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Drittes Capitel.

 

Ahriman ist der in Lastern verschlungene Gott mit langen Knien und langer Zunge, ein Nichts des Guten, der aus sich selbst lebt, und ohnmächtig. Denn wenn ihn glühende Metallströme ausgebrannt, wird auch er heilig werden, Ormuzd loben und das himmlische Wort reden: Avesta!

Vendidad.

 

Schütteln wir den Staub von unsern Füßen! Wir treten wieder dem Dalai Lama unter die Augen, die uns auf keinen Augenblick verloren hatten. Allem, wovon die Erzählung berichtete, als sey es in seiner Abwesenheit geschehen, wohnte er nach der Fülle seiner Allgegenwart bei; und nur die Rücksicht auf seine irdische Erscheinung verbot ihm, sich mit allen Ereignissen, von denen selbst eines gegen ihn gerichtet war, in Zusammenhang zu setzen. Menschliche Leidenschaften, welche Feinde gegen ihn werben wollten, mußten ihm ihrer Natur nach unverständlich bleiben. Das eigne Gelüst ist das Gewicht, welches der Mensch auf die Wagschale seiner Entschließungen legt; der Himmel legt das Schwert der Gerechtigkeit dagegen, wenn die Tugend von dem Verbrechen überwogen wird.

Maha Guru's Seele war zerrissen. Den Einklang seiner Wünsche und Gefühle störten die Hindernisse, welche sich jenen entgegenstellten, und mannichfache Eindrücke, welche diese verbitterten. So weit seine Hand auch reichte, so wußte er doch, daß sie nicht immer Schutz gewähren konnte, wenn sie darum angefleht wurde. Er sah, wie man seinem allwissenden Auge die Dinge in Wolkennebeln entzog. Ach, er fühlte es nur zu gut, daß es allmächtigere Banden gab, mit welchen ihn die Vermessenheit und die frevelhafteste Herrschsucht in willenlose Unthätigkeit schlug!

Die knechtische Verehrung, welche die nicht gerechnete Menge mit dumpfer Gedankenlosigkeit dem erhabenen Jüngling opferte, konnte ihm noch auf Augenblicke den Glauben an sich selbst wieder geben; aber zuletzt blieb sie doch ein zu schwaches Gegenmittel, um alle aufschießenden Zweifel niederzuhalten. Diese finstere Anbetung diente jetzt vielmehr dazu, den Contrast zwischen einem Scheine von Wahrheit und der offenbaren Lüge ins Licht zu stellen, und Maha Guru's Lage ihm unerträglicher zu machen. Jede Anrufung seiner Allmacht war die peinlichste Erinnerung an seine Hülflosigkeit. Jede Präsumtion einer göttlichen Eigenschaft, welche den frommen Leuten vor seiner Herrlichkeit das Knie beugte, erregte in ihm ein Gefühl, das zwischen Verlegenheit und Entrüstung in unbestimmter Mitte schwankte. Maha Guru war zu lange dem Leben entzogen gewesen, die Gewöhnung an die gesellschaftlichen Kreise des menschlichen Zusammenlebens füllte einen so engen Raum seiner Jugendjahre, sein ganzes Daseyn endlich war zu sehr von den Anschauungen der Welt unter dem Gesichtspunkte des Himmels und seines Zusammenhanges mit dem Regimente desselben gefärbt, daß er nicht anders konnte, als auch in diesen feindseligen Verhältnissen, welche ihm seine Würde so ungenießbar und ungenossen machten, eine Phase der göttlichen Offenbarung sehen. Gewöhnt an die Geschichten der Götter und ihrer Kämpfe, hielt er dafür, daß die feindlichen Gewalten, welche jenseits der sieben Hügel oder der sieben Meere des Righiel Lumbo wohnen, und den wunderbaren Baum Zampuh schon seit Jahrtausenden unterwühlen, auch gegen ihn mit allen Irrungen und Täuschungen, welche den Göttern des Lichts nur zu Gebote stehen, ausgezogen seyen. Die Unbehaglichkeit, welche ihn so peinigte, hielt er für den Drang und die Hitze eines Kampfes, in welchem er sich nothwendig befände; und er zweifelte nicht, bald die glänzendsten Siege über seine Feinde und seine eigne Unmacht davon zu tragen.

Bei diesem Glauben mußten dem Lama die Anmaßungen der Priesterschaft und die Zumuthungen der fremden Dränger in einem besondern Lichte erscheinen. Er ertrug alle Ausbrüche der Leidenschaften, welche in seiner unmittelbarsten Nähe sich um ihn her drängten, und sich zuletzt meist ihn nur immer wechselseitig zum Opfer brachten, als gält' es eine der herbsten Prüfungen auszuhalten, die er in seinen Vorbereitungsjahren mit Unrecht glaubte schon hinlänglich bestanden zu haben. Er ahnete, daß eine höhere Macht seinem Verhalten bei diesen Kämpfen lauschte, und in Augenblicken wiedergekehrter, seliger Wonne wußte er, daß diese höhere Macht nur seine eigene unläugbare, unsterbliche Lamaität war. Wär' es den Menschen angeboren, für Götter gehalten zu werden, könnten sie jemals, bei gewissen Regungen, die man empfunden haben muß, um von ihnen zu reden, über diese Meinung in Zweifel gerathen? Um wie viel weniger konnte Maha Guru seinem Gefühle mißtrauen, da er, ein Jüngling von hoher und edler Seele, in den Mysterien des Geistes forschte, und den Regungen der Liebe und des Wohlwollens zugänglich war? Dazu kam, daß ihn das Vorrecht der allgemeinen Anerkennung als des Einzigen in seiner Macht traf. Es störte ihn niemals der Gedanke, daß aller Welt an dem Rechte, sich der Ewigkeit gleichzustellen, eine gleiche Theilnahme gebühre. Alle Erhebung der menschlichen Seele war nur für ihn da, nur ihm schlossen sich die Pforten des Himmels auf, er wußte nicht, daß die Offenbarung der Gottheit an alle menschlichen Wesen ergangen war. Darin liegt der Zauber, der den Wahn eines einzigen Menschen gefangen halten kann. Ueberall, wo eine gleiche Vertheilung der Gaben gelehrt wird, sind die Propheten selten. Die Gemeinschaftlichkeit setzt den Genuß der Güter in ihrem Werthe herab; und ich kenne nur Einen Besitz, welchem es noch nie geschadet hat, daß wir ihn mit Andern theilen müssen. Dieß ist der Ruhm.

Der Schaman war vor seinen Bruder getreten. Ein langer Zeitraum lag zwischen der letzten Begegnung und diesem Wiedersehen, und in keiner Zeit hätte sich für beide Beklagenswertheres ereignen können. Der Schaman hatte zweifach den Glauben an seinen Bruder verloren. Er hielt ihn für Mensch genug, um ihm auch die letzten Lichtstreifen seiner Würde zu nehmen, und sich mit seinen Feinden gegen ihn zu verbinden; und dennoch lag in ihm ein heftiger Groll, daß der Gott ein Wesen geopfert hatte, das zu retten nur die Folge eines Winks von ihm, nicht einmal eines Spruchs gewesen wäre. Maha Guru wußte, welche Anklage in dem finstern Blicke des Bruders lag. Er wünschte, daß er sich gegen sie vertheidigen könnte; aber ach! es gab für ihn schon so viele Wünsche, deren Echo niemals ihre Erfüllung seyn wollte.

»Was sind die Versprechungen der Mächtigen!« klagte der Schaman; »weil sie Allen gefallen wollen, so sind sie Jedem zu dienen bereit. Sie opfern dem Einen dieselben Menschen auf, welche sie dem Andern eben zu schützen versprachen. Ich ziehe die Gerechtigkeit der Götter ihrer Güte und Liebe vor.«

Maha Guru seufzte tief auf; denn wie herrlich er auch antwortete, so ließ sich die Katastrophe Hali-Jongs doch nicht damit ungeschehen machen. Er antwortete aber gar nicht.

»Meine Tritte führen mich aus dem Gefängnisse Gylluspa's her,« fuhr der Schaman fort; »die unversiegbaren Thränen werden der Armen das Licht ihrer Augen rauben. Kann es für sie einen Trost geben, da sie außer dem Tode ihres Vaters auch den ihrer Freunde zu beweinen hat? Jedes ihrer Worte ist ein sehnsüchtiger Seufzer um ihre Lieben, die für sie geschieden sind; und weil sie dennoch leben, eine Anklage, von der sich weder ich noch du reinigen können.«

Der Dalai Lama ist Zeit seines Lebens im Gespräch nur zum Sitzen angewiesen, weil es für ihn keine Affecte geben kann. Maha Guru war vielleicht der Erste, welcher der Sitte Trotz bot. Der Schmerz jagte ihn vom Polster auf, er maß den Saal mit weiten Schritten und sank erschöpft in die Arme seines Bruders.

»O du theures Licht meiner Seele!« rief dieser, von dem Anblick erschüttert; »der Raum der Zukunft läßt sich nicht nach den engen Schranken der Gegenwart messen. Mit tausend Möglichkeiten läßt er sich erfüllen; ein rascher Entschluß, und wir schreiben uns selbst die Loose unsrer Zukunft.«

»Was können die Umstände von mir fordern,« fragte Maha Guru, »um ihrer Meister zu werden? Ich gebiete nicht über das Reich des Todes, und kann für Gylluspa den todten Vater nicht wieder ins Leben zurückrufen.«

Der Schaman antwortete: »Aber dich selbst kannst du ihr zum Opfer bringen. Alle Reichthümer, welche dir zu Gebote stehen, magst du denen schenken, welche ihrer bedürftig sind. Gylluspa bedarf nur deiner.«

»Was soll ich thun?« war des Gottes zweifelnde Frage.

»Zerbrich die Ketten, welche dich an den Himmel geschmiedet halten! Schleudre deinen Scepter über alle Sphären, daß sie zurückweichen und dir eine Straße bilden. Breite deinen Königsmantel über die Sonne, daß du auf ihm zur Erde niedersteigst! Der fürchterliche Augenblick der Weltschöpfung aus dem Chaos wird wiederkehren. Cenresi, der Gott des Schicksals, wird einen heftigen Sturm erregen, und zahllose Wolken, die er herbeiruft, werden brausende Wasserströme entladen. Die vier großen Welten werden sich von dem All losreißen, die Menschenwelt wird auf die der Riesen, die Welt der Kühe auf die der seelenlosen Menschen fallen. Durch den Garten des Paradieses wird ein so rauher Wind wehen, daß die Blätter der Tangbäume verwelken und sich die Quellen der Unsterblichkeit trüben. Ich zittere vor diesem Tage, und doch beschwör' ich dich, ihn herbei zu rufen!«

Das Gewölbe des Zimmers brach nicht zusammen, die Wolken des Himmels entluden keine Blitze, welche die frevelnde Zunge gelähmt hätten; sondern Maha Guru blickte nachdenkend vor sich hin, und sprach, wie in einen Traum versunken: »Ich habe der Erde das Wort gegeben, und sie hält mir nicht das ihrige! Kio, der Gott des Gesetzes, flog in den Leib der Lhamoghiuprul, trat dann durch die rechte Seite dieser Königin in die Welt und wurde hinfort Xaka genannt. Der Wanderungen, welche die Gottheit zu machen hat, sind unzählige.«

Der Schaman nahm diese Aeußerungen von der menschlichsten Seite, und suchte den Gedankengang seines Bruders zu ebnen, indem er sprach: »Wenn in dir ein Funke des göttlichen Lebens wohnt, so kann er dich nicht verlassen, selbst wenn du in die tiefsten Abgründe des Meeres stiegest. An diese Polster, welche dort aufgethürmt liegen und eher für einen Thron der Unmacht gelten könnten, ist die Majestät der Gottheit nicht geknüpft. Sie waltet überall, wo im Grase dein Fußtritt rauscht.«

Der Augenblick war noch nicht erschienen, wo sich Maha Guru auf dem Wendepunkte seines Entschlusses befand. Noch blieb seinem Bruder die süßeste Hoffnung unbenommen, noch hatte der Gott keine Schwäche blicken lassen. Zuletzt stieß aber die Unvorsichtigkeit des Rathgebers alle Erwartungen um. Es war die verfehlteste Maßregel, welche der Schaman nur einschlagen konnte, als er den preisgegebenen Zustand mit dem neuen, von ihm empfohlenen zu vergleichen anfing, und den letztern mit Farben ausmalte, welche den irdischen Anschauungen, glühenden Leidenschaften und ungöttlichen Begierden entnommen waren. Der Schaman glaubte, daß seinen Bruder nichts mehr bestimmen würde, als ein Gemälde des künftigen, im gemeinschaftlichen Besitze Gylluspa's genossenen häuslichen Glückes, und begann deßhalb: »O Maha Guru, du Endsylbe aller meiner Gedanken, wie mal' ich dir die Seligkeit, wenn ich dich, den Menschgewordenen, in Gylluspa's überraschte Arme zurückführe! Alle Vorwürfe, die sich seit diesen Tagen auf ihre rosigen Lippen gelagert haben, wird der sanfte Hauch deines Athems in berauschte bebende Küsse auflösen! Obschon ich früher, als du, den Leib unsrer Mutter verließ, so gesteh' ich dir doch alle Rechte zu, die mir bei den Umarmungen unsers Weibes gebührten. Gylluspa wird dich ihren Augapfel nennen, und mich nur die Wimpern, welche ihn beschatten. Sie wird mich mit der Sorgfalt eines reichen Mannes behandeln, welche dieser auf ein Schloß verwendet, das seinen Schatz gesichert hält. Alles, was euch Beide einen Tag über erfreute, werd' ich für die Nacht verwelkt, entknospet, zerrissen, verwittert und abgerieben erhalten. Ich darf mich dabei wohl befinden; denn ich kenne zwischen der Liebe zu Gylluspa und der Anhänglichkeit an dich keine Gränzen. Ich bin mit dem Schatten des Glücks zufrieden, wenn das Glück selbst auf dem Spiele steht.«

Maha Guru war in diesem Augenblicke wieder mit Leib und Seele Dalai Lama. Wenn ihm vielleicht zuvor die Rathschläge seines Bruders vernehmlich geschienen hatten, so waren sie dieß so lange, als sie sich an die Unmacht, die Zweifel und die Freiheit des Gottes anknüpften. Als sie aber für den Verlust der Unsterblichkeit eine Art von Ersatz boten, als der Schaman die Hand öffnete und in ihr nichts als der Vertrag einer idyllischen Ehe lag, als die dem Lama während seiner ganzen Erziehung zur Natur gewordene Gleichgültigkeit gegen das Fleischliche und Sinnliche ihn in den gemachten Anerbietungen weder etwas Wünschenswerthes noch etwas Würdiges sehen ließ, da saß er längst wieder auf seinem Polsterthrone, das gelbseidene, drachengestickte Gewand um seine Schulter wallend, die Hände und die Füße übereinander geschlagen, die Mütze cylinderförmig über seinem Scheitel sich erhebend, sein Haar in steife, lange Zöpfe geflochten, um den verhüllten Hals ein Rosenkranz, von dem einzelne Kugeln aus dem Kleide hervorsahen, in allen seinen Gebärden und in seinem ernsten, tiefen Schweigen Dalai Lama, der sichtbare Gott der Tibetaner. Der Schaman schwankte. Noch klang das abgebrochene Gespräch in seinem Ohre wider, und doch war Alles still und feierlich um ihn; die Wände schienen verwundert auf ihn herabzusehen, der unbewegliche, stumme Lama saß wie ein Pagode vor einem reuigen Verbrecher, der seine Gnade anfleht. Betäubt von dieser plötzlichen Veränderung warf er sich neunmal zu Boden, benetzte die Stirn mit dem Staube dieses heiligsten aller Heiligthümer, und verließ den Palast, noch die Treppen auf den Knieen hinabrutschend. Ich stand einmal in dem Vorzimmer eines Ministers. Die Thür öffnete sich und der gnädige Wink des Kammerdieners rief mich zu dem allmächtigen Manne hinein. Ich ließ es an Höflichkeit nicht fehlen, meine Verbeugungen waren eben so abgemessen, als der Zwischenraum, in welchem ich mich von der rechten Hand des Fürsten hielt. Aber in meinen Worten lag etwas Aufrechtes und Offenes, meine Gedanken waren höher, als das landesübliche Recrutenmaß; ich sprach von den Resultaten, die ich meinen Studien verdankte, von einer gewissen Unabhängigkeit der Meinung, welche die einzige Fessel wäre, welche ich mir anlegen ließe, und verlangte zuletzt, daß ich in der Staatsmaschine eine Stellung erhielt, die meinen Talenten und Einsichten angemessen wäre. Man kennt unsre Minister nicht, wenn man glaubt, der Mann habe mich die Treppe hinunterwerfen lassen. Er besaß Geduld genug, mich anzuhören, ja er ging noch weiter, er wollte meine Fähigkeiten für eine Sache gewinnen, die ihm besser schien. Das System, welches ich in meinem Avertissement versteckt angegriffen hatte, war seine Ueberzeugung. Ich war damals noch blutjung, voller Ehrfurcht vor ergrauten Erfahrungen, hörte mit Andacht auf die Lehren, die dem beredtesten Munde entflossen und schied mit gebrochenen Flügeln, gestutztem Kamme, jede einzelne Stufe der Treppe zählend. Der Concierge zieht den Thürdrücker auf, ich stehe auf der offenen Straße, und schöpfe endlich wieder freie Luft. Die Milchverkäufer riefen ihre Sachen aus; die Sandhändler streuten den Vorübergehenden mit gellender Stimme Sand in die Ohren; Carrossen flogen über das funkensprühende Steinpflaster; ein Tuchhändler reichte seinen Kunden mit freundlicher Miene eine Prise; ein Industrieritter suchte in seinen Rocktaschen und fand nur ein ungeheures Loch darin; zwei Hunde untersuchten wechselseitig, zu welchem Geschlechte sie gehörten, und ein freundliches Mädchen rief hinter einem Fenstervorhange den einen zu sich hinauf; eine weißbauchige Schwalbe schoß an den Häusern blitzschnell vorbei; ein Mann trug etwas Verdecktes unterm Arm; die Straßenrinnen waren alle mit Gras bewachsen; die Häuser hatten jedes seine Nummer auf einem blauen Schilde; ich hatte einen Hut auf dem Kopfe, und am linken Zehen drückte mich der Schuh, und unterm rechten Arm war mir am Rock die Nath etwas aufgerissen; ich kaufte mir ein Bund Eckposen und ein Buch unbeschnittenes Patentpapier und zwei Orangen und einen neuen Uhrschlüssel, weil ich den alten gestern verloren, und hundert Zündhölzer für mein Feuerzeug und eine Reitpeitsche, und einen Monat später schickte ich an Herrn Campe in Hamburg meine Narrenbriefe.

Der Eindruck, welchen Maha Guru's majestätische Weigerung auf den Schamanen machte, war bald verschwunden. Wenn die jüngste Unterredung irgend etwas in seinen Entschlüssen hätte wankend machen können, so ließ es die zurückgekehrte Gewöhnung des alltäglichen Lebens, gegen welches der Lama ein Fabel war, sogleich wieder in den Hintergrund treten.

»Wie beklag' ich es,« sagte er zu sich selbst, »daß auf meinen Lippen der Zauber der Ueberredung nicht liegt! Ein friedlicher Act hätte der gewaltsamsten Katastrophe zuvorkommen können; die Erde würde nicht dieß seltene Schauspiel erlebt haben, daß ein Bruder die Macht des andern untergräbt, und eine sichre Hoffnung hätte einige wenige Menschen beglückt, die jetzt von der Zukunft nur die schwächsten Lichtstreifen sehen. Der Augenblick der Verwirrung, wenn er über diese sorglose Stadt hereinbricht, ist nicht in meiner Gewalt; die zweideutige Rolle, welche ich spiele, nimmt mir die Zeit, mich dann einem Geschäft ausschließlich hinzugeben. Die Rettung meines Bruders könnte die Rettung Gylluspa's verzögern. Welche Wahl bleibt mir noch übrig? Ich muß die letzten Versuche daran setzen, das Auge meiner Seele in Sicherheit zu bringen.«

Der Schaman zog den Weg des Gesetzes seiner eigenen Willkür vor, weil er für die Folgen des erstern nicht einzustehen brauchte. Er ging in die Wohnung des Mannes, der während der Abwesenheit des Correspondenten mit dem größten Ansehen in Lassa bekleidet war, zu Ming-Ta-Lao, dem General der chinesischen Cavallerie. Der General befand sich nicht in seiner Wohnung. Die Diener meldeten, daß er auf dem Exercirplatze bei den chinesischen Casernen militärischen Uebungen beiwohne. Ein Anderer würde ihn dort schwerlich aufgesucht haben; aber der Schaman sagte: »So wahr die Tibetaner von den Affen abstammen, ich fürchte mich vor den Zöpfen der Chinesen nicht!«

Im Hofe der Caserne war der General in der That damit beschäftigt, mehrere Pikets vor seinem Kennerauge ein Evolutionsmanöuvre machen zu lassen. Er schien nicht in jeder Hinsicht befriedigt zu seyn, sondern hatte bald hier, bald dort etwas auszusetzen. Besonders gab ihm Oberst Tschu-Kiang mannichfache Gelegenheit zur Klage. Bald ritt ihm dieser zu schnell, bald zu langsam, dann schwenkte er ihm falsch, dann blieb er ihm zu weit hinter der Fronte, kurz des Generals Flügeladjutant war in beständigem Fluge, aus dem erbitterten Munde des Generals einen Vorwurf über den andern in des Obersten geärgertes Ohr zu tragen. Ja, der General war jetzt nahe daran, die freie Luft zum Ueberbringen seiner Erinnerungen zu gebrauchen, und den Obersten im Angesichte des ganzen Armeecorps an den Pranger zu stellen.

Die Chinesen verlassen ihr Abschließungssystem auch im Auslande nicht. Das Erscheinen eines Fremden in dem Casernenhofe wurde sogleich mit gezogenen Pallaschen empfangen. Einige reitende Wachtposten sprengten auf den Schamanen ein, um ihn aus dem Raume zu verjagen. Doch ließ er sich nicht zurückschrecken, verlangte den General zu sprechen, und machte sich diesem in der Ferne so verständlich, daß er ohne weiteres zu ihm gerufen wurde.

»Ich müßte den Himmel wenig kennen,« empfing der General den Ankömmling, »wenn mir seine Verwandten fremd wären. Du bist der Bruder des Lama, und ich bin darum immer erstaunt gewesen, wie du mit den Söhnen Chinas so vertraut seyn kannst? Was erfährt man von deinem Freunde, meinem ehrenwerthen Collegen? Ich lasse mich herab, den Correspondenten einen Collegen zu nennen, obschon ich ihm eben so an Verstand als an Rang überlegen bin.«

Das auffallende Verschwinden des Correspondenten war Stadtgespräch. Ehe zwei Bekannte, welche sich begegneten, noch von ihrer Verbeugung sich aufgerichtet hatten, bestürmten sie sich schon mit der wechselseitigen Frage, ob über den Verschollenen noch immer nichts Gewisses verlaute. Der Schaman, in der demüthigsten Stellung vor dem General verharrend, sagte: »Es gehen über das Schicksal dieses Mannes mehrfache Gerüchte, die alle auf ein großes Unglück herauskommen. Er müßte sechs Körper haben, wenn er alle die Todesfälle erlitten hätte, welche man ihm nacherzählt. Gestern war er nach einer Aussage von einem Felsen gestürzt; nach der andern ist er bei Nacht in den Fluß Dsgangbo hinein geritten; heute hat ihn die Sage aus allen diesen Fährlichkeiten gerettet, ihn dafür aber von einem wilden Stiere aufspießen lassen; sodann ist er unter einem Baum an seinem Zopfe hängen geblieben, als sein Pferd mit ihm durchging; auch behaupten Einige, die sich an dieß letztere Gerücht halten, daß er weniger am Hängen als am Verlust seines Zopfes, den ihm seine Schwere ausgerissen, gestorben sey. Ich schweige davon, daß die Phantasie sogar Löwen und Schlangen in unsre kalten Gegenden gedichtet hat, um jenen Mann nur recht außerordentlich enden zu lassen. Dieß ist Alles, was ich Euch über eine verschwundene Zierde des himmlischen Reichs mittheilen kann.«

»Möge der Himmel ihm eine glückliche Verwesung schenken!« sagte der General andächtig; »ich will nicht sagen, daß ich in des Mannes Stelle trete, obschon ich eben so geschickt dazu wäre, wie er ungeschickt, die meine zu übernehmen. Aber bis sein Nichts durch eine andere Leerheit ersetzt wird, hab' ich die Pflicht, den Sattel einstweilen von meinen Pferden zu nehmen, und ihn auf die Riesenberge dieses Landes, das Rückgrat der Erde, zu legen. Alles wird gut stehen, wenn man dann nicht weiß, ob man das Pferd oder den Reiter mehr loben soll.«

»O du warst schon lange,« entgegnete der Schaman, »der einzig weise Gedanke in einem Kopfe voller Verwirrung und Unklarheit. Die Söhne dieses Landes, welche mich an dich als ihre Zunge schicken, erwarten nicht nur vieles Gute von dir, welches das frühere übertrifft, sondern noch mehr Verbesserung dessen, was als schlecht und mangelhaft in der Verwaltung des Landes zu beklagen ist. Ich fordere dich auf, einige schreiende Mißbräuche durch deine Weisheit wieder gut zu machen.«

»Du liesest da nur die Worte ab, welche in meiner Seele geschrieben stehen,« antwortete der General; »gib mir ein falsch gewebtes Stück Linnen, ich kann das verfehlte Gewebe nicht wieder herstellen, aber die Ursache des Fehlers wegschaffen, wenn sie an dem Webstuhle liegt.«

Der Schaman benutzte die eben so großmüthige als eitle Stimmung des Generals. Er entwarf in kurzen Zügen die Geschichte Gylluspa's und ihrer Väter, schilderte mit ergreifenden Farben Hali-Jongs blutiges Ende, den Schmerz Gylluspa's, die neue Verwickelung, in welche sie gebracht wäre, und unterließ nicht, als die Veranlassung aller dieser Gewaltthätigkeiten die Grausamkeit und die unbegränzte Herrschsucht des Correspondenten hinzustellen. Der General erschrack vor einem so entsetzlichen Berichte und sagte: »Ich würde zehn Gebisse und alle meine Sattelriemen dafür hingeben, wenn ich dem unglücklichen Vater jenes Mädchens seinen unschuldigen Kopf wieder geben könnte; das ist eine arge Erzählung! Sollte man glauben, daß um dieselbe Zeit, wo meine Pferde Hafer fressen und ich mir die Zähne ausstochere, solche romanhafte Geschichten vorfallen, wie sie nur Ngeou Jangsieou, unser berühmtester Poet, beschrieben hat! Womit soll ich dir dienen?«

Der Schaman bat um einen schriftlich erlassenen Befehl, Gylluspa und ihre Väter in Freiheit zu setzen, und um einen Geleitbrief für sie, wenn sie Lassa mit einem andern Aufenthalte vertauschen sollten. Die Chinesen sind zu nichts so schnell, als zum Schreiben. Ein Wink an die Adjutanten des Generals, und ein Griff in den Stiefel, einige Momente für die Abfassung, einige Höflichkeiten von Seite der Umstehenden über den blühenden Styl des Generals, und die beiden verlangten Documente befanden sich in den Händen des Schamanen. Der General hielt es für passend, dem Bruder des Lama und seines militärischen Rivals, des Kalmückenchefs, das Geleite zu geben. Unter den zuvorkommendsten Ehrenbezeugungen verließ dieser den Hof, und eilte freudig dem Kloster der schwarzen Gylongs zu.

Gylluspa's Väter horchten so eben mit andächtiger Hingebung auf die Vorlesungen, welche ihnen ein Obergylong über das tibetanische Göttersystem hielt. Er sprach von Urghien, dem vater- und mutterlosen Gotte, welcher aus einer Blume hervorgekommen und von dem materiellen Princip aller Dinge, Cenresi, welcher gleichfalls der Blume Pama entsproß, und nach kanonischen Vorschriften nie anders als mit zehn Häuptern abgebildet werden müßte. Er sprach von der Fortpflanzung des Menschengeschlechts, welches erst durch Blicke (Gylluspa achtete zuweilen auf diese tiefsinnigen Worte), dann durch Lächeln, Küsse, Umarmungen und zuletzt erst durch Vermischung der Geschlechter bewirkt worden sey. Durch eine Incarnation Cenresi's traten die Menschen zuerst als Affen auf. Mit ihnen kamen die großen Weltherrschaften, fünf an der Zahl. Zuerst der König des Goldes, Weltbeherrscher auf dem Righiel; dann der König des Silbers, Herrscher nur von drei Theilen; der König des Erzes, Herr von zwei Theilen; König des Eisens im zweiten Zeitalter, wo die Menschen noch achtzigtausend Jahre lebten; und endlich ein fünfter König, den der Lehrer nicht nennen wollte.

Als der Gylong auf einige Abweichungen der mongolisch-kalmückischen Lehre übergehen wollte und die Blume Badma, die sechs Creaturreiche, den Luftelephanten und die sechs überirdischen Gebetsylben schon im Munde hatte, trat der Schaman mit eiligen Schritten ein. Es hieß ein großes Wagniß, dem Priester seinen heiligen Codex, den tangutischen Mani Gambo, zuschlagen. Aber die Verwunderung, welche der Erklärung des Schamanen, daß die Gefangenen in Freiheit gesetzt werden müßten, folgte, verhinderte den eifrigen Mann, den Voreiligen darüber zur Rede zu stellen. Er nahm von der Schrift des chinesischen Generals vorläufige Kenntniß, und eilte, den Vorsteher des Klosters zur Entscheidung dieser auffallenden Forderung herbei zu rufen.

Der Schaman hatte seit seiner Rückkehr von Teschulumbo Gylluspa und ihren Vätern schon viele Stunden gewidmet, und sie auf einige Zeit das Oede und Einsame ihrer traurigen Lage vergessen lassen. Obschon seine Gespräche die Beruhigung nicht geben konnten, welche er selbst nicht hatte, so machten sich doch auch hier alle jene seligen Folgen geltend, welche tröstend die Liebe, die Theilnahme, das Mitgefühl einer verwandten Seele begleiten. Hätte Gylluspa auf das Leben größere Hoffnungen gesetzt, so würden sie mit dem Wiedersehen ihres treuesten Freundes auch alle in ihre Seele wieder eingezogen seyn, und die neue Hoffnung mit ihnen, daß einige ihrer Aussichten zu verwirklichen in seiner Macht läge. Aber sie hatte für seinen Zuspruch kein Ohr, verstand nichts von den Folgerungen, welche er aus der Verwickelung sehr nahe vor der Thüre stehender Ereignisse ziehen wollte, und konnte sich am wenigsten in den Gedanken einer Entfernung von Lassa finden. Denn wenn unter der Asche aller zusammengesunkenen Berechnungen der Zukunft noch ein einziger Funke, der nicht Verzweiflung war, im Verborgenen glomm, so konnte er nur auf Maha Guru einen erhellenden Lichtstreifen fallen lassen, auf diesen unbeweglichen Pagoden-Gott, der sich von den Gipfeln des Berges Botala nur trennt, wenn er ihn zum ersten Male betritt, und ihn für das letzte Mal verläßt. Daher die gleichgültige Aufnahme der Nachricht, welche der Schaman von ihrer Freilassung überbrachte. Sie hätte gezögert, diese Erlaubniß zu benutzen, wenn ihre Weigerung ohne die Rücksicht auf ihre Väter nicht eine Grausamkeit gewesen wäre.

Es ist ein alter Spruch, daß die Liebe grundloser ist, als das Meer. Ihr aber könnt diese Wahrheit nicht verstehen, die Ihr in einer Mondnacht oder in einer heimlichen Jasminlaube Erhörung gefunden habt; die Ihr schon in den ersten Tagen Eurer Begegnung Euch gestehen konntet: ach ja, wir sind Beide wie für einander geschaffen! Deren Eltern die Freiwerber ihrer Kinder waren, und die schon in den Flügelkleidern sich verlobten und die Puppen zu ihren Kindern machten! Die glückliche Liebe hört zu schwärmen auf; es ist ihr nichts mehr unerreichbar, und wer sie ergründen wollte, würde überall nur dieselbe Seligkeit, denselben Himmel finden, selbst wenn man noch tiefer, als das Meer, stiege. Sondern von Euch gilt der Spruch, die Ihr der Spott Eurer Umgebung seyd, mit denen Knigge umzugehen verbietet, weil Ihr verliebt und unerträglich seyd; die man immer auf den einsamsten Spaziergängen antrifft; die Ihr mit Euren Kleidern zu wechseln vergeßt und den Bart um einige Tage immer zu lang stehen laßt; von Euch, gegen welche sich alle Waffen des Spotts, alle Unbequemlichkeiten des unzeitigen Mitleids, alle Zumuthungen altkluger Rathschläge kehren; wenn man von Euch sagt, daß Ihr an unglücklicher Liebe leidet. Unglückliche Liebe! Ein belachtes Wort; ein Wort, das unter unsern Zeitgenossen denselben Klang hat, wie ein schlechtes Gedicht; ein Wort, das alle Eure wohlmeinenden Freunde anspornt, Euch in Zerstreuungen zu stürzen, die Ideen Eures Kopfes zu bearbeiten, um Gegengewichte in ihm zu entdecken und das siedende Herzblut in unschädliche Theile zu lenken. Charlotte sagte Euch, daß Ihr ihr so zuwider seyd, wie ein Gericht Linsen, und ließ Euch, wie den verglichenen Gegenstand an jedem Dienstage, stehen. Sollt Ihr Euch todtschießen? Sollt Ihr den philosophischen Gleichmuth wie eine Eisrinde um Euer heißes, blutendes Herz legen? Sollt Ihr wohl gar so stolz seyn, jene Arme zu verachten, die Euern innern Werth nicht zu würdigen wußte? Ich weiß nicht, wer Euch das rathen kann. Und dennoch ist es alle Welt, die mit Fingern auf Euch zeigt, wenn Ihr des Tags zweimal noch an Lottens Fenster vorübergeht; wenn Ihr Euch beim Tanze dreimal einen Korb geben laßt; wenn Ihr Lottens jüngern Bruder bei seinem Heimwege aus der Schule erwartet, seinen Tornister mit Rosinen füllt; und ihm tausend Grüße an die Schwester auf die Seele, und eben so viel Küsse auf den Mund bindet; und wenn Ihr zuletzt Lottens wasserholende Magd vom Brunnen bei Seite nehmt, und sie fragt, wohin ihre Herrschaft morgen eine Partie machen werde, nach Königstein, Hessellohe, Gohlis, Tegel oder sonst. Ja noch mehr, Lotte verlobt sich vor Euern Augen. Wie konnten Sie das thun, schöne Charlotte? Aber warum sollt Ihr Euch die letzten vier Wochen nicht noch schwarz kleiden? warum nicht ein Zimmer miethen, das dem ihrigen gegenüber liegt? warum an dem letzten Abend nicht noch eine Serenade bringen, der Ihr in einen dunkeln Mantel gehüllt, an die Wand des Hauses gedrückt, beiwohnt? warum nicht alle diese Auswege, welche Euch vor der Verzweiflung retten sollen, versuchen, ehe der letzte Augenblick der Hoffnung verschwunden ist, und die ganze Fluth mühsam gedämmter Thränen und zurückgepreßter Wehmuth auf Euch herein bricht; Euch dem Todesengel auf einen Moment in die Arme gibt, daß die Rechnungen für Arzt und Apotheker ein großes Loch in Euern Beutel fressen! Das ist nur Lotte und die Liebe, wie sie in den Mauern einer Residenz entstehen und vergehen kann. Aber übersetzt alle diese Züge, an deren Wahrheit nichts zu ändern ist, in erhabenere, ungewöhnlichere Umstände, deren Conflict großartigere Folgen zuläßt, und Ihr werdet eingestehen, daß auch hier nichts verzeihlicher ist, als die Launen der unglücklichen Liebe; daß Gylluspa's Weigerung, einen Ort zu verlassen, wo nicht nur die Unmöglichkeit, jemals einen ihrer Wünsche befriedigt zu sehen, sondern noch mehr die gleichgültige Abgeschlossenheit Maha Guru's die unglücklichsten Eindrücke in ihr hervorrief, einem unläugbaren Zuge des Herzens entsprach. Dennoch bestimmte sie ein Blick auf ihre hülflosen, einem völligen Stumpfsinne ausgesetzten Väter, diesem Zuge nicht zu folgen.

Der Lehrer der Mythologie kehrte mit dem Lama des Klosters und mehrern andern Obergeistlichen zurück, welche sich von dem wiederholten Eingriffe des Schamanen in den Gang der Gerechtigkeit überzeugen, und die Urkunde, auf welche er sich stützte, in Augenschein nehmen wollten. Es ließ sich gegen einen Befehl von chinesischer Seite, und wenn er von einer noch niedrigeren Charge, als der General besaß, gekommen wäre, nichts einwenden; die Herren erstickten ihren Zorn in einigen Ermahnungen, welche sie den Brüdern mit auf den Weg gaben, und befahlen ihnen, von ihrer Freiheit augenblicklichen Gebrauch zu machen. Der Schaman hatte die nöthigen Anstalten zur Abreise schon getroffen, so daß sich die Befreiten ohne weiteres auf die Reise begeben konnten.

Es lag keineswegs in der Absicht des Schamanen, seine Freunde vom Schauplatz der nächsten Begebenheiten gänzlich entfernt zu halten. Er billigte daher die Rückkehr nach Tassissudon nicht, sondern schlug einen nicht zu weit entlegenen, aber vor Unbequemlichkeiten, feindlichen Ueberschwemmungen sichern Ort zum einstweiligen Aufenthalte vor. Zur Provinz Dsang, deren Hauptstadt das uns wohlbekannte Teschulumbo ist, gehört in die Nähe der Stadt Mustun der See Palte, der eine Insel trägt, welche in einer Art Unabhängigkeit von der Verfassung Tibets lebt. Das mit Dörfern und Klöstern besäete Eiland wird nämlich von einem weiblichen Lama regiert, die ihren herrlichen, durch die reichste Pracht berühmten Palast gern von so schutzlosen Wesen, wie Gylluspa und ihre Väter, betreten ließ. Der Schaman gab die Richtung nach dieser Gegend an, und versprach, die Lamaine von den Ankömmlingen in Nachricht zu setzen, und auf dem Wege überall ihren Empfang vorzubereiten. Ihn selbst rief die Entscheidung der Zukunft nach Teschulumbo.

Die fernen Schneerücken eines unabsehbaren Gebirgszuges wurden von der untergehenden Sonne schon mit einem magischen, rosigen Schmelze übergossen, als die kleine Karawane, welcher sich einige Diener und auf eine kurze Strecke der Schaman angeschlossen hatten, durch das westliche der fünf großen Thore von Lassa zog. Der trockene, kalte Hauch der Abendluft gab allen Gesichtern das frische Colorit, welches durch den Widerschein des glühenden Schnees noch gehoben wurde. Lagerte sich so der Schein der Freude und Heiterkeit in den Mienen der Reisenden, so konnte es nicht lange währen, daß diese Stimmung sich bald in Wahrheit auch in den Gemüthern einstellte. Die erwachende Theilnahme für das Gewöhnliche, Zufällige, außer uns Liegende ist bei Leidenden das beste Merkmal, daß sie ihren Schmerz wenn nicht überwunden haben, doch zu ersticken suchen. Man sprach vom Winde, von den Bergen, von einem Vogel, der über den Weg flog, von der Kleidung eines Wanderers, von dem Schritte der Pferde, und wurde dabei so traulich, daß sich die Zwischenräume unter den Reisenden immer mehr verengerten.

Maha Guru's Bruder schied mit der herein brechenden Nacht. Er brachte seine Gefährten in eine bequeme Herberge, umarmte Gylluspa (in Tibet kennt man das Sträuben nicht) auf das zärtlichste, und setzte seinen Weg fort, während sich die Zurückgebliebenen dem Schlafe und dem Traume in die Arme gaben.

Die Rosse stehen schon seit uralten Zeiten mit der Sonne in geheimer Wahlverwandtschaft. Mit den ersten in die Morgendämmerung hereinbrechenden Strahlen weckte das Wiehern und Stampfen in dem Untergeschosse der Herberge seine flüchtigen Bewohner. In kurzem war Alles zur Weiterreise bereit, und es klommen die Reisenden einen Gipfel hinan, den sie im Rücken liegen lassen mußten. Der Schaman hatte als ein trefflicher Fourier die Wege zu den Küchen, Kellern, Herzen und Händen der Menschen schon geebnet, so daß die Reise den Tag über mit der größten Bequemlichkeit zurückgelegt werden konnte. Seine Spur verschwand auch gegen Abend noch nicht; doch schien sie durchkreuzt von einer andern, welche eine Truppenabtheilung gezogen haben mußte. Nach einigen Erkundigungen ergab sich, daß ein Corps chinesischer Cavallerie des Weges gekommen sey, überall die schärfsten Nachforschungen gehalten, und sich nach einem Zuge Reisender erkundigt habe, der mit dem gegenwärtigen derselbe wäre, wenn dieser aus weniger Personen bestanden hätte.

Wir wollen den Leser nicht durch eine weitläuftige Spannung hinhalten. Es ist grausam, die Wahrheit der Schilderungen so weit zu treiben, daß man auch in des Lesers Seele alle die Eindrücke zu erzeugen sucht, welche die peinigendsten Situationen auf die Gestalten des Autors machte. Kann man nach dem kaum Erwähnten anders schließen, als daß dieß Capitel mit der erneuten Gefangennahme Gylluspa's und ihrer Väter enden muß? Warum eine sorgfältige Ausmalung aller scheuen Blicke, welche die Reisenden um sich herwarfen? Warum alle Klagen und Verwünschungen aufzählen, welche sie über die neue Täuschung ihres Schicksals ausstießen, noch ehe sie eingetroffen war? Um das Unglück wahrhaft rührend zu machen, kann man es nicht einfach genug schildern.

Es war der Oberst Tschu-Kiang selbst, der sich an der Spitze des Piquets befand, und eine Nacht und einen Tag durch geritten war, um die Entschwundenen wieder aufzutreiben. Schü-King wollte vermuthlich dem General zeigen, welche Achtung seinen Befehlen gebühre. Der Oberst freute sich, zum ersten Male eine Waffenthat glücklich überstanden zu haben, die seine angebetete Braut zur Anerkennung und unfehlbar auch zum Danke verpflichten würde. Er sah ein, daß man ihn zu gewissen Dingen gebrauchen könnte, und vorzüglich zu denen, für welche, wie er zu seinem Feldwebel sagte, der Muth eines Löwen und die Schnelligkeit eines Vogels erforderlich wären. Keiner meiner Leser aber wird dieß Capitel verlassen, ohne es herzlich zu beklagen, daß uns bei diesem Ausgange die merkwürdige Bekanntschaft des weiblichen Lama von Palte entzogen wird. Ob wir sie dennoch vielleicht noch machen werden, kann in der That Niemanden mehr interessiren, als den bescheidenen Autor dieser Geschichte selbst.

 


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