Karl Gutzkow
Unter dem schwarzen Bären
Karl Gutzkow

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Bücher und Volkstypen

Das fünfte und sechste der Bücher, die dem Knaben von Bedeutung werden sollten, waren Goethes Faust und der Don Quichotte.

Daß sich der erstere in die bescheidenste Welt verlieren konnte, war wie ein Wunder. Bei einem Spielkameraden, der in demselben Turmpavillon der Akademie wohnte, dem Sohn eines Dienstangehörigen des Königs, fand sich ein nie wieder so kostbar gesehenes, rundum in hellgelbes feinstes Leder gebundenes, auf stärkstem Velinpapier gedrucktes Exemplar des Faust, eine Prachtausgabe. Wie, mußte der Erzähler sich später sagen, wenn dieser Faust Sr. Majestät dem König selbst gehört hatte? Das kostbare Buch war vielleicht in einem der königlichen Wagen liegengeblieben und hatte keinen Herrn gefunden. Friedrich Wilhelm III. machte sich wenig aus Goethe. Magnus hieß des Königs Rosselenker, bei welchem der Knabe diesen Faust vorgefunden.

Natürlich zwingt die Wahrheit sogleich zu dem Geständnis, daß dem Kinde das einzig Gefällige und Verständliche darin die Hexenküche war. Und auch in ihr sah man nur die Töpfe und Kessel, den Blasebalg, den Rührlöffel und die Meerkatzen. Und diese Meerkatzen interessierten um so mehr, als eine Treppe höher, fast unterm Dache, noch ein andrer unmittelbarer Dienstmann der Hohenzollern wohnte, der seinerseits Meerkatz hieß. Was sich in einem Kindskopfe aus so zusammentreffenden Umständen für ein logisches Ungeheuer bildet, ist nicht wiederzugeben. Ein Kind verknüpft das Fremdartigste mit einem Parallelismus, der selbst in späteren Jahren immer an derselben Stelle wieder auftaucht und bei gewissen Vorstellungen immer wieder dieselben Unzusammengehörigkeiten vor dem Auge tanzen läßt, wie z. B. daß der Knabe den bekannten preußischen Königsnamenzug Friedrich Wilhelm Rex, in drei verschlungenen Buchstaben dargestellt, nur mit einem vielgenannten Berliner Schullehrer und Kantor namens Rex in Verbindung bringen konnte, und noch ehe er etwas von dem schwäbischen Ursprung der Hohenzollern erfuhr, sich in demokratischer Vorahnung bei den Königen doch einen ursprünglichen Familiennamen als notwendig dachte und dabei nicht übel Lust verspürte, den Kantor Rex für einen irgendwie anzuerkennenden Seitenverwandten der majestätischen Herrschaften zu nehmen, die sonderbarerweise alle nur nach ihrem Vor- und nicht nach ihrem eigentlichen Familiennamen Rex gerufen wurden . . . Und kehren nicht noch im Alter, wo doch diese Irrtümer amputiert sind, wie in Gliedmaßen, die man nicht mehr besitzt, solche tollen Empfindungen wieder, falls der korrelate Nerv der Seele berührt wird? Haben nicht unsere Träume noch bis zu jenem letzten, aus welchem wir nicht wieder erwachen, ihre eigne, immer und immer mit gleichen Bedingungen wiederkehrende Topographie, dieselben nicht existierenden Straßen, dieselben Plätze, Gärten, und kann man sich der regelmäßigen Wiederkehr einer und derselben Traumvorstellung erwehren, z. B. der, daß man noch einst ein großes Examen zu bestehen hätte? Diese Traum- und Kinderlogik brauchte lange, bis sich der alte hüstelnde Meerkatz in der Dachstube mit den sprechenden Meerkatzen des Faust auseinanderfand. Die Tiere, die mit Kronen spielten wie mit Glasscherben, die den Brei am Feuer rührten und zuletzt von einer durch den Schornstein fahrenden Hexe für ihr Überlaufenlassen der Töpfe gezüchtigt wurden, traten mit der Zeit unabhängig von dem Leibkutscher Meerkatz und in solcher Lebendigkeit vor die Augen, daß nach Anschauung regelmäßiger Puppenspiele (in der Mittelstraße »Theater von Freudenberg« genannt) mit Goethes Faust eine dramatische Darstellung versucht wurde. Ein Stuhl, ein Fußschemel, ein paar Fensterkissen bildeten das Theater, und anderweit eroberte Figuren, die an sich Ritter oder Neufchâteller Jäger darstellten, bedeuteten Meerkatzen und Hexen. Die Auslegung macht, und nicht bloß beim Kinde, das wahre Sein. Hier wenigstens war Glaube absolutes Wissen. So viel Vollendung der dargestellten Hexenküche, die dem jungen Dramaturgen als vollkommen erreicht vorschwebte, hat spätere Bühnenanschauung im Opernhause nicht wiedergegeben. Die an sich vergebliche Mühewaltung der wirklichen Reproduktion verschwand gegen das Ideal einer Inszenierung, das so gut wie die Wirklichkeit selbst war. Wie sich die mit Kattunschürzen verhangenen Stühle vor dem Auge zu mächtigen Rundbogen wölbten! Wie die Küche so schwarzberußt wirklich gesehen wurde! Wie diese den Neufchâteller Jägern substituierten Meerkatzen sich balgten und mit dem Besen stäupten, weil »die Frau« nicht zu Hause war! Und dann jener Brei, den sie rührten, diese bekannten breiten »Bettelsuppen«, die die Kinder nur auf Mehlbrei, nicht gerade ihr Leibgericht, beziehen konnten. Jetzt läuft der Kessel über, die Hexe, vom Schornstein herabfahrend, verbrennt sich und schreit: »Au, au, au! Verdammtes Tier, verfluchte –!« Jetzt kam ein zynischer Reim. Gerade dieser wurde angestaunt und bewundert in der Möglichkeit, gedruckt zu werden und ordentlich in Büchern zu stehen. Sei es nur gestanden, diese Stelle wurde als die klassischste in allen Tonarten, Dur, Moll, in Grunz- und Fisteltönen nachmoduliert. Sie war die sprechendste Anmutung an die trunkene Freude, so schauderhaft Natürliches, so rein der eigenen unmittelbarsten Gegenwart und dem Selbsterlebnis nur zu oft Angehöriges gedruckt zu lesen! Dann aber kam das Hexeneinmaleins, das dem Schuleinmaleins so nahe stand und dabei wie die tiefste Ahnung einer Einleitung zur Metaphysik klang und wirklich schon feierlich, ja mit einem gewissen Respekte vorgetragen wurde. Konnte man doch nicht wissen, ob nicht hinter dieser Hexenweisheit etwas steckte. Schließlich erwarb sich noch der Prolog der Dichtung, der Herr unter den himmlischen Heerscharen, ein besonderes Interesse. Das Drama selbst, wo Mephistopheles dem Kinde lange nicht bockfüßig und hörnermäßig genug auftrat, mundete nicht. Aber »der Himmel schließt, die Erzengel verteilen sich« . . . das klang selig und weckte golden-sonnige Bilder. Dies Vorspiel war eine der Phantasien, in deren lichtreine Sphären aus der Hexenküche man sich ebenso flüchtete, wie der Knabe selbst sich zuweilen ins Vordergebäude des Akademiequadrates schlich, wenn ihm sein Gespiele, der Sohn des Kastellans, eine geheime Tür öffnete und er sich zu einer Stunde, wo nur Maler, Kunsteingeweihte die Ausstellung der Gemälde besuchten, bei dieser goldrahmigen bunten Farbenpracht einstehlen durfte, unter diese heilenden und lehrenden Jünger, diese Christuswunder, die Abrahamsopfer und kanaanitischen Brunnengrüße des damaligen beginnenden Düsseldorfer Geschmacks.

Die allmähliche Erlösung von dem Druck einer dumpfen überreligiösen Stimmung förderte auch eine alte zerrissene Übersetzung des Don Quichotte, die dem Oheim gehörte, der in der nächsten Umgebung des Prinzen lebte. Die Schwänke des sinnreichen Junkers von La Mancha wurden abends von der »Cousine« und dem »Cousin« vorgelesen, noch öfter vom heitern und von christlicher Selbstquälerei weit entfernt gebliebenen Onkel unter Lachen wiedererzählt. Das Barbierbecken als Helm, die Windmühlen als berittene Feinde, eine Bauernmagd als Prinzessin und Sancho Pansa, der ebensogut ein Bauernlümmel aus Pommern oder der Uckermark hätte sein können, als Knappe, das waren Späße, die zwar nicht so greifbar auf der Hand lagen wie die Hexenküche und die Meerkatzen im Faust, im Gegenteil Späße, die schon Sinn für Kontrast, Ironie und Satire erforderten, aber bei allem Kopfschütteln und starrem Gaffen eines im Grunde nur für sublimere Dinge empfänglichen Gemüts verfehlten die Anpreisungen des Buches ihre Wirkung nicht, und voll Emsigkeit wurde der Don Quichotte nicht ein-, sondern mehrmal durchgelesen. Der Vater verlegte dabei die Szene nach Pommern. Diese Amtleute, Wirte, Fuhrmannsausspannungen, diese Windmühlen, bebrillten Pastoren, steifen und nasehochtragenden Gutsherrschaften, alle spanischen Figuren des Cervantes fanden sich ja ebensogut auch in dem Andalusien Preußens, und wieviel wirkliche Don Quichottes noch jetzt in Pommerns löblicher Ritterschaft anzutreffen sind, beweist ja die Geschichte des Tages.

Die Zahl der gelesenen Bücher mehrte sich von Tag zu Tage. Sie zogen das Gemüt nach zwei Richtungen hin, nach dem Märchenlande der Poesie und nach der Welt der geschichtlichen Taten und mutigen Unternehmungen. Das einfache Wissen von tot aufzuspeichernden Fakten schmeichelt sich dem Gedächtnis des Kindes nicht ein. Zwischen die wundertätigen Feen, die Siebenmeilenstiefel des kleinen Däumlings und die Wilmsenschen Heldensäle, Bardenhaine und die Abenteuer Robinson Crusoes drängte sich dann allmählich noch eine dritte Gattung ein, man möchte sie die pädagogische Romanwelt nennen. Es waren die ländlichen Idyllen, die Pfarrersbesuche in Friedheim, die Familienabenteuer einer Reise des Amtmanns Gutmann und seiner Kinder, Campes durch glückliche Zufälle eroberte Jugendbibliothek. Letztere bot noch den reizendsten Genuß durch seine dramatisierten Familiengeschichten. Der bei Campe auftretende arme Thüringer Bergmannsknabe, der mit seinem ländlichen Dialekt und seiner Kunstfertigkeit auf der Geige sich die Freundschaft und Liebe eines vornehmen Hauses erwirbt und seinen ihm dargereichten Teller mit Kuchen und Wein erst nach einem Dank an Gott in die Hand nimmt, wird jedes gutgeartete Kind rühren. Und bald wird sich dann auch zeigen, wohin sich die junge Seelenschwinge vorzugsweise getragen fühlt. Zu Aladins Wunderlampe und den verschlossenen Bergen, die auf des Zauberers Geheiß sich öffnen, zum Tischlein deck' dich – oder zu den Taten Hermanns des Cheruskers, den Siegen der Deutschen über die Hunnen, der Heldenbahn Luthers, dem Tode Gustav Adolfs und dem rührenden Ende Theodor Körners? Oder in der Tat zu dem kleinen Bergmannsknaben, dessen naive Treuherzigkeit dialektisch auf einem später eroberten Anteil an einem Theater nach Kräften bis zur nie ausbleibenden Selbstrührung wiedergegeben wurde –? Die pädagogische Unterhaltungsliteratur des Tages tastet hin und her und bringt uns in jeder Weihnachtszeit neue Experimente mit dem Kindergemüt. Immer mehr aber greift die Sucht um sich, mit der Kost für Kinder weit mehr die Alten zu sättigen. Die Neigung der Großen, sich zuweilen von ihren Mühen auszuspannen und zum Scherz ein wenig kindisch zu werden, verwechselt sich nur zu oft mit dem Unterhaltungsbedürfnis des Kindes, dem allerdings auch das Läppische, bunt gemalt, gefällt, wie alles, was ihm – geschenkt wird, aber die Nachwirkung auf die Seele wird die leerste, die flachste. Das Kind bedarf Tatsachen, und diese Tatsachen will es nicht tot und nur aufgespeichert, sondern in Bewegung gesetzt sehen durch irgendeine Handlung, ein Lebensschicksal. Das Märchen sei ohne Ironie, ohne zu weit ausgesponnene Zwecklosigkeit und romantische Träumerei, es lehre den Glauben an gute und böse Kräfte des Lebens, schildre große gewaltige Elementarwirkungen und die Ausgleichung durch eine ewige Gerechtigkeit. Die Literatur für Kinder schildre Männer, die Einziges wollten und Großes zu dulden verstanden, Helden des Geistes, die sich von unten herauf durch tausend Hindernisse emporarbeiteten, Forscher, die wie Kolumbus keine Gefahr scheuten, ihr gläubigstes Ahnen zu verwirklichen! Das Familiengenre endlich hüte sich vor Nachahmung fremder Erziehungstöne, wie sie besonders jetzt aus Frankreich herüberklingen! Diese geleckten gemalten Berliner Lithographien mit den nach dem Pariser Modejournal geputzten jungen Herrchen und Dämchen, mit Knaben in Samtgilets und Spitzenmanschetten, in englischen Lovelymützen und eng am Halse schließenden gebrannten Spitzenkrausen sind eine Vervornehmung der alten gemütlichen bürgerlichen Jugendromantik Campes, Löhrs und anderer Schriftsteller, die zur deutschen Kinderwelt vielleicht etwas philisterhaft, aber in der einmal vorausgesetzten herrschenden deutschen Art und Sitte geredet haben. Ob die »Münchner Bilderbogen« mit ihren Karikaturen gut auf die Kinder wirken, mögen Pädagogen entscheiden.

Die Freuden der Natur und die alten Kriegserinnerungen waren es, die gegen eine allzu düstre, gefährlich drohende Bigotterie auch im Hause selbst zuweilen fröhlichen Einspruch taten. Selbst der apokalyptische Vetter konnte dem Reiz einer Sonntagswanderung nach dem Dorfe Lichtenberg nicht widerstehen. Kornblumen und Lichtenberg waren dem Knaben ein und derselbe Begriff. Man möchte in der Tat an die Lehre von einer sich materiell abdrückenden Einsammlung der geistigen Erfahrungen glauben. Denn bei jeder Kornblume wird noch dem Manne Lichtenberg, wie bei jeder Heuschrecke, die in den Herbststoppeln singt, Tempelhof bei Berlin einfallen. Eine Wanderung nach Lichtenberg begann um die Mittagszeit und zog sich durch die entferntesten Stadtteile. Unterwegs stieß zur frohbewegten Karawane dieser oder jener Verwandte: der Vetter Christian, der inzwischen aus seinem Lederwams schon einen Buckel nach dem andern hatte auftrennen müssen und freud- und leidvoll eine höchst sonderbare Heirat geschlossen hatte, die im Zusammenhange mit dem ihm tief tragischen Weh, daß die Filzhutmacherei von den Seidenfelbelhüten, das zünftige, gründlich erlernte Handwerk von Seidenhutnähterinnen und Papparbeitern verdrängt wurde, durch eigentümliche Umstände den Stoff zu einer städtischen Dorfgeschichte abgeben könnte; der Vetter Wilhelm, der heute schon zwei Kirchen und die Rechtgläubigkeit ihrer Kanzeln geprüft hatte. Vorüber ging es dann regelmäßig an einem Erdgeschoß in den (damaligen!) Vorstädten, in dem eine andre unheimliche Jugenderinnerung, etwas Seltsames aus der Sphäre des schönen Geschlechts, hauste. Es war die gespenstersehende sogenannte »Zichorienliese«.

Diese lange, hagere Frau hatte noch einen imposanteren Wuchs als die Heilkünstlerin am Dom. Sie war knochig, mager, spitznasig, langfingrig, von Habichtaugen, scharfredend und dabei stocktaub. Nicht unbemittelt, wollte sie durch einen Handel mit Zichorien, den sie in einem Kreise von regelmäßigen Abnehmern mit Hilfe einer sie begleitenden Dolmetscherin, die ihr den Korb tragen mußte, trieb, sich nur zerstreuen und unterhalten. Diese Zichorienliese schritt wie eine Königin so stolz, schnupfte wie ein Minister und beschäftigte sich nur mit den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens, mit der großen europäischen Politik und mit den Gespenstern. Die Zichorienliese konnte in der Tat die Göttin des Jahrhunderts vorstellen; denn stocktaub und lautkreischend hielt sie fast immer eine großmächtige Messingtrompete wie Frau Fama in der Hand. Diese Trompete setzte sie nicht an den Mund, sondern ans Ohr. Es war eine Schalltrompete, durch welche sie ihre Taubheit mit einer Welt vermittelte, deren sichtbare und unsichtbare Dinge ihr leidenschaftlichstes Interesse erregten. Die Zichorienliese kam nicht zu oft zu den Eltern des Knaben, denn ihr Handelsartikel diente diesen nur zur »angenehmeren Färbung« des Kaffees und zur Herstellung jenes pikanten Geruches, der der gebrannten radix cichorea selbst von halben Türken im Mokkagenuß nicht abgesprochen werden kann. Sooft sie aber kam, war es ein wirkungsvolles Ereignis. Ihre dienende Famula bewachte den verdeckten Korb, sie selbst schritt stolz voran, setzte sich feierlich und begann, wenn sie eine Prise zur Nase und dann die Trompete zum Ohr genommen hatte, regelmäßig eine Konversation über die höchsten Interessen der Menschheit. Entweder war es »Boneparte«, über dessen Pläne auf »St. Helêna« sie die genauesten Mitteilungen besaß, oder sie hatte, als gebornes Sonntagskind, wieder Geister gesehen. Die Politik und die Geister waren ihr Steckenpferd. Sie näselte im Sprechen, sprach aber so stark, daß es fast dasselbe Schreien war, womit in die Trompete die Fragen oder Antworten gerufen werden mußten. Die Erhebung der Griechen erfüllte die Zichorienliese mit einem Interesse, das im Widerspruch mit ihrem eigenen stand; denn ihr Handel mit Kaffeesurrogaten hätte sich eigentlich wenig aus den Vorgängen in der Levante machen sollen. Aber ihre Phantasie sah nur türkische Kriegsschiffe unter Brandern in die Luft springen und griechische Kinderköpfe, von den Türken zu Tausenden abgesäbelt. Es schien ihr unwiderleglich, daß »Boneparte« jetzt ebenso die Griechen gegen die Türken kommandierte, wie derselbe späterhin bei Varna und Schumla die Türken gegen die Russen kommandierte. Die Zichorienliese lachte laut auf, wenn einer behauptete, die Engländer würden den »Boneparte« schon auf »St. Helêna« festhalten. »Na den?« hieß es. »Sie haben ja eenen janz falschen –!« Sie sprach von den Kongressen in Karlsbad und Verona, vom Fürsten Hardenberg und, auf innere Angelegenheiten übergehend, von der Erhöhung der Mietsabgaben mit derselben Gewißheit, wie sie regelmäßig unter einem seufzend abwehrenden »Ach lieber Gott!« der Mutter auf ein Hereinragen der Geisterwelt in die unsrige so ruhig und glaubensfest überging, daß Justinus Kerner seine Freude daran gehabt hätte. Die Zichorienliese bewohnte in der »Kurzen Straße« eine anständig eingerichtete Kellerwohnung, von welcher sie behauptete, es »spükte« in ihr. Es war seltsam, daß sie bei ihrer Stocktaubheit deutlich die Geister hören konnte, auch ohne ihre Trompete. Mit überzeugungstreuer Sicherheit erzählte sie, daß es erst vorgestern wieder in der Nacht, wo sie nicht hätte schlafen können, ganz vernehmlich hinter, in oder an der Wand gerufen hätte: »Wilhelm! Wilhelm! Ach Wilhelm!« Sie erzählte, daß sie zwar gegen das »Spüken« ein Bannungskraut, die »Spieke«, in ihre Betten versteckte, da sie aber ein Sonntagskind wäre, hülfe es nichts. Es kämen ihr die Gesichter wie über den Weg. Wenn sie allein säße und sich nur umdrehte, so könnte sie Köpfe mit langen Bärten sehen, die sie um Erlösung anbettelten. Ohne alle Eschenmayersche Metaphysik, rein durch Erfahrung, ging sie von der Idee des Zwischenreiches aus, in welchem eine Menge von Seelen haltlos umherirrten und ihre Erlösungsstunde und bis dahin auf Erden irgendeine passende Unterkunft suchen sollten. Längst verstorbene Verwandte nicht nur, sondern auch noch lebende, nur nicht gerade anwesende, sah die Zichorienliese unter ihrem Kachelofen sitzen, andere beim Aufblicken vom Studium der Vossischen Zeitung »justement in die Kammer« hineingegangen. Die Geisterseherin schritt nach ihrer Erzählung gewöhnlich auf die Erscheinungen herzhaft zu und verjagte sie so. Es stand ihr fest, daß die Seelen der Toten die unglaublichste Unruhe hätten und sich um jeden Preis in dieser Welt wieder zu schaffen machen möchten. Auch könnte man überzeugt sein, daß so viele geheime Schätze in der Erde vergraben lägen, so viele Verbrechen unentdeckt geblieben, daß es schon um deswillen keinen Menschen wundernehmen könnte, wenn es des Nachts an den Wänden raschelte und mit herzzerreißendem Jammer riefe: »Wilhelm, Wilhelm, ach Wilhelm!« Man müßte nur das Ohr dafür haben. Unser Apokalyptiker, der ja auch Wilhelm hieß, traf, wenn er »arbeitslos« war, oft mit der geistersehenden Zichorienliese zusammen. Dann entspannen sich die schauerlichsten Gespräche über das dunkle Diesseits und das allerklarste Jenseits. Beide hatten die gleiche Neigung für Politik, »Boneparte«, die Griechen, die Türken, den Papst und die Mietsabgaben, aber in ihren Prinzipien wichen sie voneinander ab. Die Zichorienliese war durchaus weltlich und beinahe heidnisch. Der Apokalyptiker ließ die Geister nur unter gewissen Umständen gelten – kannte er doch Swedenborg und sprach mit Ehrfurcht von dem alten Schweden. Er verlangte eine religiöse Färbung des Geisterglaubens, unterschied Selbsttäuschung und Offenbarung. Vetter Wilhelm erklärte, es gehörte zum Geistersehen mehr als nur Taubheit oder ein Geburtstag am Sonntage oder der narkotisch betäubende Duft der gebrannten Zichorie; es gehörte ein reines Herz dazu und gottseliger Wandel und Gottes besondere Geneigtheit und spezielle Vorliebe für irgendeinen zum Geistersehen auserwählten Menschen. Ihm war das Geistersehen Gottesgnade. Die Zichorienliese pflegte solche Einwendungen im schnarrendsten Schreiton abzuweisen und blieb bei ihren Visionen, die ihr auch ohne Kirchenbesuch und Bibel kämen, je mehr sie »Spieke« legte. Die »Spieke« und das »Spüken« blieben dem Knaben seitdem wieder und das in solchem Grade eines, daß ihm noch in allen Stunden, wo ihm ein Gartenbeet mit Lavendel eingefaßt begegnet, die Dämonologie der Zichorienliese einfällt, ebenso wie beim Namenszuge der preußischen Könige auf Kanonen und Patrontaschen der Kantor Rex.

Bei den Wanderungen nach Lichtenberg wurde in den Geisterkeller der Zichorienliese ein rascher Blick geworfen; aber nur flüchtig; denn ihre Lebhaftigkeit, ihre Abgeschlossenheit von der Welt durch die Taubheit hätte zu langen Aufenthalt gekostet. Man wanderte zum Landsberger Tore hinaus. Flach, flach, kahl, kahl ist der Weg nach Lichtenberg! Und doch lebt er im Jugendgedächtnis nur als eitel wogendes, sonnenbeglänztes Kornfeld, als Schmetterlingstummelplatz, als blauer Zyanen- und roter Mohnblumengarten. Dies Hinwegschreiten durch hohe Ähren, die sich in der Sonne wiegen, bald auf diese, bald auf jene Seite vorm Winde sinken, wie wonnevoll dem Knaben, der noch so klein, daß er in ihrem Schatten wandelnd nur blauen Himmel über sich sieht, neben sich die Kornblumen mit ihrem blauen Johanniterkreuz auf der grünen Basthülle der Knospe, die roten Flatterrosen und die Mohnblüten, die er pflückt, und dabei über die Löcher der Maulwürfe stolpert! Dann das damals noch gebotene freundliche Grüßen der Vorübergehenden, die schallende höfliche Erwiderung der ganzen Karawane. Die Männer ziehen die Röcke aus und tragen sie auf Stöcken. Die Frauen drängen zur Eile, um bei einem Bauern noch einen guten Gartentisch oder einen Sitz dicht unter seinem strohgedeckten Giebeldach zu gewinnen. Endlich sieht man das Dorf mit seinem Kirchturm und dem seit Jahren bekannten großen Storchennest, das so unvordenkliche Rechte und Erbpachtsansprüche der dort hausenden Storchenfamilie zu haben scheint, wie sie nur einst der alte General Möllendorf hier in seinem Schloßparke am Ende des Dorfes hatte, oder jener Liebhaber von Pfauen und türkischen Enten, die linker Hand einen großen hellen Wirtschaftsraum und ein stattliches Anwesen zieren. Eine spröde Opposition des märkischen Bauern gegen Berlin und Berlinertum machte sich damals auch darin geltend, daß fast bis dicht unter die Tore der Stadt der Landbewohner seine allgemeine bäuerliche Art beibehalten hatte. Bis auf eine halbe Meile von Berlin glaubte man sich schon wie mitten in die Altmark, die Priegnitz versetzt. Kleine niedrige Lehmhäuser mit dichten Strohdächern, eine düster schattende Linde vor dem Tor, Räder, Deichseln, Latten den Eingang hemmend. Die Tracht nur ländlich, kurze Jacken, lederne Hosen, bunte Nachtmützen, die Sprache plattdeutsch, frei noch von dem scheußlichsten aller deutschen Dialekte, dem der Hauptstadt, auf dessen nicht unmögliche Ausrottung eine Regierung, die wahre Volksgröße liebt, einen Fonds für Prämien aussetzen sollte. Was gab es bei einer solchen Wanderung nicht zu behorchen, zu belauschen! Der Knabe steckte die Nase in alle düngerduftenden Ställe, in alle so eigentümlich trockenluftigen Scheunen, kletterte auf die würzigatmenden Heuböden, sammelte im Garten an den Kirschbäumen vergessene gedörrte, von den Vögeln angepickte süße Reste, sammelte Harz, das man mit den Fingern zu kunstvollen Geweben abspann, ging auf die Raupenjagd im Kohl- und Rübenfeld und dämmerte hin in jener traumseligen Gedankenlosigkeit der Kinder, die das Große und Wichtige übersieht und sich an einer kleinen aus Steingeröll hervorgesuchten Blume oder einem Brombeerheckengewirr, durch das sich blaßrote oder blaue Winden schlängeln, oder an einem Marienkäfer, den man sich über die Hand laufen läßt, die größten und beneidenswertesten Welten ausspinnt.

Die Kraft der geistigen Sinne wächst. Sechs Jahre war der Knabe alt, als ihn ein Weltereignis aus dem ersten dumpfen Chaos des kindischen Ichs wachrief. Es war die Jubelfeier der Reformation. Die Bedeutung dieses Festes wurde vollkommen verstanden. Der lebhafte Sinn des Vaters wußte das Verbrennen des Tetzelschen Ablasses, das Anschlagen der freien Glaubenssätze an die Wittenberger Kirchentür und alle Fingerzeige Gottes in dem Leben des großen Volksmannes so anschaulich zu machen, daß die Glockentöne, die drei Tage lang wie ein bewegtes Meer der Lüfte zu wogen und zu brausen nicht aufhören wollten, auch die ganze Seele ergriffen und zum protestantischen Hochgefühl erhoben. Voll eitel Sonnenschein und wie ein einziger dreitägiger Glockenton ist denn auch diese erste historische Erinnerung.

Ihr folgte die Kunde von Napoleons Tod, der auf den Straßen mit nicht viel Siegergroßmut angekündigt und ausgerufen wurde. Dann kam der Kampf der Griechen und Türken. Er wurde nachgeahmt in allen Kinderspielen, wo jeder Grieche, niemand Türke sein wollte und zuletzt das Abzählen entscheiden mußte. Sands Ermordung Kotzebues fand schon im Knaben die ganze parteiische Würdigung, welcher selbst berühmte und ernste Männer wie de Wette nicht haben widerstehen können. An allen Bilderläden, hinter Fenstern und auf offener Straße hingen die Darstellungen der Ermordung Kotzebues, wiedergegeben in allen Einzelheiten, bald im Moment der Anmeldung Sands vor Kotzebues Wohnung in Mannheim, bald im Überfall und Niederwerfen des Schlachtopfers oder in der Gefangennehmung des Mörders, wo sich dieser vergebens zu töten versucht hatte. Später gesellten sich noch alle Momente der Urteilsverkündigung, die Fahrt zum Hochgericht und das »Richten« selbst hinzu. Überall hing Sands Bildnis. Von hundert Rauchern hatte der vierte Teil gewiß einen Pfeifenkopf mit dem Abbilde des Mörders, der vom Vater mit unbedingtem Abscheu verurteilt, von der Mutter mit den Worten bemitleidet wurde: »Der arme junge Mensch!« Die Nähe der Universität brachte mit der damaligen Studentenschaft unmittelbare Berührung. Der Vater nahm den entschiedensten Anstoß an der altdeutschen Tracht, verspottete den Turnlehrer Jahn mit der bittersten Abneigung und erstickte die heiße Sehnsucht des Knaben, sich im Zwillichkittel für die Hasenheide anwerben zu lassen, durch eine Flut von Verwünschungen so gottlosen, hochmütigen »Narrentreibens«. Es stellte sich immer mehr ein Bruch zwischen Stillstand und Bewegung im Hause heraus, ein Bruch, der einem in die Nähe von hohen Stabsoffizieren gerückten Manne früh zum klaren Bewußtsein kam. Auch die bis zum neuesten Datum so angewachsene Verachtung der Volkswehr durch eine disziplinierte Armee gab sich in den Worten kund, daß diese jungen Boxer und Balger aus der Hasenheide mit ihrem »Hansnarren«, dem Professor Jahn, an der Spitze, beim ersten Kanonenschuß, den sie von den Franzosen hören würden, davonlaufen würden. Das Turnen wurde für eine überflüssige Spielerei erklärt, die Soldaten hätten springen und laufen können auch ohne Turnerei. Ja was sähe man denn? hieß es. – Verwilderung! Straßenjungen werden's! Darin hatte das strengste Urteil recht, daß der Kriegstaumel noch in allen Köpfen spukte und von der Schuljugend die wildesten Scharmützel in den Straßen geliefert wurden. Vor dem eigenen Haustor erlebte man eine dieser Schlachten, die von einem Turner mit einem grünen italienischen Fischernetz auf dem langbehaarten Haupte befehligt wurde und zur Folge hatte, daß einige Kämpen bluteten. Dem militärischen Sinne des Vaters waren schon allein diese langen Haare ein Greuel. Er nannte sie, da sie sich bei den meist blonden Köpfen nicht lockten, Lichtstecken, Talglichter, Besenreiser, Flachswocken – Junker Tobias von Rülp konnte von Junker Christoph von Bleichenwangs Haarwuchs nicht anzüglicher reden. Die grauen Kittel und die Hosen der Turner wurden mit den Zwillichkitteln der Festungssträflinge verglichen. Von Jahn hieß es, dieser Mensch »sollte sich der Sünden schämen, mit den Kindern solche Narrenstreiche auszuführen«. Ein einziger »Bauernjunge aus Klempenow oder Löcknitz bräche diesen Taugenichtsen in der Hasenheide alle Rippen entzwei«. Stangenklettern, Reckspringen, Boxen und Ringen waren »brotlose« Künste. Und als dann gar Kotzebue von einem solchen Turner, einem solchen Studenten im altdeutschen Rock und mit langen »Lichtstecken« von Haaren ermordet wurde, da »hatte man die Bescherung«. Auch wurde die Hasenheide geschlossen, Jahn gefänglich eingezogen, die Turnerei als staatsgefährlich für lange Jahre verbannt. Jahn, hundertmal in frühester Kindheit gesehen, steht dem Erzähler so lebhaft mit seinem gleichsam viereckig gezogenen Gesicht vor Augen, daß er erstaunen muß, in seinem Standbild in der Hasenheide wenig Ähnlichkeit anzutreffen.

Ein »Weltereignis« war auch der Brand des Schauspielhauses. Wie sich das Reformationsfest eingeprägt hat als ein ewiges von den Linden abwärts herübersummendes Glockenläuten und das bei glücklichstem Sonnenschein, so zwei Jahre später der schwarze, wieder von den Linden abwärts wallende, den ganzen Himmel schwärzende Rauch, der tagelang nicht weichen wollte. »Ihr bleibt zu Hause!« Dies mächtige entscheidende Mutterwort steht wie in Erz geschrieben aus dem Getümmel noch jetzt im Gedächtnis. Das war ein Trommeln, ein Blasen, ein Fahren, ein Lärmen, ein Sturmläuten, und diese Flammen, diese knisternden tausend Funken, diese verwehten angebrannten Papierstreifen, Ifflands alte Rollen, Kotzebues beliebteste Stücke, alle herumfahrend in der Luft, Zindelschnitzelchen, die noch der Knabe weit vom Schauplatz des Brandes entfernt glitzernd auf dem Fußboden fand, Atome der dem Knaben noch unbekannten »wirklichen« Bühne, Wunder des Geheimnisses so ausgestreut und verzettelt über alle Straßen im Tageslicht! Es war eine Begebenheit, die sich noch in ihren Folgen lange durch die Knabenzeit hinzog, denn auf den Brand folgte das Besichtigen der Brandstätte und der Schinkelsche Neubau, der mehrere Jahre lang alle benachbarten Straßen versperrte. Die Eltern, uneinig über die Turner und Kotzebues Ermordung, waren einig in der Abneigung gegen die »Komödie«. In den Kirchen predigte der immer mehr um sich greifende Pietismus gegen die Bühne. Den Brand der Stätte, wo Iffland gehaust hatte, Iffland, der dem Volk mit Sünden bis über die Ohren behaftet gewesen zu sein schien, nahm man für ein Zeichen der endlich erschöpften göttlichen Geduld und Langmut.

Der in der größeren Welt noch völlig blinden Umsicht ging für die kleinere immer mehr das Auge auf. Es wird eine entsetzliche Erfahrung des Kindes, daß die Welt so voll böser Elemente steckt! Diese Erfahrung wird nicht auf einmal gemacht, sie kommt langsam. Erst allmählich schleicht sie sich in ein Gemüt, das von Natur voll Glauben ist und überall gute Menschen voraussetzt. Böses wird wohl gefürchtet, aber das kommt aus den Zuchthäusern, aus keinem Zusammenhang mit der Welt des Kindes. Aber die Zuchthauswelt rückt näher und näher. Neid, Mißgunst, Verleumdung, Hinterlist, Verstellung, Schmeichelei, Geiz und Habgier werden an täglichen Begegnungen erkannt. Welche Szenen, wenn böse, lügnerische Ankläger zur Rede gestellt wurden! Die väterlichen Dienstverhältnisse zeigten die Menschen im Wettlauf nach demselben Ziel der Anerkennung und Auszeichnung. Einer suchte den andern zu überflügeln, und nicht selten wurde dabei nach schlechten Mitteln gegriffen. Schmeichelei gegen Vorgesetzte verfehlte selten ihren Zweck. Liebedienerische Unterwürfigkeit wurde willkommener geheißen als biedre Gradheit und eine dem Vater eigene humoristische Vertraulichkeit selbst mit den vornehmsten Personen, Exzellenzen und Hoheiten. Den meisten der Untergebenen geht auch der Blick für das Menschliche an den Vornehmen ab, und die Vornehmen wieder sehen es lieber, wenn sie als Begriffe, nicht als Menschen genommen werden. Wie liebte und rühmte man die wenigen gemütlichen Ausnahmen bei einzelnen hohen Offizieren und Kriegsräten! Und wieviel Wunderkraft, glücklich zu machen, besitzen nicht die Großen! Sie brauchen eben nichts zu tun, als sich rein menschlich zu geben.

Das Beklemmendste war, daß so viele Menschen aus dem Bann der überlieferten Ordnung herauszutreten schienen und sogleich auf klippenreicher Schwindelbahn erblickt wurden. Die grübelnden, brummigen, geizigen, gehässigen Berufsmenschen zogen den Knaben nicht an. Aber von denen, die immer Lachen, immer Freude verbreiteten, stellte sich nur zu bald heraus, daß ihre Lust eine schlimme Kehrseite hatte. Der warf blanke Taler auf den Tisch und rief nach Geigen und Flöten; der kam mit blitzenden Geschenken und gewann sich jedes Herz allein schon durch seine frohgemuten Augen. Aber wehe, bald ergab sich, daß der liebenswürdige Schelm ein Spieler, ein Schlemmer war. Bald wurde auch seine Heiterkeit frostiger, sein Auge matter, seine Hand magerer, seine Rede zerstreuter, sein Kleid ärmlicher. Der, der sonst gab, nahm nun. Der, der sonst lustig tanzte, saß nun grübelnd hinter dem Ofen, glücklich, wenn man ihn duldete und ihn niemand um sein Befinden anredete. Das Volksleben ist so reich an diesen traurigen Gegensätzen. Zumal in jener Hauptstadt, wo die Mehrzahl der Bewohner aus Armen und Unbemittelten besteht. Berlin ist recht eigentlich die Stadt der verkommenen Menschen. Als der Strudel des Elends, der rasch verschlingende, erschien damals vorzugsweise die allgemeine Gewerbefreiheit, das viel zu leicht und viel zu früh erworbene Meister- und Bürgerrecht. Der Trieb der Isolierung, der ebenfalls auf dem Lande den alten Halt und Zusammenhang schon genug in Elend aufgelöst hat, reizt auch hier zum selbständigen Lebensversuch die allerschwächsten Kräfte. Der Gesell, nach Freiheit, Besitzstand trachtend, »etabliert« sich und wirft den Köder seiner vor dem Hause ausgestellten Stiefel oder Kämme oder Nägel wie in ein großes Meer aus. Oft hält der Zufall vorm Laden an, noch öfter aber strömt die große Woge vorüber. Die erste Meisterschaft wird nicht ohne Selbstgefühl empfunden. Man hat ein Mädchen, eine Witwe geheiratet, die einige hundert Taler einbrachte. Nun arbeiten statt des jungen Meisters Gesellen. Jener genießt seine Freiheit, lebt unter dem Vorwande des Kundenbesuchs außerhalb des Hauses und gerät in die Unsumme der kleinen Verführungen, die aus Kellern und Spelunken aller Art heraus ihre verderbenbringenden Arme strecken. Und was sind diese Verführungen! Wie unschuldig scheinen sie! Wie erlaubt dünkt ihr Genuß! Eine in einer Pfanne schmorende brenzlige übersalzene Bratwurst – wahrlich, in einer Stadt, wo man um zwölf Uhr zu Mittag ißt, kann diese um elf Uhr genossene Bratwurst der Ruin eines Lebens werden. Ihr lacht und spottet des Erzählers? Der Stufengang ist einfach. Der »kundenbesuchende« junge Meister tritt in eine jener »Frühstücksstuben«, wo die Bratwurst in der Pfanne so verlockend schmort. Er wird sich ein »zweites Frühstück« geben lassen. Mit diesem »zweiten Frühstück« beginnt sein Verderben. Das scharfe Salz und der Pfeffer wecken den Durst. Der Trunk und der schön halb gesättigte Appetit heben die Kraft und Unternehmungslust des sonst so genügsam dahinschlendernden Gesellen. Auf einen Exzeß folgt der andre. Die Mittagszeit, wird sie nicht versäumt, kommt zu früh, der häusliche Tisch mundet nicht. Nichts verletzt die Gattin mehr als das Verschmähen ihrer Kost. Auch überbietet sie vielleicht ihre Kraft. Im günstigsten Fall löst der Nachmittagsschlaf die Verstimmung. Der Meister erwacht gegen Abend, wo die angezündeten Straßenlichter zu neuem Leben außer dem Hause reizen. Wer in dieser Stufenfolge den allmählichen Ruin eines Handwerkers schildern und diese Schilderung mit den einfachen Worten »Das zweite Frühstück« überschreiben wollte, würde das Elend von Tausenden treffen und ein Volksbuch liefern. Vom Spiel und der Bauernfängerei, die hier im natürlichen Gefolge sind, haben wir dabei noch nicht gesprochen.

Es ist erschreckend, wenn auch wohltuend zu gleicher Zeit, daß unter diesen wildwachsend aufschießenden Meistern der wahre Stachel des Fleißes und der guten Sitten meistenteils die Umsicht der Frau ist. Der Erwerbstrieb geht von ihr aus. Die Religion kommt zuweilen zu den häuslichen Springfedern hinzu, aber sie verliert in unseren Tagen immer mehr an Elastizität. Dies ist nur die Folge des Pietismus, der dem Menschen des Strebens und Schaffens, wie ihn die Zeit braucht, widerstrebt. Und Religionsbedürfnis ist da. Nur sollte man an die Stelle des schwankenden Haltes der positiven Religion entweder das Gemeinschaftsgefühl des Deutschkatholizismus und der freien Gemeinden oder die politische Emanzipation, das Bewußtsein der bürgerlichen Rechte, das veredelnde, den ganzen Menschen hebende Gefühl einer unmittelbaren Beziehung zum großen Ganzen setzen. Das freie, unverkümmerte Stimmrecht, das Stimmrecht, das uns die Reaktion verkürzte, das Stimmrecht in einem wahrhaft neugebornen Staatsleben wird eine rückwirkende Kraft auf die religiöse und sittliche Weihe des Volkes werden. Denn unwiderleglich ist es, daß die unverkümmerte, gesetzlich organisierte Teilnahme am Staat die unteren Stände hebt, läutert, zur innern Sammlung führt, den Wetteifer in allem Guten fördert. Die Proletarier des Handwerks, zu denen man die kleinen Meister zählen muß, hat man sich zu unversöhnlichen Feinden gemacht, als man ihnen das eine Zeitlang genossene Stimmrecht wieder nahm. Es ist nicht das beleidigte Ehrgefühl allein, das in ihnen auf Rache sinnt, sondern das Gefühl der weggezogenen Stütze ihrer sittlichen Erhebung. Sie ahnten, daß sie leichter entbehren, leichter arm sein konnten, wenn irgend etwas an ihnen geachtet wurde, ihr Name, ihr Gewerbe, ihr Mietzins, ihre Miets-, ihre Gewerbesteuer. Sie ahnten, daß durch das erst so glückliche, dann unterbrochene Experiment an ihrem sittlichen Menschen gerüttelt wurde, und werden noch lange unversöhnte Feinde der jetzt in unserm Lande waltenden Ordnung bleiben, während sich die Intelligenz in ihre Verstimmung leicht gefunden und in andern Dingen Trostgründe gesucht hat für das, was auch bei ihr verletzt wurde.

So ist denn nur der einzige wahre Halt des kleinen Handwerkers seine häusliche Ordnung, sein Herd, seine Familie, sein Weib. Allerdings hat sich die königliche und priesterliche Kraft des Weibes, einst so heilig gehalten von den Kelten und Germanen, verloren bei Hysterie, Nervenschwäche, Salonbildung, aber doch noch nicht ganz am Strickstrumpf und Nähzeug. Zum Glück findet der Handwerker, wenn er ein Weib nimmt und dazu entweder eine dienende Magd oder eine Nähterin wählt, in den meisten Fällen ein Wesen, das ihm den gewagten Schritt, ihr zu Liebe sein Gesellen- mit dem Meistertum zu vertauschen, nicht bis zum Untergang gefahrvoll macht. Diese Frau nimmt sich der Küche, der Ordnung und Reinlichkeit des Hauses, der Wäsche ebenso an wie des Geschäftes. Sie drängt zum Fleiß, spekuliert auf Kundschaft, kauft Vorräte und hat ihr Auge überall. Der Mann, oft ein Simpel, steht verlegen, wenn bereits sein Weib im Zuge ist, Kunden zu gewinnen, zu vertrösten, ihnen zu »flattieren«. Ihr Mundwerk hilft ebenso nach wie ihre rührige Hand. Diese Frauen sind Musterbilder ihres Geschlechts. Sie tragen alle Tugenden, freilich auch alle Fehler der Gattung an sich. Ohne Flunkerei, geringes Wertschätzen einer gegebenen Versicherung geht es dabei nicht ab. Sie erzürnen sich schneller, als sie zu gewinnen sind. Sie sind der Verstand und die Leidenschaft des Mannes, der nur in einzelnen Fällen wild, dann freilich bis zum Tier werden kann, sonst aber mehr als das Weib das Herz des Hauses ist. Mildtätig sind diese Frauen mit vorsichtiger Prüfung. Geben sie, so rührt sie das allgemeine Los menschlichen Elends, das sie überhaupt mehr zu fürchten haben als der Mann. Dem allgemeinen Fluch des Menschengeschicks steht das Weib näher als der Mann. Beim Arbeiter ist die Frau noch die »Gehilfin« des Gatten, wie es die Bibel will, und hält am Baum der Erkenntnis Wacht. Sie kann des Mannes Glück und Verderben werden.

Sonst waren im Volke Frauen, die sich in die Lage ihres arbeitenden Mannes nicht finden können, einzelne seltene Ausnahmen. Putz-, Vergnügungssucht und die Näscherei waren die Klippen. Jetzt sind diese Untugenden der Weiber, verbunden mit der Trunk- und Unabhängigkeitssucht der Männer, maßgebender geworden für die ganze Lage des Arbeiterstandes, seine moralische Bildung, seine überspannten Forderungen. Dem Knaben fiel zu seiner Zeit die Schwatzsucht der Frauen aus dem Volk auf. Die Schwätzerinnen redeten »ein Loch in die Wand«. Oft mußte ihnen der Mann drohen, ihnen »das Maul zunähen« zu lassen. Sie verschwätzten die Zeit auf dem Markt, am Brunnen, mit der Nachbarschaft. Sie überrühmten sich selbst, ihr Hauswesen, ihre Ordnung, und doch ging alles »hinter sich«. Die allzu lebhafte Phantasie, die es oft allein ist, welche eine solche ungebundene Zunge entfesselt, bricht »Rand und Band«. Nicht selten hilft schon der Trunk den erschlaffenden Geistern nach, die das Bedürfnis haben, so immer außer sich zu sein. Dann ergibt sich das jammervollste Bild des Volkslebens. Ein ehrsamer, friedlich-still arbeitender Mann und ein Weib, das ihm Schande bringt, das er züchtigen muß, das ihm das »Bett unterm Leibe« verkauft, versetzt und überall Unsegen stiftet. Im glücklichsten Falle wird die Unwürdige zuletzt geistesschwach, kindisch und erlischt wie ein Licht unter ihren Kindern, die mit dem Vater gegen die eigne Mutter wie in steter Verschwörung aufwachsen müssen. Scheidung von einer unglücklichen Wahl durch die Gerichte? Wie kostspielig das, der spätere Aushalt einer Geschiedenen ist gar nicht zu erschwingen! Nicht selten erbittern sich zwei ungleiche Ehegatten zu solchem Haß, daß sich entweder der Vorsatz zu einem Verbrechen langsam in die Seele schleicht oder einmal plötzlich die Verzweiflung und Leidenschaft zum Ausbruch kommen. Wir entschuldigen jetzt so viele Motive zum Verbrechen und wahrlich auch hier! Aber das Volk denkt nicht so. Das Bewußtsein des Unrechtes und der nie zu vergebenden Schuld liegt ihm doch tiefer. Der Mörder eines Weibes, das ihm zur Lebensplage geworden, wird seine Schuld zugestehen, wird sein Leben zur Sühne bieten, sich an sonstige Fehler seines Innern halten, die auf sein Armensünderbild passen. Ist auch die Vorstellung von einem angebornen, »von Gott eingesetzten« Richteramt der Familie unter sich, des Vaters über den Sohn, des Gatten über die Frau tief eingewurzelt, zur Entlastung wird sie vom Schuldigen selbst nicht benutzt. Die eleganten Mörder aus der Pariser Jockeiklubwelt, die ihre untreuen Gattinnen niederstechen, verlassen sich jetzt auf Freisprechung und finden sie auch.

Oft führt der Dämon der Eitelkeit und des Vergnügens, wenn er auch den Mann ergreift, an den Bettelstab. Die Zwischenstationen dieser Wanderschaft sind mannigfach. Nicht alle sind sogleich von zerrissenen Lumpen bezeichnet. Da schmettert die Trompete zu einem Ball, da klimpert ein geschniegeltes Töchterlein am Klavier, da bricht bei einem Gastgebot fast der Tisch von Speisen und von rauchenden Punschbowlen. Die kleinen Meister, die es leidlich »zu etwas gebracht« haben, wurden meist durch ihre Weiber zur Teilnahme an einem damaligen Grundverderben des Volkslebens geführt, den »geschlossenen Gesellschaften«. Diese »Kränzchen« sind Ketten, die ins Armenhaus ziehen. Irgendein verdorbener Gelegenheitspoet, ein Privatschreiber, ein Winkeladvokat, ein leichtsinniger Schulmeister, der seine Stelle verlor und für wenige Groschen Unterricht im Französischen und auf dem Klavier erteilt, gibt die erste Anregung, wo sich dann zehn, zwölf, zwanzig armselige Familien von eingebildet wohlhabenden Handwerkern (eingebildet, weil ihre Gesellen momentan zu tun haben) zu Sommer- und Wintervergnügungen vereinigen. Lebte hier die unschuldige Freude und die harmlose Erholung, wer würde diese »Uranias«, »Thalias«, »Odeons«, »Museums«, »Erheiterungen«, »Erholungen«, »Eintrachten« usw., wie sie damals hießen, verpönt haben! Aber sie wurden die Tummelplätze sittlichen und gesellschaftlichen Verderbens. Da werden die Läden eines einsamen Tanzbodens geschlossen, um acht Uhr finden sich aufgeputzt die Familien ein, Mann und Weib und Kind, die Geige lockt, der Brummbaß schnurrt, die Trompete schmettert, der Tanz beginnt. Noch jetzt wären die Wirbel und Strudel zu passieren, noch hat das Fahrzeug kein zu großes Leck. Aber der tolle verdorbene Sprachmeister oder Winkeladvokat, der den herrlichen Namen dieser Freuden erfunden hat, ruht nicht. Sein Genius will freie Zeche haben. Er macht den Petitmaitre, den Tanzmeister, den Kuppler. Er bringt die Gesundheiten aus, läßt die Subskriptionsbogen wandern zu einem Extraball. Die Ansprüche der Rivalität steigern sich. Die Frauen, ihre Töchter überbieten sich in Ausschmückung ihrer knospenden oder welkenden Reize, die Männer zechen nicht mit jenem Maß, das ihnen die Börse oder der Durst mißt, sondern im erwachenden Trinkmaß des Übermutes, der Wettlust, der Prahlerei. Diese Ressource, dies Kränzchen, Kasino, das als eine »Erholung« von zwölf ehrbaren Schlosser-, Tischler- und Schneidermeisterfamilien anfing, hat nach drei Jahren kein einziges Mitglied der ersten Stiftung mehr, sondern wuchs über die entweder zur Erkenntnis Gekommenen oder die bürgerlich Gescheiterten hinweg zu einem immer üppigeren Gebaren, das in die Hände der Gesellen, Schwindler, Lustigmacher, Friseure, Barbiere geriet und zuletzt mit der Errichtung eines Liebhabertheaters endet. Nach mancher Richtung hin hat da die Zeit würdig aufgeräumt. Die Handwerkervereine haben auch das Familienleben des Arbeiterstandes zu veredeln gesucht. Die Männer vereinigten Weib und Kind nicht nur zu Vergnügungen, sondern auch zu geistiger Anregung, die mit der geselligen Erholung verbunden ist. Schon in den 48er Zeiten brachten die »Bezirksversammlungen« den gemeinen und gebildeten Mann zusammen; der Handwerker sah in seinen Reihen den Gelehrten, den Beamten, den Kaufmann, und nur eine Stimme herrscht darüber, wie veredelnd für den Niedrigen, wie anregend für dein Höhergestellten diese harmlosen, oft wissenschaftlich eingeleiteten »Bezirkskränzchen« der Handwerker und kleinen Leute gewirkt haben. Die Gewehrkolben der Reaktion machten auch mit diesem Fortschritt der Volksbildung den bekannten staatsrettenden Kehraus, und die alte Wirtschaft der gedankenlosen Genußsucht war wieder in solcher Blüte aufgeschossen, daß wir schon damals aus innerster Überzeugung erklären mußten, das Leben der Religion und des Christentums im Volk sei nur zu retten durch die Kultur der freien Gemeinden, durch die bewußte Bürgertugend, die staatsrechtlich begründete Demokratie. Dann kehrte man den Spieß um, entfesselte alles, nur nicht die Demokratie der anständigen Leute, und hat nun mitten in Genußsucht und Schwindel unser gegenwärtiges »soziales« Chaos, aus welchem uns weder die österreichisch-deutschen Ministerialkonferenzen noch die »Kathedersozialisten« retten werden.

Der Ruin der um ihren innern sittlichen Halt gekommenen Handwerkerfamilien ist kein plötzlicher Bankrott wie beim Kaufmann. Der Handwerker schleppt sich eine Reihe von Jahren hin in bald ab-, bald aufsteigender Linie. Die aufsteigende ist zuweilen ein plötzlicher Kredit, ein Lotteriegewinn, eine Lieferungsarbeit mit Vorschüssen, ein vermieteter Halbteil der Wohnung, eine zweideutige Hausfreundschaft, eine Bekanntschaft des inzwischen aufgeschossenen »Fräuleins Tochter«. Die absteigende ist das Mißverhältnis zwischen der Einnahme von den Kunden und der Abzahlung an die Lieferanten des Materials und des Handwerkszeuges, ein Zusammenstürmen der Forderungen von allen Seiten, ein sittlicher Eklat, den entweder die Eifersucht des Ehegatten oder ein anderes Unrecht der Natur bei der Tochter herbeiführt. Dann sieht man plötzlich Handwerker ihren bisherigen Erwerb aufgeben. Im Falle des Glücks springen sie in die zweideutige Gesellschaftsklasse der kleinen Spekulanten und Krämer und werden »Restaurateur« oder »Cafetier«, Gastwirte oder Händler mit täglichen Lebensbedürfnissen. In Berlin hat die Anlegung von Vergnügungs- und Trink- und Speiselokalen einen Umfang erreicht, der weder für die Statistik des Nationalreichtums noch für die der Moral erfreuliche Tatsachen abwerfen kann.

Das großstädtische feinere Erwerbs- und Handelsproletariat ist besonders deshalb so schwer zu bekämpfen, weil seine vorzüglichste Eigenschaft in dem Heldentum besteht, das im Volk »das große Maul« genannt wird. Dies Proletariat klagt nicht. Es geht nicht in Lumpen, blickt nicht hohläugig, schleicht sich nicht furchtsam an den Häusern entlang. Das Proletariat des Schwindels und des »großen Mauls« trägt Siegelringe an den Fingern, goldne Ketten über roten Sammetwesten, schnurbesetzte Paletots über dem wohlgenährten Embonpoint. Es ist überall zugegen, gibt den Ton im Theater an, in den Weinstuben, auf den Promenaden, schreit und peroriert und war auch das eigentliche Verderben der Märzbewegung. Die Gesinnungslosigkeit dieser Menschenklasse ließ sie das, was grade die Ordnung des Tages war, »großmäulig« proklamieren, ob es sich nun um Demokratie oder Reaktion handelte. Lasterhaftes, freches Menschengeschmeiß von existenzlosen Schwindlern, halben Bankerottierern, Goldarbeitergesellen, die sich Juweliere nennen und Läden mit erborgtem Kram eröffnen, verdorbenen Bäckern, die sich zu Kornmaklern aufwerfen, Schreibern, die Häuser administrieren, Pflastertretern aller Art vom »bummelnden« Geheimsekretär an, der seine eigene Frau zu den vortragenden Räten schickt, die entscheiden müssen, ob ihm eine Gratifikation bewilligt werden kann, bis zum wirklich begüterten, wirklich verdienenden Maurer-, Steinmetzen-, Bäcker-, Fleischermeister, der aber aus Eitelkeit seine Kräfte überspannt, wenn er sich Pferde, Wagen, Bediente hält; dies ganze noble großmäulige Publikum der Großstädte griff 1848 ebenso rasch nach den Büchsen der Bürgerwehr, wie sie diese wieder wegwarf, gab Adhäsionsadressen den Advokaten oder den Soldaten, den März- oder Novemberministern und fügte sich in alles, was ihm erlaubte, sich mit seinem hohlen, übergoldeten Elend in den Vordergrund zu drängen und durch sein im Volk bekanntes »Maul« den tiefinnern Schaden der echten Bürgertugend und des häuslichen stillen Wirkens zu verdecken. In unsrer Zeit ist allen diesen Elementen, wenn nicht der Zutritt, doch die engste Verbindung mit der Börse ermöglicht worden. Die »Bauwut« und der »Häuserschwindel« haben neue Felder der Bewährung für das seidne Lumpentum eröffnet.

Das Wühlen und Ringen um Existenz erschien bereits dem Kindesauge wie etwas Ungeheuerliches, das dem Leben Farbe und Duft abstreift. Der Druck, der auf dem Dasein liegt, wurde leidvoll nachgefühlt. Ein naturwüchsiges Walten des Fleißes verbirgt sich so still in seiner friedlichen Werkstatt. Die Rouerie aber lärmt auf dem Schauplatz und schneidet den Blick ins echte Leben ab. Am Staate nun vollends will sich eines jeden Scheiternden Hand zur Rettung anklammern. Dem Staate und seiner Ämterfülle trägt sich die Not mit Käuflichkeit und mit einer um jeden Preis zu habenden Gesinnung an. Da wird nicht untersucht, wer gibt, in welchem Sinne gegeben wird, in welcher Voraussetzung; man nimmt, langt zu und beschwört alles, was der »Brotgeber« fordert. Was sollen die Sprossen dieses goldenen Proletariats tun, wenn sie nicht untersinken wollen? Der Vater heuchelt für den Sohn. Der Sohn quält sich, die Verheißungen des Vaters wahr zu machen. Ein ungeheurer Jammer stöhnt sich von der Brust von Tausenden los, wenn sie ihn noch fühlen. Die meisten haben den Fluch eines solchen Lebens schon für Segen hingenommen, spielen mit den Ketten, klirren sich mit ihnen eine angenehme Musik, denken nur nach dem allgemeinen herrschenden Kanon der öffentlichen Moral und bringen Urteile zutage, die unsre Menschenwürde in Frage stellen.

Und trotzdem ist dies von 1815 bis 1855 servile Berlin eine demokratische Stadt geworden! Schon früh entdeckte der Knabe mehr Gesinnungslosigkeiten bei den Gebildeten, die er bald kennenlernen sollte, als bei den Armen, die ihm charakterfester erschienen. Die dienenden Volksklassen sind auf ein frühes Herausstellenmüssen wirklichen inneren Wertes angewiesen. In des Erzählers Jugend waren die Dienstboten noch »treu, fleißig, ehrlich«, was ihnen jetzt nur formell bescheinigt wird, wenn sie auch alle vier Wochen wechseln. Fleiß, Güte, Treue, gehorsame Charaktererforschung der Obern, Fügen in fremde Art hebt die sittliche Kraft. Ein Handwerker, der eine Dienende heiratet, sorgt besser für sich, als wenn er die Tochter eines Meisters gewinnt. Ein guter Diener ist besser als ein schlechter Freiherr, sagt das Sprichwort. Daß aber Kleider Leute machen, sieht man am ersten am Dienenden. Je schmucker die Uniform, desto leerer der Inhalt. Je mehr der Herr verrät, daß sein geputzter Diener eine Erfindung seiner Eitelkeit ist, desto mehr wird sich der Diener als bloßer Statist fühlen. Wer Diener wie Herren kleidet, wird des Dieners Diener, wenigstens muß er ihm noch geringere Kräfte mieten, die das verrichten, was der geputzte Hanswurst selbst sollte. Jede blanke Tresse am Rock ist ein gereinigtes Tischmesser weniger. Köchinnen sind komische Figuren der dienenden Welt. Sie ersparen in kleinem Betrug und werden meist im großen selbst betrogen. Schwarz am Herde, glänzen sie gern sonntags abends bei Licht. Sie haben die kostbarsten Kleider, tanzen am eifrigsten, müssen aber, je älter sie werden, für ihre »Liebenswürdigkeit« desto stärkere Ausgaben machen. Der Soldat, der junge Handwerker betrügt sie um ihre Ersparnisse. Eine dem Knaben halb noch unverständliche Klasse von Dienstboten waren die Ammen. Es gab ihrer von allen Sorten. Ammen, die wie scheue Tauben ängstlich auf einem Hofe einherschlichen, andre, die wie aufgeblähte Kalekuten stolzierten. Wie es möglich war, daß diese geputzten, in den besten Zimmern verweilenden Wesen außer dem vornehmen Kinde noch ein eignes daheim haben konnten, wurde vom Kinde schwer begriffen, aber manches Weinen wurde beobachtet, wenn ein junges Wesen, das »als Amme diente«, irgend in einem dunkeln Dachstübchen erschien und rasch ein gleichsam im vornehmen Hause Erspartes an Muttermilch ihrem eignen verschmachtenden, bei ärmsten Leuten oder Verwandten »auf die Ziehe« gegebenen Kinde darreichte . . .

 

In den städtischen untern Volksschichten war vom Freihandel keine gute Meinung verbreitet. Das Seufzen über »die englischen Waren« verband sich beim apokalyptischen Vetter mit seinen Weherufen über seine Sünden. Er war ergeben in Gottes Fügungen, las aber doch zu eifrig in den Büchern der Geschichte, um zuzugeben, daß Gottesverfügungen und Ministerialverfügungen gleiche Verehrung verdienten. Die Lieblosigkeit des Staates gegen seine Kinder entsprang ihm aus dem allgemein herrschenden Unglauben, der nach ihm nirgends finstrer waltete als in den Köpfen der Staatsmänner. Und nicht nur die kleine Zahl der Musselinweber, die aus der Mode gekommen waren, klagten über die Politik der Hardenberg, Schuckmann, Kleewitz, sondern durch alle Stände der Arbeitenden ging Seufzen und Jammern über die »hereinkommenden« Waren. Wenn diese Menschen sich auf der andern Seite selbst gern ein wohlfeiles Pfund Fleisch vom Lande hereinschmuggelten und die Zollstätten und Metzger umgingen, so drückten sie den Naturzustand aus: Schütze die Arbeit, erleichtre die Ernährung! Freilich sagen unsere Nationalökonomen, daß hierin ein sich selbst aufhebender Gegensatz läge. Der Volksverstand könnte jedoch erwidern: Diese Selbstaufhebung verschuldet das Budget des Staates. Eine Schlußfolgerung, die auch im Volke nicht ausbleibt. Dies sagt einfach: Die Soldaten und die Beamten kosten zuviel! Und um dieser auf der Hand liegenden Wahrheit zu entgehen, erfindet man soviel nationalökonomische Systeme, die der Lüge a posteriori den Schein der Wahrheit a priori gehen sollen! Dem Staatsbudget, diesem allein sollten die Konsumenten, die Bauern, Rittergutsbesitzer, jetzt die Sozialisten die Polemik widmen, die sie dem Produzenten widmen. Man lehrt uns das Evangelium von der Ausgleichung. Freilich, der apokalyptische Vetter starb nicht Hungers, er hatte keine Familie und hätte von Wasser und Brot leben können, da ihn weit mehr nach himmlischer Speise hungerte und dürstete. Aber ganze Vorstädte verschmachteten im Elend. Man sagt: Setzt die Zölle herab im Interesse des Konsumenten! Allein man vergißt, daß es im Staatsleben nicht darauf ankommen sollte, wer zuletzt lacht, sondern auf den, wer zuerst weint, nicht auf die Begünstigten, sondern auf die Beschädigten. Oder beruht der moderne Staat nicht auf so viel Gesittung, daß man den Satz aufstellen könnte: Im Leben leidet immer der am meisten, der den ersten Stoß bekommt –? Die Avantgarde ist am übelsten dran. Die spätere Ausgleichung kommt; ja sie kommt auf dem Kirchhof. Dem gesitteten Staat muß erst an der Arbeit und dann erst am Genuß gelegen sein. Wo Werte geschaffen werden, Menschenhände tätig sind, da ist es Pflicht des Staatsmannes, so behutsam und zart aufzutreten wie in der Nähe von Kranken, die geschont sein wollen. Ferner: Nicht nur grausam ist es, auf die Ausgleichung der sozialen Kirchhöfe, Hunger und Elend, zu verweisen; es sieht auch prekär mit dieser Lehre für dasjenige selbst aus, was sie anstrebt. Die Konsumtion und die Produktion gehen nicht mit gleichem Schritt. Sie marschieren ohnehin, da es über Leichen geht, nicht in gleichem Takt. Die Produktion hat ein rasches Tempo, sie schafft, um zu leben. Die Konsumtion geht langsamer, träger. Man kann tausend Produzenten getötet haben, ehe sich ein Konsument entschließt, den Vorteil, den ihm der Tod jener eintrug, wirklich anzutreten und zu verwerten. Denn wie sich der Mensch gewisse Dinge, und wenn sie noch so teuer sind, doch kauft, so versagt er sich andere, und wenn sie noch so wohlfeil werden. Ihr bietet dem sterbenden Arbeiter wohlfeile Kleiderstoffe. Gütiger Himmel, ist das eure Ausgleichung? Er kann von wohlfeilerem Kattun nicht leben, wenn seine Hand überhaupt nichts verdient. Freihändlerische Gutsbesitzer tun, als wenn sich ein Fabrikarbeiter mit Baumwollenzeug ernähren könnte. Aber das Handwerkszeug wird wohlfeiler, sagt man dem Arbeiter, der eiserner Gerätschaften bedarf. Ihr Lieben, das Handwerkszeug ist für einen Arbeiter meistenteils eine Ausgabe, wie wenn ihr euch alle fünf Jahre einmal eine Badereise gestattet! Alle Tage schafft sich der Tischler Stemmeisen und Sägen nicht an. Die Lehre von der Ausgleichung macht sich wie ein mathematisches Exempel, das richtig auf dem Papier aufgeht, aber in Praxis geht sie nicht auf; denn der, der den ersten Stoß einer Neuerung empfängt, soll und muß im gesitteten Gesellschaftsleben so viel voraus haben, als hätte er statt eines Stoßes deren so viele erhalten, als genug sind, um ihm den Tod zu geben. Es ist betrübend, daß ein Protest gegen die Freihändler wie eine Verteidigung jenes Schutzsystems herauskommt, das nur für die Aufstellung unserer Heere von Soldaten und Beamten erfunden ist.

In alle diese Eindrücke einer nun schon immer bewußter werdenden Jugend, in diese oft wie ein physischer Druck schmerzende Sehnsucht nach einem Leben voll reinerer und höherer Anschauungen, in diese gebundene ohnmächtige Knechtschaft eines schon früh mit seinen gegebenen Lebensbedingungen zerfallenen Jugendmutes fiel endlich ein Sonnenstrahl, der dem Knaben Licht, Erlösung, Freiheit brachte. Siehe da! Die Geschichten von Feen und mildtätigen Zauberern, deren der Knabe so manche aus den entliehenen Märchenbüchern seiner Mitschüler gelesen hatte, schienen sich plötzlich zu verwirklichen. Die Pforten einer Zauberwelt, goldene Pforten eines Lebens, wo man die Armut, die Leidenschaft, den Fluch der ewigen Mühe nicht kannte, rauschten auf. Es erfüllte sich die Ahnung einer andern Welt, die der Knabe geträumt, seit er eines Sommerabends am Opernhause in ein Fenster lugte und wunderschöne Männer in Harnischen, andere mit schwankend bunten Federkronen auf dem Haupte gesehen. An dem Eingang des Opernhauses las er, über diesen Götteranblick aufgeregt: »Heute: Ferdinand Cortez.« Aber nicht die Welt des Scheines allein tat sich mit so mächtigen Wirkungen auf, es war die wirkliche, die Welt des Reichtums und der Bildung.

 


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