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Neuntes Buch.

Erste Bewegungen in Berlin. Volksversammlung im Thiergarten. Beginn des Straßenkampfs. Adressen. Am 13. März. Emma in Gefahr. Revolutionaire Umtriebe; der 14. und der 15. März. Graf Banco. Edmund. Volkskampf. Familienscene.

»Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten.«

Schiller.

———————

1.

»Die Republik in Frankreich war ausgerufen; damit der Anblick Europas völlig verwandelt, die Zuversicht auf die Erhaltung des dreiunddreißigjährigen Weltfriedens völlig erschüttert.«

Das war der Anfang einer Adresse, welche, mit zahllosen Unterschriften bedeckt, die Bürgerschaft am achten März der Stadtverordnetenversammlung in Berlin übergab.

Weiter hieß es darin:

»Das preußische Volk hat in diesem Augenblick, wo vielleicht sein Wohl und Wehe für Jahrhunderte auf dem Spiele steht, keine Organe, denen es seine Wünsche und Befürchtungen ruhig anvertrauen und sicher sein kann, daß sie am Throne wiederhallen werden. Soll es sie nun schweigend im Herzen tragen, soll also die Regierung über die wahren Gesinnungen des Volks im Dunkeln bleiben, die Nation in einen Krieg verwickelt werden, der ihr fremd ist? Wenn das geschähe, gäbe sich die Nation selbst auf, ein zweites Jena würde sie richten, das muß verhütet werden, so lange noch ein Funken Wahrheitsliebe in unseren Herzen ist. Daher muß die Stimme der Wahrheit im Vaterlande und vor dem Könige laut und deutlich sich vernehmen lassen, und sie wird gehört werden. Niemand aber steht der Krone näher, als die Vertreter der Residenz; Niemand kann sich mit vollerem Rechte in einem solchen Augenblicke zum Organ des ganzen Landes machen, als die Vertreter der Hauptstadt, in der sich alle Interessen, Gedanken und Empfindungen des Volks wie um einen gemeinsamen Mittelpunkt vereinigen. Darum werden die Stadtverordneten gebeten, schnell und ohne Rückhalt das zu thun, was dringend geboten ist. Jede Zögerung bringt Gefahr, wenn sich nicht ungesäumt die friedliebenden Bürger um ihre Fürsten schaaren und sie beschwören, auf die Stimme ihrer Völker zu hören. Außerordentliche Umstände erfordern außerordentliche Maßregeln. Es wolle also die Stadtverordnetenversammlung in Berlin sofort eine Adresse an den König beschließen und ihn bitten, ungesäumt die Stände des Reichs um sich zu versammeln, damit Er unverfälscht die Stimme des Volks in der gegenwärtigen gefahrvollen Stunde vernehme. Es werden zugleich in einer solchen Adresse diejenigen Fragen und Wünsche anzudeuten sein, welche gegenwärtig die Nation bewegen, die also eine Läuterung und Prüfung durch die gesetzmäßigen Vertreter des Landes erheischen, und die ihre endliche völlige Lösung gefunden haben müssen, bevor sich das Volk mit muthiger Begeisterung in Kampf und Tod stürzen kann. Diese Wünsche des Volks dürften in folgenden Worten zusammen zu fassen sein: Kein Krieg mit Frankreich, als wenn es deutschen Boden antastet. Gesetzliche Freiheit im Innern, damit wir die Franzosen stolz zurückweisen können, wenn sie uns diese Freiheit bringen wollen. Wir finden diese Freiheit in der völligen rückhaltlosen Erfüllung der, der deutschen Nation und dem Preußischen Volke vor, in und nach den glorreichen Kämpfen von 1813 bis 1815 gegebenen Versprechungen, also: 1) Preßfreiheit, damit stets die Wünsche und Bedürfnisse des Volks unverhüllt und unverfälscht gesagt werden dürfen und können. 2) Vermehrung der Vertreter der Land- und Stadtgemeinden, Aufhebung der Wahlbeschränkungen, mit einem Worte: wahrhafte Repräsentation des Volks und Periodicität der Reichsstände mit beschließender Stimme. 3) Endlich, damit wir nicht blos als Preußen muthig und vereint jedem Feinde, er komme von Westen oder Osten entgegentreten können, sondern auch als Deutsche in jedem Sturm fest und unerschütterlich bestehen mögen: Innige Verbrüderung der gesammten deutschen Nation; zu diesem Ende: Vertretung derselben durch Ausschüsse sämmtlicher deutschen Ständeversammlungen beim Bundestage.«

Das war das erste politische Wort des Volks, beschlossen in den Volksversammlungen unter den Zelten im Berliner Thiergarten.

Uebrigens herrschte bei aller innern Aufregung eine düstere Stille in Berlin. Die Pariser Nachrichten hatten einen furchtbaren Rückschlag auf die Börse geübt, so daß mancher reiche Börsenspeculant sich dadurch plötzlich an den Bettelstab versetzt sah.

Berlin trug besonders in den untern Volksschichten eine unheimliche Physiognomie, die man noch nicht recht zu deuten wußte. Diese unheimliche Stimmung zog immer erhitzender durch die Stadt. Man fühlte sich unbehaglich in seiner eigenen Haut; jeder Tag konnte den Ausbruch von Unruhen bringen, deren Ende dann nicht abzusehen sein würde.

Man hatte von der Thronrede des Königs an die entlassene Ständeversammlung mehr erwartet. Diese nicht erfüllte Hoffnung steigerte noch den allgemein schon fühlbaren Unmuth.

Die Regierung schien gegen einen möglichen Volksausbruch gerüstet zu sein. Man erfuhr, daß in der Nacht vom sechsten bis zum siebenten März alles Militair in den Kasernen consignirt war, dunkle Gerüchte bezeichneten den Abend als den Zeitpunkt beginnender Ruhestörungen, wozu die Fastnachtsschwärmereien allerdings Anlaß geben konnten. Aber es ist ruhig geblieben, auch wohl nie ein Fastnacht festloser begangen, die Vergnügungen lagen ebenfalls danieder, wie die Geschäfte.

Unter dieser Stimmung wurden die Versammlungen unter den Zelten beschlossen und ausgeführt. Sie entstanden ursprünglich aus dem Plane einiger junger Männer, an die Krone eine Adresse gelangen zu lassen, in welcher die Bitte um Gewährung der damals überall in Deutschland ausgesprochenen Wünsche des Volks ausgesprochen werden sollten.

Wir werden den Ereignissen vom sechsten bis zum achtzehnten März Schritt für Schritt folgen, und werden darin wieder die alte Erfahrung bestätigt finden, daß es auch hier wieder die so beliebten halben Maßregeln der Regierung waren, welche aufreizten, ohne zu beschwichtigen, und damit allmälig eine Erbitterung zwischen Volk und Militair herbeiführten, die erst Excesse, dann endlich den Ausbruch einer Revolution unvermeidlich machten.

Die Volksbewegung nahm seit dem sechsten die Richtung nach dem Thiergarten. Ohne eigentliche Führer, ohne Bestellung und Verabredung wogten jeden Abend viele Tausende hinaus zum Brandenburger Thore. Die Etablissements der öffentlichen Vergnügungen auf der rechten Seite des Thiergartens, die man mit dem Namen: Unter den Zelten bezeichnet, füllten sich mit Besuchern. In einzelnen Gruppen wurde verhandelt. Volksredner traten auf und sprachen zu Gunsten der Adressen an den König, um gewährt zu erhalten, was das mündig gewordene Volk bedürfe, um nach den Forderungen der Zeit eine verfassungsmäßige Freiheit und gesetzliche Ordnung zu erlangen. Mit jedem Tage erweiterten sich diese Ansprüche.

Unter andern trat ein Mann auf von großer imponirender Gestalt; sein volles Gesicht, das den angehenden Vierziger, aber in der Fülle der männlichen Kraft und Gesundheit verkündete, trug keinen großen Modebart, sondern nur einen militairischen Schnurrbart. Die ganze Haltung verrieth die Würde des durchgebildeten Mannes, der wußte, was er wollte und der in höherer Stellung gewohnt gewesen war, Achtung zu empfangen und Achtung zu gewähren.

Mit einem Wort, es war der uns schon bekannte Landschaftsrath von Hochherz.

Er buhlte nicht um Volksgunst; er war kein Wühler und Unruhstifter, aber volksfreundlich durch seine edlen, wohlwollenden Gesinnungen. War er auch ein aufgeklärter Patriot und hatte längst die Mängel des alten Regierungssystems in seiner amtlichen Stellung und als Gutsbesitzer zu erkennen Gelegenheit gehabt, so war auch sein Geist klar genug, um zu erkennen, daß endlich die Zeit gekommen sei, in welcher der Absolutismus der Krone nicht mehr haltbar sein würde, in welcher unabweislich die Mündigkeit des Volks anerkannt, das System der ängstlichen Ueberwachung und Bevormundung aufgegeben und dem Volke selbst sein natürlicher Antheil an der Gesetzgebung und Steuerverwilligung durch eine freiere Verfassung mit wahrer Volksvertretung zurückgegeben werden müsse.

Er kannte den König aus früheren Verhältnissen persönlich; er war aufmerksam, doch ohne Vorurtheile dessen Reden und Schritten gefolgt; er glaubte daher nicht zweifeln zu dürfen, daß der nur von einigen anerzogenen Vorurtheilen, von Rücksichten der Pietät und Politik gehemmte, von seinen Umgebungen getäuschte König längst erkannt habe, was die erwachte neue Zeit forderte. Er wußte, daß die halben Concessionen, welche der König im Conflict der erwachenden Geistesfreiheit mit der Umnachtung solcher Hemmnisse den Forderungen der Zeit gewährt hatte, unmöglich nur seinem eigenen klaren Geiste genügen konnten; dabei sah er voraus, daß es jetzt zum furchtbaren Ausbruch kommen werde und müsse, und damit dieser nicht wie ein alle Dämme durchbrechender Strom verheerend alles Volks- und Staatsrecht zertrümmere, beschloß er sich an die Spitze der jetzt ohnehin unaufhaltsamen Bewegung zu stellen, überzeugt, daß der König jetzt nur der Ansprache eines kräftigen Volkswillens bedürfe, um für sich selbst den so nöthigen Stützpunkt für die Gewährungen einer freisinnigen Verfassung zu gewinnen.

Der wahre freisinnige Vaterlandsfreund ist kein alles Bestehende über den Haufen stürzende Wühler, ohne Besseres geben zu können; sondern ein ernster und besonnener Freund des Fortschritts, der nichts niederreißt, ohne Besseres dafür zu fordern und zu geben.

So schlug denn in diesem Geiste und Sinne der wahrhaft patriotische Landschaftsrath eine Adresse vor, welche allgemeinen Anklang fand, indem sie die Forderungen noch freisinniger stellte, als jede frühere.

Es hieß am Schluß:

»Das bestimmte, ins Bewußtsein des Volks übergegangene Bedürfniß nach größerer politischer Freiheit ist der sicherste Maßstab zur Beurtheilung der Reife einer Nation.

Dieses Bedürfniß ist vorhanden.

Wir drängen aber mit Besonnenheit alle Wünsche zurück, welche erst die weitere Entwickelung des geistigen und materiellen Fortschritts im Volke an den Tag bringen wird, und schließen uns den Wünschen der übrigen deutschen Völker an, welche bereits an die deutschen Fürsten gelangt und von Einzelnen gewährt sind. Diese Wünsche sind:

1) Unbedingte Preßfreiheit.

2) Vollständige Redefreiheit.

3) Sofortige und vollständige Amnestie aller wegen politischer und Preßvergehen Verurtheilten und Verfolgten.

4) Freies Versammlungs- und Vereinigungsrecht.

5) Gleiche politische Berechtigung Aller, ohne Rücksicht auf religiöses Bekenntniß und Besitz.

6) Geschworengerichte und Unabhängigkeit des Richterstandes.

Vergessen war hier, Aufhebung aller Patrimonialgerichte und bevorzugter Gerichtsstände.

7) Verminderung des stehenden Heeres und Volksbewaffnung.

8) Allgemeine deutsche Volksvertretung.

9) Schleunigste Einberufung des vereinigten Landtages.

Erst spätere Forderungen knüpften daran: Entlassung der unbeliebten Minister und Erneuerung eines volksfreundlichen Ministeriums und anderer Forderungen der Neuzeit. Die vorgeschlagene Adresse lautete weiter:

»Nur die Gewährung dieser Wünsche wird im Stande sein, die Eintracht zwischen König und Volk zu sichern, auf welcher allein die Kraft der Nation nach innen und außen beruhet.«

———————

An einer andern Stelle des Thiergartens, doch immer noch in der Gegend vor den Zelten, bewegte sich behende wie eine Schlange eine andere viel schlankere Gestalt, die statt des früher militairisch verschnittenen Bartes jetzt sein nicht unschönes Gesicht in ein volles schwarzbraunes Bartgebüsch, mehr als zur Hälfte versteckt hatte. Kaum war er wieder zu erkennen, hätten nicht die blassen, verlebten Züge und die unruhig und lüstern umherblickenden Augen bei einer feinen und eleganten Haltung den uns bereits bekannten Graf Banco verrathen.

Der Menschenhaufen, in dessen Mitte er sich bewegte, bestand meistens aus Arbeitern und deren Weibern und Kindern. Da sah man so recht den Troß des Berliner Pöbels, die arbeitsscheuen Eckensteher, die faulen Kanalarbeiter; glühend rothe Gesichter, die den süßlichen Dunst habitueller Branntweinsäufer um sich verbreiteten, und blasse halb verhungerte Weber, hagere Kattundrucker, freche trotzige Gassenjungen und verschmitzte Taschendiebe, die der großen Classe der entlassenen Züchtlinge und Observaten angehörten. Zwischen durch ließ sich einmal eine Polizeinase sehen, oder wohl gar der Helm eines Gensdarmen, der sich aber schnell zurückzog, wenn der Pöbel ihn bemerkte und mit schrillendem Pfeifen oder Spottreden ihn begrüßte.

Unter diese Leute theilte Graf Banco, indem er rechts und links die Hand drückte, halbe Gulden, selbst Thaler aus. Er gab Denen am meisten, welche die trotzigste Physiognomie hatten und sprach dabei: »Hier, brave Arbeiter, trinkt auf das Wohl der Freiheit, die sie uns in Paris gemacht haben. Dort haben sie ihren König fortgejagt, Gott behüte uns, daß wir es auch so machen, aber der unsrige ist nicht fester gewachsen auf dem Throne als es Louis Philipp war, und wenn er uns die Freiheit nicht verwilligen will, und das Volk fühlt seine Kraft, wer weiß wohin das führt?«

»Lauter, lauter!« rief man ihm von manchen Seiten zu, »reden, reden!«

Zwei stämmige Männer hoben ihn auf die Schultern, so daß er Alle überragte.

»Heda!« rief er, »mein Herr Gensdarm, wollten Sie wohl die Gewogenheit haben, sich ein wenig zu verziehen, damit Sie nicht von den Schultern dieser braven Arbeiter auf den Schub gebracht werden. Ich habe mit diesen meinen braven Brüdern ein menschenfreundliches Wort zu reden, nicht aber mit löblicher Polizei, deren Helme mir die Augen blenden.«

Die Gensdarmen hatten sich entfernt und der Graf fuhr fort.

»Ja, lieben Leute, in Paris verstehen sie es besser wie hier. Da hat Louis Blanc die Organisation der Arbeit vorgeschlagen.«

»Was ist das?«

»Seht, der Arbeiter hat ein Recht, vom Staate erhalten und wenn er invalide oder krank wird, vom Staate versorgt zu werden. Deshalb sollen in Paris auf Staatskosten große Arbeiterwerkstätten errichtet werden. Der Zweck derselben ist, den braven Arbeitern möglichst viel Lohn für möglichst wenig Arbeit zu gewähren.«

»Bravo!«

»Wozu, meine Freunde, ist der Reiche da? Um den Armen zu ernähren. Gott hat die Güter der Erde so ungleich vertheilt, damit der Arme was zu fordern, der Reiche was zu geben hat. Wenn ich Euch jetzt beschenke, so ist das meine verfluchte Schuldigkeit; denn ich bin reich und Ihr seid arm. Aber ich gebe es freiwillig, nicht etwa aus gutem Herzen, denn das hole der Teufel, man kommt nicht mehr damit durch die Welt; sondern weil Ihr das Recht habt, mit Gewalt zu nehmen, was ich Euch nicht freiwillig gebe; denn alles Geld und Gut gehört von Gott und Rechts wegen der ganzen menschlichen Gesellschaft; daher ist jeder Besitz des Einzelnen ein Diebstahl an der Gesammtheit.«

»Bravo, bravo!«

»Giebt Euch der Staat dieses Recht nicht, so forderts vom Staate. Hört er nicht auf Eure Bitten und Protestationen, so verweigert die Arbeit, bis Euch gewährt wird, was Ihr als ein ewiges Urrecht der Menschheit zu fordern habt, verminderte Arbeit und erhöhtes Lohn!«

»Aber dann lassen uns die Meester und Fabrikherren hungern.«

»Meine Freunde, dann hungert aus Patriotismus. Es ist schön und erhaben, für das Vaterland hungern, aber gemein und niedrig ist es, um den leidigen Magensack zu füllen, die ewigen Rechte der Menschheit preis zu geben.«

»Ne, nee, nich hungern, nich dursten.«

»Hunger und Durst treibt das Volk zur Verzweiflung. Volksverzweiflung macht Revolutionen; diese aber bringen Anarchie, die Anarchie aber giebt jedem Armen das Recht, in jedes beliebige Haus einzubrechen und sich vom Reichen zu holen, was der Arme bedarf, um künftig nur von Braten, Kuchen und Champagner zu leben. Diesen Zustand möglichst verlängern, heißt die Permanenz der Anarchie decretiren.«

»Bravo!«

»Schließlich frage ich Euch noch, worin besteht der Unterschied einer Permanenz der Anarchie und einer anarchischen Republik?«

»Dat weeß der Deiwel!«

»Auch ich kann es Euch sagen: Eine anarchische Republik bedarf auf jedem öffentlichen Platz der Aufstellung einer Guillotine; die permanente Anarchie aber kann diesen Luxusartikel entbehren, in diesem Zustande ist jedes Schlächterbeil eine vom souverainen Volk gehandhabte Guillotine.«

»Donnerwetter!«

»Ja meine Freunde, die Proletarier, wie Euch die Reichen nennen, haben zwei Feinde, die Aristokratie der Geburt und die des Geldes, welche nichts wollen als die Armen zu Sklaven machen und sich von dem Schweiß der Arbeiter mästen!«

»Bravo!«

»Daher nieder mit dem Adel und mit den Reichen, sobald es losgeht, große Gütergemeinschaft, Theilung alles Besitzes, keine andere Herrschaft als die des eigenen Willens. So nur kann es besser werden in der Welt.«

»Bravo! Bravo!«

»Ich selbst bin ein Reicher, bin ein Aristokrat, und wenn ich selbst mich gedrungen fühle einzugestehen, daß das Unrecht auf unserer Seite ist, so muß Euch das als ein doppelt starkes Zeugniß für die Wahrheit meiner Worte gelten.«

»Brav, sehr brav!«

»Ich spreche gegen meine eigenen Standesinteressen; aber aus meinem Herzen redet die Menschenliebe; darum, Freunde und Brüder, folget mir, wenn es erst drüber und drunter gehen wird, folget dem Grafen Banco, der seinen Grafentitel zu Boden wirft und mit Füßen tritt. Nennt mich künftig nicht anders als Freund Banco, Bruder Banco, Staatsbürger, und Ihr habt mir damit den schönsten Ehrentitel gegeben.«

Ein stürmischer Beifall krönte diese Worte. Als die Ruhe so weit hergestellt war, daß der Graf sich wieder vernehmbar machen konnte, fuhr er fort:

»Als Euer Freund und Bruder darf ich fortan mit Euch nur eine Kasse haben. Ist Jemand von Euch in Noth, so komme er zu mir. Ich werde mit jedem Bedrängten theilen, bis ich selbst so arm bin, wie er ist. Hat Einer kein Hemd von Euch, ich gebe ihm das meinige und wäre es mein letztes.«

»Du Alter!« sprach er einen zitternden Greis an, »Dein Sackpalletot hat Löcher, ist dünn und fadenscheinig, kann Dich nicht mehr wärmen. Es ist billig, daß wir tauschen, der meinige ist noch neu, warm wattirt und mit Seide gefüttert; ich aber bin noch jung und habe heißeres Blut als Du, mir schadet die Kälte nicht, hier, da!«

Und damit tauschte er mit dem armen alten Mann seinen Palletot, dieser hüllte sich mit tausend Gotteslohn in den prächtigen, mit reichen Schnüren bedeckten Ueberzieher vom feinsten Buckskin und der Graf prangte in dem Rock des Bettlers.

Die Wirkung dieser auf Effect berechneten Scene war in der That elektrisch wirkend auf das Volksgefühl. Graf Banco war in diesem Augenblicke der Gott des Volks. Die zunächst Stehenden sanken auf ihre Knie, Andere küßten ihm Rock und Hände; stämmige Eckensteher drückten ihn an ihre breite Brust, Droschkenkutscher boten ihm die Benutzung ihrer Droschken umsonst an und ein Fischerweib mit dem zerzauseten Haar eines Medusenhaupts trank ihm aus ihrer Branntweinflasche zu und eine zweite präsentirte ihm aus ihrer Horndose eine schauderhafte Prise.

So war Graf Banco, der ausgestoßene Aristokrat, in Voraussicht der Dinge, die da kommen sollten, Demokrat geworden. Er hatte jetzt die Macht eines Volkstribun. Diese anzuwenden, blieb der weitern Entwickelung der vorhandenen Gährungsstoffe vorbehalten.

Jetzt sprach er mit weniger lauter Stimme zu seinen nächsten Umgebungen und diese sagten es weiter, so daß es bald wie ein Lauffeuer den ganzen Pöbelhaufen ergriff:

»Seht Ihr da ringsum die blitzenden Helme der Gardedragoner, da die Bajonette der Gardeinfanterie und dort die schwarz-weißen Fähnchen der Gardelandwehr-Uhlanen; ist das Vertrauen, das Volk mit solchen Schergen der Gewalt zu umgeben? Die Soldaten sind unsere Brüder; wenn sie aber mehr auf das Commando ihrer Offiziere hören als auf die Stimme der Menschlichkeit, so sind sie unsere Feinde. Versuchen wir uns mit ihnen zu verbrüdern; wenn sie indeß Knechtssinn genug haben, die dargebotene Bruderhand nicht anzunehmen, so wäre ihnen besser, daß sie mit Hohngeschrei, Pfeifen und Steinwürfen zu allen Teufeln gejagt würden. Greifen sie an, so lauft davon und sammelt Euch hinter ihnen wieder. So nur kann das Volk die Soldaten im Dienst ermüden und endlich den Sieg davontragen.«

Diese Lehren verbreitete Graf Banco in den ihn näher umgebenden Gruppen. Dann ging er zu andern Volkshaufen und fing seine Rede wieder von vorn an.

Bald fand er Beistand. Verkommene Literaten, polnische und französische Emissaire sprachen in demselben Sinne. Von Seiten der Letztern wurde verschiedentlich Geld vertheilt.

———————

Das geschah am dreizehnten März. An diesem Tage hatte sich das Gerücht verbreitet, es sei höhern Orts beschlossen, die Volksversammlung vor den Zelten im Thiergarten nicht mehr ferner zu dulden. Ebendieses Gerücht aber hatte dazu beigetragen, die Volksmasse noch zu verdreifachen. Man wollte doch sehen, wie das Militair gegen ruhige Bürger verfahren würde; besonders in der Gegend des Schlosses war Alles voll auf- und niederwogender Menschenmassen. Viele wollten nur die zur Audienz bei dem Könige zugelassene Deputation vom Schlosse zurückkehren sehen, und viele Tausende zogen unter den Linden hinab, dem Brandenburger Thore zu. So vermehrte sich die Versammlung vor den Zelten, zum nicht geringen Schrecken der Polizei, in jeder Viertelstunde um Tausende.

Anfangs hatte die Versammlung gar keinen politischen Charakter gehabt. Man sang Lieder, trank Weißbier und brachte Vivats. Man hielt kurze Reden, verhöhnte die Polizei und verhaftete sogar einen Gensdarmen, den man der Thorwache übergab. Später erschien der Polizeipräsident von Minutoli zu Pferde und suchte begütigend auf die schon sich erhitzenden Gemüther einzuwirken. Da trat ein Arbeiter an ihn heran und klagte, daß er sieben Kinder, aber seit mehreren Tagen keine Arbeit habe. Der Polizeipräsident versprach Allen, es solle thunlichst für sie gesorgt werden, nur möchten sie sich friedlich verhalten. Darauf brachte ihm die Menge ein donnerndes Hoch!

So zeigte der Volksauflauf noch keineswegs einen gefährlichen Charakter; doch gegen sechs Uhr hatten sich im Thiergarten allerdings imposante Menschenmassen angehäuft. Da dieses bedenklich gefunden wurde, so setzten sich zahlreiche Patrouillen in Bewegung, durchzogen den Thiergarten nach allen Richtungen hin und trieben so die allzudicht wogenden Volkshaufen langsam auseinander.

Nun erst, als diese Bewegungen bekannt wurden, strömte Alles nach dem Thiergarten hinaus und man rechnete die dort wogende Volksmenge auf 20 bis 30,000 Menschen.

Von da an erst nahm die Versammlung den geschilderten mehr politischen Charakter an. Die bedeutende Truppenmasse, die sich vor dem Thore gegen sieben Uhr entwickelte, erbitterte die Menge und weckte erst die Lust am Verbotenen.

So zog sich denn die vom Militair aus dem Thiergarten vertriebene Menge unter Schreien, Pfeifen und Singen langsam durch das Brandenburger Thor, die Linden hinab und sammelte sich wieder in der Umgegend des Schlosses.

Dort, auf der Schloßfreiheit stieß die ungeheuere fortgeschobene und gedrängte Menschenmenge plötzlich auf eine dort aufgestellte Abtheilung Garde-Dragoner.

Die Neugierigen und Tumultuirenden konnten nun nicht weiter vordringen. Große Massen derselben sammelten sich daher unter den Fenstern der königlichen Wohnung und schrien: »Freiheit, Preßfreiheit!«

Graf Banco, immer einer der Wüthendsten unter den Tumultuirenden.

Andre verhöhnten das Militair und warfen sogar mit Steinen in die dicht aufmarschirten Colonnen.

So hatte der Auflauf völlig den Charakter eines Straßentumultes angenommen, der sich um das Schloß concentrirte und von da an bis zum Brandenburger Thore hinauszog.

Wer jemals in einer großen Stadt einen solchen Straßenauflauf gesehen hat, wird wissen, welch eine schauerige ungeheuere Menschenwüste sich dort bildet. Wie Milliarden Sandkörner der heiße Samum in der Wüste Sahara zu glühenden Bergen, die ganze Karavanen begraben, zusammenweht, so wachsen hier Tausende und aber Tausende von Menschen wie aus dem Boden hervor. Einer kennt den Andern nicht; was aber im gewöhnlichen Leben gefühl- und gedankenlos aneinander vorüberwogt, das hat jetzt eine, wenn auch noch dunkle Sympathie ergriffen. Eine Seele, ein Gedanken scheint das ganze zehntausendgliedrige Volksungeheuer zu bewegen und wohin dieses sich stürzt, da ist kein Widerstand mehr möglich.

Noch war man in dem Grade über Ziel und Zweck der Bewegung nicht so einig, daß es nicht den aus allen Seitenstraßen heranrückenden starken Militairpatrouillen gelungen wäre, die Menge auseinander zu treiben.

Diese Menge aber bestand allerdings zum großen Theile aus Gesellen, jungen Burschen und Arbeitern. Die Mehrzahl aber waren Neugierige, die höchstens am Scandal ihre Lust hatten.

Die Hausthüren in der Straße der Bewegung waren allerdings geschlossen, die Fenster der hohen Häuser mit Köpfen von Neugierigen besetzt. An diesem Abend kam es noch nicht zu weitern Excessen. Um zehn Uhr wurde es ruhiger auf den Straßen, um elf Uhr war Alles still.

Das war indeß nur ein Wetterleuchten vor dem Gewitter gewesen, ein Vorspiel, dem die tragischen Scenen des ernsteren Drama bald nachfolgen sollten.

 

2.

Es bedarf wohl keiner Andeutung, daß die Männer im Rath des Königs sich in ihrer eigenen Haut unheimlich fühlten.

Rochow, der Erfinder des beschränkten Unterthanenverstandes, war todt; Eichhorn, der Papst des Glaubenszwanges, war gehaßt; Thiele, der Großvater der Pietisten, war nichts weniger als geachtet; der Justizminister Mühler mit seiner Erfindung der Entscheidung von Rechtsfragen durch Ministerialrescripte, der Versetzung und Entsetzung mißliebiger Richter, war unbeliebt; Savigny, als Fabius cunctator der Gesetzrevision; Bodelschwingh mit seinem langarmigen papiernen Regiment; Rother, ein persönlich trefflicher Mann, mit seinen Uebergriffen in die Privatindustrie, waren verhaßt, kurz unter Allen wankte der Boden, wenn das Volk tobte.

Man wagte nicht einzuschreiten und wagte nicht nachzugeben, erbitterte also durch die beliebten halben Maßregeln mehr als man versöhnte, verlor täglich mehr Terrain und sah das Ungeheuer der Revolution, grade unter den Augen seiner zaghaften Wächter, riesengroß wachsen.

In dieser Zeit war es, als zwei junge Mädchen bei dem Justizminister eine Privataudienz nachsuchten.

Beide waren hübsch und anständig genug, um bei dem ernstesten Staatsmann auf eine freundliche Aufnahme rechnen zu dürfen. Sie waren Beide von bescheidenem Benehmen, aber entschlossenem Charakter.

Die Eine zeichnete sich ein auf das Anmeldeblatt als Bertha Leblos, Tochter des Geheimraths a. D. und die Andere nannte sich Emma Redlich.

Die Erstere hatte sich beeilt, die Bekanntschaft der Schwester ihres Geliebten zu machen. Beide waren bald die innigsten Freundinnen geworden und Beide hatten jetzt einen Zweck: um die Begnadigung Edmund's zu bitten.

Der Minister nahm ihre Bitten gnädig auf und versprach, da der junge Mann nichts als die Wahrheit in seiner Broschüre gesagt und der König selbst wünsche, die Presse recht bald von ihren Fesseln zu befreien, so würde er sich gern für dessen Begnadigung verwenden und Se. Majestät würde mit Freuden die Gelegenheit ergreifen, dem unruhigen Volke den Beweis in die Hand zu geben, daß die Befürchtungen, welche demokratische und revolutionaire Wühler rege gemacht hätten, völlig ohne Grund seien.

Am dritten Tage nach dieser Unterredung kehrte Edmund schon auf der Eisenbahn von der Festung nach Berlin zurück.

Doctor Ajax hatte schon vor ihm seine Begnadigung empfangen, so wie denn überhaupt jetzt Milde gegen politische Gefangene, um die Volksgunst zu gewinnen, zu den Maximen der Regierung in der jetzigen bewegten Zeit gehörte. So kam auch Doctor Ajax nach Berlin zurück, zu einer Zeit als schon die Spannung zwischen Volk und Soldaten einen hohen Grad gegenseitiger Erbitterung angenommen hatte.

Die Familie Redlich wohnte nicht mehr in der früheren Hofwohnung auf der Brüderstraße, sondern hatte im Vorderhause desselben Hauses im dritten Stock eine angenehmere und anständigere Wohnung bezogen.

Das war so gekommen: der Landschaftsrath von Hochherz hatte sich seit jenem verhängnißvollen Abend der Familie des von ihm geretteten Mädchens mit warmer Menschenliebe angenommen. Von den Verhältnissen dieser Familie war er bereits unterrichtet. Bei einem Besuche, den er dieser Familie machte, schlug er dem alten Geheimen Canzlisten vor, aus dem undankbaren Staatsdienste auszuscheiden und bei ihm eine Stelle als Rendant der etwa 4000 Thaler jährlich betragenden Zinsen- und Eisenbahn-Dividenden, auch Miethzinse von drei Häusern, die ihm eigenthümlich gehörten, zu übernehmen. Er versprach ihm dafür einen fixen Gehalt von 800 Thalern jährlich, freie Wohnung und einige Naturalien von seinem nahe belegenen Gute.

Wer war glücklicher als die Familie Redlich! Zufällig war das Haus auf der Brüderstraße, worin diese Familie so lange gewohnt hatte, Eigenthum des Landschaftsraths und die Dienstwohnung, die ihr überlassen war, lag in demselben Hause, aber nach der Straße hinaus, im dritten Stock. Dieser Umstand aber sollte, wie wir später hören werden, verhängnißvoll für die Familie werden.

Um noch Einiges einzukaufen, was zu der neuen Einrichtung der Familie gehörte, war Emma Nachmittags ausgegangen. Sie hatte ihre Freundin Bertha Leblos besucht und beide Mädchen freuten sich der baldigen Rückkehr ihres Bruders. Von ihm waren Beide des unerschöpflichen Lobes so voll, daß darüber Stunde auf Stunde verging. Schon dämmerte der Abend, als Emma mit Schrecken an den Heimweg dachte.

Gewohnt allein zu gehen, lehnte sie jede ihr angebotene Begleitung durch den Bedienten des Geheimraths ab. Aber wie erschrak sie, als sie auf dem Schloßplatz sich plötzlich von einer ungeheuern Menschenmasse umdrängt sah, die von starken Militairpatrouillen umgeben, ihrer Wuth durch Schreien, Pfeifen, Toben und Steinwürfe Luft machte.

Dem Ersticken nahe, befand sie sich im furchtbarsten Gedränge der rohesten Volkshaufen und wo sie darüber hinaussehen konnte, sah sie geschwungene Pallasche der Garde-Dragoner, Helme und Bayonette der Infanterie und die bewimpelten Lanzen der Uhlanen. Der gemeine Soldat, gereizt durch mehrtägige Strapazen des Hin- und Hermarschirens, durch Verhöhnung und Steinwürfe des Volks, war damals schon in eine Wuth gebracht, die an keine Schonung mehr denken ließ; einzelne Haufen der Soldaten sprengten ohne Ordre in die dichtesten Volkshaufen und richteten dort schwere Verwundungen an. Dragoner zerschlugen in Wuth mit ihren Pallaschen die Fenster der untern Etagen, selbst die kostbaren Spiegelscheiben der eleganten Läden. So getrieben von den nachdrängenden Soldaten schob sich die ganze wogende Menschenmenge in die Brüderstraße hinein. Da andere Menschenhaufen von der entgegengesetzten Seite andrängten, so würde das zartgebaute junge Mädchen von ihren starkknochigen Umgebungen bald zu Tode gedrückt und unter die Füße gestampft worden sein, hätte sich nicht ein Mann von großer und starker Figur und imposanter Haltung ihrer angenommen. Mit freudigem Schreck erkannte Emma den Landschaftsrath, der sie selbst erst später erkannte, nachdem das Rettungswerk fast vollendet war.

Dieser ergriff sogleich die zweckmäßigsten Maßregeln. An vier stämmige Maschinenarbeiter aus der Borsig'schen großen Eisengießerei und Maschinenbau-Anstalt, die sich ebenso sehr durch ihre Rechtlichkeit, wie durch ihre Körperkraft auszeichnen, gab er Jedem einen Thaler mit der Aufforderung, das junge Mädchen glücklich aus dem Gedränge zu bringen. Die Männer sagten, daß sie für einen solchen Dienst der allgemeinen Christenpflicht keine Belohnung annehmen würden. Sie wiesen das Geld zurück und nahmen es erst an, als der Freiherr von Hochherz ihnen sagte: »So gebt es euern hülflosen Kameraden, die keine Arbeit haben.«

»Das soll geschehen!« rief der Eine »und verflucht sei der Groschen, den wir davon vertrinken.«

»Nun aber frisch zum Werk!«

Nunmehr benützten diese Männer ihre Arme und bildeten so, nachdem sie noch einige Kameraden zu Hülfe gerufen hatten, ein Carré um das junge Mädchen aus einer lebenden Menschenmauer, welche die tobenden Volksmassen nicht zu durchdringen vermochten. Jetzt bot ihr der Landschaftsrath, um sie besser schützen zu können, seinen Arm und nun erst erkannte er nicht ohne angenehme Ueberraschung, mitten im furchtbarsten Gedränge seinen früheren Schützling: Emma Redlich.

Langsam rückte man vor im Gedränge bis auf die Brüderstraße, wo Emma wohnte. Die ganze Masse war von dem nachdrängenden Militair in diese ziemlich enge, nach dem Schloßplatz ausmündende Straße zusammengedrängt. Plötzlich wogte ihnen von oben her eine so compacte Menschenmasse entgegen, die wie aus einem Körper bestehend, weder aufzuhalten, noch zu durchbrechen war. Dabei von der Schloßseite herein nicht minder stürmischer Andrang. Von dieser Seite das Geschrei: »Die Soldaten haben die ganze Straße abgesperrt!« von der entgegengesetzten Seite her ein markerschütterndes Wuth- und Nothgeschrei, worin man nur die einzelnen Ausrufe hörte: »Die Cavallerie rückt im Trabe vor und haut ein! Wir sind in einem Sack gefangen und sollen alle massacrirt werden.«

Schon war die Dunkelheit hereingebrochen über diese Schrecknisse, nur war es noch ein Glück, daß die Gaslampen schon vor der Dämmerung angezündet waren und so hatte man noch das Schreckniß, die in der Luft blitzenden Schwerter der Garde-Dragoner zu sehen und die Helme der hoch zu Roß sitzenden Reiter, deren große und starke Pferde allein schon hingereicht haben würden, die wehrlose Menge unter die Hufe derselben nieder zu stampfen.

Dicht an die rechte Häuserreihe gedrängt, rief Hochherz: »Laßt uns versuchen uns in irgend ein Haus hineinzuretten.«

Aber die Bewohner hatten die Hausthüren von innen verschlossen und zugeriegelt. Vergebens war alles Klopfen. Wer wollte sein Haus und alle Bewohner der Gefahr aussetzen, von einer tobenden Menschenfluth überwältigt zu werden, die dann vielleicht in ihrer Wuth sich aller Meubeln als Wurfgeschütz aus den Fenstern bedienten und dadurch die Bayonette der Soldaten herausforderten, sich in die Häuser zu drängen und dort Alles, was lebend war, nieder zu stoßen, oder mit dem Kolben zu erschlagen?

So war denn die zusammengedrängte Menge, der jede Möglichkeit zur Flucht versperrt war, schutzlos den Hieben der Dragoner preisgegeben, welche denn auch von ihren Waffen und den Vortheilen ihrer Position so rücksichtslos Gebrauch machten, daß es schon an diesem Tage Todte und Schwerverwundete, beklagenswerthe Opfer einer fehlerhaften Disposition gab; denn es läßt sich nicht denken, daß irgend ein Commandeur den ebenso unsinnigen als grausamen Befehl gegeben haben könnte, wonach Menschenmassen, in einer gesperrten Straße zusammengedrängt und ohne Möglichkeit der Flucht, niedergemetzelt werden sollten.

Die Bewohner der Häuser wehten mit weißen Tüchern aus den Fenstern und schrien den einhauenden Dragonern zu, doch nicht so unsinnig zu sein, da die Straße nach der Schloßseite zu gesperrt sei; aber das Alles half nichts, entweder überhörte man im Kampfgetümmel diesen Zuruf oder die aufs Aeußerste erbitterten Soldaten waren taub und blind gegen jede Stimme der Menschlichkeit.

Schon waren die Dragoner unsern Flüchtlingen ganz nahe gekommen, nur noch durch eine Mauer von aufeinander gepreßten, Hülfe schreienden Menschenleibern von ihnen getrennt, und diese würde sie gegen die blanken Klingen auf die Dauer nicht geschützt haben. Da rief der Landschaftsrath aus: »Endlich, da ist mein Haus! wir sind gerettet!«

Aber das Haus war verschlossen, doch der edle Hochherz hatte den sogenannten Drückerschlüssel bei sich. Er versuchte damit zu öffnen; aber das ganze große Schloß war verschlossen, vielleicht waren noch die starken eisernen Riegel von innen vorgeschoben gewesen. Alles Rufen und Klopfen war vergebens, die ängstlichen Bewohner öffneten nicht.

Eine schreckliche Lage, Emma befand sich unter den Fenstern ihres Vaters, der vielleicht oben auf sie herabsah, indem er mit Aengstlichkeit die Rückkehr seiner geliebten Tochter erwartete, aber keine Möglichkeit wäre gewesen, sie von oben herab im Dunkel des Volksgetümmels zu erkennen und keine Möglichkeit war es, sich ihm nach oben hin verständlich zu machen.

So schien nichts sie retten zu können, den schrecklichsten Tod erwartend, hatte sie keinen Raum mehr auf Erden als an der Brust ihres Freundes, der sie mit seinen Armen umschloß und ihr noch in der Vertiefung der Hausthür auf der Höhe der Trittstufen ein Plätzchen verschafft hatte, wo er sie mit seinem Leibe wenigstens gegen die Pallaschhiebe der schon ganz nahe herangerückten Dragoner schützen konnte. Da, neben der Hausthür, erblickte Hochherz ein Fenster im hochgelegenen Parterre. »Uebernehmen zwei« rief er, »den Schutz dieses jungen Mädchens und Einer steige auf meine Schulter, schlage die Scheibe ein und steige in das Fenster hinein, um dann von innen die Hausthür zu öffnen. Sagt nur, ich sei da, der Landschaftsrath Hochherz!«

Mit großer Gewandtheit vollzog einer der Arbeiter diesen Versuch zur Rettung, aber, o Himmel! die Aengstlichkeit der Bewohner hatte von innen die Laden geschlossen. Vergebens war die Fensterscheibe eingebrochen; es war keine Möglichkeit, einzusteigen.

Da bemerkte Hochherz in der Nähe eine der Leitern, welche ein Lampenanzünder im Gedränge hatte stehen lassen. Auf sein Verlangen wurde sie ihm zugereicht; er nahm sie auf seine Schultern und rief: »Nur geschwind hinauf zum zweiten Stock, das ist meine Wohnung.«

So hielt er die Leiter auf seinen Schultern und ein schlanker junger Mann in schwarzer leinener Blouse stieg hinauf, das Fenster war bald eingeschlagen und der Mann war im Innern. Keine Minute verging, so war die Hausthür von innen geöffnet. Emma war gerettet, der Landschaftsrath mit ihr und die braven Retter, sowie viele bedrängte Menschen stürzten mit in die geöffnete Hausthür hinein und füllten bald die Flur, den Hof, die Treppen und die untern Gemächer.

Später erst öffneten mehrere Hausbesitzer ihre Thüren und nur so war es möglich gewesen, es zu verhindern, daß nicht Hunderte und Tausende hier gespießt, zerhauen oder unter die Hufe der Rosse niedergetreten wurden.

Endlich wurde ein Fluchtweg geöffnet und gegen Mitternacht erst wurde es stiller auf den Straßen; aber das war keine Ruhe des Friedens, das war eine Ruhe des Grolls, eine Stille, die sich für neue Bewegungen vorbereitete.

 

3.

Nie hat Berlin so viel Fremde beherbergt, von denen die Polizei wenig oder nichts wußte.

Hier und dort, besonders in den halb unterirdischen Trinkstuben begegnete man fremden Physiognomien, unter denen sich leicht die Nationalitäten von Polen und Franzosen erkennen ließen. Unter den Letztern sah man heimlich zurückgekehrte deutsche politische Flüchtlinge und Republikaner von allen Schattirungen.

Noch hüteten sie sich, ihr Abzeichen, die rothe Feder am Hut, zu tragen; aber vielfach sah man schon die aufgeschlagenen grauen oder schwarzen Calabreserhüte und besonders vollbärtige Gesichter, fliegendes Haupthaar, weite auffallend carrirte Schnürenhosen und offenstehende Sammetröcke, mit offener Brust und ohne Halstuch.

Die eigentlichen französischen Agenten, welche den Seckel der französischen Republikaner führten, waren feine Leute, die irgend ein ostensibles Handelsgeschäft zu betreiben vorgaben und in den ersten Hotels logirten.

Mit diesen verkehrte besonders Graf Banco. Er war der Vertraute der Pläne einer französisch-polnischen Propaganda und verwendete in ihrem Interesse die Geldsummen, welche er aus den Händen jener revolutionairen Emissaire empfing.

Ihm hatten sich angeschlossen der von der Festung eben zurückgekehrte Doctor Ajax, der, was wir vergessen hatten zu erwähnen, ein cassirter Lieutenant von ehedem war; ferner eine uns schon bekannt gewordene emancipirte junge Dame, die heimlich nach Berlin zurückgekehrte Madame Waston, die meistens in Studentenkleidung ging und jene politischen Flüchtlinge, die den Troß dieser republikanischen Propaganda bildeten.

Graf Banco führte diese Letztern in die Werkstätten und Arbeitsplätze der Arbeiter, wo sie Geld und Branntwein austheilten und die deutsch reden konnten, ihnen communistische und socialistische Unmöglichkeiten in den Kopf setzten. Der Graf half als Dolmetscher Denen, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, um französischen Unsinn und polnischen unklaren Freiheitsschwindel in deutsche revolutionaire Schlagwörter zu übersetzen.

Madame Waston dagegen erhitzte durch Reden voll Freiheitsschwindel die Köpfe der Studenten in den Bierstuben und Ajax wirkte in den Volksversammlungen vor den Zelten, die täglich zahlreicher wurden, denn unglaublich ist die Masse der Neugierigen in Berlin, die aus keinem andern Zweck in den Thiergarten hinauswanderten, als um zu sehen, was los sein würde, wo so imposante Militairmassen sich entfalteten.

Ein neugieriger Berliner ist furchtbar in seinem Muth und großartig in der Ausdauer. Nichts kann ihn schrecken, kein Kugelpfeifen, kein Kanonendonner, keine Bajonette und blinkenden Helme. Unermüdet steht er drei, vier Stunden lang, läßt sich hin- und herschieben im Gedränge, flieht nur, um sich wieder zu sammeln und sammelt sich nur, um zu sehen, was denn eigentlich los ist und das kann ihm Niemand sagen, denn Alle, Hunderte und Tausende, werden von derselben Neugier gebannt, ohne zu wissen, weshalb sie eigentlich dort stehen.

Nichts hilft das »Zaruck! Zaruck!« der Gensdarmen, nichts die höfliche Ermahnung des Polizeicommissairs: »Meine Herren gehen Sie auseinander!« Nur der Einzelne, der sich ganz allein sieht, hört auf solche polizeiliche Ermahnung und geht, so gut er kann, auseinander.

Frauenzimmer, selbst anständig gekleidete Damen theilen denselben Heroismus einer ausdauernden Neugier mit den Männern und Gassenbuben, die sich doch wenigstens noch einige Unterhaltung mit Schreien, Pfeifen und Steinwürfen verschaffen.

Neugier macht in Berlin die Aufläufe, das Einschreiten der Polizei oder bewaffneten Macht dagegen reizt zum Widerstand und dieser führt zur Revolte, diese zur Revolution.

So auch jetzt in den Märztagen in Berlin.

Obwohl der König mit Deputationen bestürmt, sich nicht blos in huldreichen, Hoffnung gebenden Worten aussprach, sondern auch am 14. das Patent der Einberufung der vereinigten Landstände zum 27. März erließ, das Gouvernement, das Polizeipräsidium und der Magistrat es an beruhigenden, ermahnenden und drohenden Placaten nicht fehlen ließ, selbst die Hofzeitung (Staatsanzeiger) einen todtgebornen Artikel über die Politik des deutschen Bundes brachte, so war doch bei so vielen aufregenden Elementen der 15. März wieder ein Tag des Schreckens für Berlin.

Schon von früh Morgens an strömten zahlreiche Menschenhaufen nach dem Schloßplatz und der Brüderstraße, um dort auf dem Straßenpflaster die blutigen Spuren des schrecklichen Sieges der Militairgewalt über eine neugierige unbewaffnete Menschenmenge zu sehen.

Von Seiten der besonnenen Bewohner geschah Alles, um wo möglich die Erneuerung solcher Excesse zu verhindern.

Auch der Landschaftsrath war zu der Ueberzeugung gekommen, daß sich jetzt schon auf friedlichem Wege die Wünsche des Volkes erreichen lassen würden. Er hatte sich einer der Deputationen angeschlossen, die dem Könige geeignete Vorstellungen gemacht hatten, in dem Sinne, daß die Krone lieber in Güte gewähren wolle, was, wenn einmal im Volke der Geist einer neuen Zeit erwacht sei, sich nicht länger zurückweisen lassen würde. Er war Zeuge davon gewesen, wie tief sich der König ergriffen fühlte, wie er durchdrungen war von der Liebe zum Volke, wie sein unter fremden Einflüssen umnachtet gewesener Geist nach und nach die Forderungen einer neuen erwachenden Zeit erkannte und wie er nur noch unter den früher erwähnten hemmenden Einflüssen zögerte, Alles zu gewähren, was man wünschte. Herr von Hochherz suchte daher die Beweise zu sammeln über die Excesse der Soldaten. Er begab sich am folgenden Tage, dem 15., an der Spitze der Bürger, welche die Brüderstraße bewohnten, zu dem daselbst wohnenden Justizrath Bergling. Dieser vernahm an vierzig Zeugen zu Protokoll, welches dieselben auch unterschrieben, und so wurden die entsetzlichsten Ausschreitungen der Soldaten hinreichend bewiesen festgestellt.

Mit dieser Schrift begab sich eine Deputation in die Stadtverordnetenversammlung und führte dort die Beschwerde der Bürger. Die Versammlung beschloß auch, sogleich eine Deputation an den Gouverneur, den Oberbürgermeister und den Minister des Innern abzusenden, um die Staatsregierung zu ersuchen: 1) das Einschreiten des Militairs möglichst ganz zu verbieten, oder 2) wenn dieses nicht thunlich sein sollte, dem Militair doch wenigstens die möglichste Schonung zur Pflicht zu machen.

Die Militairbehörden erklärten darauf, daß sie die Schuldigen zur Untersuchung ziehen und nachdrücklich bestrafen lassen würden.

Schon waren wieder Tausende auf dem Schloßplatze versammelt, welche die Rückkehr der Deputation erwarteten, aber wenig befriedigt waren von dem Bescheid, den diese brachte. Denn nur zu oft schon waren solche Verheißungen, die Excesse der Soldaten zu bestrafen, unerfüllt geblieben.

Nachmittags und gegen Abend, wo beruhigende Placate noch auf die Volksstimmung einwirken konnten, blieb Alles, mit Ausnahme einiger Insulten höherer Offiziere, ziemlich ruhig.

Ja noch mehr; man hatte erkannt, daß, um den Rückzug des Militairs verlangen zu können, die Bürgerschaft selbst es übernehmen mußte, die Besitzlosen und Pöbelhaufen zur Ruhe und Ordnung zu bringen. Und so hatte sich denn für diesen Zweck eine unbewaffnete Schutzmannschaft gebildet, welche sich durch weiße Armbinden mit der Inschrift: »Schutzverein« erkenntlich machte.

Allein es zeigte sich bald, daß diese aus den achtbarsten Bewohnern Berlins zusammengeschaarten Männer, sich, da sie unbewaffnet waren, unter der rohen wildbewegten Menge wenig Ansehen zu verschaffen wußten.

Und so kam es denn wieder zu furchtbaren Excessen, die noch schlimmer waren, als die des vergangenen Abends; denn zum ersten Mal machten am 15. Abends die Soldaten von ihren Schußwaffen einen schrecklichen Gebrauch.

Die Commandantur hatte auf Vorstellung des Magistrats verheißen, daß, wenn die Schutzmannschaft der Bürger selbst für die Ruhe der Stadt Sorge tragen könnte und wollte, dann das Militair nicht einschreiten solle. Diese Zusicherung war Nachmittags und gegen Abend durch Anschlag und Vorlesung von Placaten verkündet worden und das blieb nicht ohne günstige Wirkung. Dennoch sah man, wie die Durchgänge durch das Schloß von starken Militairdetachements besetzt und gesperrt blieben. Man erfuhr bald, daß bedeutende Militairabtheilungen die innern Schloßhöfe füllten.

Nur Vertrauen erweckt Vertrauen, aber Mißtrauen erweckt Mißtrauen und Erbitterung. Das Volk sammelte sich vor den Portalen, und die Haufen wurden von Minute zu Minute größer und drohender. Schon machte sich die Menge durch spöttische Hurrahs, Pfeifen und Hohngeschrei Luft.

Da rückten die erwähnten Schutzmänner mit ihren weiß und schwarzen Binden heran, und suchten die tobende Menge in Güte zum Auseinandergehen zu bewegen.

Einer der Thätigsten dieses Schutzvereins war der Landschaftsrath, Freiherr von Hochherz; dessen imponirende Persönlichkeit und eindringende Rede noch am meisten Erfolge zu gewinnen schien. Da fühlte er plötzlich, wie ihm die Binde vom Arm losgerissen wurde; ein Mann mit einem großen vollen Barte hielt sie hoch und rief spottend im Volksdialekt: »Seh da, Schutzmännecken, nu hab' ick Dir entwaffnet, nu bist du mein Gefangener und kannst hier mit den schönsten Backpfeifen tractirt werden, wenn Du Dir nicht augenblicklich verziehst.« »Sie, Graf Banco?« rief der Landschaftsrath mit Entrüstung, »ha, bei Gott, ich erstaune gar nicht, Sie hier als Führer dieses Pöbels zu finden; denn längst schon haben Sie sich gemein genug gemacht, um des Adels- und Offizierranges unwürdig geworden zu sein.«

»Schlagt ihn todt!« rief Banco, »er ist ein Aristokrat, ein Volksfeind, der Euch Pöbel genannt hat.«

Und damit hob er seine Hand und versuchte seinem höher und stärker gewachsenen Gegner einen Faustschlag ins Gesicht zu geben. Dieser aber packte die Faust seines Feindes im Augenblick des Zuschlagens, griff ihn mit der andern Hand in den vollen dichten Bart und riß ihn dabei mit einem Ruck zu Boden. Dann trat er mit dem Fuß ihm auf den Nacken und fragte mit imponirender Haltung die ihn drohend umgebende Menge: »Wer von Euch hat Lust, diesem Schurken unter meinen Füßen Gesellschaft zu leisten. Ich heiße Hochherz und habe es bewiesen, daß ich es gut mit dem Volke meine, denn ich habe daran gearbeitet, zu verhindern, daß nicht wieder wie gestern Abend Bewaffnete auf Euch einstürmen, dieser aber da unten ist der bekannte erzliederliche Graf Banco, der sich selbst und Euch belogen hat, indem er mich Euern Feind nennt. Auf denn, meine Freunde und Brüder, laßt uns Frieden machen; dieser getretene Wurm da unten ist nicht werth, daß ein rechtlicher Mann nur die Faust gegen ihn hebe, laßt ihn laufen, seine eigene Schlechtigkeit hat ihn gerichtet.« Diese energischen Worte und die rasche kräftige Handlung des Landschaftsraths hatte auf die Menge imponirt. Mehrere kannten ihn als Volksfreund und Wohlthäter der Armen und nahmen seine Partei im Volke; aber während er sich abwendete, sprang Graf Banco von der Erde auf und mit zerzausetem Bart und schmuziger, zerrissener Kleidung haranguirte er die Menge. Unter so vielen hunderten erhitzten Gemüthern aus der untersten Volksklasse wurde es ihm leicht, sich wieder Anhang zu verschaffen; schon hörte man aufs Neue von herandrängenden Männern aus dem Pöbel das Mordgeschrei: »Nieder mit dem Aristokraten, Tod dem vornehmen Royalisten!« und kräftige Fäuste sah man gegen ihn geschwungen sich erheben; da sollte ein Umstand ihn retten, der tausend Andere zum Verderben gereichte.

Plötzlich brachen aus den verschiedenen Schloßportalen imposante Massen von Infanterie und unter dem Trommelschlag des Generalmarsches hervor, und entwickelten sich nach allen Seiten hin in Schlachtordnung. Mit gefälltem Bajonnet drangen sie dann vor und säuberten im Schritt vorgehend, den ganzen Schloßplatz von der schreienden und tobenden Volksmenge.

Diese aber zog sich in die angrenzenden Straßen zurück. Graf Banco schrie: »Barricaden bauen!«

Es wurden einige schwache Versuche dazu gemacht, indem man die Brückenbohlen vor den Häusern ausriß und damit die Straßen zu sperren suchte. Aber die unbewaffnete Menge konnte sie nicht vertheidigen, und die ihr auf dem Fuße folgenden Militairabtheilungen verhinderten die Vollendung der Barricaden.

»Die Brücken aufziehen!« schrie Graf Banco weiter, indem er unter den Fliehenden einer der Ersten war; aber am Tage hatte schon die Behörde, solche Excesse voraussehend, durch Sachverständige die Züge der Spreebrücken so befestigen lassen, daß der Versuch von Seiten der tobenden Menge, sie aufzuziehen, mißlingen mußte.

Nur die Junkernbrücke aufzuziehen, war gelungen. Das Volk stand haufenweise dahinter und höhnte die Soldaten durch Pfeifen und Schimpfen. Da machte das Militair von seiner Schußwaffe Gebrauch. Schüsse krachten und jenseits der Brücke fielen mehrere Menschen. Das Wuth- und Nothgeschrei der Wehrlosen war markerschütternd, aber mit schrillendem Pfeifen, meistens von Gassenbuben und sogenannten Bummlern, untermischt. Selbst Steinwürfe auf das Militair fielen aus dem dichten Volkshaufen. Von beiden Seiten war die Wuth aufs Höchste gereizt.

In andern Stadttheilen, wohin der Landschaftsrath jetzt eilte, um wo möglich überall Augenzeuge der Ereignisse zu sein, hatte der Aufstand einen noch ernstern Charakter angenommen. Die Erbitterung der aufs Höchste gereizten Soldaten machte sich an mehrern Stellen durch scharfe Bajonnetangriffe und selbst durch Schüsse ohne Commando Luft. So wurde in der Spreegasse ein fliehender Mann ganz aus der Nähe von hinten erschossen, indem die Kugel in den Rücken eindrang und vorn wieder herausging.

Die militairische Verfolgung einzelner fliehender Volkshaufen erstreckte sich dann weiter bis tief in die Stadttheile, zwischen den Spreearm, welcher der Werder und Köln genannt wird, hinein.

Auf dem Gensdarmmarkt erblickte Hochherz mehrere Cavallerieregimenter, welche nach verschiedenen Richtungen aus ihre Schwadronen entsandten, um den Platz und die Straßen von den dort auf- und niederwogenden, pfeifenden und schreienden Menschenhaufen zu säubern.

Dieser Anmarsch der Cavalleriedetachements geschah oft so unerwartet und schnell, daß mehrere Menschen niedergeritten wurden.

Dieses Geschick traf auch unter Andern einen schlanken hochgewachsenen jungen Mann in schwarzem Sackpalletot, der erst einen schwachen Bart hatte und eine Brille und eine sogenannte kleine Studentenmütze trug. Seine Aufmerksamkeit war nach einer andern Gegend hingerichtet und so überhörte er bei dem ungeheuren Geräusch einer tobenden Volksmenge das rasche Heranrücken einer Cavalleriepatrouille, bis ihn der Anstoß eines Pferdes zu Boden warf. Zum Glück war es das Pferd des auf dem rechten Flügel der Colonne reitenden Dragoners; dennoch würde der junge Mensch unter den Eisenhufen der nachrückenden Reiterei zerstampft worden sein, wäre nicht ein großer starker Mann herbeigesprungen und hätte mit der einen Hand das Pferd des Reiters, welches den jungen Mann niedergeworfen hatte, am Zügel zurückgerissen und mit der andern Hand den Niedergeworfenen emporgehoben, und mit einem Sprunge zur Seite geschafft und damit gerettet.

Aber der junge Mensch war bereits so beschädigt, daß er auf den einen Fuß nicht treten konnte. Sein Retter war daher genöthigt, ihm zur Stütze zu dienen. An das Fahren in einer Droschke war nicht zu denken, da diese Berliner Straßen-Equipagen, die den Dieb mit seinem Raube wie den Banquier mit seinen auf der Börse erschwindelten hundert Tausenden; das prostituirte Frauenzimmer, wie die fromme Tante, die zur Betstunde fährt, den Eckensteher, dem es zu beschwerlich wird ein ihm zum Tragen übergebenes Packet auf seinen eigenen Schultern und Füßen zu transportiren; wie den Baron der zur Oper fährt, aufnehmen, es heute nicht wagten, sich in den Gegenden des Aufruhrs sehen zu lassen, aus gerechter Besorgniß, einer Barricade als »breiteste Grundlage« dienen zu müssen.

»Aber wohin nun?« fragte der große starke Mann, als er den jungen Menschen aus dem dichtesten Gedränge mehr getragen als geführt hatte.

Dieser gab seine Wohnung an: »Brüderstraße 34 drei Treppen hoch.«

»Sehr gut, das paßt ja, da wohne ich auch, es ist mein Haus.«

»Mein gütiger Retter, Sie sind doch nicht?«

»Ja, mein Name ist Hochherz?«

»O mein Gott, Herr Landschaftsrath! welch ein glücklicher Zufall? wie viel Dank ist Ihnen meine Familie schuldig, meine Schwester und nun gar ich...?«

»Kein Wort davon! sonst lasse ich Sie hier liegen. Sie sind also Edmund Redlich? der Bruder, von dem Fräulein Emma mit so vieler Liebe sprach. Nun, es freut mich. Aber der Fuß ist doch nicht gebrochen?«

»Ich denke ja nicht, ich kann schon etwas auftreten.«

»Nun dann war es nur eine starke Contusion; so kommen Sie, stützen Sie sich nur ganz fest auf meinen Arm. Wir müssen sehen, daß wir durch die Roßstraße von obenher in die Brüderstraße dringen, denn der Schloßplatz wird noch gesperrt sein.«

So gingen sie weiter; auf nicht unbeträchtlichen Umwegen; das geschah nicht ohne Gefahr und Beschwerde.

In mehreren Gegenden hörten sie schießen. Selbst die tiefen Töne der Artillerie ließen sich vernehmen. Offenbar hatte sich durch das Zurückdrängen und Verfolgen der Volkshaufen von Seiten des Militairs der Tumult viel weiter ausgedehnt, als am vorigen Abend, namentlich war die volkreiche Königsstadt jetzt der Schauplatz eines noch so ungleichen Kampfes unbewaffneter, aber wüthender Volkshaufen gegen das so trefflich disciplinirte Heer, daß der Soldat schwur: »Und wenn der Vater oder der Bruder ihm gegenüberstehe, so würde er auf das Commandowort: Feuer! ihn niederschießen.«

Auf dem Döhnhofsplatz wurde von Arbeiterhaufen die Renzsche Kunstreiterbude niedergerissen, um das Material zu Barricaden zu verwenden. Solche Schutzwälle im Volkskriege erhoben sich in der Friedrichsstadt, namentlich eine sehr bedeutende in der Leipzigerstraße; die Steinwürfe gegen das Militair vermehrten sich; aber schon sah man aus den obern Fenstern und von den Dächern herab Steine und Glasflaschen auf die Soldatenpatrouillen werfen. Nach und nach hatten sich mehrere Tumultuanten bewaffnet. Die keine Kugeln hatten, schossen mit Glas und Steinchen, wodurch einige Soldaten getödtet, andere fast unheilbar verwundet wurden. Selbst Aexte wurden hineingeschleudert in die Militaircolonnen und richteten dort Verwundungen an.

Aber der Widerstand im Volke war noch keineswegs organisirt. Die Barricaden waren meistens unvertheidigt und die wenigen Vertheidiger derselben zogen sich zurück oder fielen unter den Trümmern ihrer aus mancherlei Geräth in der Eile zusammengestellten Wälle, wenn die Infanterie mit Gewehrsalven darauf feuerte. In der Sporergasse lagen wieder zwei Männer, die auf der Flucht erschossen waren. Mehrere Cavalleriepferde sollen bei dem Versuche, die Barricaden zu überspringen, den Hals gebrochen haben.

Es war ein schrecklicher Tumult. Jedes Herz erbebte; hinter jedem Fenster verschwanden die Lichter; alle Hausthüren blieben verschlossen. Der Ruf: »Thüren auf!« heulte mit den fliehenden Volkshaufen durch die Straßen, die Gaslaternen wurden zerschlagen; hier und da klirrte ein Steinwurf in eins der dunkeln Fenster. Das Volk jubelte! da und dort blitzte ein Schuß in der dunklen Höhe einer nicht erleuchteten Oberetage und unten verschwand einer der Helme mit den glänzenden Spitzen nach dem andern, unter dem entsetzlichen Bravoruf einer tobenden Menge.

Inmitten dieser chaotischen Bewegung, die den jungen Edmund so aufregte, daß er trotz seiner Schmerzen und Lähmung bald hier einen Waffenladen stürmen, bald da einen Barricadenbau leiten wollte, blieb der Landschaftsrath von Hochherz besonnen und kaltblütig, wie ein commandirender General. Mit großer Ruhe wußte er den exaltirten jungen Menschen zur Besonnenheit zurückzuführen und immer mit Umsicht den richtigen Ausweg aus den größten Gefahren und Verirrungen zu finden.

»Wozu ereifern Sie sich, junger Mann?« sprach er, »was denken Sie denn eigentlich zu erreichen durch den heutigen Widerstand der untersten Volkshaufen gegen das Militair? Sind Sie sich irgend eines politischen Zwecks dieser ganzen Volksbewegung bewußt, nun dann treten Sie an die Spitze der Bewegung, wenn Sie Beistand finden und, nach Vernichtung der Garde treten Sie hin vor den König und sprechen Sie: Das Volk hat seine Freiheit erkämpft; nun ist es an Ew. Majestät, entweder die Verheißungen von 1815 zu verwirklichen oder von dem Throne Ihrer Väter herabzusteigen. Ich frage Sie, würden Sie dafür in den aufgeregten Massen nur den geringsten Anklang finden? ich sage nein.«

»Aber das Militair, Söhne und Brüder des Volks, gegen welches es wüthet, überschreitet alle Grenzen der Mäßigung und Menschlichkeit. Es ist Vater- und Brudermord, den sie üben; diese blindgehorsamen Sclavenseelen, sie gehören nicht mehr zu einem freien Volke. Diese Verbrecher in der Pickelhaube sind vogelfrei und wer sie tödtet, sollte vom Staate eine Prämie erhalten. Hier ist Rache eine Ehrenpflicht. Erst nach Vernichtung dieser Schergen des Absolutismus wird es für das Volk eine Möglichkeit der Freiheit gehen.«

»Lieber junger Mann,« sprach der Landschaftsrath mit freundlicher Ruhe, die inmitten des ungeheuern Getümmels rings umher um so mehr Eindruck machte; »es ist schön, ein warmes Herz zu haben, möge es schwärmen in Liebe oder glühen im Haß; aber die Leidenschaften, zu welchen ein solches Gefühlsleben führt, auf die großen Fragen der Menschheit oder des Staats zu übertragen, wohin soll das führen? zu einem einseitigen und darum verkehrten Urtheil. Mit dem Herzen aber soll der Kopf niemals durchgehen; sonst wird Einseitiges und darum Verkehrtes geschaffen. Der Staat aber kann nie gedeihen, wo Leidenschaften das Urtheil in die Irre führen. Darum lassen Sie uns auch in dieser großen Angelegenheit eines furchtbar sich entzündenden Volkskampfes gegen die bewaffnete Macht des Staats die Stimme der ruhigen Ueberlegung und der gesunden Vernunft hören. Dieser unglückselige Zusammenstoß zwischen Volk und Soldatenkaste ist, wenn wir auf den tiefern Grund zurückgehen, eine der traurigen, aber unausbleiblichen Folgen unseres alten und veralteten Polizeistaats im unvermeidlichen Conflict mit dem erwachenden Freiheitsgefühl einer neuen Zeit. Ist das Volk sich auch dessen noch nicht deutlich bewußt, so liegt doch schon das daraus erwachte Selbstbewußtsein im Instinkt der gegen alle Bevormundung sich auflehnenden und sich mündig fühlenden Massen. Sehen Sie, mein lieber junger Freund, diese Verhältnisse richtig und vorurtheilsfrei an, so werden Sie die Soldaten nicht schelten, auch wenn sie ihnen nicht einmal das natürliche Menschenrecht zugestehen wollen, durch Hohn, Spott, Pfeifen und Steinwürfe auch ihrerseits in Wuth gesetzt zu sein. Das war ja eben früher eine Lebensbedingung des naturwidrigen Systems eines Polizeistaates, wie bis jetzt noch unser preußischer ist, daß unsere bedeutende Militairmacht, wenn auch aus dem Volke hervorgegangen, doch am Zügel der Disciplin zur willenlosen Maschine in der Hand ihrer Befehlshaber gemacht ist, während auf der andern Seite der Soldatenstand in möglichster Abgeschlossenheit vom Bürgerstande erhalten wurde. Wir dürfen nur einen Blick auf diese langen Linien der glänzenden Paraden unseres Gardecorps werfen, wie das eine Form, ein Tritt und ein Schritt ist, und die Idee, das sind Tausende von hölzernen Soldaten, die wie aus einem Guß hervorgegangen, bis auf das leiseste Zucken der Augenlider wie an einem Drahte gezogen werden, liegt nahe und drängt sich dem Beobachter unwillkürlich auf. Früher nannte man diese mit gewissenhafter Pedanterie bis auf den letzten Knopf getriebene Gleichförmigkeit, Gamaschendienst, heute ist es eine propere Parade. Die Sache bleibt sich gleich und die Folgen davon haben wir hier vor Augen. Von oben her ist am Draht gezogen und diese geschniegelten netten Soldatenpuppen schießen auf die Menschenmenge oder spießen sie auf ihre Bayonette, weil das Commandowort wie ein Drahtzug sie dazu nöthigt. – Halt, hier müssen wir erst wieder eine Barricade übersteigen.«

Nachdem dieses geschehen war, fuhr der Landschaftsrath fort:

»Eben deshalb aber kann nicht eher Ruhe und Frieden in die Stadt zurückkehren, als bis die Regierung dem besonneneren Theile des Bürgerstandes ganz und völlig vertraut, der Schutzmannschaft Waffen giebt, damit sie kräftig gegen den tumultuirenden Pöbel einschreiten könne; dann aber müßte vor allen Dingen das Militair in die Kasernen zurückgezogen oder noch besser ganz aus der Stadt verlegt werden. Halbes Vertrauen aber erweckt nur Mißtrauen und halbe Maßregeln bringen stets entgegengesetzte Erfolge, als man damit beabsichtigt hatte. Und wenn sich unsere Regierung durch die Geschichte dieser beiden letzten Abende nicht belehren läßt, daß hier dem Bürger selbst die Bewahrung der Sicherheit des Königs und der Stadt anvertraut werden muß, so wird vielleicht schon der nächste Abend beweisen, daß aus dem gedankenlosen Straßentumult eine tiefgreifende, in ihren Folgen nicht mehr aufzuhaltende Revolution entstanden sein wird.«

Mit diesem wahren Worte auf der Zunge schloß endlich der Landschaftsrath sein schönes Haus auf der Brüderstraße auf. Und da durch den anstrengenden Gang der unter den Huftritten gequetschte Fuß des jungen Mannes so heftig geschwollen war, daß derselbe mit aller Anstrengung nicht die elegant gewundene Treppe mit dem zierlich gedrechselten Geländer hinaufsteigen konnte, so nahm ihn der Landschaftsrath wie ein großes Kind auf den Arm und trug ihn ohne sichtbare Anstrengung hinauf. Aber vor dem Gitter setzte er ihn nieder, damit die Seinigen nicht einen allzugroßen Schrecken haben sollten und zog die Klingel.

Schon durch das Gitter hatte Emma ihn erkannt.

 

4.

»Vater, Mutter, unser Edmund ist wieder da!« das war der Ausruf der Freude, womit das junge Mädchen die Gitterthür öffnete. Und Edmund stürzte ihr im buchstäblichsten Sinne erst in die Arme; dann, als sie ihn nicht halten konnte, zu Füßen, und Vater und Mutter umschlangen ihn mit Ausrufungen und Thränen der Liebe.

Es war das erste Mal, daß sie ihn wiedersahen, denn als Edmund unter die Hufe der Dragoner gerathen, war er soeben auf der Eisenbahn von der Festungshaft zurückgekehrt.

Hochherz hätte sich gern aus Zartgefühl dieser Familienscene, welche überall das Allerheiligste der Herzen aufschloß, entzogen, wenn er nicht sogleich gefühlt hätte, wie nothwendig er hier in diesem Augenblicke noch war.

Er unterstützte daher den niedergesunkenen Sohn, der heftige Schmerzen hatte und trug ihn mehr, als er ihn führen konnte, in das Familienzimmer, indem er seine Angehörigen zu beruhigen suchte, daß ihm nichts fehle, als eine leichte Verstauchung des Fußes, die durch einige kalte Wasserumschläge bald beseitigt sein würde.

Der Landschaftsrath begnügte sich damit nicht, sondern legte den jungen Menschen auf das Sopha, schnitt ihm den Stiefel von seinem geschwollnen Fuße und machte ihm Umschläge von kaltem Wasser auf die allerdings bedeutenden Contusionen.

Dann ging er hinunter in seine Wohnung, um einen seiner Diener nach einem in der Nähe wohnenden Wundarzte zu schicken und zugleich in der Apotheke Kampher und Seifenspiritus zu holen.

Edmund hatte es indeß nicht länger über sich vermocht, sein lebhaftes Dankgefühl zu unterdrücken. Er erzählte das Ereigniß, wie es wirklich gewesen war, beschwor aber Vater, Mutter und Schwester, nicht zu verrathen, daß er ihnen dieses mitgetheilt habe; denn sein Retter habe ihm eine solche Verschwiegenheit anempfohlen und zur Pflicht gemacht, um, wie er sagte, seine Angehörigen nicht zu ängstigen.

Als aber Hochherz wieder in die Familie trat, fand er Aller Augen voll Thränen und strahlend in Dankgefühl und Liebe auf ihn gerichtet. Am meisten bewegt war Emma; sie ergriff seine Hand, drückte sie zwischen den ihrigen und dann, ehe er es hindern konnte, an ihre Lippen.

Sie hatte in der tiefsten Bewegung ihres Gemüths keine Worte als: »Edler Mann! o Sie edler Mann!«

Und er erkannte an den nun unaufhaltsam überströmenden Reden ihrer Mutter, daß er verrathen war.

Mit einer leichten Wendung suchte er den Ausdruck der Dankbarkeit von sich zu weisen, aber Emma's Handdruck, ihr Handkuß und die Seele voll Innigkeit und Dankgefühl in ihrem Auge, hatte ihn überwältigt. Das war dem Manne, der schon manche theuer erkaufte Erfahrung in seinem bewegten Leben gemacht hatte, dennoch ein ihm ganz fremd vorkommendes Gefühl. Er hätte über sich selbst lächeln mögen, wenn er sich dachte, ein solches Mädchen konntest Du lieben und, wäre es nicht überhaupt Thorheit, Dich jetzt noch in den vierziger Jahren und noch dazu in so bewegter Zeit zu vermählen, als Gattin Dir wünschen?

Der Landschaftsrath kämpfte diese Empfindung nieder. Er blieb bis nach Mitternacht bei der Familie und erwies sich ihr als wahrer Freund, doch mehr nicht.

Erst nachdem der Chirurg die Beschädigung für unbedeutend erklärt hatte, zog er sich zurück, indem er der Familie, besonders aber Emma, deren Hand er noch eine Zeitlang in der seinigen hielt, freundlich eine Gute Nacht wünschte.

 

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