Tante Isabelle nach Stamberg zurück, wo wir Dich sämtlich mit Ungeduld erwarten.« Dieser kurze trockene Brief tat seine Wirkung: Orest kam. Er kam mit sehr guter Laune, denn er hatte sich mit Judith ausgesöhnt. Ihre Pläne lauteten freilich ganz anders als seine Wünsche. Vorderhand aber war er froh, daß sie den Bann von Interlaken von ihm zurückgenommen hatte. Deshalb ließ er sich auch gar nicht durch Damians etwas kühlen Empfang aus der Fassung bringen und benahm sich wie jemand, der das Recht hat, seine höchst wichtigen Interessen selbständig zu verfolgen. Corona empfing ihn mit liebenswürdiger Freude und Freundlichkeit. Sie hoffte das Herz des Vaters – wenn auch nicht das des Gemahls zu gewinnen.

Der Tag Maria Hilf war der Geburtstag der kleinen Felicitas, Corona war selig – selig über ihr Kind! selig, daß es im Muttergottesmonat an einem Muttergottesfeste auf die Welt kam! Sie weihte und schenkte es tausendmal der heiligen Jungfrau Maria und rechnete auf sie, wie auf eine Mutter, für die Erziehung des Kindes. Alle edlen und schönen Seelen haben in der Jugend einen Schwung zu den Höhen des Lebens, ein uneigennütziges Verlangen nach Hingebung und Opfer, eine Phantasie, welche den Himmel ohne Wolken, die Vortrefflichkeit ohne Mangel, den Horizont ohne Grenzen, die Rosen ohne Dornen sieht. Darin besteht ihr Adel und ihre Schönheit, daß sie sich nicht aufhalten in den Niederungen des Daseins, und – wenn ihnen die Erfahrung später auch zeigt, daß sich an dem Strauch mehr Dornen als Rosen befinden – sie mit umso größerer Freude und tieferer Treue die Rosen pflegen. So machte es Corona. Ihr stiller Durst nach Glück, der in jedem Menschenherzen so wach ist, wie die Unruhe in der Uhr, fand nun seine Labung: sie hatte einen Gegenstand für ihre Liebe. Gott hat der Mutterliebe eine Ähnlichkeit mit der göttlichen Liebe gegeben: sie liebt durch das, was sie gibt, nicht durch das, was sie empfängt. Mutterliebe ist von allen Lieben hienieden die einzige, die genügsam ist, und die, ohne an Dank oder Erwiderung zu denken, fort und fort liebt. Dadurch zeigt sie sich eben als etwas Himmlisches, und je mehr das Übernatürliche in ihr vorherrscht, desto mehr sieht sie im Kinde das Kind Gottes, der es ihr für eine Spanne Zeit anvertraut, damit sie es ihm für die Ewigkeit zurückbringe. So begrüßte, so empfing, so umfing Corona ihr Kindlein: sich selbst heiligen, um Felicitas heiligen zu können – das wurde ihre Idee von Mutterpflicht, Mutterfreude, Mutterglück.

Orest blieb sich gleich. Sein erstes Wort an Graf Damian war:

»Leider kein Sohn, Papa!«

Eigentlich war dem Grafen das kleine Mädchen nicht willkommen, indessen fand er doch Orest's Äußerung so rücksichtslos, daß er ihm ironisch erwiderte:

»Tröste Dich! man erlebt häufig mehr Freude an den Töchtern, als an den Söhnen.« –

So lange Graf Damian auf Stamberg war, nahm sich Orest mehr zusammen und war freundlicher gegen Corona, als er aber wieder allein mit ihr war begannen die alten Quälereien aufs neue. Er sann nur darauf, Judith nachzureisen, und da er fühlte, daß dies im Grunde unmöglich sei, so wurde ihm seine Lage unerträglich und die arme Corona verhaßt. Warum war sie ohne Zauber für ihn? Das war doch offenbar ihre Schuld! Niemand hat anziehender, pikanter, reizender zu sein, als gerade die Ehefrau, damit sie eine siegreiche Nebenbuhlerin aller übrigen Frauen sei; vermag sie das nicht, so hat sie die Folgen ihrer Unvollkommenheit sich selbst zuzuschreiben. Warum hatte sich Corona überhaupt in seinen Weg gedrängt und ihn einer Laufbahn entführt, auf welcher er sich froh und zufrieden bewegte und welche ihm mehr zusagte, als das stupide Landjunkertum! Jetzt stand sie zwischen ihm und seinem Glück, während sie sich mit ihrem Kinde unsäglich beglückt fühlte! Welche Härte des Schicksals! ja, welche Ungerechtigkeit, welche Grausamkeit des Schicksals gegen ihn – den beklagenswerten Orest. Dann trat Judith in seine Gedanken hinein, mit dem zwiefachen Reiz stolzer Kälte und seiner Koketterie; Judith, die Bewunderte, die Gefeierte einer Welt, deren Huldigung sie spröde hinnahm; Judith, mit dem abstoßenden Benehmen und dem anziehenden Blick; und diesen Gedanken gab er sich so gern, so häufig, so widerstandslos hin, daß sie die Meister seines Lebens wurden und ihn, wie Schlingpflanzen den Baum, umrankten und überwucherten und das Mark seiner Kraft zum Guten aussogen. Tausendmal war er willens, sich aufs Roß zu schwingen, bei Nacht und Nebel davon zu reiten und Weib und Kind, Haus und Hof zu verlassen; und er staunte seine hohe Tugend an, daß er noch immer nicht diesen Entschluß ins Werk setze. Einmal wird es aber doch geschehen! sagte er dann tröstend zu sich selbst; alle Tugend hat ihre Grenze da, wo die Leidenschaft übermächtig wird; und auf diesem Punkte angelangt, ist der Mensch nicht mehr Herr seines Schicksals, sondern das Schicksal ist Herr über ihn! – Von dieser Romantheorie durchdrungen, war es denn ganz in der Ordnung, daß sich Orest aus allen Kräften nach jenem Punkt hinarbeitete, wo das Schicksal Herr über ihn werden müsse.

Corona kannte nicht den Schlüssel zu seiner für sie so rätselhaften Verstimmung. Sie ahnte wohl, daß eine so gründliche Unzufriedenheit mit einer so glücklichen Lebenslage nur aus Orest's Unzufriedenheit mit sich selbst und aus einem geheimen Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung entspringen könne. Aber seine Leidenschaft für Judith ahnte sie nicht. So etwas lag unter dem Horizont ihrer Gedanken und Gefühle. Sie hatte damals in London Orest im Rausch des Entzückens über Judith gesehen; dann in Interlaken abermals in diesem Rausch; allein sie schrieb dies auf Rechnung der Huldigung, welche die Männerwelt den gefeierten Heldinnen der Bühne darbringt. Hatte ihr Vater bei einer solchen Veranlassung doch einmal ganz gleichmütig gesagt: »Ja, das ist heutzutage nicht anders! zwischen den jungen Männern unseres Standes gibt es nicht viele, die nicht in der Region der Theaterprinzessinnen ihren ersten Kursus der Liebe gemacht hätten.« Daher kam es denn, daß Corona zu jenen »Hochgeborenen« – wie Judith sich ausdrückte – gehörte, welche die ganze Bühnenwelt mit ihren sämtlichen Berühmtheiten als etwas betrachteten, das in ihre Sphäre nicht gehöre und nur der unerfahrenen männlichen Jugend gefährlich sei. Nach ihrer Ansicht konnte eine Primadonna für Orest eine Unterhaltung sein – doch keine Fessel. Was sie aber auch versuchen oder vorschlagen mochte, um ihm sein Haus lieb und traulich zu machen – es scheiterte an seinem schroffen Widerstand gegen jeden guten Einfluß, der sich durch einen peinigenden Geist des Widerspruches gegen all' ihr Tun und Treiben äußerte. Zuweilen war er so bitter in seinen Bemerkungen, so hart in seinen Äußerungen, so abstoßend in Worten und Benehmen, daß er selbst darüber erschrak, besonders wenn er sah, wie Corona es aufnahm. Sie wurde nie heftig oder ungeduldig. Es ging ihr wie den Kindern, wenn ihnen irgend etwas sehr leid tut: sie erröten und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das rührte ihn zuweilen einen Augenblick und er sagte dann freundlicher:

»Ich quäle Dich, Krönchen, vergib es mir! Du glaubst nicht, wie verstimmt ich bin! ich reibe mich auf in der Untätigkeit und im Ärger über mein verfehltes Leben.«

Wollte sie ihm aber begreiflich machen, daß er einen schönen Kreis für tätige Wirksamkeit haben und in seinem Alter und seinen Verhältnissen nicht von einem verfehlten Leben reden dürfe: so verfiel er gleich wieder in unbändige Aufregung und erwiderte:

»Du verstehst nicht, was mir not tut und weißt nicht, was ich bedarf.«

Auch den zweiten Winter brachte er in Paris zu; aber er nahm Corona mit. Einerseits war es ihm lästig, da er sie doch nicht der vollkommenen Verlassenheit übergeben durfte. Andererseits war ihre Anwesenheit ihm, der Welt gegenüber, eine Art von Rechtfertigung. Warum sollte sich ein junges Ehepaar nicht einen Winter in Paris aufhalten? Corona fügte sich seinen Anordnungen und hoffte, daß Orest sich besser unterhalten und vielleicht dadurch besser gestimmt werde. Für sich selbst hoffte sie nichts. Da wie dort mußte Gott ihr Trost, Felicitas ihre Freude sein. So war es auch. Orest führte sie in einige Häuser der guten Gesellschaft ein und begleitete sie knapp so viel, als es der Anstand erheischte. Da sie fühlte, wie schwer die Stellung in der Welt für eine junge Frau ist, um welche ihr Mann sich gar nicht bekümmert, und welche Gefahren dies Alleinsein mit sich bringt, da die Männer nicht ermangeln, einer schönen Verlassenen ihre Huldigungen darzubringen: so zog sich Corona leise so viel wie möglich zurück und schob auf ihre schwache Gesundheit, die allerdings nicht sehr fest war, ihre ungesellige Neigung. Orest ließ sie gern gewähren. Blieb sie zu Hause, so war er um desto freier, seine Tage bei Judith und seine Abende in der italienischen Oper zuzubringen. Corona sah ihn kaum; wenn sie ihn aber sah, war er munter, gesprächig und augenscheinlich fühlte er sich hier zufriedener, als auf Stamberg.

Judith hatte ihn in die Reihen ihrer Verehrer aufgenommen und gesagt:

»Es bleibt aber, wohlverstanden, bei der Verehrung, der Bewunderung, Graf Orestes, und von Liebe ist keine Rede zwischen Ihnen und mir.«

Orest hatte erwidert: gerade das sei sein Thema. Judith antwortete kalt:

»So werden Sie sich darüber mit Ihrer Frau Gemahlin unterhalten.«

Wenn Judith in dieser Weise sprach, war, er immer auf dem Punkt, auch sie zu hassen, und den noch hatten solche Worte die Wirkung von Wassertropfen, die man ins Feuer spritzt: die Flamme brennt um desto heller auf.

Wer mit Zorn und Groll Orest wieder zu Gnaden bei Judith aufgenommen sah – das war Florentin. Das Wort seines Freundes Lelio: An Leute wie Dich und mich denkt Judith nicht! hatte um so tiefer seine Eitelkeit verletzt, als er bald gewahr wurde, wie richtig es sei. Während sein Herz von Ehrgeiz zerfressen war, machte er ihr heimlich einen Vorwurf daraus, daß es mit ihr nicht anders stehe. Ehrgeiziges, eitles Weib! murrte er zuweilen, wenn sie ihn eben ganz wie ihren Sekretär behandelt und fortgeschickt hatte, um ihre Geschäftsbriefe zu schreiben, während sich die eleganteste Männerwelt um sie versammelte: Triumphe will sie – nichts als Triumphe! und in welchen niederen Regionen bewegen sich diese Triumphe! Den Ehrgeiz der Künstlerin lasse ich gelten; denn durch ihr Genie hängt sie mit dem ganzen Volk zusammen, das sie bezaubert, und indem sie den Beifall des ganzen Volkes begehrt und erstrebt, wird sie von ihm abhängig, so daß ihre Triumphe ohne ein Buhlen um des Volkes Gunst unmöglich sind. Das lasse ich gelten, denn da huldigt sie meiner Gottheit! Aber sie ist außerdem von niederem Ehrgeiz besessen. Irgend einen hochtönenden Namen will sie erobern, der nicht im goldenen – sondern im schwarzen Buch der Menschheit, auf vergelbten Pergamenten verzeichnet steht. Sie ist kalt und klug – sie wird es durchsetzen. Daß aber Orest derjenige sein könnte, auf den ihre Wahl fiele, daß Orest von dem gefeierten Wesen bevorzugt werde, von dem er, Florentin, gar nicht beachtet wurde: das war ihm ganz unerträglich. Überdas verdroß es ihn bitter, daß Orest ihn bei Judith wieder in einer ganz untergeordneten Stellung fand, nachdem er ihn in London schon in einer armseligen getroffen hatte. Müssen mir denn überall diese Windecker in den Weg kommen! murrte er. Als er hörte, daß Corona in Paris sei, frohlockte er: Sie soll alles erfahren. Sie weiß nichts, davon bin ich überzeugt, denn sie würde nicht gekommen sein, wenn sie wüßte, welcher Magnet Orest nach Paris zieht. Sie muß es wissen! Warum denn aber? fragte ihn heimlich sein Gewissen; warum der armen Frau diesen Kummer bereiten? Um irgend ein Übel zu verhüten, das in solchen Verhältnissen nie ausbleibt; murmelte er seinem Gewissen zu. Er ging zu Corona, um sich als ihr Pflegebruder und Kindheitsgefährte vorzustellen, zu dessen Wahrhaftigkeit sie Vertrauen fassen dürfe. Aber vor dem Hause kehrte er wieder um. War Orest nicht auch sein Pflegebruder und Jugendgefährte? Sie ist vielleicht nicht allein! besser ich schreibe ihr! so beschwichtigte er abermals die Regung seines Gewissens. Und wirklich schrieb er an Corona und setzte sie unter dem Schleier innigster Teilnahme von Orest's Leidenschaft für Judith in Kenntnis, die schon vor seiner Verehelichung in Mailand begonnen habe. Aber er setzte seinen Namen nicht unter den Brief. Sie könnte an der Wahrheit zweifeln, da ich ja in ihren Augen ein Verlorener bin, sprach er ironisch zu sich selbst. Der eigentliche Grund war: er schämte sich dieses Schreibens. Anonym kam es in Coronas Hände. Sie las es und warf es in's Feuer. Welche Bosheit, mir dies? Sache zu schreiben – möge sie Wahrheit und Verleumdung sein! rief sie empört. Aber ach! wenn es Wahrheit wäre! Sie sank zusammen wie gebrochen von der Wucht solcher Sünde, solcher Schmach. Herr, erbarme dich unser und unseres Kindes! betete sie, zitternd vom Scheitel bis zur Sohle. Neben der kleinen Wiege kniete sie nieder. Da schlief Felicitas, da wachten die Engel, da fand Corona eine übernatürliche Ruhe. Was hat der zu fürchten, der sein ganzes Herz voll Liebe, voll Wünsche, voll Sehnsucht in unbedingter Hingebung dem Willen Gottes aufopfert? Offenbar – nichts! denn was auch geschehen möge – es wird immer aufgenommen als Gottes anbetungsvoller Wille, Fügung oder Zulassung. Nur da, wo es eigenen Willen gibt, gibt es auch Furcht: Furcht vor dem Opfer. Ist es gebracht, tritt Ruhe ein. Der Schmerz hört nicht auf; der gehört zum Menschenleben. Aber Ruhe im Schmerz sproßt zu Füßen des Kreuzes.

Wenn es Wahrheit wäre? sagte Corona zu sich selbst; wenn er in der Todsünde lebte, mein Mann, der Vater meines Kindes – an den wir gewiesen sind fürs Leben, als an unsere irdische Stütze, unseren Freund, Ratgeber und Beschützer – wie dürfte ich es dulden als christliche Ehefrau und Mutter! und ach! wie könnte ich es hindern? Ist es nicht Mangel an Liebe für Orest, wenn ich den Inhalt dieses Briefes für Wahrheit halte? und halte ich ihn für Verleumdung – ist das nicht eine heimliche moralische Feigheit? So sprach sie mit sich selbst und mit Gott, und betete und flehte um Kraft, Einsicht und Gnade, damit sie das Rechte treffen möge und litt den bittersten Schmerz, der auf Erden gelitten werden kann: den Schmerz um eine schwere Gottesbeleidigung, verübt von einem geliebten Menschen. Denn sie liebte ihn, – aber nicht wie der Mensch den Menschen zu lieben pflegt, aus Neigung des Herzens, aus blinder Leidenschaft, aus selbstsüchtigem Wohlgefallen; sondern als eine nach dem Ebenbilde Gottes geschaffene Seele. Orest bemerkte nicht ihr stilles Leid, das sie freilich immer hinter einem noch sanfteren Lächeln und noch sanfteren Wort zu verbergen suchte. Hätte er es aber auch bemerkt – er würde es doch nicht beachtet haben: so wenig zählte sie in seinem Leben.

Der Fasching war längst vorüber, der größte Teil der Fastenzeit auch. Da sagte Corona eines Tages, als Orest mit ihr zu Mittag gegessen hatte. – was nicht oft geschah:

»Lieber Orest, die österliche Zeit hat begonnen. Willst Du Deine Andacht hier oder zu Hause halten? Im vorigen Jahre waren wir getrennt: Du hier, ich auf Stamberg. Ich bitte Dich, laß uns in diesem Jahre vereint sie halten.«

Orest hatte im vergangenen Jahre nicht im entferntesten an seine Christenpflicht in der österlichen Zeit gedacht; und auch jetzt sah er in dieser heiligen Zeit nichts anderes, als den entsetzlichen Moment, der ihn von Judith trennte, indem sie sich Ende April zur italienischen Oper nach London begab und ihm erklärt hatte, sie schicke ihn dann zurück in seine odenwäldische Wildnis, da sie in ihrem Salon auch für andere Leute Platz machen müsse und da es viel angenehmer sei, wenn er sich nach einer längeren Abwesenheit wieder bei ihr einfinde. Orest hatte ihr eine empfindliche Antwort gegeben; darauf sagte sie denn in ihrer Weise, die nichts bestimmtes verhieß und doch viel zu verheißen schien:

»Wie kann Sie das verletzen, Graf Orestes? Was wäre der Frühling, wenn er beständig dauerte? gibt es ein traurigeres, stumpferes Grün, als das Immergrün?«

So verfiel er stets aufs neue unter ihre Bezauberung. Jetzt sprach Corona von der österlichen Zeit und wie alle leichtsinnigen Menschen, die stets das Unangenehme aus ihrer Gegenwart in die Zukunft zu schieben suchen, sagte er:

»Zu Hause! natürlich!«

Ein heller Freudenstrahl blitzte in Corona's Augen auf. Sie hatte keine Ahnung von einem so verdunkelten Gewissenszustand, daß er, wenn's notwendig war, seiner Frau mindestens diese kleine Freude zu machen, auch allenfalls mit ihr seine Andacht halten wollte. Nur wußte er gar nicht, um was er sich anzuklagen habe! sein Verhältnis zu Judith war ja eine ganz unglaublich platonische Liebe! Vielleicht ließ sich auf Stamberg auch noch ein Mittel finden, dieser kirchlichen Zeremonie zu entkommen. Er glich, der Seele nach, jenen Totkranken, die gar nicht glauben wollen, daß sie in Lebensgefahr sind. Es ist eine der fürchterlichsten Wirkungen des Weltgeistes, das Gewissen einzuschläfern, ihm in dieser Schlaftrunkenheit die Pflichten, die Verhältnisse, die inneren Zustände in ein trügerisches Licht zu stellen und dann diese geistige Verblendung und moralische Erschlaffung zu benutzen, um es zuerst verwirrt über Wahrheit und Recht – und dann gleichgültig gegen beides zu machen.

Freudig kam Corona nach Stamberg zurück; Orest – in halber Verzweiflung.

»Ich sterbe an der Monotonie des häuslichen Lebens!« rief er und umbaute seinen Divan mit einem Wall von französischen Romanen.

Corona mahnte ihn mild an seine Zusage; die österliche Zeit sei fast verflossen. Sie bat ihn flehentlich, auf ein paar Tage wenigstens mit etwas anderem, als mit dieser Literatur sich zu beschäftigen, die, ebensowenig als die Welt, der sie entstamme, ihm Frieden und Freuden geben könne. Er blieb auf seinem Divan, rauchte und las – und versicherte, er habe noch Zeit genug. Endlich sagte Corona, der nächste Sonntag sei der letzte in der österlichen Zeit, und fügte hinzu:

»An Deine arme Seele willst Du nicht denken, lieber Orest; ach! so denke mindestens daran, daß Du Deinen katholischen Dienstboten und Untergebenen kein Ärgernis geben darfst durch Verletzung dieses heiligen Kirchengebotes.«

»An meine arme Seele soll ich denken? nun, wenn sie auch nicht so schwanenweiß ist, wie Du die Deine wähnst, so ist sie doch auch gewiß nicht so rabenschwarz, als Du es Dir einbildest: das denke ich von ihr.«

»Lieber Orest,« sagte sie sanft, »auf unsere Einbildungen kommt es nicht an; die täuschen uns. Der heilige Franz von Assisi sagt: Wir sind das, was wir vor Gott sind.«

»Diese Seccatur!« rief Orest, sprang auf, lief in den Pferdestall, schwang sich auf den Mars, das unbändigste seiner Pferde, und jagte von dannen. Er blieb den ganzen Tag aus, kam spät abends wieder und sagte, er sei drüben in Oggersheim bei den Minoritenpatres gewesen. Ob es sich so verhielt? ob er bei ihnen war, um das heilige Bußsakrament zu empfangen? Corona erfuhr es nicht. Sie bat Gott, daß es so sein möge und daß sich Orest bei dem Empfange der heiligen Kommunion keines Gottesraubes schuldig mache. Bei dem Gedanken schwand ihre Ruhe, ihre Ergebung. Sie bot sich ganz zum Opfer für Orest dar – mehr noch: sie bot ihr Kind, ihr einziges, ihre Wonne auf Erden Gott dar, wenn nur Orest in den Abgrund nicht sinke. »O süßes Kind,« sagte sie zärtlich zu Felicitas, die mit ihren seraphischen Augen sie anlachte; »Dich würde ich ja nach ein paar armseligen Erdentagen im Himmel und für die Ewigkeit wiederfinden! Du gehst mir ja nicht verloren, Du wirst mir nur in Sicherheit gebracht, wenn der liebe Gott Dich zu sich ruft. Aber wenn ich Deinen armen Vater nicht wiederfände! Bete, süßes Kind, bete!« Und sie legte die Händchen der Kleinen zusammen und nahm sie in ihre Hände und hob sie vereint zu Gott auf.

So lebte Corona; ein Marterleben, der Seele nach – immer verwundet durch eine Waffe, die bis aufs Blut geht; lieblose Demütigung; und immer verwundet auf dem Punkt, welcher der empfindlichste für eine Frau ist: im Herzen ihres Bewußtseins als Gattin und Mutter. Sie brachte einen Teil des Sommers auf Windeck zu – gern und doch auch ungern. Dort fühlte sie sich zu Hause, denn dort war sie geliebt; aber in der weichen Luft der Liebe wird auch gar leicht das Herz weich und öffnet sich zur Klage. Das wollte Corona nicht. So weit es in ihrer Macht stand, sollte weder ihr teurer Vater, noch der liebe Onkel Levin eine Ahnung haben von ihrer traurigen Ehe, und deshalb verteidigte sie immer Orest, wenn Graf Damian zuweilen seine Mißbilligung nicht verhehlte. Er sagte einmal ganz mürrisch:

»Corona, Du bist allzu demütig! Ich glaube gar, Du bedankst Dich, wenn Dein Mann Dir das Herz zermalmt.«

»Der Thymian duftet am stärksten, wenn er zertreten wird,« sagte Levin in seiner milden Weise. Ihm brauchte Corona nichts zu sagen, nichts zu verschweigen. Er hatte die Schule der Demütigung zu gründlich durchgemacht, um nicht ihre Wirkung in anderen Seelen zu erkennen.

»Das ist stark, lieber Onkel!« rief der Graf. »Wir sind es nicht anders gewohnt, als erhabene Ansichten und Lehren von Ihnen zu vernehmen; allein dies ist die Erhabenheit zu weit getrieben. Was müßte sich denn, nach Ihrer Meinung, die Frau gefallen lassen, ehe sie sich gegen den Mann empört?«

»Alles – nur nicht die Sünde. Alles andere, in Demut getragen, kann dazu dienen, ihn zu Gott zurückzuführen. Läßt sie sich aber seine Sünden gefallen, so nimmt sie teil an seiner Schuld, und statt ihm die Hand zu reichen, die ihn aus dem Abgrund ziehen könnte, stößt sie ihn hinein.«

»Ich bitte Dich, lieber Vater,« rief Corona flehend, »laß Dich nicht irre machen durch Orest's Benehmen! Du weißt ja, daß er von jeher alle Verhältnisse etwas leicht zu nehmen und zu behandeln pflegte.«

»O ja! das weiß ich zur Genüge,« sagte Graf Damian bitter. »Nichts war ihm wichtig, als seine hohe Person, sein liebes Ich.«

In seiner Tochter fühlte sich Graf Damian sehr verletzt durch die Selbstsucht, die ihm nie auffiel, wenn er selbst sie übte.

»Ja, Väterchen, Du hast den armen Orest sehr verzogen,« sagte Corona und drohte lieblich mit dem Finger; »Du darfst am allerwenigsten ungehalten sein, wenn er ist, wie er ist.«

»Er wäre vielleicht in der scharfen Zucht meiner armen Mutter besser geraten,« sagte der Graf nachdenklich; »aber das wollte ja Deine selige Mutter nicht, Corona.«

»Laß ruhen die wenn und die aber!« nahm Levin das Wort. Die liebe Kunigunde hat nur ihre Schuldigkeit getan, indem sie Orest nicht fortgab. Jede Erziehung, auch die beste, hat einige Mängel, da sie von unvollkommenen Menschen ausgeht; und es ist die Sache des Zöglings, solche Mängel zu ergänzen und solche Lücken auszufüllen. Das ist überhaupt nicht die Aufgabe der Erziehung und kann es nicht sein, eine junge Menschenseele fest und fertig für alle Ewigkeit im Guten zu machen. Die Tugend wird den Menschen nicht angetan; er muss sie selbständig sich zu eigen machen. Und deshalb kann die Erziehung keine andere Aufgabe haben, als ihm durch Beispiel und Belehrung Liebe zur Tugend einzuflößen, seine Füße auf den Weg zu ihr zu stellen und in seine Hände einen sicheren Wanderstab zu geben. Daß er am Ziel anlange, ist seine Sache. Dafür ist er Mensch und dazu empfing er von Gott die Freiheit des Willens. Kunigunde hat ihren Kindern das Evangelium nicht bloß gelehrt; sie hat es ihnen auch vorgelebt. Mehr kann keine Mutter tun.« –

Orest war nach Ostende gegangen. Er behauptete, angegriffene Nerven zu haben, welche durch Seebäder gestärkt werden müßten. Er war auch ein paar Tage dort; dann fuhr er hinüber nach der Insel Wight, wo sich Judith von der Saison in London etwas erholte. Sie empfing ihn sehr freundlich.

»Sie sind ein recht treuer Mensch, Graf Orestes,« sagte sie und gab ihm huldreich ihre schöne Hand. »Ich wüßte nicht, was ich im Menschen höher schätzte als die Treue. Man nennt die Männer so oft treulos! Sie sind eine glänzende Ausnahme und ich darf stolz sein, einen so treuen Freund zu haben.«

Sie fürchtete zuweilen, er könne seines Joches überdrüssig werden und es abschütteln; darum legte sie hie und da Freude an ihm und Freundschaft für ihn an den Tag; aber mehr nicht. Dann rief Orest:

»Bei Ihnen ist mir wohl, kann ich leben, atmen, denken, wollen, wünschen, hoffen – kann ich Mensch sein!« rief er und atmete tief auf und fuhr mit den Händen über seine Stirn und durch sein Haar, wie jemand, der sich von schwerer Anstrengung erholt.

»Ist Ihnen wirklich so zu Mut oder spielen Sie mir eine kleine Komödie vor?« fragte Judith nachlässig. »Wir Schauspielerinnen denken gar leicht an Komödie.«

»Wie soll ich Ihnen die Überzeugung beibringen, daß es keine sei?« rief er aufgeregt.

»O Graf Orestes,« erwiderte sie kalt und hoch, »es ist nicht an mir, sondern an Ihnen, dieses Wie ausfindig zu machen.«

»Ich werde Sie entführen, Judith, in irgend eine Wüste Asiens oder Afrikas.«

»Mit nichten, Graf Orestes! ich hänge ungemein an dem europäischen Luxus und Komfort,« erwiderte Judith eisig und sang eine Roulade, die mit einem graziösen Triller endete. »Passt so etwas in Ihre Wüstenphantasie?« setzte sie hinzu.

»O Judith, wie wird dies enden!« seufzte Orest und warf sich in einen Lehnstuhl. Die Wellen seines Schicksals, wie er es nannte, brausten über ihn zusammen. Er fühlte sich grenzenlos elend.

»Sie Sind ein Tor, Graf Orestes,« sagte Judith frostig und achselzuckend. »Man muß im Stande Sein, einen Entschluß zu fassen und auszuführen; dazu hat man seinen Willen.«

Die wildesten Gedankenstürme gingen ihm durch den Sinn. Sollte er sich von Corona trennen? sollte er sie bitten, ihm seine Freiheit zu lassen? war seine Ehe auch gültig, auch rechtmäßig, so daß er wirklich durch sie gebunden war? wäre es denn gar nicht möglich, Judith zu vergessen? Nein! sprach er zu sich selbst, das ist unmöglich. Alles andere ist möglich – aber das nicht!– – So lagerten sich die Schatten immer tiefer über Recht und Pflicht und so wurde der böse Wille immer mehr der Beherrscher in diesem Reich der Finsternis.

Mit Judiths Aufenthalt auf der Insel Wight ging auch der seine zu Ende. Bis die italienische Oper in Paris eröffnet wurde, machte sie eine Kunstreise durch Belgien und Norddeutschland, wo sie noch nie gewesen war. Orest wünschte sehnlichst sie zu begleiten. Sie sagte trocken:

»Ich glaube. Sie sind wahnwitzig, Graf Orestes. Was soll denn das bedeuten?«

»Florentin und Lelio begleiten Sie doch!«

»Florentin und Lelio sind in meinem Dienst, gehören zu meiner Umgebung. Ich brauche den einen im Fach meiner Geschäfte, den anderen im Kunstfach. Jeder hat seine Stellung und die ist abhängig von mir; also ist sie durchaus vor der Welt gerechtfertigt. Aber wenn Sie, ein verheirateter Mann, aus einer bekannten Familie, meine Kunstreisen mit mir machen wollten: das gäbe einen enormen Skandal, und ich wüßte nicht, weshalb ich einen solchen hervorrufen sollte. Auf Wiedersehen in Paris.«

So trennten sie sich. Judith ging nach Brüssel, Orest nach Windeck. Dort war auch Hyazinth. Einen schneidenderen Gegensatz, als diese beiden Brüder, gab es vielleicht nie! so ganz Welt der eine, so ganz Gnade der andere; jener – durch und durch im Irdischen wurzelnd, dieser – im Himmlischen. Orest durch selbstsüchtige Zwecke und Hoffnungen in die gefallene Menschennatur gebannt; Hyazinth durch gänzliche Hingebung an seinen Beruf, getragen von der göttlichen Kraft, welche die gefallene Natur besiegt. Orest so seelenmatt, daß er ohne Schwertstreich der Gegenwehr von Leidenschaften sein Herz zerfleischen ließ, und so unfähig zu jeder höheren Auffassung des Lebens, daß ihm die reiche Blütenfülle seines Daseins nicht genügte, weil sie den Gelüsten nicht entsprach, deren Befriedigung sein Ziel war; und Hyazinth, ein ringfertiger Kämpfer gegen die leiseste Versuchung und dabei so unerschütterlich ruhend in den Verheißungen des Glaubens, daß ihm alle Mühen und alle Dornen seiner anstrengenden, schmerzen-, sorgen- und arbeitsreichen Laufbahn in Paradiesesblumen umgewandelt wurden. Orest ein leibhafter Vertreter des Materialismus der Zeit; Hyazinth ein lebendiger Protest gegen ihn. Der Gegensatz war so auffallend, so schlagend, so ausgeprägt in der Gesinnung und in den Worten der beiden Brüder, so ausgeprägt in ihrer äußeren Erscheinung, in Ton und Blick, in Haltung und Geberden, daß Corona, wenn sie die Brüder beisammen sah, immer ganz heimlich eine gewisse schmerzliche Beschämung für Orest empfand, und sich wunderte, wie er, der sein Lebenlang in der eleganten Welt, der großen Welt, der künstlerischen Welt sich bewege, so roh und alltäglich aussehen könne neben Hyazinth, der als ein armer Kaplan zwischen Bauern verkehre. Aber das ist's: der Mensch ist nicht bloß der Sohn des Staubes, er ist auch der Mitbürger der Heiligen; und dies Bewußtsein himmlischer Heimatberechtigung, das unabhängig von jedem Stand, von jeder Lage, von jedem Ort, von jedem Verhältnis ist, machte Hyazinth zu einem Flüchtling aus der Region des Staubes, während Orest, in dem es erloschen war, der Sklave des Staubes wurde. Diese innerliche Abkehrung von allem Höheren, die mehr und mehr in Orest um sich griff, erfüllte Hyazinth mit nagendem Kummer. Corona hatte ihn und Onkel Levin gebeten, sie möchten Orest zu bewegen suchen, daß er die Kapelle ausbaue und sich um einen Hausgeistlichen bemühe. Beide fanden diesen Wunsch durchaus gerechtfertigt, aber Orest wollte nichts davon hören.

»Eine Frau muß nicht immer ihren Willen durchsetzen!« entgegnete er.

»Immer nicht,« antwortete Levin; »aber doch zuweilen, wenn er so gut ist, wie in diesem Falle.«

»Ich mag keinen Dritten in meiner Häuslichkeit haben.«

»Ist auch nicht nötig!« sagte Hyazinth. »Je weniger der Geistliche mit euch – was das äußere Leben betrifft – zu tun haben wird, desto lieber wird es ihm sein.«

»Das ist Deine Gesinnung, aber nicht die allgemeine. Die Priester wollen überall die Ersten sein und herrschen.«

»Wir müssen durch Orest geistliche Gesinnung kennen lernen, lieber Hyazinth,« sagte Levin lächelnd.

»Bester Onkel, verzeih!« rief Orest; »Du und Hyazinth – Ihr seid Ausnahmen von der Regel.«

»Und wo hattest Du denn Gelegenheit, die Regel kennen zu lernen?«

»Nun da, wo alle Welt sie kennen lernt; in der Geschichte.«

»Sage lieber, in den Geschichten; dann bezeichnest Du Deine Quellen etwas richtiger.«

»Der größte Teil der Bevölkerung in der Herrschaft ist protestantisch; da würde ich in den Verdacht der Proselytenmacherei kommen.«

»Ich glaube, daß Du in diesen Verdacht nicht so leicht kommen wirst,« sagte Hyazinth.

»Du willst mir dadurch kein Lob spenden, ich weiß es!« entgegnete Orest: »aber ich betrachte es dennoch als ein solches. Ich will mit wildem Fanatismus blinder Bekehrungswut nichts zu tun haben, und meine Pflicht als Ehemann ist es, Corona vor solchem Verdacht zu schützen. Ich kann es aber nicht, wenn mein Haus eine Kapelle und einen Priester umschließt. So etwas würde den konfessionellen Frieden stören. Das darf nicht sein! darin darf ich kein schlechtes Beispiel geben.«

»Du sprichst ja, als wärst Du Mitarbeiter an gewissen Zeitungen,« sagte Hyazinth, »die alsbald ein Zetergeschrei über Störung des konfessionellen Friedens erheben, wenn sich irgendwo und irgendwie eine katholische Lebensäußerung kund gibt. Willst Du Dich denn mit diesen Rittern Don Quixote auf einer und derselben Rosinante tummeln? und würdest Du nicht durch Ehrfurcht und Liebe für Deinen Glauben und dessen kirchliche Ausübung der protestantischen Bevölkerung ein sehr gutes Beispiel geben?«

»Larifari, Hyazinth! Du bist ja nur Corona's Organ! Priester und Frauen machen immer gemeinschaftliche Sache zu demselben Zweck.«

»Und der wäre?« warf Levin ein.

»Herrschaft!« rief Orest. »Frauen und Priester wollen herrschen – und wollen es um so eifriger, durstiger, heißer, als sie es nur heimlich dürfen.«

»Du irrst, lieber Orest, wenn Du annimmst, daß die Frau und der Priester nur heimlich herrschen dürften,« sagte Levin gelassen. »Beide haben von Gott die Mission zu einer ganz öffentlichen und anerkannten Herrschaft empfangen. Zum Priester hat der Herr selbst gesprochen: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« Der Priester kommt als Stellvertreter Christi, um über die Seelen der gläubigen Gemeinde zu herrschen, eine Herrschaft, die ganz Liebe, ganz Dienstbarkeit, ganz Opferwilligkeit ist. Er kommt als der sichtbare Schutzengel der Gläubigen, belehrt, warnt, heilt, rettet, tröstet, belebt und beseelt sie. Für sie betet er, für sie opfert er. Ein solches Amt gibt eine Herrschaft, die der Priester nicht zu verheimlichen braucht, mein Sohn, denn er braucht sich ihrer nicht zu schämen. Sein Scepter ist das Kreuz, besonders dasjenige, welches er unsichtbar auf seiner Schulter und in seinem Herzen trägt. Und was er in der Gemeinde, das ist die Frau in der Familie. Indem Gott sie an die Wiege des Kindes stellte, hat er sie zum Schutzengel des Hauses gemacht. Da übt sie ihr häusliches Priestertum, da wacht und warnt, da belehrt und beseelt, da betet und opfert sie. Der Priester ist ein Mitarbeiter Gottes, sagt der heilige Apostel Paulus; aber die Frau ist die Mitarbeiterin des Priesters für das Reich Gottes. In dieser übernatürlichen Weise herrschen sie und sollen sie herrschen; nicht aus ihrer Machtvollkommenheit, sondern im Auftrag Gottes; nicht verstohlen, sondern offen vor der ganzen Welt.«

»Bester Onkel,« beteuerte Orest, »Du siehst alles im idealen Licht und fassest es auf von der idealen Seite, weil Du selbst ein Ideal bist.«

»Lieber Gott!« sagte Levin demütig; »ist man schlecht und recht ein armseliger Priester, aber ganz durchdrungen von seinem Beruf, so soll man für ein Ideal gelten.«

»Aber das müßt Ihr doch zugeben,« rief Orest, »daß der priesterliche Beruf oft zu herrschsüchtigen Zwecken mißbraucht worden ist.«

»Lieber Bruder!« sagte Hyazinth und legte seine beiden Hände auf Orests Schultern. »Du hast ja Deinen ganz guten Verstand! also wende ihn doch an, ich bitte Dich flehentlich, um einen anderen Einwand oder Vorwurf aufzufinden, als jene klägliche Redensart: der Beruf kann mißbraucht werden! – Das bedeutet gar nichts, denn das kann man von allem Guten, sowohl in der materiellen, als in der geistigen Schöpfung sagen.«

»Es ist aber nirgends empörender, als im geistlichen Beruf!« sagte Orest, »und deshalb will ich keinen Hausgeistlichen auf Stamberg.«

»Mit dem Vordersatz bin ich vollkommen einverstanden,« entgegnete Hyazinth; »allein der Nachsatz ist keine richtige Folgerung.«

»Basta! ich will es nicht!« rief Orest heftig. »Ich muß wissen, was ich in meinem Hause zu tun und zu lassen habe.« Damit stürmte er fort. –

Levin und Hyazinth hatten beide grenzenloses Mitleid mit Corona, und als sie allein waren, fragte Hyazinth den Onkel, ob es nicht seine Pflicht sei, sich so auf Stamberg niederzulassen, wie Levin auf Windeck. Aber Levin entgegnete:

»Das waren andere Verhältnisse. Ich ging in mein elterliches Haus, nachdem ich meiner Stellung in der Welt beraubt war, und zu meiner totkranken Mutter. Der Platz konnte mir nicht wohl streitig gemacht werden; er gehörte mir. Der Sohn des Hauses ist schwer zu entfernen. Du aber hast keine Heimatberechtigung auf Stamberg, und sobald Dein Bruder Deine Anwesenheit daselbst nicht wünscht, bist Du ein Eindringling und um so weniger auf einem haltbaren Platz, als Orest seinen Groll mit Dir gegen Corona auslassen würde. Sie hat es schwer – das arme Kind! aber Gott steht ihr bei. Sie leidet und lächelt und schweigt: untrügliches Zeichen, daß sie sich heiligt.«

Es blieb wie es war! – Gleich nach Weihnachten begann Orest zu Corona von der Reise nach Paris zu sprechen. Sie machte keine Einwendungen. So quälend der dortige Aufenthalt für sie war, schien es ihr doch besser, mitzureisen, als ihn allein gehen zu lassen. Sie war aber außerordentlich leidend und der Arzt erklärte, in Rücksicht auf ihre Mutterhoffnung müsse er ihr jede Reise in so rauher Jahreszeit und jede Unruhe streng untersagen. Corona bat den Arzt, er möge selbst sein Verbot ihrem Mann kund tun, damit Orest nicht wähne, daß sie es sei, die ein Hindernis in seinen Plan lege.

»Wie unangenehm!« rief Orest; »nun .... dann muß ich allein reisen!«

»Der Herr Graf werden doch die Reise etwas abkürzen, nicht wahr?« sagte der Arzt, ein ältlicher, trockener Mann, der gewohnt war, seine Meinung unverholen zu sagen.

»Wie so? warum?« rief Orest.

»Weil die Frau Gräfin sehr leidend – und so ein einsamer Winter sehr lang für eine Leidende ist.«

»O, meine Frau liebt ganz außerordentlich die Einsamkeit!« rief Orest und traf seine Reiseanstalten.

Corona kämpfte einen schweren Kampf mit ihrer Schüchternheit, bevor sie einen Entschluß faßte, zu dem sie sich durch ihre Pflicht gedrängt fühlte. Sie nahm als kleinen Bundesgenossen Felicitas bei der Hand und ging eines Morgens mit ihr zu Orest, der eben beschäftigt sein Portefeuille zu ordnen und sehr guter Laune war.

»Ah, Lili!« rief er und nahm die Kleine auf den Arm; »was soll ich Dir aus Paris mitbringen? eine Puppe, so groß wie Du selbst bist, nicht wahr? und eine Unmasse von Bonbon!«

»Lieber Orest,« nahm Corona mit leise bebender Stimme das Wort, »Lili und ich – wir möchten Dich um etwas ganz anderes bitten.«

»Und das wäre?« fragte er ziemlich gleichgültig.

»Daß Du bei uns bliebest und für diesen Winter auf Deine Reise nach Paris verzichtest.«

»Ah bah!« sagte er im wegwerfenden Ton; und zum Kinde: »Nicht wahr, Lili, Du willst Bonbon aus Paris haben?«

»Bitte, bitte!« sagte die Kleine und klatschte in die Händchen, froh über die Aussicht auf Bonbon.

»Siehst Du, Lili ist auf meiner Seite!« rief Orest.

»Lieber Orest,« entgegnete Corona mit schmerzlichem Lächeln, »wüßtest Du, wie mir zu Mute ist, so würdest Du nicht Deinen Scherz mit Lili treiben.«

»Ich bitte Dich, laß Dich doch nicht durch den Doktor hypochonder stimmen!« sagte Orest unmutig. »Es ist ja der Vorteil dieser Herren, die Menschen ängstlich über ihr Befinden zu machen damit man sich desto mehr an sie wende.«

»Du tust dem guten Doktor und mir Unrecht, lieber Orest. Er hat nur seine Schuldigkeit getan, indem er mich von der Reise zurückhielt, und ich bin wahrlich nicht besorgt um mein Befinden, das körperlich und vorübergehend ist, sondern nur besorgt um Dich und Deinen Seelenzustand.«

»Die Sorge überlasse mir!«

»Aber, lieber Qrest, Du behandelst ihn nicht mit Sorgfalt! Du stehst unter irgend einem unglücklichen Einfluß, dem Du Dich willenlos, besinnungslos überläßt, und der Dich Deiner Frau, Deinem Kinde, Deinem Hause, Deiner Familie, Deinem Wirkungskreis – mit einem Wort: Deiner Pflicht entfremdet. Von wem dieser Einfluß ausgeht, weiß ich nicht und verlange ich nicht zu wissen; ich sehe nur seine traurige Wirkung auf Dich, denn er versetzt Dich in einen innerlich verkehrten und verwirrten Zustand, der Dich elend macht und der nicht nach dem Willen Gottes ist. Wie soll das aber werden, lieber Orest, wenn Du auf einem Wege bleibst, der so entschieden der Bahn zuwiderläuft, welche Gott Dir zugewiesen hat.«

»Ich tue nichts Böses,« sagte Orest finster; »ich habe mir nichts vorzuwerfen, als daß ich mich auswärts besser unterhalte, als hier. Ich bin nicht für das Kartäuserleben geschaffen, nicht für den Ehemann, nicht für den Hausvater, nicht für die Einförmigkeit des ländlichen Aufenthaltes.«

»Das hättest Du bedenken sollen, bevor Du dich in diese Lage begabst. Aber ich glaube, wenn Du Dich nur ein wenig gegen den bösen Einfluß stemmen wolltest, von dem Du dich beherrschen läßt, so würdest Du anfangen, weniger unglücklich Dich zu fühlen. Du würdest nach und nach zur Besinnung über Deine Lage kommen, sie würde Dir in einem freundlicheren Licht erscheinen, und was Dir jetzt schwer, ja unerträglich vorkommt, würde Dir leicht und immer leichter werden. Ach, lieber Orest, nur ein wenig guter Wille – und Gott hilft nach! Nur der Versuch zum Widerstand – und Du überwindest die inneren oder äußeren Feinde! Und deshalb flehe ich Dich an: gehe nicht nach Paris! bleibe bei uns! bleibe hier.«

Sie hob die Hände bittend zu ihm auf und schwere Tränen rollten über ihre zarten bleichen Wangen. Als Felicitas die Mutter weinen sah, verzog auch sie, nach weicher Kinder Art, ihr Gesichtchen zum Weinen, schlang beide Arme um Orests Nacken und sagte:

»Papa, hier bleiben.«

»Jetzt ist Lili auf meiner Seite!« rief Corona.

Orest stellte finster das Kind auf den Boden und sprach:

»Ich begreife nicht, weshalb Du mir diese Scene machst. Ich sage Dir ja, daß ich mir nichts vorzuwerfen habe: ich amüsiere mich nur mit – Freunden. Es gibt nichts Unerträglicheres, als eifersüchtige Launen.«

»Gott sieht in mein Herz,« antwortete Corona sanft. »Ich hoffe, er spricht mich frei von unedler Eifersucht und gibt mir das Zeugnis, daß ich keine andere Absicht habe, als Dich zufrieden – und mit Dir selbst, mit Deiner Lage und mit Gott versöhnt zu sehen.«

»Und woher weißt Du denn, daß ich es nicht bin?«

»Weil Deine Pflichten Dir eine so unerträgliche Bürde sind, daß Du sie fliehst, lieber Orest,« sagte sie schüchtern. »Ach, sie können uns ja schwer werden und wir dürfen ja ihre Wucht empfinden; aber wenn Gott sie tragen hilft, so harren wir aus. Versuch' es, lieber Orest, ach, versuch' es! harre aus. Ich bitte nicht für mich! um mein eitles und selbstsüchtiges Herz mehr und mehr zu verleugnen, fügt Gott es so, daß ich in Deinem Herzen nichts gelte: also bitte ich nicht meinetwegen! aber ich bitte für Dich selbst und für Deine Kinder.«

Sie sank ihm zu Füßen mit strömenden Tränen, aber ohne Leidenschaft, ohne Aufregung. Sie weinte mit seinem Schutzengel, um ihn, nicht um sich. Felicitas brach aber in lautes Weinen aus und schmiegte sich an die knieende Mutter. Orest rief in äußerster Ungeduld:

»Auch das noch! muß man da nicht aus dem Hause getrieben werden! Weibertränen und Kindergeschrei – das ist einem Menschen zu viel zugemutet, davon werden die Nerven ganz erschüttert.«

»O lieber Orest!« bat Corona immer auf den Knieen, »sage das nicht, verleumde Dich nicht! nicht Deine Nerven werden erschüttert, sondern Dein Herz. Vergib uns die Tränen! Du kannst sie ja so leicht stillen. Sprich nur: ich bleibe! – und wir weinen nicht mehr.«

Sie ergriff seine Hand und küßte sie. Da trat er zurück und rief heftig:

»Steh auf! all' solche Scenen sind mir verhaßt. Ich kann es nun einmal nicht jahraus jahrein hier aushalten; ich muß im Winter und im Sommer kleine Reisen zu meiner Erholung machen. Du wirst doch nicht verlangen, daß ich hier umkommen soll.«

»Ich verlange gar nichts, lieber Orest, ich bitte nur.«

»Da ich Dir aber meine Gründe gesagt habe, so mein' ich, Du solltest Deine Bitten einstellen.«

»O vergib mir, daß ich dennoch bitte. Ach, Du sagst, Du müßtest eine Erholungsreise machen; nun wohlan, reise! aber reise nach Venedig, oder Wien, oder wohin Du willst – nur nicht nach Paris.«

»Nun ist's genug!« brach Orest im heftigsten Zorn aus; »nun hab' ich's satt! nun kommt Dein Eigensinn zutage! Ja, reise! .... nach Kamtschatka reise! nach Marokko reise! .... nur nicht nach Paris. Und warum nicht nach Paris? .... eben weil ich dahin will!«

»Ganz recht, lieber Orest, eben um Dir einen Anlaß zu geben, Deinen Willen zu verleugnen.«

»Du bist sehr gütig, Dich zu meiner Gouvernante machen zu wollen; allein ich rate Dir, dies Amt bei Lili anzutreten und ihr das Weinen abzugewöhnen. Übermorgen gehe ich nach Paris.«

Corona hatte noch immer auf den Knien gelegen; jetzt stand sie auf und sagte zu Felicitas, indem sie ihr die Tränen von den langen Wimpern trocknete:

»So, meine Lili! jetzt küsse dem Papa die Hand und bitte ihn um Verzeihung, daß wir geweint haben.«

Zaghaft gehorchte das Kind, küßte Orests Hand und sagte ängstlich:

»Papa, nicht böse auf Lili.«

»Geh' nur, geh'!« erwiderte er rauh.

Corona nahm die Kleine auf den Arm und verließ schweigend Orest, der mit beiden Händen seinen Kopf ergriff und hielt und bei sich selbst murmelte: »Die Weiber sind ganz darauf eingerichtet, einen ehrlichen Mann um den Verstand zu bringen!«

So wirkt die Leidenschaft: sie entnervt den Menschen und sie macht ihn barbarisch.

Orest ging nach Paris, Corona blieb allein; aber Gott war mit ihr. Sie war wochenlang auf ihre Gemächer beschränkt, so leidend, daß sie sich kaum mit etwas Handarbeit – und gar nicht mit Musik und Lesen beschäftigen durfte; und daß es ihr nicht einmal möglich war, Sonntags zum Gottesdienst zu fahren. Sie verlor nie die Geduld bei so herben Entbehrungen; sie klagte nie, daß sie ihr zur Last fielen. In ihrem freundlichen Turmkabinet verbrachte sie meistens ihre Tage. Zuweilen ruhte ihr Blick lange auf der winterlichen Landschaft, die sie aus ihren Fenstern weit und breit übersah. Das weiße Leichentuch des Schnees lag auf Berg und Tal, auf Wald und Flur – so kalt, so schauerlich, so ertötend. O Winter meines Lebens! seufzte wohl einmal Coronas Menschenherz mit seinen zwanzig Jahren. Und der Frühling kommt doch! der ewige Frühling! setzte sie entschlossen hinzu und zog mit himmlischer Energie ihr Herz höher, über seine zwanzig Jahre und seine Erdenwünsche hinauf. Und fiel ihr Auge gar auf Felicitas, so rief sie froh: Mein Gott, wie undankbar ich bin! Hab' ich nicht im Erdenwinter mein Schneeglöckchen, mein süßes Kind! O du Seele meines Kindes – in dir besitze ich ja das Paradies! – – Graf Tamian besuchte sie und fand sie so leidend, so übel aussehend, daß er der Baronin Isabelle schrieb und sie bat, nach Stamberg zu kommen. Grenzenlos war Coronas Freude, als sie nicht allein kam; Onkel Levin begleitete sie. Seit vielen langen Jahren hatte er Windeck nicht verlassen. Aber er dachte: Vielleicht ist sie reif für die Ewigkeit; vielleicht ruft der gnädige Gott eine Seele, die durch reine edle Schmerzen früh geläutert ist, aus diesem Tal der Tränen. Und sie hat niemand, der ihr in schwerer Stunde mit geistlichem Trost und mit den göttlichen Gnadenmitteln der Kirche zur Seite stehe. Er erbat und erhielt die bischöfliche Erlaubnis, in einem Saal, der an die Wohnzimmer stieß und nicht benutzt wurde, eine Kapelle einrichten und die heiligsten Geheimnisse feiern zu dürfen.

»Heute ist meinem Hause Heil widerfahren!« frohlockte Corona, als Onkel Levin eintraf und diese Nachricht mitbrachte. Ihrem Vater gegenüber war sie immer fröhlich, mitteilend, gesprächig – und ganz ungesucht, ganz einfach. Sie litt nicht, daß er auch nur eine Silbe der Mißbilligung über Orest's Benehmen äußere. Von diesem Zwang, der ihm sehr lästig war, erholte er sich bei Levin.

»Ich möchte dem Jungen, dem Orest, den Hals umdrehen!« rief er zuweilen.

»Lieber das Herz!« entgegnete Levin.

»Ja freilich – das Herz! aber hat er ein Herz, wenn er keines hat für diesen Engel von Frau? sie ist meine Tochter und es ist wider den Anstand, das eigene Kind zu loben; aber ich kann mir nicht helfen! Sehe ich ihr liebes, sanftes Gesicht an, so muß ich immer denken: O du lieber Engel!« –

Mit Levin sprach Corona anders, als mit Graf Damian. Sie sagte:

»Lieber Onkel, wie gut ist Gott! wie erbarmt er sich meiner! Ich war ein kleines, eitles, launenhaftes Mädchen, mit allen Anlagen zur Selbstsucht und zur Selbstgefälligkeit – und dabei verzogen und verwöhnt wie Eine! Wäre das so fortgegangen, hätten mich die äußeren Verhältnisse immer so weich und warm gewiegt und getragen – wer weiß, ob ich nicht ein recht schlimmes Weltkind geworden wäre.«

»Wohl Dir, daß Du es erkennst, geliebtes Kind,« erwiderte Levin. »Irdisches Glück erschlafft und erkältet uns oft gegen unsere himmlische Bestimmung. Das Herz des Menschen ist wie ein Rauchfaß, in welchem allerhand Weihrauchkörner liegen und aus welchem dennoch kein Wohlgeruch aufsteigt – denn der Weihrauch brennt nicht. Da fallen Kohlen auf ihn, entzünden ihn, entwickeln seinen Arom, der sich zu lieblichem Duft und in zartem Gewölk ausbreitet und zum Tabernakel emporsteigt, in welchem unser Gott unter uns wohnt. Die zündende Kohle im Menschenherzen, Kind – das ist der Schmerz. Wer möchte ihn missen, da durch ihn unser kaltes trockenes Herz verwandelt wird in eine Schale, die vor Gott süßen Wohlgeruch aushaucht.« – –

Corona war sehr krank. Zwei Ärzte waren im Schloß. Ein Telegramm ging nach Paris und benachrichtigte Orest von ihrer Gefahr. Er war aber nicht in Paris, sondern in Lyon, wo Judith ein Konzert gab. Corona sagte zu den Ärzten:

»Ich habe von Fällen gehört, in denen es möglich sein soll, Mutter und Kind am Leben zu erhalten. Es könnte ja sein, daß sich dieser Fall für uns ereignete; denn ich weiß, es steht nicht gut mit mir. Tritt er ein – dann vergessen Sie nicht, daß es sich handelt um eine unsterbliche Seele. Ich habe so eben die heiligen Sterbsakramente empfangen und darf hoffen, daß der liebe Gott meine Seele in Gnaden aufnehmen werde; also ich kann sterben. Aber das Kind muß leben – denn es muß die heilige Taufe empfangen.«

Der eine Arzt dachte bei sich selbst: die Logik verstehe ich nicht. Der andere, Coronas Hausarzt, der trockene Mann, sah sie an mit feuchtschimmernden Augen und sagte im barschen Ton:

»Gnädige Gräfin müssen nicht so sprechen! davon wird einem ja ganz unnützer Weise das Herz weich. Man ist ja auch ein Christenmensch und hat ein Gewissen.«

»Gut, Herr Doktor!« sagte Corona; »auf Ihr Gewissen lege ich die Seele des Kindes.« – –

Namenloser Jubel brach im Schloß aus: Corona lebte und ihr Sohn lebte auch; schwach und schwankend zwar, aber er lebte.

»Wie soll er heißen?« fragte Levin; »ich taufe ihn gleich.«

»Gott war mit uns!« sagte Corona strahlend vor Wonne; »Emanuel soll er heißen.«

Alles an ihr war übernatürlich: ihre Freude wie ihr Leid; ihre Gedanken wie ihre Liebe. Und abermals ging ein Telegramm mit diesen Nachrichten zu Orest und traf ihn nicht; denn er war noch in Lyon bei einem prächtigen Fest, das man zu Ehren Judiths gab. Tags darauf ging sie nach Paris zurück. Man war in der Charwoche und sie hatte versprochen, am grünen Donnerstag in der Kapelle der Klosterfrauen von Unserer Lieben Frau von Sion zu singen; Pergoleses »Stabat mater«, zum besten des Klosters. Auch ihr Konzert in Lyon war für einen Zweck der Barmherzigkeit gewesen und nie schlug sie eine solche Bitte ab. Mit Orest zugleich traf ein drittes Telegramm aus Stamberg ein, so daß er auf seinem Tisch drei telegraphische Depeschen fand. Trotz seines Leichtsinns entsetzte er sich und öffnete die letzte zuerst. Sie meldete ihm den Tod seines Sohnes. Das schwache Lebensflämmchen war nicht zu erhalten gewesen und nach vierundzwanzig Stunden still erloschen. Orest war vernichtet. Er hatte einen Sohn gehabt und verloren – und ihn nie gesehen! Er sauste mit dem Schnellzuge durch die Nacht und war am andern Vormittag auf Stamberg, außer sich, verzweifelnd, mit Gott und Menschen hadernd, denn einen Sohn hatte er gewünscht, einen Träger des Namens, einen Erben des Vermögens, einen Vertreter des Hauses Windeck; und nun fand er ihn – aber als Leiche. Auf Frühlingsblumen gebettet und in Spitzen eingehüllt lag die kleine Leiche in dem Saal, der zur Kapelle umgeschaffen war, und Felicitas saß, mit Blumen spielend, so ruhig und ahnungslos neben dem kleinen Sarge, als ob es die Wiege ihres entschlafenen Brüderchens sei. Dies Bild eines Friedens, der Zeit und Ewigkeit umschloß, trat so überwältigend in die wilde Gewitternacht seines Innern, daß Orest ohnmächtig neben den beiden Kindern zusammensank. Dies entwaffnete etwas den Graf Damian, der einen beträchtlichen Vorrat von Groll gegen seinen Schwiegersohn in sich aufgespeichert hatte, und der Hausarzt sagte zu Levin:

»Ja, ja! so sind die Leute! Nichts wollte der Herr Graf davon hören, seine Reise abzukürzen, obgleich es ja auf der Hand liegt, daß bei einer so zarten Gesundheit, wie die Frau Gräfin hat, die Dinge leicht eine schlimme Wendung nehmen. Und nun ist er desperat, das Bübchen nicht mehr am Leben zu treffen, und hat nicht übel Lust, uns alle dafür verantwortlich zu machen.«

Corona hatte ihr Kind in die Hand Gottes zurück gegeben, aus der sie es empfangen hatte. Bei solcher Gesinnung verliert der Schmerz seine Herbe und seinen Stachel; aber weh tut er doch! Das Herz blutet sich leise nach innen aus. Sie suchte Orest zu trösten und zu beruhigen und bat ihn, daß das Kind in der Familiengruft zu Kloster Engelberg beigesetzt werde.

»Dort sind wir im Sarge zu Hause,« sagte sie, »und viele heilige Meßopfer und Gebete erheben sich über unsere Gruft und schlingen die Toten in den Verband des ewigen Lebens hinein.«

Was sie wünschte, geschah. Es war, als habe sie einen Blick in ihre Zukunft getan. Allmählig senkten sich wieder die Wellen in den aufgeregten Gemütern, und das Alltagsleben kehrte in das gewöhnliche Geleise zurück. Graf Damian, Levin und die Baronin Isabelle verließen Stamberg. Corona erholte sich; doch so langsam, daß sie im Laufe des Sommers eine Kur in Ems brauchen mußte und daß die Ärzte erklärten, sie müsse den nächsten Winter in Italien zubringen, in Rom oder Pisa; ihre Brust scheine angegriffen.

»Also nach Rom!« rief Orest.

»Ja, nach Rom!« sagte Graf Damian. »Ich gehe mit. Das habe ich mir schon lange gewünscht.«

Er war auch in Ems mit Corona; er konnte sich kaum mehr von ihr trennen, so sehr fühlte er die Verpflichtung, in ihrer Verlassenheit ihr beizustehen. Hyazinth war bereits im Frühling nach Rom gegangen, um dort ein Jahr theologische Studien zu machen. Der Grund, weshalb Orest sich für Rom entschied, war kein anderer, als weil Judith dahin ging. Diese hatte erklärt, ihr Ruhm sei jetzt begründet; sie brauche London und Paris nicht mehr; sie wolle fortan nur in Italien singen – und diesen Winter in Rom. Als Orest's Schmerz um sein Kind sich gelegt hatte, schlief auch sein Gewissen wieder ein und der Schmerz ging schnell vorüber, denn er hatte doch eigentlich nur einen künftigen Orest in seinem Sohn ersehnt, geliebt, betrauert. Ein solcher Schmerz ist nicht die glühende Kohle, die das Innere entzündet; ist nur ein dürftiger Funke, der in der kalten inneren Finsternis schnell erlischt. Mit brennender Ungeduld harrte er auf den Augenblick, wo Judith am Genfersee sich ausruhen werde; dann wollte er zu ihr, sein Verschwinden aus Paris und ohne Abschied von ihr – gleichviel wie erklären und dann nach Stamberg zurückgehen, um mit Corona die italienische Reise anzutreten. Die Ärzte hatten freilich geraten, Corona möge nicht den Oktober diesseits der Alpen abwarten; aber Judith war ja im Oktober in der Villa Diodati! da mußte Corona schon Geduld haben! Endlich kam statt seiner jener Brief, der ihr anzeigte, daß sie die Reise allein mit Graf Damian zu machen habe.


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