Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Capitel.

Nummer Sechs- und Nummer Siebenundachtzig.

Als Siegbert Wildungen sich endlich gegen neun Uhr dem Stadttheile genähert hatte, wo er den Bruder erwarten sollte, wurden alle seine gemischten Rückerinnerungen auf Melanie, Rudhard, Olga Wäsämskoi und besonders jenen tiefen Akkord: Anna von Harder durch die Sorge unterbrochen, sich in dieser verworrenen, dunkeln, menschenüberfüllten Gegend zurechtzufinden. Die weiße Rose, die er von dem ihm nachgeworfenen Blumenstrauße bei der Fürstin Wäsämskoi mitgenommen hatte, war in dem Gedränge sogleich vom Stiele gebrochen und noch ehe er sie hatte retten können, von den Vorübergehenden zertreten, vom Straßenkoth beschmuzt. Er mußte sie aufgeben. Er mußte jetzt nur noch nach den Straßenecken sehen, auf denen die Namen derselben kaum noch zu lesen waren, trotz der nicht gesparten Beleuchtung dieses Viertels. Endlich entdeckte er die Brandgasse und zählte sich das neunte Haus ab. Eben hatte er es gefunden, als er zur Höhe blickend einen Schlag auf die Schulter erhielt.

Er kam von Dankmar, der ihn erwartete.

Um nicht vom Gedräng gestört zu werden, traten sie sogleich in die Hausflur, die ihnen ein gesicherter und ruhiger Begrüßungsort schien.

Nun, da bin ich! sagte Siegbert, voll Freude und voll Rührung. Abenteuerlicher Mensch! Wohin verlockst du mich? Ich brauchte einen freien Platz, wo ich geschützt vom Dunkel der Bäume dir um den Hals fallen wollte, um mein Herz zu erleichtern, und hier in dem Wagengerassel, in dem Tumult der Menschen, hier auf der Hausflur dieser alten Räuberhöhle, was soll ich da?

Ganz gut! Ganz gut! sagte Dankmar lachend und gefaßt, aber voll Wärme. Ganz gut, daß uns die Umgebungen jede rührende Scene abschneiden. Was ich heute früh fühlte, als du mit dem Geständnisse deines Glückes mir meine eigenen Träume zerstörtest, Das hab' ich dir in meinem Briefe gesagt. Ich schrieb dir, weil ich dir nicht mündlich verrathen mochte, daß mir die Trennung von einem so fesselnden Gedanken doch die schmerzlichste Überwindung kostete! Zu Grün's hätt' ich nicht kommen können; es hat mir wirklich diesen ganzen Tag gekostet, mich zu sammeln und zurechtzufinden!... Die wichtigsten Dinge mußt' ich aufschieben und hättest du mich noch vor wenigen Stunden gesehen, würdest du gesagt haben, ich gehörte jetzt zu den Träumern, während ich doch nicht einmal heute zu den Schläfrigen gehöre.

Du hast dich von einer Quelle des Glückes losgerissen, sagte Siegbert, die mir doch nie geflossen wäre. Heute Mittag sprach ich Melanie und wohl sah' ich, daß ich ewig würde vergebens gehofft haben.

Du sahst sie? Und sprach sie von mir?

Sie sprach von dir.

Nun...?

Ich entdeckte und erlebte ohne dich heute so Manches, daß ich dir in geeigneter Umgebung ausführlich davon reden muß. Soviel aber beobachtete ich doch fast, daß du nicht nöthig gehabt hättest, weil mir jene Quelle nicht rinnen wird, dir sie selbst zu trüben.

Zu trüben Bruder? Doch! Recht umgewühlt hab' ich sie! Recht das Unterste zu oberst gebracht! Es muß so sein. Trinke nun daraus, wer mag!

Siegbert seufzte und fuhr, sich im Dunkeln umsehend, fort:

Was thun wir hier? Was sollen wir bei Hackert, den du mich so zu verabscheuen gelehrt hast? Glücklicherweise habe ich sein Geld bei mir!

Pst! sagte Dankmar und sah' sich um, als hätte er bei Erwähnung des Geldes etwas wispern hören.

Dann fuhr er fort:

Ich bin diesem zweideutigen Menschen heute doch näher gerückt und hab' ihn zu meiner Freude in einer guten, mir aus Interesse an der menschlichen Seele doppelt werthen Stunde gefunden. Bei ihm schrieb ich den Brief an dich. Den Nachmittag verwandte ich darauf, Lasally zu bewegen, von einer Klage gegen Hackert abzustehen, worüber ich diesem heute Abend denn meinen Bericht abstatten wollte. Da ich zugleich die Gelegenheit benutzen mochte, dich in eine rührende, deinem Geschmacke entsprechende Familienscene einblicken zu lassen, so beschied' ich dich um neun Uhr selbst hierher. Wir finden im dritten Hof, drei Treppen hoch, Hackert, dem ich leider keine gute Nachricht über Lasally bringen kann. Hoffentlich fühlt er sich aber dadurch nicht zu verstimmt, mir sein Leben zu erzählen, was er mir heute früh versprochen hat. Also du hast sein Geld bei dir?

Ich hab' es, sagte Siegbert leiser, sah sich um und faßte an seine Brust; denn die verdächtigsten Gestalten drängten sich jetzt durch die enge Hausflur an ihnen vorüber: Bettler und Arbeiter der niedrigsten Klassen, die unheimlichsten Figuren...

Bruder! sagte Siegbert flüsternd. Hier scheinen alle Sträflinge, die heute Abend entlassen wurden, ihr Quartier zu suchen. Welche Dünste in dieser Straße! Und hier der Gang fast zum Ersticken so schwül!

Das eben war es, was ich dir zeigen wollte und ich weiß, für einen Blick in das Innere dieser alten räucherigen Wände wirst du mir dankbar sein. Komm, wir wollen jetzt versuchen, ohne uns den Hals zu brechen, in Hackert's Wohnung zu gelangen.

Damit schritten die beiden jungen Männer einem Abendlichtschimmer zu, der aus dem ersten Hofe noch spärlich auf das äußerste Ende dieses Ganges hereinbrach...

Frau Mullrich erhob jetzt ihr mumienartig getrocknetes Haupt. Sie hatte zwar sehr viel Worte gehört, sehr viel Namen deutlichst verstanden, mußte sich aber doch gestehen, daß diese Unterredung etwas hoch war, etwas zu schwunghaft für ihren niedrigen Kellerhorizont. Dennoch hatte sie Namen, wie Melanie, Hackert, Grün's, Lasally ganz deutlich behalten, sogar von Geld etwas unwiderruflich vernommen und auf Bartusch's nähere Angabe der Fährte, auf die er sie bringen konnte, hoffte sie schon, sich noch weiterer Dinge zu entsinnen aus diesem Dialoge, den sie für sich hoch, näher bezeichnet »studirt« nannte. Sie zündete wieder ihr Dreierlicht an, dessen rasches Ausblasen einen abscheulichen Gestank verbreitet hatte, kehrte zu dem in einen Schuh zu verwandelnden Pantoffel zurück und dachte: Wenn es nur erst zehn Uhr schlägt, dann hab' ich Alles in der Falle und Keiner kommt heraus oder herein, der hier nicht Stand, Namen und sein Anliegen zu sagen weiß.

Die beiden Brüder hatten nun inzwischen schon glücklich die beiden ersten Höfe hinter sich und tappten im dritten eine schmale, finstere Stiege hinauf, die unmittelbar von dem Hofe in die obern Wohnungen führte. Bei dem ersten Absatz zeigte Dankmar seinem Bruder die hier beobachtete architektonische Einrichtung. Von der Treppe links hinaus ging immer ein langer dunkler Corridor um zwei Schenkel des Vierecks herum, das den Hof bildete und alle Zimmer lagen mit ihren Thüren auf diesen Corridor hinaus, mit den Fenstern in den Hof. Daß und wie die Zimmer numerirt waren, konnte man der Dunkelheit wegen nicht mehr erkennen. Rechts von der Treppe ging eine offene Galerie hinaus um die beiden andern Seiten jenes Vierecks, das den Hof bildete. Hier auf dieser zerbrechlichen Galerie sah man wiederum eine Menge Thüren, die alle zu abgesonderten, meist nur aus einem Zimmer bestehenden Wohnungen führten, deren Fenster größtentheils auf die Galerie hinausgingen. Dieselbe Einrichtung wiederholte sich auf der zweiten Treppe.

Schade, sagte Dankmar, daß die Furcht vor Diebstahl alle Lumpen, alle Wäsche, Betten und Geräthschaften von den Galerien für den Abend entfernt hat. Am Tage war Das heute ein schönes Durcheinander! Jetzt ist Alles ängstlich hineingenommen, da hier wol kein Nachbar dem andern traut.

Wie Siegbert nun dem Bruder in den dritten Stock nachkletterte und er an einem dicken, durch das viele Angreifen seifenglatt gewordenen Tau sich mehr schwankend hinaufwinden mußte, als sicher gehen konnte, wurde ihm die Erinnerung an einen Menschen, der hier wohnte, in diesen Höhlen des Elends, und ein Packet von hundert Thalerscheinen auf die Straße hatte werfen können, so unglaublich, daß er Dankmar'n darüber flüsternd sein Befremden ausdrückte.

Still! wisperte dieser. Nichts von Geld hier gesprochen! Wenn du ihm seine Summe einhändigst, thu' es stillschweigend. Die Nachbarschaft nach links von ihm ist ehrlich, aber die nach rechts soll nichts taugen, obgleich sie sich für Hackert's Freund ausgibt und die Veranlassung ist, warum er hier wohnt.

Indem waren die Brüder oben. Dies Stockwerk, sahen sie wohl in der Dämmerung, war nicht so vollständig wie die andern. Links von der Treppe lagen wol noch dieselben Zimmer wie unten, aber schon Dachzimmer, rechts ging die Galerie nur halb in den Hof hinaus. Die andere Seite war ein Dach. Die Fenster gingen hier auf diese Galerie alle selbst hinaus und wie sie ihre morschen, durchsichtigen Bretter betraten, fiel Siegberten eine mit einer Zahl bezeichnete Thür auf, die mit zwei mit Eisenstäben vergitterten Fenstern zu einem einzigen Zimmer zu gehören schien.

Hier ist ja ein Gefängniß, sagte Siegbert.

Nein, antwortete Dankmar leise, das ist Hackert's Wohnung... Aber, ich sehe kein Licht. Sitzt der im Dunkeln oder hält er nicht Wort?

Indem klopfte Dankmar an diese Thür, die Nr. 86 bezeichnet war, und klinkte am Drücker. Das Zimmer war verschlossen.

Da haben wir eine beschwerliche Wanderung umsonst gemacht! bemerkte Siegbert, dem dieser Schluß eines so aufgeregten Tages fast humoristisch vorkam.

Vielleicht könnte man gleich bei Nr. 87 vorsprechen, flüsterte Dankmar und auch ohne Hackert die Scene erleben, die ich dir eigentlich bescheren wollte.

Du machst mich neugierig, sagte Siegbert. Vielleicht öffnet sich eine dieser Thüren und wie in »Tausend und eine Nacht« sind wir statt in einer Höhle plötzlich in einem wunderschönen Feenpalast.

Romantiker! sagte Dankmar lächelnd und pochte jetzt so nachdrücklich an Hackert's Thür, daß aus Nr. 85 ein spitznasiger, bebrillter Kopf herausschoß, ein wahres Original zur Carricatur eines Schreibers.

Ah, Herr Schmelzing! grüßte ihn Dankmar. Ich störe Sie doch nicht schon im Schlafe? Herr Hackert nicht zu Hause?

Herr Schmelzing war eben auch erst wieder nach Hause gekommen, voll vom Herrn Oberkommissär, der ihm sein besonderes Vertrauen schenkte und stand in Hemdärmeln. Rasch fuhr er wieder in sein Zimmer zurück und kam nach einer Secunde in einer grünen Jacke mit einem großen grauen befestigten Dintenärmel am rechten Arm heraus. Er hielt ein Licht, das seine Glotzaugen, seine stumpfe kleine Nase, den zahnlosen Mund, die endlose Stirn, das thierische Kinn noch mehr illustrirte.

Ganz gehorsamster Diener, meine Herren – Herr Hackert? Ei ich meine doch –

Damit drückte Herr Schmelzing auf die Klinke der Thür seines Nachbars.

Nein, sagte er dann erstaunt und überrascht von diesem späten Besuche seines Nachbars, Herr Hackert sind nicht zu Hause; kommen manchmal etwas spät. Wünschen Sie vielleicht zu warten, meine Herren! Woher hab' ich die Ehre Ihrer Bekanntschaft, meine Herren?

Die saubere Aufschrift Ihrer Thür, Herr Schmelzing, die ich heut' früh schon gelesen habe: Herr Schmelzing, Privatschreiber; nicht so?

Schmelzing stand als wenn er diese Worte nicht verstanden hätte.

Dankmar unterstützte sie durch einen Fingerzeig auf die Thür.

Schmelzing wandte sich nun erst an seine eigene Thür Nr. 85 und las den Zettel, gleichsam als wenn er ihm unbekannt wäre.

Ja wol! Privatschreiber! Aber auch Herr Hackert sind ein Meister in diesem Fache. Wünschen Sie vielleicht unsere Dienste im Kalligraphischen? Ich schreibe für viele der Herren Advocaten – auch dichterische Erzeugnisse – Rollen für die Herren vom Theater – wünschen Sie vielleicht einen Auftrag ausgeführt?

Während Schmelzing seine Dienste unterwürfigst anbot, hatte sich aber schon die Scene verändert.

Hier und da trieb die Neugier über das späte Lautsprechen auf der Galerie des dritten Stockes jene Gesichter zum Vorschein, die schon an der Eingangspforte Siegberten so unheimlich erschienen waren. Auch Frauen in Hauben oder aufgelösten Haaren fehlten nicht. Letztere mehr hexen- als lurleiartig. Die angenehmste Vermehrung der Gesellschaft war aber aus Nr. 87 ein kleines Mädchen, das wir schon kennen, Linchen Eisold, zu der sich sogleich auch Wilhelm, ihr kleiner Bruder, gesellte. Dieser war schon ziemlich verschlafen und gähnte so laut, daß es fast auf der Galerie ein Echo gab. Jene aber knixte gar anmuthig und sagte gewandt und höflich, ob die Herren nicht näher treten wollten; Herr Hackert würde gewiß gleich kommen.

Das ist nun gerade, was ich dir gönnen wollte! flüsterte Dankmar und schob Siegberten eine Thür weiter.

Gute Nacht, Herr Schmelzing, rief er dann sehr laut (denn er hatte schon weg, daß Herr Schmelzing wol etwas taub war), entschuldigen Sie die Störung!

Dieser mit halb geöffnetem Munde und dem nachdrücklichsten und höflichsten: Bitte, keine Ursache! das ihm aber doch vor Neugier zwischen den fahlen Lippen halb stecken blieb, sah den jungen Männern kopfschüttelnd nach, wie sie unter der Thür Nr. 87 sich bückend verschwanden. Alle Augenblicke machte er sich später auf der Galerie etwas zu schaffen, um zu hören, was in Nr. 87 vorging, einer Wohnung, die jedoch nur eine kleine Küche mit einem Fenster auf die Galerie hinausgehend hatte. Des Hauptzimmers Aussicht ging hinterwärts in ganz andere Höfe hinüber.

Der Raum, den Siegbert und Dankmar anfangs in Nr. 87 um sich hatten, war nicht größer, als daß er für etwa acht Menschen, die dicht nebeneinander standen, ausgereicht hätte und doch stand hier erstens ein Feuerherd, zweitens ein Küchenschrank, drittens ein Bett mit einer Menge geringfügiger Gegenstände, die alle Platz haben wollten. Eine Thür links führte zu Hackert's Zimmer; doch stand zum Zeichen, daß sie ignorirt wurde, ein Besen, ein Zuber, ein Eimer und eine Waschbank davor und eine Thür rechts führte in das große Wohnzimmer.

Dies große Zimmer war nun allerdings sehr geräumig und mußte es sein; denn nicht weniger als acht Menschen waren darauf angewiesen, hier zu wohnen und theilweise auch zu schlafen. Das Zimmer hatte drei Fenster, von welchem zwei geöffnet waren und die kühlende Abendluft der hintern Aussicht hereinließen, eins aber war verhängt und durch eine Schirmlampe beleuchtet. Hier war Nacht, an den beiden andern kleinen Fenstern noch leidlicher Tag.

An dem beleuchteten Fenster saß ein alter Mann, der auf einem Tische vor sich zwei oder drei alte Uhren, in der Weise der Schwarzwälder Uhren, aber viel größere und unförmlichere, stehen hatte, in denen er mit einer Fahne von einer Feder die Gänge und Triebräder vom Staube rein kehrte und dann und wann die Uhren schlagen ließ. Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren stand hinter ihm auf einem Fußschemelchen und löste ihm einen kleinen weißgelben Zopf auseinander.

Der nach dem uralten, wie abgestorben scheinenden Greise älteste männliche Bewohner dieses Raumes, ein junger Mann von vielleicht funfzehn Jahren, saß neben ihm und benutzte das ihm zuschimmernde Lampenlicht, um in einem mit mathematischen Zeichnungen ausgestatteten Buche zu lesen. Kaum blickte er zu den Besuchern, die er ungern zu sehen schien, empor.

Auf einem Tisch am zweiten Fenster standen mehrere, wie es schien eben geleerte Näpfe, in denen Suppe gewesen schien; denn noch stand ein Rest davon in einer großen irdenen Schüssel in der Mitte des Tisches. Ein Laib groben Brotes mit einigen blankgeputzten Messern lag daneben. Eben streute sich ein winziges Bübchen von vielleicht drei Jahren auf ein Stück Brot aus einem Salzfasse dicke Körner Salz, um es mit dieser Delikatesse schmackhafter zu machen.

Am dritten Fenster sah man einen großmächtigen aufgespannten Stickrahmen, der auf zwei Stühlen lag. Daneben ein Tischchen mit allerhand bunter Wolle, Schachteln mit weißer Baumwolle, Zeichnen- und Stickmuster und kleine violette englische Quadrat-Papiere mit feinen Nähnadeln.

Außer dem alten Uhrmacher mit dem Zopfe bezeugten alle Anwesenden den eintretenden Herren eine Art Aufmerksamkeit, bei der jedoch die Überraschung und Schüchternheit die Höflichkeit milderte. Das freundliche Guten Abend! der Brüder wurde nur von einer einzigen wohltönenden unsichtbaren Stimme erwidert, die hinter einem Bettschirme hörbar wurde, der in einer Ecke des Zimmers stand.

Ich wundere mich, lauteten die angenehmen Worte vom Bettschirme her, ich wundere mich, daß Herr Hackert noch nicht zu Hause ist. Er wollte doch präzis um neun Uhr da sein. Es muß doch schon halb zehn geschlagen haben.

Dabei schlug es an einer der drei Uhren, die der alte Eisold reparirte, mit zwei Schlägen... Bim! Bim!

Es thut uns leid, sagte Dankmar, Sie zu stören, während Sie wahrscheinlich schon Alle an's Schlafengehen denken.

Ich noch nicht, sagte die Unsichtbare und die Großen auch noch nicht. Großvater geht zu Bett! Die Kleinen haben auch schon den Sandmann im Auge.

Gewiß bringen Sie da hinten Ihr kleines Hannchen zur Ruhe.

Ach, das schläft schon mit den Vögelchen ein, aber es ist recht unruhig heute, wacht leicht auf und da hab' ich's einwiegen müssen und ihm ein paar Löffel warmer Milch gegeben...

Darf man denn wol einmal hinter dem Vorhang die Bescherung sich ansehen? Ich bringe meinen Bruder mit! Der malt gern die kleinen Engelsköpfe...

Nicht Engelsköpfe, sagte die Stimme bedenklich. Kinder soll man nicht Engel nennen, sonst sterben sie ja.

Sind Sie so abergläubisch, fragte Dankmar, während die Uhren einen dreifachen Refrain gaben: Bim! Bim! Bim!

Wo der Aberglaube nützlich ist und wie hier vor Eitelkeit schützt... lautete die Antwort.

Darf ich näher? sagte Dankmar.

Nein, nein! hieß es hinter dem Schirme; dies ist eigentlich ein Zimmer ganz für sich. Der Kreidestrich da gilt für die Thür. O wenn wir's genau nehmen, haben wir eine zwar recht hohe, aber doch ganz vornehme Wohnung. Freilich geht der Eingang durch die Küche! Aber wir haben eine Küche, die auch zugleich Schlafzimmer ist, hier hinter dem Bettschirm ist mein, Großvaters und meines kleinen Hannchens Schlafzimmer, hinter dem dunkeln Fenster ist Großvaters Werkstatt, am zweiten Fenster unser Eßzimmer, am dritten mein Arbeitszimmer. An der Thür, wo Sie stehen, müssen wir leider unsere Besuche annehmen, das ist unser Besuchzimmer und dabei sind wir so im Überfluß an Raum, daß wir doch noch an Herrn Hackert und Herrn Schmelzing zwei Zimmer vermiethet haben. Was sagen Sie zu all' dem Reichthum?

Die Uhren schlugen zusammen, als wenn ein Dirigent gerufen hätte: Tutti!

Die Sprecherin kam zum Vorschein. Mit beiden Armen hielt sie die Öffnung zwischen der Mauer und dem einen Ende des Schirmes zu; denn Dankmar wollte eben dennoch Siegberten an die Wiege führen.

Als sie aber im Dämmerlichte bemerkten, daß hier noch zwei Betten und ein sehr weißes und sauberes stand, das wol schon für die Sprecherin selber aufgedeckt war, zogen sie sich zurück und beobachteten nun bei halbem Sternen- und halbem Lampenlicht das junge Mädchen, das die Mutter aller dieser Kinder schien, aber in Wahrheit nur die ältere Schwester war.

Louise Eisold mochte nicht viel über achtzehn Jahre zählen. Es war eine blasse, wie verklärte Erscheinung, der man sogleich ansah, daß ihr diese heitere Plauderei nicht ganz natürlich kam. Die Züge waren von einer in solchem Stande seltenen Feinheit und Regelmäßigkeit. Nase, Kinn, mehr spitz als rund, aber so anmuthig, daß den Lippen mehr Frische, dem Auge mehr unternehmendes Feuer, dem blonden Haare eine etwas dunklere Färbung zu wünschen gewesen wäre, um die Wirkung dieser gefälligen Erscheinung noch blendender hervortreten zu lassen. Ein leichtes Kattunkleid, bis oben geschlossen, umgab die im Widerspruch mit dem zarten, wol etwas abgehärmten und erschöpften Gesicht stehenden volleren und runden Formen des Körpers. Das volle, hellblonde Haar war in einen einfachen Scheitel gekämmt und trug nur den einzigen Schmuck eines schwarzen Sammetbandes, mit dem hinten die Flechten zusammengehalten waren. Dies Band erschien fast wie ein letzter Rest von äußerer Trauer, die in der That diese sieben Kinder erst vor wenigen Monaten abgelegt hatten. Die böse Seuche der Cholera hatte ihnen in Zeit von wenig Stunden Vater und Mutter geraubt, die Enkel des alten Uhrmachers, der demnach eigentlich der Urgroßvater dieser armen Waisen war.

Aber wo werden denn all' die übrigen Geschwister schlafen? fragte Siegbert, den der Einblick in diese Welt der Entbehrung rührte.

Da werden Sie erstaunen, sagte Louise und räumte in Eile die Näpfe und die Schüssel und Teller vom Tisch, bedeutete auch im Vorbeigehen dem kleinen Heinrich, daß er viel zu viel Brot auf die Nacht äße und sich's gegen ihre Erlaubniß schon wieder selbst genommen hätte... Es ist nicht wegen des Brots, aber er schneidet sich noch einmal in die Finger, der kleine Nimmersatt! sagte sie, im Gegensatz zu dem Arzte, der sich hier doch wol der Skrophelkrankheit wegen würde umgekehrt ausgedrückt haben.

Dabei zog Louise Eisold aus einem alten Sopha, das der Thür ziemlich nahe stand, eine untere Schublade hervor und siehe! diese enthielt ein vollständiges Bett. Dann ergriff sie nacheinander vier Stühle und stellte sie in der Mitte des Zimmers so auf, daß für den Besuch nicht mehr viel Raum übrig blieb. Nun hüpfte sie hinter ihren Bettschirm, brachte einen großen Strohsack geschleppt, bei dessen Transport sie jede Hilfe – weil sonst nur etwas könnte irgendwo gestoßen werden, sagte sie – ablehnte und zwei Breter. Die Breter legte sie auf die vier Stühle, auf diese Unterlage warf sie den Strohsack, legte eine leinene Decke darüber, ein breites Kopfkissen, eine Decke, und hatte somit wieder für zwei Personen gesorgt. In der Küche schläft, sagte sie, mein ältester Bruder dort, der unhöfliche Mensch, der über seinen Büchern Artigkeit und Schlaf vergißt. Hier hinten Großpapa, ich, Linchen und Hannchen; sind fünf. In der Bettlade da Heinrich und Wilhelm; sind sieben. Hier auf den Stühlen Riekchen, die die müdeste ist mit Wilhelm, dem armen Läufer und daher auch ein Bett für sich allein hat. Sind unserer acht, wie uns der liebe Gott wunderbar zusammengelassen hat, als Vater und Mutter an der schrecklichen Seuche vor fast einem Jahr hinübergingen.

Der alte Eisold schlug wieder an auf einer seiner Uhren und da er wol halb zuhörte, gab er auch acht Schläge und seufzte... Sein Zopf war nun ausgelassen... Riekchen stieg vom Schemel herab und ließ offen das ehrwürdige weißgelbe Haar des alten Mannes sehen, der jetzt halbtaumelnd aufstand, von Karl geführt wurde und ohne sich im mindesten um seine Umgebung zu kümmern, hinter dem Bettschirm verschwand.

Siegbert gedachte beim Schlagen der Uhr jenes Sensenmannes bei Rudhard und fühlte an einem Schauer, der ihn überlief, daß der Tod hier nahe sein mußte...

Daß Ihr Beruf der eines Engels ist, der über Geschwistern wacht, sagte Dankmar zu Louisen, sehen wir wohl! Aber was treibt denn der fleißige Leser dort, der den Großpapa zu Bette bringt und die Uhren da an den Riegel henkt und wovon ist Wilhelm so ermüdet?

O, antwortete Louise, die Betten auflockernd und ausglättend, schon wieder Engel! Ich kann die Ehre und Gnade, ein Engel zu sein, noch nicht annehmen. Die Engel im Himmel, nicht wahr, Heinerchen (sie zog den kleinen Heinrich aus) das wissen wir schon, die haben hier genug herum zu fliegen mit ihren goldenen Flügelchen und uns auf das nächste Christbäumchen zu vertrösten, das wir uns trotz unserer Armuth doch nicht entgehen lassen. Wir müssen arbeiten. Da sehen Sie meine Tapisserie am Fenster! Aber es ist zu dunkel. Ich nehme, wenn Großvater zu Bett ist, seine Lampe und sticke noch bis zwölf Uhr. Die Arbeit drängt... Sie ist für eine Braut.

Die Vergleichung mit einem Engel hatte ihre Überlegung so in Anspruch genommen, daß sie Dankmar's eigentliche Frage überhörte.

Siegbert aber gedachte des Gedichtes, das er für Louis Armand übersetzt hatte, und der letzten Strophe:

Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Juwelen hast du und die Tugend noch!
Kannst deine feuchten Perlen fallen sehn
Auf's Kleid der Braut, das deine Finger nähn!
Bist reich wie sie – o Gott, nun weinst du doch!

Wie, dacht' er, wenn dies das Mädchen wäre, dem Louis Armand das Gedicht gewidmet hatte und Max Leidenfrost, der mich auf sie aufmerksam machte, Nichts von dieser Bekanntschaft wüßte! Aber er hätte nicht einmal gewünscht, daß Armand's greller schmerzlicher Seufzer in der Brust dieses in ihrer Entbehrung glücklichen Mädchens niedergelegt wurde, das in der unbefangensten Stimmung, als er schon die Frage nach Max Leidenfrost auf den Lippen hatte, fortfuhr:

Der Großvater, der eigentlich unser Urgroßvater ist, was wir aber nicht sagen, weil ihn die andern Leute schon den Uhrengroßvater nennen... ja er ist auch wirklich der Pflegevater von all den Uhren, die noch nach dem alten Schlage hier und da von den Leuten gehalten werden. Von Jahr zu Jahr nahmen die alten Wanduhren ab; aber seit kurzem werden sie wieder Mode. Die reichen Herrschaften kaufen sie auf dem Trödel und lassen sie schön aufputzen und so ist's auch dem alten Väterchen da geschehen, daß sein Zöpfchen wieder seit einigen Jahren Mode wird und er manche Kunden hat, denen er alle drei Monate einmal in's Uhrgehäuse blasen darf und die Räder mit Öl glätter machen. Das bringt Holz und Licht. Die Miethe rechn' ich durch Hackert und Herrn Schmelzing. Essen und Trinken ist die Sorge meiner Hände und daß die nicht klein ist, sehen Sie wol an den acht gesunden Mägen, denn auch Großväterchen hat noch Gott sei Dank Appetit trotz seiner zwei und achtzig. Kleider, Miethsabgaben, Schulgeld das verdienen die Andern. Karl, der da in dem Buch studirt, ist Maschinenarbeiterlehrling in der Willing'schen Maschinenfabrik. Das Buch da hat er wol aus dem Handwerkerverein von heute mitgebracht. Nicht so, Karl?

Von Herrn Leidenfrost hab' ich's, sagte Karl Eisold etwas artiger als bisher.

Siegbert blickte ihm über die Schulter in's Buch und fand, daß es ein Lehrbuch der Mechanik mit Abbildungen war.

Herr Leidenfrost besucht uns manchmal Sonntags, sagte Louise zur Erklärung und Ablehnung jeder Voraussetzung einer nähern Bekanntschaft mit studirten Herren.

Siegbert ergänzte, daß er ihn kenne, worüber Louise eine aufrichtige Freude empfand, da ihr Bruder Karl sich seines besonderen Schutzes erfreue und Herr Leidenfrost bei Herrn Willing Alles vermöge...

Nun, unterbrach Dankmar, Sie sind aber noch nicht fertig in Ihrem Staatshaushalt. Miethe, Holz, Licht, Essen, Trinken ist da... aber... da bleibt noch Manches übrig.

Die Kleinen da verdienen auch schon; sagte Louise. Wilhelm und Karoline gehen Vormittags in die Schule, essen dann rasch und von zwei Uhr verdienen sie.

Womit? Wenn wir fragen dürfen?

Sie sind in einer Druckerei beschäftigt, die große Zeitungen druckt. Bis sechs Uhr legen sie die frisch gedruckten Zeitungen und bis neun Uhr Abends tragen sie sie aus. Im Winter, wenn der Schnee die Posten aufhält, müssen sie oft noch um elf Uhr herumtrollen, die armen Tröpfe, aber was hilft's! Die Kaufleute und die Gelehrten wollen wissen, wie's in der Welt aussieht und wenn sie noch so verschneit ist. Die drei Jüngsten endlich verdienen auch ihren Theil...

Was? riefen die Brüder erschrocken.

Louise lachte und sagte:

Ja! Ja! Riekchen verdient, wenn sie mir Garn wickelt, Heinrich, wenn er hübsch artig ist und Hannchen, das dreizehn Monate alte kleine Schwesterchen, das ich nach dem Tode der Mutter mit Milch aufziehe, durch sein gutes Gedeihen und frohes Lächeln. Auch Das muß mit arbeiten. In Freude und Sonnenschein gedeiht ja Alles besser. Aber... Vergeben Sie mir! Herr Hackert! Wo bleibt er nur! Und ich kann Ihnen keinen Stuhl mehr anbieten, außer den da vom Karl! Steh doch auf, Karl!

Lassen Sie, liebe Louise, sagte Dankmar. Wir sehen, Sie wollen Alle zur Ruhe gehen. Hackert hat nicht Wort gehalten. Wir gehen und wünschen Ihnen eine gesunde, stärkende gute Nacht!

Nein, nein, begann Louise mit Ängstlichkeit, Das darf ich nicht; ich kann Sie nicht fortlassen. Herr Hackert kommt sicher sogleich. Sie glauben nicht, wie er sich auf Sie und den Herrn Bruder heute freute. Ach, es ist mir, als wenn ihm ein Unglück droht, das Sie vielleicht abwenden können! Wie Sie heute bei ihm drinnen schrieben und er so ruhig neben Ihnen auf dem alten harten Sopha lag, das wir ihm doch noch hineinstellen konnten, da war ich recht froh, daß ein guter Geist über ihn gekommen schien...

Nehmen Sie denn so warmen Antheil an Ihrem Miether? fragte Siegbert.

Sollte es nicht jede Seele, die ein Herz in der Brust hat? war die Antwort. Gibt es unglücklichere Menschen, als die in der Nacht wandeln.

Siegbert sah Dankmarn erstaunt an.

Hackert ist somnambul! sagte Dankmar zum Bruder. Die eisernen Stäbe, die dir auffielen, sind nicht ohne Absicht vor seinen Fenstern.

Siegbert konnte sich kaum über diese Mittheilung zurechtfinden. Er fragte voll innigster Theilnahme, wie lange Hackert an diesem Übel litte, wann man es zuerst bemerkt hätte, wie und wo? Der lebendige Antheil, den er seit dem Nachmittag in Tempelheide an Hackert nahm und den nur die Mittheilung Dankmar's von heute früh, Hackert verdiene seine gute Meinung nicht, etwas wankend gemacht hatte, gab sich in so lebhaften Fragen wieder kund, daß Dankmar ihn an die Nothwendigkeit erinnern mußte, diese des Schlummers bedürftige große und kleine Welt sich nun allein zu überlassen.

Louise aber widerstand seiner Absicht zu gehen auf's bestimmteste. Sie verrieth dabei einen Antheil an Hackert, der über das allgemeine Mitleid wegen seines körperlichen Zustandes hinauszugehen schien.

Sie haben Recht, sagte sie, lassen Sie diese schlummern! Aber ich mache Ihnen den Vorschlag, treten Sie in sein Zimmer selbst so lange ein, bis er kommt.

Es ist verschlossen; sagte Dankmar.

Wohl, auch von dieser Seite da... antwortete Louise.

Sie öffnete die Thür und zeigte auf die durch allerhand Küchengeräthschaften verstellte Nebenthür, die zu Hackert's Zimmer führte...

Allein ich habe den Schlüssel zu dieser Nebenthür! fuhr sie fort. Treten Sie hier ein! Ich bringe Licht und Sie warten noch einige Augenblicke.

Die Brüder wurden so von des Mädchens bestimmtem Willen geleitet, so von den kleinen Geschwistern, die gähnend aber auch neugierig sie umstanden, gedrängt, daß sie sich gefallen lassen mußten, zu bleiben. Man räumte Alles von der Verbindungsthür fort und schloß sie auf. Louise sagte den Kindern, sie sollten den Herren Gute Nacht! sagen. Dies geschah und einige Sekunden darauf waren die Brüder in Hackert's dunklem vergitterten Zimmer ganz allein... Louise rief von der Küche, sie käme sogleich nach mit Licht...

Karl Eisold, der älteste Bruder, bewegte sich bei allen diesen Unternehmungen seiner Schwester nicht im geringsten. Nur als sie einen zu lebhaften Antheil an Hackert verrieth, schlug er das Buch, in dem er gelesen hatte, fast heftig zu und ging hinter die Tapetenwand. Er schien mit seiner Schwester über irgend etwas gespannt zu sein...

Nun, hatt' ich Recht, begann Dankmar, als die Brüder in Hackert's Zimmer in der Dunkelheit allein waren, hatt' ich Recht, dir die Bekanntschaft dieser eigenthümlichen, häuslichen Existenz deines Schützlings zu verschaffen? Was das Gemälde, das du hier beobachtetest, doppelt anziehend macht, ist die Beziehung auf Hackert, der, sprach ich auch heute in der Frühe gegen ihn, dein erstes Gefühl nicht getäuscht hat und wol mehr bemitleidenswerth als zu fürchten ist. Fast möcht' ich glauben, daß ihn dieses edle Mädchen, das sich dem Wohle ihrer Geschwister opfert, liebt...

Sprich nicht so laut, flüsterte Siegbert, hier nebenan horcht der Schreiber Schmelzing...

Es war so finster in dem, wie Siegbert wohl merkte, engen Zimmer, daß sie ungeduldig das Licht erwarteten, mit dem Louise zurückkehren wollte...

Indem fiel ein Lichtschimmer von der Galerie her durch die vergitterten Fenster. Man hörte ein Rascheln, wie von Jemanden, der sich an dem Stricke der Treppe hinaufwand; denn mehr sich daran hängend, als mit freiem Tritt auf den schmalen Stufen, konnte man hinauf.

Sollte Dies endlich Hackert sein? flüsterte Dankmar. Es wäre Zeit. Ich glaube nicht, daß man bis nach zehn Uhr gut in diesen Häusern bleiben kann...

St! flüsterte Dankmar und horchte.

Der Ankommende hustete und bewegte sich sehr schwer. Er hatte ein Mützchen auf, das ziemlich weit über den Kopf ging und stützte sich auf einen Stock, den man vielleicht gut that, in diesen Räumen immer bei sich zu führen. Die Laterne, die den Lichtschimmer verbreitete, hielt ein altes Weib, das die Brüder nicht kannten... Es war die Vizewirthin Frau Mullrich.

Da ist Nr. 86 flüsterte die Alte. Herr Hackert muß doch zu Hause sein; die Herren sind nicht wieder gekommen.

Der Mann in der Mütze klopfte an die Thür des Zimmers, in dem Siegbert und Dankmar noch im Dunkeln standen. Sie hielten sich zwischen dem Pfeiler der beiden Fenster, um durch den von der Galerie hereinfallenden Lichtschimmer nicht bemerkt zu werden.

Der Mann in der Mütze klopfte wiederholt.

Ei, ei, rief Frau Mullrich jetzt laut, Herr Hackert nicht zu Hause? Ei, ei! Ei! Ei!

Sie münzte dieses Ei! Ei! auf die beiden Herren, die, wenn Hackert nicht anwesend war, sicher zu Louise Eisold gegangen waren...

Klopfen Sie doch stärker, fuhr sie boshaft fort. Herr Hackert schlafen vielleicht schon.

Ich glaube den alten Störenfried zu kennen, flüsterte Dankmar seinem Bruder zu. Irr' ich nicht, so ist es der Geschäftsführer des Justizraths Schlurck, der auch von diesen alten Häusern die Verwaltung besitzt... Du weißt noch gar nicht, welches Interesse wir an diesen Häusern haben müssen...

Noch hatte er seine Rede kaum ausgesprochen, als sich beide Brüder von einer weichen Hand ergriffen fühlten und einen warmen Athem dicht an ihrem Ohre fühlten...

Halten Sie sich ruhig! Der Alte ist Hackert's Feind! Er kann nichts Gutes bringen. Wir sagen, er ist nicht zu Hause.

Es war Louise, die leise hereingeschlichen war und ihnen diese Verhaltungsmaßregel zuflüsterte.

Kommen Sie, Herr Bartusch! Kommen Sie! Die beiden Herren sind bei Fräulein Louise! Ich irrte mich! Herr Hackert sind noch nicht zu Hause!

Diese laut betonten, recht absichtlich hervorgekrächzten, boshaften Worte der Frau Mullrich machten, daß die Brüder das plötzliche Kaltwerden der Hände des Mädchens fühlten, von denen jeder von ihnen eine in der seinen hatte.

Wie? flüsterte Dankmar; die Alte wäre frech genug, anzunehmen, daß wir...? Lassen Sie uns sagen, daß wir in Hackert's Zimmer sind!

Nein, nein, bedeutete Louise...

Aber selbst die beste Absicht Dankmar's, für ihre Ehre einzutreten, war nicht mehr rasch auszuführen; denn schon hatte sich Bartusch brummend wieder zum Ausgang der Galerie gewandt und mit einem lauten zweideutigen Husten und Räuspern den Rückweg angetreten.

Frau Mullrich leuchtete ihm und kicherte so grell und höhnisch, daß es Louisen schauderte.

Wie können Sie nur zugeben, sagte Siegbert, als sie wieder im Dunkeln waren, daß diese Menschen sich in der Meinung entfernen, wir wären bei Ihnen?

Louise strich an einem Feuerzeuge und zündete nun ein Talglicht auf einem blechernen Leuchter an...

Sie sprechen so leise, sagte sie lächelnd, daß ich Sie kaum verstehe.

Werden wir hier nicht belauscht von Schmelzing?

Der ist sehr neugierig und boshaft genug, aber der glücklichste Zufall wollte, daß er schwer hört. Ich bin überzeugt, er hat sich den alten Kleiderschrank, der hier an der Thür steht, weggerückt und horcht jetzt. Aber wenn Sie nicht zu laut sprechen, bleibt ihm Alles unverständlich.

Während sich Siegbert nun in Hackert's Zimmer umsah und eine gewisse Ordnung an dem niedrigen Bett, dem schwarzbezogenen Sopha, dem Schreibtische, einem mit einem Vorhange bedeckten Kleiderriegel, eine Waschbank mit Schüssel und Seifennäpfchen, ja sogar einen kleinen Spiegel anerkennen mußte, tadelte Dankmar wiederholt, daß sich Louise den falschen Schein gegeben hätte, als wären sie bei ihr.

Nehmen Sie doch Das nicht so genau! antwortete Louise. Mir ist die Freude, daß dieser alte Schleicher Hackerten nicht getroffen hat, viel mehr werth als der falsche Schein für meine Person. Wir Mädchen aus den armen Ständen sind, was wir sind. Unser ganzes Leben ist dem Verdachte preisgegeben. Nur die, die in Wahrheit etwas zu verbergen haben, ereifern sich, wenn sie einmal in einem falschen Lichte erscheinen. Und dieser Alte weiß wohl, daß ich mehr für mich habe als den bloßen Schein.

Wie so? fragte Siegbert. Kennen Sie ihn?

Ich kenne ihn und er kennt mich. Hackert zog zu uns auf Empfehlung dieses Nachbars, des Schreibers Schmelzing, der viel bei dem Justizrath arbeitete. Auch entsann sich Hackert des alten Großvaters, der sonst bei Schlurcks gearbeitet hatte, als noch die schöne Melanie nicht regierte und alles Altmodische wegjagte und wegräumte. Seitdem ist dieser Bartusch, Bartusch heißt er, oft hier gewesen. Er kennt jeden Winkel dieser Häuser und wuchert und preßt der Armuth ihre Thränen in Geld ab. Mich wundert, wie er sich so spät Abends noch in diesen dritten Hof wagt, wo Manche wohnen, die ihm das Schlimmste geschworen haben...

Weiter ließ sie sich in Erörterungen nicht ein, bat sie nun, ihr Gehen zu entschuldigen und ersuchte sie dringend, doch nur noch eine Viertelstunde zu warten. Hackert wäre gewiß ohne seine Schuld verspätet. Er käme sicher. Er hätte sich zu lebhaft gefreut auf diesen Abend. Ja sie müsse ihnen sogar gestehen, daß sie selbst heute ausgegangen wäre und Thee, gute Butter und Braten gekauft hätte, für den erwarteten hohen Besuch. Ob sie denn in der Küche nicht den siedenden Kessel mit heißem Wasser bemerkt hätten?

Die Brüder gewannen jetzt erst die volle Übersicht des Zimmers, in dem sie sich befanden und entdeckten in einer dunkleren Ecke ein Tischchen mit Tassen, einer Theekanne und einem gehäuften Teller mit Braten. Daneben ein großes feines Brot und Butter und Zucker und Messer...

O sagte Louise, das ist zwar Alles sehr einfach und nicht besser, als es meine armen Ältern hinterließen, die beide in der Willing'schen Fabrik arbeiteten und doch nur wenig erübrigten, um neben dem Nöthigen auch für den Luxus zu sorgen. Für uns ist eine Theekanne Luxus. Und doch ist sie da und ich wünschte, da sie vielleicht nie gebraucht wurde, sie käme heute noch an die Reihe, eingeweiht zu werden und Sie säßen mit Hackerten bis in die tiefe Nacht. Bis zwölf Uhr kann man aus und ein... und auch später noch. St! Hören Sie nichts? Ich glaube, man kommt.

Damit hüpfte Louise wie ein raschelndes Mäuschen davon...

Es war aber nur eine List, daß sie Jemanden zu hören glaubte; sie hatte nur die Absicht, die beiden jungen Männer festzuhalten.

Ihr Bruder Karl schien aber damit nicht einverstanden. Er empfing, wie die Brüder hörten, Louisen mit Vorwürfen über ihr Rumoren, ihr Spektakeln, ihre Tollheiten...

Sie erwiderte gereizt und trumpfte ihn ab.

Denk' an Danebrand! sagte der Bruder mit zorniger, lauter, fast donnernder Stimme...

Darauf war Alles ruhig... todtenstill...

Danebrand? Die Brüder flüsterten sich den Namen zu und sahen sich erstaunt an. Danebrand war, wie Siegbert sich erinnerte, der Name eines Maschinenarbeiters... Ihre Situation kam ihnen, in dem spärlich erleuchteten Zimmer, hinter den Eisenstäben des Fensters, in der Nähe des zornigen jungen Karl Eisold, vor diesem kleinen Tisch mit Eßwaaren und der plötzlichen Ruhe nebenan vor, wie die Verzauberung eines Märchens.


 << zurück weiter >>