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Viertes Capitel.

 

Am Thor der Gräber auf dem Baume Mai
Tschi-Hiao der Vogel sitzt, und singt vom Sterben.

Chinesisch.

 

Kann man den Gedanken der Revolution, deren Katastrophe wir immer näher rücken, eine Unwahrscheinlichkeit nennen? Ich vermuthe, daß Einigen dieß Ereigniß zu wenig motivirt erscheinen wird. Sie werden an den Planen des Teschu-Lama zweifeln, weil ich in der Mittheilung seiner Beweggründe zu karg gewesen bin. Dazu kömmt, daß Jeder bereit seyn wird, mir einen falschen Gedanken unterzuschieben. Er wird mich anklagen, daß ich die Revolution als das alleinige Werk des Schamanen hinstelle, und es sonderbar finden, um den Preis eines Weibes die bestehende Ordnung mit einem unsichern Wechsel zu vertauschen. Ich erinnere daher theils, daß die Entwürfe des Statthalters früher waren, als die Berechnungen des Schamanen, der sie adoptirt, weil er Nutzen aus ihnen ziehen mochte, theils weis' ich auf Tibets eigenthümliche Lage hin, welche ich in dieser Rücksicht zum Theil noch ans Licht zu stellen die Pflicht habe.

Ungeachtet der Heiligkeit und Unverletzlichkeit, welche dem Dalai-Lama, als dem verkörperten Herrn des Himmels und der Erde, zugeschrieben wird, erheben sich doch häufig gegen die irdische Hülle seines Fleisches die feindseligsten Bewegungen. Die Reibungen zwischen dem Lama von Lassa und dem von Teschulumbo sind so alt, als die ganze Theokratie, welche den Hintergrund unsers Gemäldes bildet. Bald beruft sich der Eine auf ein Versehen, das bei der Wahl des Andern begangen sey; bald wird der letzte Wille eines sterbenden Lama außer Acht gelassen, und ein Anderer wirft sich zum Vollstrecker des umgangenen Testamentes auf; bald entstehen zwischen den einzelnen Herrschern, selbst nach Verjährung ihres Regiments, in Folge streitiger Befugnisse, eine Reihe von Feindseligkeiten, die oft mit dem völligen Sturze der schwächern Partei enden. Hiezu kommen von der einen Seite noch die Umtriebe der Fremden, und von der andern gewisse Vorurtheile der Einheimischen. Die Intriguen des Cabinets von Peking haben schon oft dem rechtmäßigen Herrscher einen ungesetzmäßigen als Gegen-Lama entgegen gestellt. Und den Teschu-Lama wählten die Chinesen zu diesem Zwecke desto lieber, weil sie selbst vorgeben, daß dem letztern eine größere Heiligkeit beiwohne, als dem Dalai-Lama. Einige Mongolenstämme und die weißen Mandschuren sind desselben Glaubens, und finden damit bei den Tibetanern um so eher Eingang, als es unläugbar ist, daß die Dynastie von Teschulumbo weit mehr Jahrhunderte zählt, als der jüngere Thron von Lassa. So wird alles Heilige in die kleinliche Berechnung des irdischen Maßstabes gezogen. Die Kurzsichtigkeit unsers Auges zieht das Firmament in einen so kleinen Raum zusammen, daß man es mit einer Fingerspanne ausmessen kann.

Es ist bekannt, daß in Tibet die Geistlichkeit sich in zwei Seelen trennt, welche sich nach ihren verschiedenen Trachten Gelbmützen und Rothquäste heißen. Es ist gleichgültig, worin die Differenz ihrer Ansichten besteht, aber die Trennung ist eben so erwiesen, als daß die erstere Partei ein größeres Maß von Ehrfurcht vor dem Teschu-Lama, die letzte vor dem Dalai-Lama hegt. Wenn zwischen diesen beiden Häuptern des Landes Unruhen ausbrechen, so nehmen jene Secten, je nach ihrer Verwandtschaft, gegen den einen für den andern Partei; und schüren die Flammen des Zwistes noch mehr durch die Aufregung des Volkes, auf welches ihnen die Verfassung Tibets einen so mächtigen Einfluß erlaubt.

Unter diesen Umständen werden wir Vieles erklärlich finden, das uns bei der großen Achtung vor dem Dalai-Lama sonst räthselhaft hätte erscheinen müssen. Nichts war in Tibet mehr vorhanden, als der Zündstoff zu den Mißhelligkeiten, deren Ausbruch wir entgegensehen.

Wir kehren zu den Männern zurück, welche es übernommen hatten, in die brennbare Materie den ersten Funken zu werfen.

Unter dem Giebeldache eines freundlichen Hauses, über welches sich die Zweige eines hohen Ulmenbaumes ausstreckten, saßen auf ausgebreiteten Teppichen zwei Männer, welche in ihren Gesichtsbildungen, in dem ganzen Ausdruck ihres Wesens so verschieden waren, daß man sich wundern konnte, wie ihnen Beiden doch die Sitte des Tabakrauchens gleich geläufig war. Blaue Rauchwolken stiegen in die grünen Zweige der schattigen Ulme und vertrieben zwar das den Bäumen schädliche Ungeziefer, aber auch den Singvogel, welcher auf dem ersten Geäst sein Nest gebaut hatte, und seine Jungen der Gefahr des Erstickens überlassen mußte.

An dem komisch ernsten Aeußern des einen der Dampfenden, an der sorgfältigen Abgemessenheit seiner Bewegungen, an dem abgewogenen Ausdruck seiner Rede, welche er gern mit zierlichen Wendungen schmückte, erkennen wir bald den Correspondenten wieder, welchen wir in der Gefangenschaft des Teschu-Lama verlassen haben. Es ist die kleine Wohnung seines Wirthes und Wärters, des Polizeipräsidenten und Hofnarren Dhii-Kummuz, vor welcher er seine Glieder ausgestreckt hat, die Blicke bald in die Ferne des Ostens, wo sie eine bergige Scheidewand bald abschnitt, richtend, bald sie auf seinem Gegenüber ruhen lassend.

Diese andre Person ist für uns eine neue Erscheinung, und wohl einiger Beachtung würdig. Ein barockes Kleidergemisch, das theilweise dem asiatischen Schnitte gemäß ist, theilweise aber an Europa erinnert, umschließt einen langen wohlgenährten Körper, aus welchem zwei kleine graue Augen und eine fein gebildete, spitze Nase hervorquollen. Jede Oeffnung des geschlossenen, lippenlosen Mundes ließ eine Reihe der weißesten Zähne blicken, die gegen den dunkeln Teint des übrigen Antlitzes auffallend abstachen. Der spärliche Bartwuchs ließ dennoch so viele Haare zurück, daß sich auf der obern Lippe ein kleiner grauer Bart angesetzt hatte. Den kahlen Scheitel bedeckte eine weiß gepuderte Perücke. Rechnen wir zu diesen Einzelzügen noch einen mit Pistolen besteckten Gürtel, sehr lange Stiefeln aus ungegerbtem Leder, und neben dem Manne zwei große Gefäße mit dem Gerstentranke Tschong und mit dem stärkern spirituosen Arra gefüllt, so haben wir das vollständige Bild Sir James Dickson's, eines Deserteurs aus englisch-ostindischen Diensten, des jetzigen Oberbefehlshabers der Artillerie von Teschulumbo.

»Ich suchte Menschen auf, welche Verstand haben,« sagte Dickson, einen tiefen Zug aus dem Arragefäße nehmend, »ich traue Euch davon nicht wenig zu, und suchte deßhalb Eure Gesellschaft; warum fangt Ihr aber nichts als Grillen? Legt Euren schlechten Humor ab! Der Mensch ist ein geselliges Thier. Seitdem ich die Gewißheit habe, daß meine Frau in Calcutta wirklich gestorben ist, haben die Gespräche für mich den Reiz der Begattung.«

»Mein lieber Freund,« antwortete der Correspondent mit einer Miene, die wenig auf eine stolze Ergebenheit in sein Schicksal schließen ließ; »als ich noch Salzmandarin in Kang-Tong war, hatte ich mannichfache Gelegenheit, die Söhne Eures Volkes zu beobachten. Es gefiel mir Vieles an Euch. Eure Röcke sind nicht so weit, und kosten weniger Tuch; Eure Schuhe sind mit Leder, nicht wie die unsrigen mit Papier besohlt; Eure dreieckigen Hüte sind in ihrer dachartigen Form so vortrefflich, daß ich bei jedem Regenwetter an die Europäer denke, in deren Hüten sich bequem ein Fluß bildet und durch Rinnen abläuft, ohne den Kleidern zu schaden. Aber lächerlich schienen mir immer Eure Unterhaltungen, in den Gesprächen Eure Wendungen, kurz ich find' es belustigend, wenn die Europäer den Mund öffnen.«

»Das wäre ja der Teufel!« sagte Dickson; »im Gegentheil hab' ich einen Vetter, der in Dienste bei der englischen Theecompagnie trat, und als er die erste Reise nach Kanton machte, vom Lachkrampfe so befallen wurde, daß ich ihn noch immer höre, obschon ich bestimmt weiß, daß er irgendwo in Devonshire längst begraben ist.«

»In Euern Gesprächen liegt eine Herabwürdigung des Organs, dessen Ihr Euch dabei bedient,« erklärte der Correspondent; »die Europäer wissen nicht, wie die Weisheit über die einzelnen Theile der Sylbe Wort spricht. Der erste dieser vier Buchstaben begreift die Erde in sich, und die Menschenwelt, und das gemeine Feuer und die Pflanzen, und den Osten, den Frühling, die Zunge und ihre Lust, die Vergangenheit, und den Rhythmus Kaitri, und wenn Ihr ihn abzeichnet, muß er citronengelb gemalt werden.«

»Das sind Dinge, die sich hören lassen, obschon sie sehr spaßhaft sind,« fiel Dickson ein und sprach dabei herzhaft seinen beiden Eimern zu; »weil Ihr aber die Citronen erwähnet, so denk' ich, Freund, Ihr sprecht von den vier Elementen, aus welchen ich in bessern Tagen Punsch machte. Fahrt in Eurer Philosophie des Punsches nur fort.«

»Der zweite Buchstabe der Sylbe Wort,« sprach der Correspondent ferner, den heiligen Büchern nach, »ist die Atmosphäre mit dem Regen, die Lebenswärme, der Sommer, der Westen, der Athem, die Nase und ihre Lust, die Gegenwart, der Rhythmus Tarschetap, und wenn man ihn malen will, so ist er grün.«

»Diese Schnurren versetzen mich nach Calcutta zurück,« sagte Dickson; »wenn mich damals einer meiner Oberofficiere (ich war Sergeant und trug drei Silberborten über dem linken Arm) aus dem Fort William in die Stadt schickte, um vielleicht ein Briefchen an die reizende Frau eines Raja zu überbringen, so schlenderte ich gemüthlich durch die Pettah, wo die schwärzesten Häuser, aber unter den Mädchen auch die schwärzesten Augen sind. Himmel, was war das für ein Geschrei in den Moscheen und Pagoden! Und die Braminen sprachen eben so tolles Zeug, als mein bester Freund, an dem ich nur seine übergroße Nüchternheit tadeln möchte. Sagt mir jetzt etwas vom dritten Buchstaben, damit ich nachher den vierten noch erklären höre!«

Der Correspondent fuhr in dem Tone eines akademischen Lehrers fort: »Der dritte Buchstabe aller Buchstaben ist die Sonne und ihre Welt, das Paradies und Sonnenfeuer, und der Blitz, der Nord, die zwei Regenmonate, das Licht, das Auge und seine Lust, die Zukunft, und der Rhythmus Djakti, und wer ihn malen will, bedarf dazu der weißen Farbe. Der vierte Buchstabe des Wortes Wort ist endlich der Mond, die Sterne, Wasser, Süd, Winter, Herz, die Wissenschaft, die Mensur Anschetap, kann aber nicht gemalt werden.«

Dickson verwunderte sich darüber und sagte: »Das wäre ja merkwürdig! Gelb, grün und weiß sind die Farben der ersten Buchstaben, es bleiben also für den letzten mehr, als noch einmal so viel, übrig. Warum soll man ihn nicht malen können?«

»Meister Dickson,« entgegnete der Correspondent; »die Offenbarungen des Himmels haben darüber geschwiegen. Aber ich mache folgende Vermuthung: der vierte Buchstabe ist im Grunde die Unsichtbarkeit des Unsichtbaren, er ist die Seele der drei andern, seine Welt ist die Welt des Wesens, und seine Farbe die Allfarbe. Will man ihn abbilden, so geschieht dieß unter dem Bilde der Welt. Man zeichnet ihn wie eine Kuh.«

Dickson mußte den Krug vom Munde setzen, weil er über dieses Bild in heftiges Gelächter ausbrach. »Fremdling,« rief er sich als Einheimischen fühlend, »es wollte Leute geben, die dich für überaus vernünftig hielten. Daß hinter diesen Bergen Menschen wohnen, welche die Possen der Hindostaner nachahmen, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Vergoldet man bei Euch auch den Kühen die Hörner? Wer hätt' es Eurem Zopfe angesehen, daß Ihr auf auf solche Narrheiten etwas gebt! Nichtsdestoweniger gesteh' ich, daß Ihr mich vortrefflich unterhaltet, guter Freund!«

»Da sind wir auf dem Punkte,« fiel der Correspondent heftig ein, »wo ich zweifelhaft bin, ob ich mehr die Bosheit oder die Albernheit der Europäer verachten soll. Warum führt Ihr Gespräche? Um Euch zu unterrichten? Um einander Eure Erfahrungen mitzutheilen? Um Euch in eleganten Wendungen zu üben, Begriffe zu spalten, die Redeformen der Rhetorik in Anwendung zu bringen? Keineswegs! Ihr wollt mit Euern Unterhaltungen nur die Zeit und Euch selbst betrügen. Ihr wollt eine Leerheit in die andere stecken, und ein Loch durch zwei andere Löcher ausfüllen. Ihr nehmt Partei für jede beliebige Meinung, wenn sie zufällig keinen andern Vertheidiger findet. Ihr thut nichts für die Wahrheit und Alles für die Lüge, weil sich von dieser mehr Lärm machen läßt, als von jener; wenn Ihr ein Gespräch beendet, so stürzt Ihr Alles über den Haufen, lacht diejenigen aus, die sich erhitzt haben, um Euch zu bekämpfen, und dankt nicht im Namen Eurer erweiterten Kenntnisse, oder Eures ausgebildeten Redetalents, sondern im Namen einer glücklich verschwundenen Stunde, vor deren langer Weile Ihr vorher in Schrecken geriethet. Das sind die Gespräche Eurer Landsleute, Dickson, und ich zieh' es vor Tabak zu rauchen, als Dir die Fliegen der Langenweile von Deiner rothen Nase mit meinem Munde wegzuschnappen.«

Dickson schüttelte den Kopf über die mürrische Laune des Chinesen, und sagte: »Den Sinn Deiner langwierigen Rede hab' ich zwar nicht verstanden, aber ich fürchte, es steckt etwas Grobheit darin. Ich bin kein Holländer, und doch zog mich Euer leutseliges Wesen an. Lieber Freund, man muß sich in das Unvermeidliche schicken. Was geht Euch meine rothe Nase an?«

Wie herzliche Freunde auch sonst diese beiden Männer waren, welche durch ihre Entfernung von zwei Heimathen genöthigt waren, sich in der dritten einzubürgern, so brachten doch oft die unsaubern Späße des Einen und die Sonderbarkeiten des Andern Mißhelligkeiten in ihr gutes Vernehmen. Einen solchen Streit zu schlichten, war dann Niemand geschickter als Dhii-Kummuz. Er erschien auch in diesem Augenblicke zur rechten Stunde. »Von da oben weht ein so frostiger Wind!« rief er, einige Stufen zum Hause hinaufsteigend; »je stärker man die Kanone ladet, desto mehr Hitze glüht sie aus. Das hat auf Euch keine Anwendung, Dickson; denn Ihr sprecht ja nichts. Das Gleichniß kam mir aber zur rechten Zeit. Wie ist der Stand unserer Artillerie, General? Ich soll mich darnach bei Euch erkundigen!«

Dickson nahm eine wichtige Miene an, und richtete sich auf. »Wenn Ihr Sinn für die Wissenschaft und das Geniewesen hättet,« sagte er, »so würde Eure Frage keinen Fehler enthalten, und unser chinesischer Freund würde ihn sogleich verbessert haben. Wie oft hab' ich Euch Beide nicht dazu einladen lassen, an meinen Vorträgen über die einzelnen Zweige der Kriegswissenschaften Theil zu nehmen. Ihr habt mich aber ausgelacht, gleichsam als hätt' ich fortwährend im Fort William auf der Bärenhaut gelegen, und wäre nicht zuweilen in die Compagnieschule gegangen.«

»Ihr macht mich begierig auf die Fehler, die ich begangen habe, Meister Dickson,« sagte Dhii-Kummuz, neben den beiden Andern sich niederlassend.

»Ich will so eigentlich nicht von einem Fehler sagen,« entgegnete Dickson, sich wohlgefällig den Bart streichend; »doch habt Ihr das Wort Artillerie in einem Sinne genommen, ohne daß Ihr wißt, wie man es noch in einem andern nehmen kann.«

»Glaubt nur nicht, mir etwas Neues zu sagen!« fiel der gelehrte Correspondent ein; »in keinem Reiche kann sich die Artillerie in besserem Zustande befinden, als in dem Reiche der Mitte.«

Während Dickson über diese Bemerkung in lautes Gelächter ausbrach, fügte Dhii-Kummuz noch hinzu: »und es ist längst erwiesen, daß die Chinesen das Pulver früher erfunden haben, als die Europäer.«

Als Dickson endlich Worte gefunden hatte, sagte er: »Die chinesische Artillerie! Großer Gott, warum führen wir keine Kriege mit bleiernen Soldaten! Warum schneiden wir die ausgemalten Bilderbögen nicht aus, und ziehen die kleinen Papier-Soldaten auf steife Pappe, und stellen sie vor die Fronte! Nein, mein Freund, ein Land, das seine Forts und Lunetten mit papiernen Kanonen bespickt, kann über Artillerie nur lernen, keineswegs aber eine Meinung abgeben.«

»Vergeßt nicht, wegen der zweifachen Artillerie Euer Wort zu halten,« bemerkte Dhii-Kummuz; Dickson aber räusperte sich, stellte die beiden Krüge zur Unterstützung seiner Beredsamkeit zurecht, und begann zuerst mit einem Verbot: »Unterbrecht mich nicht!« sagte er; »ich kann Niemanden von Euch drei Stunden nachexerciren lassen, und für zu viel Plaudern an die Thür der Artillerieschule stellen. Von gesetzten Leuten erwartet man, daß sie sich auch ohne Disciplin regieren lassen. Meine Herren, das Wort Artillerie soll türkischen Ursprungs seyn, weil man sich der Kanonen zum ersten Male in den Kreuzzügen bediente, wo man die festen Burgen der Sarazenen mit ihnen in Aschenhaufen verwandelte. Es ist türkisch das Wort; ich zweifle gar nicht daran.«

Dhii-Kummuz konnte trotz der Warnung nicht umhin, zu bemerken, daß darauf wenig ankäme; und Dickson, der eben einen Zug aus dem Arrakrug gethan hatte, war damit zufrieden, denn er sagte: »Ihr habt Recht. Die Hauptsache bleibt Folgendes: Artillerie ist Alles; das heißt, ich meine nicht Jedes, aber unstreitig gehört doch das Pulver dazu. Das Pulver kann man Artillerie nennen; auch das Schrot, auch das Korn des Visiers – Nein, ich bringe da schon zweierlei Dinge unter einander. Man muß sich sehr deutlicher Ausdrücke bedienen, um dem Laien etwas verständlich zu machen. Wenn ich z. B. den Protzkasten nehme, wozu gehört der? zur Kanone? Das wäre falsch; er gehört zum ganzen Geschütz; aber davon soll hier eigentlich gar nicht die Rede seyn; sondern Ihr erinnert Euch, daß ich zweierlei Arten von Artillerie unterscheiden will. Ich meine hier keineswegs die Fuß- und die reitende Artillerie, sondern z. B. die Faschinen. Zu welcher Artillerie gehören die Faschinen? Zur Belagerungs-Artillerie? Das ist sehr richtig; und dennoch ist es falsch. Und warum ist es falsch? Das will ich Euch sagen. Seht, wenn ich z. B. mit Kartätschen schießen will, so läßt sich das wohl leicht aussprechen: Kartätschen? Wo bekomm' ich aber die Kartätschen her? Aha, das ist der Punkt, auf welchen es ankömmt. Man könnte z. B. sagen, der Artillerist bekömmt sie aus der Pulverfabrik duzendweise. Im Grunde seh' ich daran auch nichts Unrechtes; denn wie gesagt, es gibt zweierlei Arten von Artillerie; aber die Materie ist sehr schwierig. Kurz und gut – oder vielmehr, wo bekömmt – ich bin auf dem Wege – wo bekömmt der Artillerist die Pulvermühlen her? Die Pulvermühlen? Nein, umgekehrt, wo bekommen die Pulvermühlen die Artilleristen her? Oder sollt' ich nicht vielmehr? – Kurz – ja, nehmt z. B. die Laffetten –«

Dhii-Kummuz fiel aber dem gequälten Docenten mit der Bemerkung ins Wort: »Im Grunde kömmt's ja doch auch darauf nicht an!« und Dickson, seinen Durst löschend, entgegnete gutmüthig: »Ihr habt Recht. Und die Hauptsache bleibt immer Folgendes: Die eigentliche Artillerie besteht aus Geschützen, Mannschaft, Pferden, aber keineswegs aus Pulver und Kugeln; denn die Artillerie besteht zwar auch aus diesen, aber nicht so, wie ich es meine. Das Ding ist nämlich dieß. Die eigentliche Artillerie wird in drei Theile getheilt: das heißt, sie läßt sich auch in fünf Theile theilen; aber was haben wir davon? Verwirrung, und man muß in diesen Sachen über alle Maßen deutlich seyn. Nämlich was ist Festungs-Artillerie? Ein Achtundvierzigpfünder ist Festungs-Artillerie, auch noch ein Zwölfpfünder; denn Zwölfpfünder sind immer noch schweres Kaliber. Aber wie ist's mit der Linien-Artillerie? Nein, ich erinnere mich, diese kömmt später. Wir haben erst von der Feld-Artillerie zu sprechen; obschon dieß so gut wäre, als hätt' ich den vorigen Fehler schon begangen; nämlich auch dieß ist ein Irrthum. Denn warum? Was ist Linien-Artillerie? Wollt' ich sagen: Feld-Artillerie? Jedoch hat es nichts auf sich, warum nicht auch Linien-Artillerie? Ist ein Sechspfünder Liniengeschütz oder Feldgeschütz? Das ist die Frage, und wer sich darauf versteht, wird sie bejahen. Daraus folgt aber nicht Alles. Denn ist darum auch Linien- und Feld-Artillerie dieselbe? Wenn man's recht nimmt: o ja! Und wenn man's anders nimmt – das heißt, man kann es nicht anders nehmen, als es in der That ist. Daraus folgt – oder vielmehr, was ließ ich doch vorangehen?«

Dhii-Kummuz aber sagte: »Ach, und im Grunde kömmt's ja auch darauf nicht an.« Und Dickson stimmte darin ein und sagte wieder: »Ihr habt Recht. Und die Hauptsache bleibt ja doch immer nur Folgendes: Wir sprachen von der Festungsartillerie, und vergaßen die Artillerie der Belagerung. Was heißt belagern? Belagern heißt, um einen festen Punkt so viel Kreise ziehen, bis der letzte Kreis mit dem Mittelpunkte zusammenfällt. Das nenn' ich eine Erklärung; und so lernt man sie auch nur in der Compagnieschule des Forts William. Allein es handelt sich um das Belagerungsgeschütz. Von diesem aber läßt sich wiederum gar nicht sprechen, wenn ich nicht der Positionsartillerie erst meine Aufmerksamkeit schenke. Positionsartillerie; wie hängt es damit zusammen? Hierüber läßt sich nun durchaus gar nicht tractiren, wenn man nicht erst über die sogenannten Stütz- und Anhaltspunkte Einiges beigebracht. Was sind Stützpunkte bei Belagerung, was im Felde? Im Felde? Aha, da seh' ich, daß ich vorhin über die Feldartillerie sehr wichtige Urtheile geäußert habe, und gehe daher sogleich« – »O geht in des Teufels Namen mit diesem Wirrwarr von Unterscheidungen!« fiel Dhii-Kummuz ein; »läßt sich mit dieser Weisheit eine Taube vom Baume schießen? Gebt mir lieber Auskunft über den Zustand der Waffe, deren Schöpfer Ihr für unser Land gewesen seyn wollt.«

»Ich bedaure Dich, Dhii-Kummuz,« entgegnete Dickson großmüthig; »Du hast keinen Sinn für die Wissenschaft, sonst würdest Du die Theorie nicht hinter die Praxis stellen. Doch bin ich bereit, über Alles Auskunft zu geben. Ich bin General der Artillerie von Teschulumbo, womit kann ich dienen?«

»Es handelt sich um sechs Kanonen,« sagte Dhii-Kummuz; »um zwei, welche diesen Namen kaum verdienen, um eine schadhafte Haubitze und einen halben Mörser, im Ganzen um zehnthalb Feldstücke; was läßt sich mit diesen bewerkstelligen?«

»Welche Frage?« entgegnete Dickson; »schon derjenige, welcher den Zustand unserer Artillerie nur oberflächlich kennt, würde erst zwar sagen: gar nichts! dann aber hinzufügen: gegen einen Feind, der keine Kanonen besitzt oder sie schlechter besitzt als wir, Alles. Doch bin ich General dieser Artillerie, ich kenne die Art ihrer Bedienung, und kann Euch versichern, daß wir einen Schatz in dieser Waffe haben.«

»Wir bedürfen aber mehrerer fliegender Corps,« sagte Dhii-Kummuz; »diese werden sich von der Hauptarmee entfernen, und verlangen zur Begleitung unfehlbar ein Geschütz. Da wird der Rumpf bald bloßgegeben seyn.«

»Dieß heißt ohne Sachkenntniß sprechen,« fiel Dickson ein; »ich gebe keinen einzigen Feuerschlund heraus, der etwas größer ist, als eine Muskete. Kann die Artillerie an einem andern Orte seyn, als wo ihr General ist?«

»Ihr scherzt wohl nur,« meinte Dhii-Kummuz; »darf sich das Hauptheer mit den Belagerungen der uns zahlreich aufstoßenden Forts aufhalten? Diese zu bezwingen, bleibt die Sorge der Streifcorps und der ihnen beigegebenen schweren Fahrzeuge. Ich will Euch aber sagen, worin Eure Anhänglichkeit an den höllischen Schoßkindern Eurer Laune liegt: in dem Umstande, daß Ihr zu gleicher Zeit General und Unterofficier seyn wollt, daß Ihr keine Elite um Euch gebildet habt, daß Ihr mit jedem Geschütz einzeln exercirt habt, und wenn sie zusammen feuerten, sie alle commandirtet. General, legt den Sergeanten ab!«

Dickson nickte selbstgefällig zu dieser Erklärung und sagte: »Nun wohl! beim Anfang eines Krieges tritt ein großartiges Avancement ein. Die Officiere, die meine Stelle übernehmen sollen, werden noch heute geschaffen werden. Ich sehe es ein, daß ich mich aufopferte. Unter diesen Umständen ist die Lage unserer Artillerie folgende: wir besitzen als Festungsartillerie nur einen etwas schadhaften Mörser, der noch dazu von Eisen ist; aber Schikadse wird vor Angriffen sicher seyn, und wir führen diese alte Reliquie unfehlbar mit uns. Unsere Belagerungsartillerie besteht aus einer zehnpfündigen Haubitze, die ich als eine Merkwürdigkeit für Hochasien sehr verehre, und die uns von Nutzen seyn kann. Zwar fehlt ihr Korn und Visier, aber was soll's auch mit dem accuraten Zielen bei einer Belagerung? Etwas Anderes ist's im Felde; da gilt es, einen Obersten vor der Fronte wegzuputzen oder ein Zelt zu beschießen, wo der Generalstab über den Karten des Terrains brütet; bei einer Belagerung weiß ich, daß jeder Schuß ein Stück Mauerwerk aufreißt, und mehr bedarf es nicht. Sollte es einen Pulverthurm oder einen Buben, der uns zum Hohne die Mauer mit Besen fegt, zu erlegen gelten, nun, so besitzen wir zur Belagerungsartillerie gehörig noch einen Zwölfpfünder von schönem Kaliber; ja, warum soll ich es nicht sagen? Wir besitzen noch einen, den ich herzlich gern von der Feldartillerie ablassen will. Dann bleiben uns für die offne Schlacht noch sechs Kanonen übrig, die ich eine Batterie nennen würde, wenn ich ihrer nicht an verschiedenen Orten bedürfte. Ich theile diese sechs Geschütze in drei zur Linien- und in drei zur Positionsartillerie gehörige ein. Leider treten hier einige Uebelstände ein, die sich so leicht nicht umgehen lassen. Im Grunde sind nämlich nur drei von diesen Geschossen tauglich; denn zwei sind vernagelt, und können nur dazu dienen, dem Feinde Furcht einzuflößen, oder das Gerassel der Schlacht zu vermehren oder im schnellen Fluge einige Beine, Arme und Gehirne zu zerquetschen. Von der dritten bedenklichen Kanone fürcht' ich noch Aergeres. Sie hat quer über das Rohr einen Sprung, der unläugbar ist. Ich habe seine Tiefe nie sondiren mögen, weil ich fürchtete, das Rohr möchte sogleich zum Teufel gehen. Aber so viel ist richtig, den ersten Schuß hält es noch aus, den zweiten aber nicht mehr. Ich will unter meinen Kanonieren anfragen, wer eine reiche Erbschaft zu bekommen hoffte und sie nicht erhielt; wer von seinem Mädchen verlassen ist, oder sich gestehen muß, daß ein Andrer zu seiner Frau gestiegen ist, wer einen Zug zur Melancholie hat oder zu wenig Löhnung bekömmt, und doch niemals hoffen darf, Bombardier zu werden; kurz nur lebenssatte Kanoniere sollen jenen gefährlichen Posten einnehmen. Denn den ersten Schuß opfre ich nicht auf; was kann ich nicht Alles mit diesem Schusse ausrichten? Der Lärm, den dieser Schuß anrichtet, zersprengt schon allein vielleicht ein Quarré Die Kugel fährt durch ein zweites mit hundert abrasirten Köpfen durch, zerschmettert einen General, der vielleicht eben seinem Adjutanten einen witzigen Einfall mittheilen wollte, und auf dem Sprunge war, uns durch ein Manöuvre zu fangen, schlägt einem Esel, der eben auf mich zielte, die Flinte aus der Hand, und wühlt endlich ein so großes Loch in die Erde, daß wir nach dem Siege bequem darin bivouakiren können. Einen solchen Schuß sollt' ich ungeschossen lassen? Nein, mag der Sechspfünder bei der zweiten Kugel in tausend Stücke zerspringen; ich halte mich ja fern davon und lass ihn nur, wie gesagt, von lebenssatten Kanonieren bedienen, dann bleiben mir noch drei unübertreffliche Geschütze übrig. Ich pflege niemals etwas über meine Kräfte hinaus zu erheben, aber mit diesen drei Wesen getrau' ich mich ganz Hinterasien und meinetwegen noch einen sechsten Welttheil zu erobern.«

Eine gellende Fanfare von Tschungs oder tibetanischen Muschelhörner setzte sich dicht auf die Fersen dieser langen Exposition. Eine Staubwolke stieg von der linken Seite der im Schatten der Ulme Sitzenden auf, und ließ nur zuweilen gegen die Sonne einige blitzende Waffen oder Verzierungen von Mützen durchblicken. Der Zug kam näher und bewegte sich gerade auf das Haus des Dhii-Kummuz zu. Dieser erhob sich mit den Worten: »steht auf, General, der Lama geht auf die Jagd, und wir müssen ihn begleiten. Wäre unser stummer Freund, unser schwermüthiger Hausgenosse, ein besserer Reiter, er müßte ein Roß besteigen und seine Grillen nach dem Walde tragen, um sie nicht wieder zurück zu bringen.«

Der Correspondent, der gegen die weitläuftigen strategischen Unterhaltungen der beiden Andern eine auffallende Gleichgültigkeit gezeigt hatte, lächelte, und sagte mit einiger Bitterkeit: »Ich glaubte, Teschulumbo sey der Sitz eines geistlichen Fürsten. Ich finde aber, daß es vielmehr der Sitz der freien Sitten ist. War es in Lassa erhört, daß der Lama auf die Jagd geht!«

Dickson brachte seine Kleider in Ordnung, und entgegnete auf diese Bemerkung: »Wer aus Europa gebürtig ist, versteht sich auf scharfsinnige Unterscheidungen. Freund, Ihr müßt das Gesetz von denen unterscheiden, welche unter ihm stehen. Es gibt in Europa eine Art Religion, welche man Christenthum nennt, und aus den Katechismusjahren meiner Jugend hab' ich diese Trennung noch nicht vergessen. Der Lama ist das Gesetz, wer hindert ihn, sich in den Finger zu schneiden? Mit andern Worten: dieser geistliche Hof hier ist so unterhaltend, wie es der von Rom niemals gewesen ist. Oder, um eine andere Wendung zu gebrauchen: Ich hoffe Dich wieder zu sehen, mein Freund, den ich liebe wie der Engländer einen Hongkaufmann, und wenn Du vielleicht Lust tragen solltest, meine Vorlesungen über die Geschütze zu Papier zu bringen, so kannst Du eines Dankes gewiß seyn, für den ich mich bei der Jagd auf Worte besinnen will. Nützen muß es Dir auf jeden Fall.«

Der Zug war jetzt bei dem Hause angekommen, und zwei Pferde wurden vorgeführt, welche von Dhii-Kummuz und Dickson bestiegen werden sollten. Der Teschu-Lama, der sich in seinem kriegerischen Zeug stattlich ausnahm, war von einem Gefolge umgeben, dessen Kleidung ein sonderbares Gemisch von geistlichem und weltlichem Aufzuge vorstellte. Er richtete an die beiden Theilnehmer der Jagd, welche sich in den Sattel schwangen, einige wohlwollende Worte, und Dickson, welcher noch nicht ganz den europäischen Bedienten und den subalternen Soldaten abgelegt hatte, erwiderte sie mit einem langen Redefluß, der ungefähr sagen wollte: Ew. Gnaden sind heut gar zu gütig! Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, die Muschelhörner hielten den Rossen die Ohren steif, die Hunde drängten vor und wurden mühsam von den Reitern an langen Stricken zurückgehalten. Die Richtung ging einer sanft sich aufdachenden, von einem dunkeln Waldkranze bekränzten Ebene zu.

Wie der Correspondent den vorhergegangenen Gesprächen Dicksons und seines Wirthes eine nur gleichgültige, theilnahmlose Aufmerksamkeit geschenkt hatte, so gab er auch bei der Ankunft des Lama einen stummen Zuschauer ab. Er stand interesselos an den Ulmenbaum gelehnt, ohne ein Zeichen äußerer Achtung vor dem Manne, in dessen Gewalt er sich befand, blicken zu lassen. Dieß Benehmen stimmte mit seinem frühern nicht überein. Denn bis dahin war er immer nach dem richtigen Grundsatz verfahren, daß die Großmuth den am mildesten behandelt, welcher keinen Widerstand leistet; seine Gefangenschaft hatte in Folge dieser Ergebenheit nichts Unerträgliches erhalten; die Gränzen, innerhalb deren er sich bewegen durfte, waren weit auseinander gesteckt, und die Besuche der angesehensten Männer, welche seinen Verstand, seine mannichfachen Kenntnisse und seine gesellschaftlichen Gaben aufsuchten, mußten seiner Eigenliebe besonders schmeicheln. Wenn der Correspondent dabei nie unterließ, Jedermann mit Zuvorkommenheit zu begegnen, so mußte ihn heute ein fremdartiger Einfluß beherrscht haben, dem er sich hingab, ohne darauf zu achten. Was bestimmte ihn, heute zum ersten Male offen zu zeigen, in wie hohem Grade ihm seine Lage zuwider war?

Ho-Po, der Diener des Correspondenten, kam aus dem hintern Hofraume von der linken Seite der Terrasse herangeschlichen, zog seinen Herrn so nahe an seinen Mund, daß jedes seiner Worte nur in dessen Ohr widerhallen konnte, und flüsterte ihm zu: »O mein theurer Vater, war ich bis jetzt ein Roß, das unter der Last des Grams, der seinen Herrn drückt, zusammensinkt, so fühl' ich jetzt einen neuen Lebensmuth in mir, da ich Euch bald wieder in die alten Kreise Eurer Macht zurück versetzt weiß.«

»Ist Dir Deine Nachforschung gelungen?« fragte der Correspondent mit besorgten Blicken die Umgebung ausspähend. »Wer wird uns bei der Flucht zu Gebote stehen?«

»Ich habe einem Mann, der uns führen soll,« antwortete Ho-Po, »ein weitläuftiges Mährchen aufgebunden, das er aber sehr wahrscheinlich findet. Warum sollte der Mann es Euch nicht zutrauen, daß Ihr noch auf verliebten Wegen geht? Es ist finstre Nacht. Die Menschen haben hier zu Lande in der That mehr Verstand, als man von ihnen glauben möchte. Unser guter Pferdeverleiher sieht ein, daß die Liebe nur des Nachts auf ihren Raub ausgeht, daß es hartnäckige Väter, spröde Bräute, eifersüchtige Liebhaber noch unzählige in der Welt gibt, und daß man ihren Wünschen und ihren Intriguen oft nicht anders zuvorkommen kann, als durch einen raschen, ohne Säumen ausgeführten Entschluß.«

»Deine Geschichte mag recht artig erfunden seyn,« sagte der Correspondent lächelnd; »doch hätt' es sich besser geeignet, mich zu einem verliebten Mönche zu machen, den die Sehnsucht nach einem angebeteten Gegenstand auf nächtliche Abenteuer treibt. Der Eifer des Mannes, uns zu dienen, würde um so größer gewesen seyn. Doch um welche Zeit werden wir seiner gewiß seyn?«

Die weitere Unterredung brachte alle die Umstände zur Sprache, welche bei dem nächtlichen Vorhaben beachtet werden mußten. Wir finden den Gedanken an Flucht sehr erklärlich, und wenig Hindernisse, die ihn hätten vereiteln können. Wenn es seither in den Absichten des Correspondenten lag, die Wachsamkeit seiner Aufseher unschädlich zu machen, so mußte er auf geraume Zeit das System befolgen, das ihm zu diesem Zwecke vortrefflich gelang. Es hinderte ihn nichts, in der Nacht sein Zimmer zu verlassen, die Hausthüre zu öffnen; an der Pforte der Umzäunung seinen harrenden Diener mit sich zu nehmen, und in einiger Entfernung ein Pferd zu besteigen, das ihn vielleicht sicher bis zu einem Orte trug, von wo aus es nicht unmöglich war, sein Fortkommen weiter zu bewerkstelligen. Mit dem zunehmenden Dunkel der Nacht lassen wir über diese Unternehmung einstweilen den Schleier fallen.

Die Jagd des Teschu-Lama sollte erst am folgenden Morgen beginnen; aber rings war schon durch die gellenden Muschelhörner und das Hetzen der Jäger das ganze Thierreich in Bewegung. Die tangutischen Büffel liefen in zahlreichen Haufen über die Ebenen, mit den Hörnern die Erde aufwühlend, blieben dann zuweilen stehen, die gebückten Häupter erhebend, und beklagten mit dem ihnen eigenthümlichen Grunzen des Schweins, daß ihnen bei dem vielen Laufen dennoch die gefährliche Bürde ihres seidenhaarigen Schweifes, der ihnen morgen das Leben kostete, nicht entfallen sey. Die Moschusthiere verpesteten die Luft mit jenem Gestank, der den europäischen Tabakschnupfern so ambrosisch duftet, eine zarte Nase zerfressen kann und jeden Besitzer einer solchen Nase aus einem Zimmer treibt, wo auch nur im tiefsten Verließe des Kleiderschranks ein Billiontheil dieses Ingrediens in Baumwolle verborgen liegt. Was helfen euch diese Opfer, die ihr hier den Bergen und unwirthbaren Räumen bringt, ihr ungestalteten Geschöpfe! Mein alter Professor lärmt, daß in seiner Bibliothek der Moderduft über den Moschus den Sieg davon getragen hat, er schickt in die Apotheke, und läßt sich einige Gran Eurer kopfweherregenden Eigenschaften holen! Müssen die Büffel morgen ihre Haare lassen, so seyd ihr gleichfalls den Beutelschneidern [ * ] Bekanntlich trägt das Bisamthier seinen gesuchten Schatz im Beutel. preisgegeben!

Der Herbst war schon so stark geworden, daß er das Laub von den Bäumen schüttelte. Aus den offenen Gebirgsreihen, die dem Zugwind einen freien Durchgang gestatteten, zog die Nachtluft mit schneidender Kälte. Einzelne Regenwolken, welche der Sturm von dem Gipfel eines himmelhohen Felsen wegtrieb, sanken mit ihrer ganzen Schwere auf die Ebenen herab, und entluden sich in langwierigen Strömen. Mit der bedauerlichen Klage, daß durch diese Regenschauer auf den Morgen die Wege schlüpfrig und schwierig gemacht seyn würden, begaben sich die Jäger in einem einsamen Schlosse zur Ruhe.

Diese kleine Wohnung war befestigt und konnte zugleich als eine Capelle für Pilgrime dienen; denn sie war mit geistlichen und wunderthätigen Bildern besetzt. Für diese Nacht verrichtete sie dem Teschu-Lama und seinem Gefolge einen schon oft geleisteten Dienst als vorübergehende Herberge. Wozu die Umschweife? Es war ein fürstlich-tibetanisches Jagdschloß.

Mit Tagesanbruch hatten sich alle Theilnehmer des kommenden Vergnügens vor dem Rastorte schon versammelt. Der Teschu-Lama, der sich etwas später einfand, beliebte über die Inconvenienz dieser Unterhaltung mit seinem Stande einige scherzende Worte zu sagen, die von dem Gefolge mit großem Beifalle aufgenommen wurden. Dickson hatte sich schon früh einen anhaltenden Humor getrunken; und phantasirte über die Benutzung der Artillerie, die ihm selbst auf der Jagd nicht ohne Vortheil zulässig schiene.

Als das Treiben der aufgescheuchten Thiere lebhafter wurde, näherte es sich mehr dem Gebirge. Das Verfolgen wurde auf den steilen Wegen beschwerlicher, der Zug trennte sich, je nachdem man auf dem einen Pfade ein bestimmtes Ziel früher zu erreichen hoffte, als auf dem andern. Es liegt nicht in unsrer Absicht, den ganzen Verlauf dieser Unterhaltung zu berichten, sondern wir folgen nur dem Pfade, welchen Dhii-Kummuz mit einigen andern Leuten einschlug, weil er uns zuletzt den Anblick der zweiten Katastrophe dieser Geschichte zeigen wird.

Der Weg zog sich mit fast unersteiglicher Schroffheit in die Höhe. Die Reiter waren alle von ihren Thieren gestiegen, die sie mit kurzem Zügel führen mußten, wenn nicht Mann und Roß einen Sturz in die Tiefe gewärtigen wollten. Einige unter den Begleitern Dhii-Kummuz's hatten vor ihm schon einen ansehnlichen Vorsprung gewonnen; jetzt blieben sie an einer Stelle, wo eine weitere Fortsetzung des Weges undenkbar war, plötzlich stehen, wandten sich um, riefen den Nachkommenden zu, ihre Schritte zu beschleunigen. Wessen waren sie ansichtig geworden? Zwei Männer lagen mit ihren zerschmetterten Rossen in der Zwischenspalte, welche zwei Felsen von einander hielt. Der Fall war nicht tief, aber durch die zackigen Felsspitzen, welche die Gestürzten empfangen hatten, überaus gefährlich. Auch war es keinem Zweifel unterworfen, daß nur der eine der Unglücklichen noch am Leben sey, und einige scharfe Blicke reichten hin, in dem Andern, dem es ans Leben gegangen war, den Correspondenten zu erkennen.

Es war nicht ganz unmöglich, sich den beiden Chinesen (denn der noch Lebende war Ho-Po) zu nähern. Es bedurfte nur einiger Behutsamkeit, und die Schwierigkeit der Lage war leicht überwunden. Mehrere Männer kletterten hinunter, schwangen sich mit Gewandtheit über einige Felsblöcke, und trugen die beiden Opfer ihrer Freiheitslust zu den Uebrigen zurück. Die Scene wurde belebter; denn diese Störung in dem Treiben ließ sich bald bemerken, und von höher liegenden Gipfeln auch in seiner Ursache erkennen. Bald war die ganze Gesellschaft um diesen traurigen Anblick versammelt. Ho-Po ließ noch einige Hoffnung zur Rettung übrig. Er war zwar an allen Theilen seines Körpers beschädigt; doch nur eine Vernachlässigung seines Zustandes hätte ihm können tödtlich werden. Am Correspondenten blieb jeder Wiederbelebungsversuch ohne Erfolg. Die zerschmetterten Glieder hingen schlaff am Körper herunter, und schon die harten Verletzungen des Kopfes hätten ihm tödtlich seyn müssen. Das bleiche, von Entsetzen und Angst entstellte Antlitz, der Mund, wie zum Hülferuf geöffnet; die Augen, aus ihren Höhlen hervor gequollen, waren mit schwarzem, geronnenem Blute überzogen. Unter allen Aeußerungen, welche dieser Anblick veranlaßte, war diejenige am grausamsten, welche aus dem Munde eines Europäers kam. Denn Dickson sagte nur die einzigen Worte: »Er hat uns entlaufen wollen;« schien aber damit ausdrücken zu wollen, daß dem Armen so ganz recht geschehen sey.

Den Stiefeln des todten Correspondenten entfiel eine Papierrolle. Sie trug die Überschrift: An die Redaction der Pekinger Hofzeitung, und enthielt einen vollständigen Nekrolog, den der Verschiedene, sein Schicksal vielleicht ahnend, für den vorkommenden Fall entworfen hatte. Es hieß darin: »Schon wieder erlosch an dem Horizonte des Reiches der Mitte ein Stern der ersten Größe. Leang-Kao-Tsu wurde geboren im dritten Jahre der Regierung Kien-Long aus der glorreichen Dynastie Tai-Thsong. Seine erste Jugendzeit war dem Studium der classischen Autoren gewidmet, in dem er es so weit brachte, daß seine Kenntniß sowohl in Dichtern als Philosophen die allgemeinste Anerkennung fand. Man rief sich oft zu: der junge Leang-Kao-Tsu wird bald graduirter Doctor seyn! Und diese Vermuthung wurde in Kurzem eine Wahrheit. Er wurde promovirt, ging einige Zeit noch in den Unterricht eines Bonzen, um seine Seelenreinheit zu erhöhen; besuchte darauf Su-Tsheu, um den feinen Anstand aus dem Grunde zu studiren, und erhielt darauf die Stelle eines Salz-Mandarinen in Kang-Tong. Lassen sich die Verdienste aufzählen, welche sich an diesem Orte Leang-Kao-Tsu im Umgange mit den Holländern und den Europäern um das himmlische Reich erwarb? Wer jede einzelne Wohlthat, die er seinen Landsleuten und dem Sohne des Himmels, seinem allergnädigsten Kaiser, erwies, berechnen wollte, müßte auch angeben können, aus wie vielen Tropfen das Meer besteht. Der Weise erhält immer seinen Lohn, wenn er ihn von dem Gerechten erwartet. Leang-Kao-Tsu wurde zum Mandarinen der vierten Classe erhoben, und erhielt eine Stellung, die seinen Talenten nicht angemessener seyn konnte. Er wurde Correspondent am Hofe des tibetanischen Dalai Lama von Lassa. Zu welchem Dank verpflichtete er in dieser Eigenschaft die Blume des Weltalls? Auch unsere Zeitung kann nicht umhin, anzuerkennen, daß er seit Jahren schon zu ihren eifrigsten Mitarbeitern gehörte. Er lieferte ihr seine ersten Gedichte, später Aphorismen über verschiedene Gegenstände der Lebensphilosophie; in reifern Jahren aber mehrere publicistische Beiträge, die sich über das Recht der Regenten und des Volkes mit eben so viel Klarheit als Loyalität verbreiteten. Das beste Erzeugniß seines gewandten Pinsels war unstreitig die Reihe von Aufsätzen, die wir seit geraumer Zeit unter dem Titel: Tibetanische Zustände, den Spalten dieser Zeitung einverleibt haben. Niemand anders war der Verfasser dieser geistvollen Berichte, als der vollendete Leang-Kao-Tsu. Sein Tod hing aber mit folgenden Umständen zusammen: –«

Der Correspondent schien erwartet zu haben, daß ein befreundeter Pinsel diese Lücke ausfüllen würde, aber in Teschulumbo gab sich dazu wohl Niemand her. Herr Professor Neumann wird mir bezeugen können, daß dieser Nekrolog auch niemals in der mehr erwähnten Zeitung gestanden hat.

Ein Bote brachte dem Teschu-Lama die Nachricht von der Rückkunft des Schamanen. Dieß war das Zeichen zum Beginn der schon lange vorbereiteten Feindseligkeiten. Zu Vergnügungen wurde jetzt die Zeit zu kostbar; man rief mit den Muschelhörnern, deren Töne das Echo unzählig durch die Berge trug, die Zerstreuten zusammen, und kehrte mit einiger Beute und dem Leichnam des jetzt unschädlichen Chinesen in die Ebene zurück. Der Verwundete Ho-Po war schon voraus getragen worden.

Inzwischen hatte Schü-King mit unglaublicher Energie die Zügel des chinesischen Regiments in Lassa ergriffen. Jede Einmischung, welche sich der General in die Dinge, die sie in den Kreis ihrer Aufsicht ziehen wollte, erlaubt hatte, wurde mit Festigkeit von ihr zurück gewiesen. Den ersten Act der Souveränetät, die er sich übertragen glaubte, die Befreiung Gylluspa's, hatte sie weniger aus Eifersucht auf die ihr näher bekannt gewordenen Verhältnisse dieses Mädchens, als nach dem festen Vorsatz ihrer alleinigen Machtvollkommenheit wieder rückgängig gemacht.

Alle diese Entschließungen gewannen bei ihr um so mehr Gewicht, da sie sich auf die Nachricht stützte, welche ihr von Teschulumbo aus über ihren Bruder zugekommen war. Sie konnte mit Gewißheit noch auf seine Existenz bauen, und deßhalb auf alle ihre Unternehmungen den officiellen Stempel ihres brüderlichen Willens drücken; ja sie konnte annehmen, daß die endliche Rückkunft des Bruders selbst dasjenige gut machen müßte, was sie vielleicht in der Eile oder in Folge eines unweisen Entschlusses, oder mit mehr als verantwortlicher Gewaltanmaßung ins Werk gesetzt hatte.

Die Verbindung, in welche Schü-King mit ihrem Bruder trat, war keine unmittelbare, sondern wurde durch Unterhändler, welche Einiges anders erzählten, Vieles gänzlich verschwiegen, unterhalten. Diese bestürmten sie in den Zurüstungen fortzufahren, welche der Correspondent zu Gunsten der Unternehmung des Teschu-Lama gemacht hatte. Schü-King war mit den desfallsigen Planen ihres Bruders wohl vertraut. Sie wußte, daß er sich so viel Einfluß auf die chinesischen Truppen verschaffen wollte, als hinreichte, um sie entweder zur Schilderhebung für den neuen Lama zu gebrauchen, oder sie in einer theilnahmlosen Neutralität zu erhalten. Sie wußte, daß ihr süßer Freund Tschu-Kiang zu diesem Zwecke benutzt werden sollte; daß dieser seine Mitwirkung versprochen hatte, und eilte daher, alle abgebrochenen Fäden dieser Vorbereitungen wieder anzuknüpfen.

Tschu-Kiang sagte, daß man sich in solchen Dingen gänzlich auf ihn verlassen könne. Er könne, obschon ein weiser Mann, alle Thorheiten begehen, wenn Schü-Kings Bruder sie verantworten wolle. Es sey ihm nun ganz einerlei, ob er eine Schwadron oder das ganze Regiment in das Complot ziehen solle. Warum sollt' er eines sichern Erfolges nicht gewiß seyn? Wäre doch jeder Recrut, der nur einmal das Glück gehabt hätte, vor ihm das Gewehr zu präsentiren, bereit, für ihn durchs Feuer zu laufen. Ja, er könne versichern, das ganze Unterofficier-Corps sey unter sich eifersüchtig gegeneinander, weil er Einigen von ihnen einmal die Versicherung seiner Freundschaft gegeben habe. Die Befehle des Generals zu hintertreiben? Welche leichtere Aufgabe ließe sich ihm stellen! Kein Soldat, der nur je den Hahn eines Karabiners gespannt habe, werde die mürrischen Sitten eines alten Eiferers seinem leutseligen, einnehmenden, bezaubernden Wesen vorziehen. Kurz, er sey gewiß, daß ihm im Augenblick des Kampfes, den er übrigens sehnsüchtig erwarte, mehr zu Gebote stehen würden, als bedürftig seyen.

In dem Augenblicke, wo Tschu-Kiang diese Versicherung gab, fand Schü-King seine Tournure, seinen Zopf, seinen Stutzbart, den Faltenwurf seiner Kleider, die Nachlässigkeit seines Gürtels auch so liebenswürdig, daß sie in ein begeistertes Lob dieser Vorzüge ausbrach. Der Oberst drückte dafür ihre Hand mit Zärtlichkeit an seine Lippen. Wir können nicht zweifeln, daß auch für seine Wünsche bald die Erfüllung anbrechen wird.

 


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