Stefan Großmann
Der Vorleser der Kaiserin
Stefan Großmann

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Die Fliege.

Der Bürgermeister der kleinen Stadt in der Bukowina, um die Russen und Österreicher dreimal gekämpft haben, saß nach fast vier Jahren wieder unter seinen Leuten. Der riesige, breitschultrige Mann von etwa vierzig Jahren war grau und müde geworden, die Backenknochen drängten sich fleischlos aus seinem abgemagerten Gesicht hervor, die Höhlen seiner Augen schienen bläulich geschminkt, durch die dünne Schläfenhaut schienen die Knochen zu blinken.

Da saß er neben seinen Freunden in dem alten Gemeindewirtshaus und sollte erzählen von seiner Verschleppung nach Sibirien, von dem Leben in den sechs Gefängnissen, in die er, Gott weiß warum, hineingeworfen war, von seinen Begegnungen mit anderen Geiseln und Gefangenen, von dem kurzen sibirischen Frühling und dem endlosen sibirischen Winter, von seiner politischen Auffassung und vom russischen Durcheinander. Aber er mochte nicht. Seine großen, plumpen Hände lagen hager und 104 gelblich auf dem Tisch, dieselben Hände, die früher so wild und unruhig durch die Luft fuhren. Der Mann, der früher auch die unnötigen Dinge laut herausgeschrien hatte, sprach mit müder, halb heiserer Stimme, kurz, stoßweise und mit schweren Pausen, als müßte er seine Erlebnisse aus einem tiefen inneren Schacht erst mühselig hervorholen.

Über seine großen Hände kroch ganz langsam eine Fliege.

Der Schwager des Bürgermeisters rief: »So ein zudringliches Insekt. Lebt noch im Winter und kriecht da ganz gemütlich auf dir herum, ohne sich stören zu lassen.«

Er wollte mit einem Schlage das lästige Tier verjagen, aber da traf ihn ein wilder Blick des Bürgermeisters, ein befehlender Blick, wie er ihn in früheren Zeiten der Ungebrochenheit unwillkürlich zur Verfügung hatte.

»Na, na, na,« sagte der Schwager, »man wird doch noch eine Fliege verjagen dürfen.«

»Nein,« sagte der Bürgermeister merkwürdig langsam, »laß sie nur.«

Die Fliege hob sich von der Hand und flog dem Bürgermeister auf die feste, breit ausladende Nase. Da kroch sie langsam zur Stirn hinauf, und, obwohl das unzweifelhaft lästig sein mußte, verscheuchte 105 sie der Bürgermeister doch nicht. Der Stammtisch dachte: »Seine Energie hat Schaden gelitten.«

Während die Fliege ihm langsam über die Stirne kroch, begann der Bürgermeister zu erzählen: »Ihr müßt wissen, daß ich hier sitze, verdanke ich so einem Tierchen. Ihr wißt, ich bin in der Schlüsselburg 73 Tage gesessen. In einer Zelle ohne Fenster, sie war nur durch eine Lichte über der Tür vom Gang aus spärlich erhellt. Wenn die Gasflamme auf dem Korridor ausgelöscht wurde, dann war es auch in meiner feuchten Zelle stockfinster. Dreiundsiebzig Tage saß ich da. Ohne ein Menschenantlitz zu sehen, ohne die Stimme eines Menschen zu hören. Das Essen wurde mir durch eine Luke in der Tür hereingeschoben. Ich wußte nicht, weshalb ich hier saß. Keine Anklage, keine Nachricht von draußen, kein Verhör, kein Gefängniswärter. Ich war überzeugt davon, daß man mich einfach vergessen hatte und daß ich eines Tages hier in diesem feuchten, finsteren Loch sterben werde. Da gewahrte ich eines Morgens oben auf der Zimmerdecke eine Fliege. Ich kann euch nicht sagen, was das für mich bedeutet hat. Ich war so glücklich, daß noch ein lebendes Wesen bei mir war, daß ich sie anreden mußte. Ich begann mit ihr zu sprechen, ich 106 erzählte ihr alles, was ich auf dem Herzen hatte, wie man mich von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt, ohne mir auch nur mit einer Silbe zu sagen, was ich denn eigentlich verbrochen hätte. Ich nannte die Namen meiner vier Töchter. Ich fragte sie nach dem Ausgang des Krieges. Ich begann vor ihr zu weinen. Da bemerke ich, daß die Fliege sich in Bewegung setzt. Sie geht ganz langsam bis an den Rand der Zimmerdecke, kriecht dann die Mauer hinunter bis zum Erdboden, auf dem Erdboden weiter bis zu dem Fuß meiner Pritsche, kriecht das Holz zu meinem Strohsack hinauf und bleibt mir gegenüber auf dem Strohsack sitzen. Ich mußte den Atem anhalten. Ich wußte ganz genau, daß es keine gewöhnliche Fliege war, mit der ich gesprochen hatte. Ich war ganz sicher, daß sie jede Silbe verstanden hat. Sie hatte meine Tränen gesehen und saß ganz ruhig da und hörte meinem Schluchzen zu. Alles, was ich auf dem Herzen hatte, habe ich ihr gesagt, und alles hat sie auf diesem Platze, den sie sich mir gegenüber ausgewählt hatte, mit angehört. Da wurde draußen auf dem Gange das Licht ausgelöscht, und in meiner Zelle war es plötzlich finster. Ich konnte die Fliege nicht mehr sehen und so tappte ich ganz vorsichtig und behutsam nach dem Strohsack meiner Pritsche, 107 schob die Hand mit äußerster Behutsamkeit nach vorn und tappte die Stelle ab, wo die Fliege sitzen mußte. Vergebens. Sie war weg. Ich versuchte eine Stunde lang mit tastender Hand die Fliege zu erwischen, denn ich war nach den Aufregungen des Tages todmüde und sehnte mich danach, mich auf den Strohsack zu legen und endlich wieder zu schlafen. Schließlich gab ich es auf. Auf dem Strohsack konnte sie nicht mehr sein, und so streckte ich mich auf meinem Lager hin. Einige Minuten bedrückte mich der fürchterliche Gedanke, daß ich meine Freundin vielleicht erdrückt haben könnte, denn ich bin, wie ihr wißt, nicht leicht von Gewicht. Aber im nächsten Augenblick war ich eingeschlafen, so müde war ich.

Am andern Morgen schlage ich die Augen auf und was sehe ich: droben auf der Decke, genau auf demselben Fleck wie gestern, sitzt meine Fliege. Ich fühle mich wie erlöst. Ich beginne wieder mit ihr zu reden. Aber diesmal war ich nicht mehr aufgeregt, sondern beruhigt. Ich hatte mir ja gestern alles Schwere vom Herzen heruntergeredet. Ich wußte auch, wenn ich jetzt zu erzählen anfange, wird die Fliege wieder zu mir herunterkommen, denselben Weg, den halben Meter auf der Zimmerdecke, die drei Meter an der Wand, den halben Meter auf 108 dem Erdboden bis zu meiner Pritsche. Dann saß sie wieder auf dem Strohsack mir gegenüber. Ich redete schon ganz ruhig mit ihr, es war schon etwas Selbstverständliches in unserer Konversation. Während ich mich in aller Freundschaft mit der Fliege unterhalte, höre ich, wie auf dem Korridor Schritte näher kommen, Schlüssel klirren, die Tür wird aufgerissen, zum erstenmal tritt ein Gefängniswärter bei mir ein und schreit: »Auf, Sie sind frei! Sie sind der erste Austauschgefangene. Kaufen Sie sich einen Pelz, im Zuge wird es kalt sein. Auch etwas zu essen besorgen Sie sich, Sie fahren noch heute.« Ihr könnt euch denken, wie närrisch vor Freude ich war. Drei Minuten später stand ich auf der Straße. In größter Eile kaufte ich mir alles Nötige, in zwei Stunden ging schon der Zug. Ich fuhr, fuhr, fuhr. Als ich in Haparanda war, fiel mir plötzlich die Fliege ein. Ich kann euch sagen, ich wurde vollkommen schwermütig, mein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken an meine Untreue. Ich hätte mir doch ein kleines Schächtelchen besorgen sollen und meine Freundin mitnehmen können. Wenn keine Schachtel aufzutreiben war, so hätte ich sie in einer Papiertüte mitnehmen müssen. Ich hätte mich wenigstens umdrehen und sie ansehen müssen. Nicht einmal ein Abschiedswort hatte ich 109 für sie, nicht einen Blick. In der Hast des Aufbruchs hatte ich sie vollkommen vergessen. Es war die größte Untreue, die ich mir in meinem Leben vorzuwerfen hatte. Spottet nur und lacht über mich. Ich sehe, daß ihr euch gegenseitig anguckt. Aber ich sage euch, es war die größte Schufterei meines Lebens, daß ich die Fliege vollkommen vergessen hatte.«

Der Bürgermeister mußte zu erzählen aufhören. Sein Gesicht war blutrot geworden, die Erregung hinderte ihn am Weiterreden. Währenddem saß die Fliege noch immer ruhig auf seiner Stirn, und es fiel ihm nicht ein, das Tier zu verscheuchen.

Der Gemeindearzt war der erste, der das beklommene Schweigen zu stören wagte.

»Herr Bürgermeister,« sagte er mit dem begütigenden Ton, den Ärzte zuweilen haben, »ich glaube, Sie brauchen sich keine unnötigen Vorwürfe zu machen. Ich will Ihnen nämlich gestehen, daß meiner Meinung nach die Fliege gar nicht wirklich existiert hat. Nach so langer Einzelhaft stellen sich dergleichen Halluzinationen sehr oft ein. Die Fliege hat in Ihrer Einbildung gelebt, und wenn ich ganz offen sein soll, so muß ich Ihnen sagen, das war das erste Zeichen des beginnenden Wahnsinns. Wären Sie nicht am vierundsiebzigsten Tage 110 befreit worden, so wären Sie am fünfundsiebzigsten Tage mitsamt Ihrer Fliege irrsinnig geworden.«

Die Fliege war indessen auf die große Hand des Bürgermeisters zurückgeflogen. Er sah auf sie herunter und schien sich um die Rede des Arztes gar nicht zu kümmern. Es war, als interessiere ihn in dem Augenblick gar nichts, als das Wandern der Fliege über seine großen, ein wenig behaarten Finger. Erst nach einer langen Pause sagte der Bürgermeister: »Ja, ja, das ist Ihre Auffassung, Herr Doktor.«

Die Gemeinderäte sahen einander verstohlen an. Es lag ein bißchen Sorge um ihren alten Freund in den Blicken der Herren.



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