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Buchschmuck

Vor dem schönen Palais in der Kronenstraße hält eine schmucklose Equipage, und zwar schon über eine halbe Stunde.

Die glatten, wohlgenährten Pferde stampfen zuweilen ungeduldig und wedeln sich in der heißen Morgensonne die Fliegen ab, während der alte Kutscher gemütlich schläft.

Im Laden gegenüber, wo ein Barbier seine Kunden bedient, hat der kunstfertige und elegante Felix Soufflet, der sich französischer Abstammung rühmt und ein Recht darauf besitzt, als der Antonius des ganzen Stadtviertels zu gelten: – er hat seine Kunden bereits mehrmals geschnitten, weil sein geistvoller Blick immer wieder zu der unbeweglichen Equipage hinüberschweift; dabei findet Herr Felix Soufflet beiläufig Anlaß, wiederholt gewichtige Bemerkungen zu äußern.

»Zum Teufel, was haben Sie denn heute!« ruft das Opfer, welches soeben unter dem Schermesser blutet, »wenn Sie so fortfahren, muß ich meinen Barbier wechseln.«

»Bitte tausendmal um Vergebung, Herr von Heinecke,« replizierte Herr Soufflet mit geläufiger Zunge, »ich bin heut etwas nervös – aber der verwünschte Wagen da drüben – –«.

»Was ist mit dem Wagen?«

»Es ist die Equipage des Generalarzts Dr. Westernhagen. Ich kenne die Livree seines Kutschers; früher war sie violett mit gelb, seit seine Fräulein Schwester zu ihm gezogen ist, ist sie grün mit rot.«

»Was kümmert Sie die Livree? Gehören Sie etwa zu den Putern, daß sie wild werden und blutgierig darauf losschneiden, wenn Sie Rot sehen?«

»Es ist nicht das, mein verehrter Herr von Heinecke,« fuhr der Barbier fort, indem er das gefährliche Schermesser abermals auf dem Streichriemen abzog, »aber die Equipage steht nun eine halbe Stunde vor der Tür, und ich zerbreche mir den Kopf, was der Herr Generalarzt dort oben zu tun haben mag. Dergleichen macht mich nervös und unruhig, denn wir sind ja doch auch ein Stück Mediziner. Sie wissen jedenfalls, Herr von Heinecke, dort oben vis-à-vis wohnt Seine Exzellenz, der Herr Justizminister, aber man hat doch nichts davon gehört, daß er krank wäre.«

»Ist denn das durchaus notwendig – wenn man eine so große Familie hat, kann mancherlei vorfallen –«

»Um Entschuldigung, Herr von Heinecke, die Familie ist ganz gesund. Die gnädige Frau fuhr noch gestern mit den Fräulein Töchtern aus, und die Kleinen sind vorher mit der Gouvernante ausgegangen. Nein, hier muß etwas Besonderes dahinterstecken. Ich wette, es ist eine simulierte Krankheit, eine Komödie – Sie wissen, wegen der Zeitungen, wegen des Landtages, wegen des nicht bestätigten Urteils. Ja wohl, Herr von Heinecke, das ist die allgemeine Meinung. – Und in Wahrheit, es ist ein Skandal! Für solche Willkür müssen wir unsre Steuern bezahlen, und jedes Jahr höhere – aber ich habe es immer gesagt, so kann die Wirtschaft nicht fortgehen! Solch ein grausamer Henker kann nicht Justizminister bleiben. Hingerichtet muß der Arme doch werden – Sie wissen schon, wen ich meine, wozu also die Verzögerung? Heiliger Gott im Himmel, ein ganzes Vierteljahr auf den Tod warten müssen, das heißt ausgesuchte Folter! Den sollte ich einmal unter meinem Messer haben! O weh – ich bitte tausendmal um Vergebung, es ist nur das Ohr! –«

»Hol Euch der Satan!« rief der Verletzte und sprang auf. »Mir scheint, Sie haben Ihre Karriere verfehlt, denn Sie haben mehr Genie zum Scharfrichter als zum Barbier. Gehen Sie, Herr Soufflet, und lassen Sie sich anwerben vom Abdecker, ich muß für solche Behandlung gehorsamst danken!«

»O, mein Herr von Heinecke,« sagte der Barbier mit dem Pathos der gekränkten Unschuld. »Sie gehen in der Tat zu weit. Sie verkennen uns und unseren Stand. Wenn wir auch nur Haarkünstler sind, so fühlen wir uns doch als Staatsbürger und wissen unsere Pflichten zu erfüllen als Teilhaber an den allgemeinen und direkten Wahlen. Die öffentlichen Fragen außerdem –«

»Haben euch den Kopf verwirrt,« unterbrach ihn der Verwundete, welcher jetzt ein abermaliges Streifchen englischen Pflasters auf die letzte Schnittwunde gelegt hatte. »Es ist ein wahrer Jammer heut,« fuhr er fort, »alle pfuschen hinein in die öffentlichen Fragen, und keiner tut mehr seine Pflicht, wie er soll. Leben Sie wohl, Herr Soufflet, lesen Sie weniger Zeitungen und bleiben Sie bei ihrem Leisten – ich meine bei ihrem Schermesser. Guten Morgen!«

Sprachs und schloß die Tür hinter sich. Draußen aber blieb Herr Heinecke, in dem wir einen jungen Referendar und Staatsdienstaspiranten kennen lernen, einen Moment stehen. Sein scharfes Auge flog zu den Fenstern des schönen Palais empor, und er lächelte befriedigt, als er hinter den gestickten Vorhängen des Eckfensters eine junge Dame bemerkte.

»Selma ist richtig wieder da, aber ich darf sie heute nicht grüßen, ich muß mit den Pflastern gar zu lächerlich aussehn. Auf ein andermal, mein holder Morgen- und Abendstern!« sagte Leo Heinecke für sich und schritt eilig über die Straße, um so bald als möglich aus dem Gesichtskreis der Beobachtenden zu kommen.

Der junge Mann hegte eine schüchterne und glühende Verehrung zu der Tochter seines Ministers, mit der er im letzten Winter einigemal getanzt hatte. Zu Erklärungen war es nicht gekommen. Der junge Staatsdienstaspirant war bürgerlichen Standes, ohne Vermögen und für jetzt noch ohne Anstellung, obwohl er seine Prüfungen mit Ruhm absolviert hatte. Unter diesen Umständen betrachtete Leo Heinecke seine Neigung selbst nur als einen schönen Traum, als ein tiefes Geheimnis, aber er war glücklich, wenn er seine Angebetete zuweilen sehen konnte.

Früher hatte er sich selbst rasiert. Seitdem er aber entdeckt, daß Herrn Soufflets Laden ein vortrefflicher »Luginsland« – für ihn ein »Luginsparadies« – war, gestattete er sich den überflüssigen Luxus, den jungen Bart womöglich täglich dem Messer des Halbfranzosen preiszugeben, der ihn heute so grausam traktiert hatte.

Vor dem schönen Palais in der Kronenstraße stampften die Pferde immer noch vor der unbeweglichen Equipage, und der Kutscher in seiner grünen Livree mit Rot schnarchte ganz vernehmlich.

Im Familienzimmer des Justizministers von Holzhausen steht eine ältliche Dame am Schreibtisch, und ihre feine Hand blättert emsig in einem Stoß Zeitungen, während sie mit der goldgefaßten Lorgnette dieselben prüft und einige Nummern, in denen sie das Gesuchte gefunden, beiseite legt.

Eine junge Dame, die in der Fensternische steht, folgt jetzt den Bewegungen der ersteren. Lange schon stand sie hinter den Vorhängen und spähte von Zeit zu Zeit hinunter auf die Straße. Dann aber wandte sie sich plötzlich wie enttäuscht und verwirrt ab. Nach einer Pause fragte sie:

»Aber, liebe Mutter, warum hast du denn eigentlich den Arzt holen lassen?«

»Ich fürchte, mein Kind«, erwiderte diese, »der Vater ist sehr krank und wir gehen schweren Heimsuchungen entgegen. Bete zu Gott, daß diese Tage vorübergehen. Ich war immer dagegen, daß er dieses Portefeuille annahm. Seitdem ist unser schönes Familienglück dahin – und nun kommen auch noch diese verwünschten Angriffe in den Zeitungen. Man möchte an der Gerechtigkeit des Himmels und an der Vernunft der Menschen verzweifeln; doch ich höre den Doktor, bitte, laß uns allein, endlich werde ich Aufschluß erhalten, was wir zu hoffen und was wir zu fürchten haben.«

Während die junge Dame mit besorgten Mienen das Zimmer verließ, öffnete sich die Tapetentür, welche in die anstoßenden Gemächer führte, und ein alter Herr erschien im Zimmer. Es war der Generalarzt Doktor Westernhagen, ein intelligenter, gemütvoller, behaglicher alter Herr, in bequemer Kleidung, an welcher die viele weiße Wäsche das einzige Elegante war. Er hielt noch die goldene Dose in der Hand, und seine Augen suchten den weißen Seidenhut, den er vorhin auf dem Piano zurückgelassen hatte.

»Endlich, Herr Generalarzt«, sagte die Ministerin und streckte dem alten Hausfreunde beide Hände entgegen. »Nun, was halten Sie von meinem Manne?«

Eine der beiden schönen Hände ergriff der galante alte Herr und führte sie an seine Lippen.

»Exzellenz machen sich, wie ich glauben muß, ganz unnötige Sorge. Der Herr Minister war erstaunt, mich zu sehen. Glücklicherweise sind wir alte Freunde, und so fand sich leicht ein Vorwand, ihm zu verheimlichen, daß man ihn als einen Patienten betrachte –«

»Aber Sie haben ihn doch untersucht?« fragte die Ministerin, indem sie den alten Herrn mit einer Handbewegung einlud, Platz zu nehmen.

»O, das weiß man schon zu machen,« sagte der Doktor und öffnete von neuem seine Dose. »Ich war ja leider über ein halbes Jahr auf Reisen, Sie wissen, in der Begleitung des Prinzen Oskar – da fand sich denn allerlei Stoff zu Mitteilungen – zwischendurch und wie zufällig fragte ich dann Ihren Gemahl nach seinem Befinden, nahm seine Hand, fühlte seinen Puls und lockte so nach und nach alles heraus, was ich zu wissen wünschte. Unsere Reise berührte auch mehrere Kurorte, und die Eigenschaften ihrer Quellen gaben mir zu verschiedenen Fragen Anlaß, die ich an Ihren Herrn Gemahl richten konnte. Er schien aber meine Absicht zuletzt zu merken und lachte mir geradezu ins Gesicht, ob ich ihn wirklich für krank hielte? Nein, gnädige Frau – der Minister war früher wohl heiterer, als bei seiner jetzigen großen Geschäftslast – auch fand ich ihn ein wenig zerstreut und nachdenklich, das sind aber keine Krankheiten. Sein Schlaf ist vortrefflich, seine Farbe gesund, in Summa, Ihr Herr Gemahl befindet sich in erwünschtestem Wohlsein, ich kann schlechterdings nichts finden, was Besorgnis erregen könnte.«

Die gnädige Frau schien von diesen Mitteilungen, so erfreulich sie waren, dennoch wenig befriedigt. »Ich verkenne Ihre Sorgfalt nicht, Herr Generalarzt, und ebensowenig Ihren scharfen, geübten Blick, und dennoch will mich Ihr Trost nicht beruhigen.«

»Erlauben Sie mir nun noch einige Fragen, Exzellenz«, sagte der Generalarzt, indem er Platz nahm und es sich auf dem samtenen Armstuhl möglichst bequem machte. »Ich war wirklich überrascht und erschrocken«, fuhr er fort, »als ich heute morgen Ihr Billett erhielt mit dem Wunsche, daß ich schleunigst kommen möchte. Woraus gründet sich nun Ihre Vermutung? Welche Symptome haben Sie bemerkt, um so ernsthafte Besorgnisse zu hegen? Ich hätte darnach schon vorher fragen sollen, aber ich wollte mich absichtlich nicht präokkupieren lassen und begab mich unmittelbar zum Minister, ohne mich Ihnen vorzustellen. Aber nun bitte um ausführlichen Aufschluß –«

Der alte Herr machte dabei eine so skeptische, ironische Miene, als sei er vollkommen überzeugt, daß es sich hier um nichts als um eine jener weiblichen Grillen und Einbildungen handle, womit Damen die Ärzte so oft vergebens in Bewegung zu setzen lieben; aber der Doktor Westernhagen war ein viel zu feiner Weltmann, um sich nur eine leise Andeutung von Unwillen merken zu lassen.

Die Exzellenz übrigens schien von diesem ernsthaften Examen nichts weniger als erbaut zu sein, und fast ungnädig klang der Ton ihrer Stimme, als sie erwiderte:

»Das ist eigentlich schwer zu sagen, Herr Doktor, und ich verließ mich wohl allzu sehr auf Ihren ärztlichen Blick. Mit einem Worte, ich erkenne meinen Mann nicht mehr, so sehr hat er seine kleinen Gewohnheiten und sein ganzes Wesen geändert. Daß er unregelmäßig speist und schon seit einigen Wochen nicht mehr am Familientisch erschienen ist, darauf wollte ich nicht viel geben, auch daß er seine Zeit zwischen einer hastigen, planlosen Tätigkeit und einer völlig lethargischen Ruhe teilt, würde mir nicht auffällig sein, aber andere Dinge sind wahrhaft beunruhigend. Zuweilen scheint er ganze Tage lang die Sprache verloren zu haben. Dabei starrt er auf einen Punkt und ist durch nichts aus seinem Versunkensein aufzurütteln. Gestern sprach er sogar mit sich selber, ich glaubte, es sei jemand bei ihm, und erschrak, als ich ihn allein fand. Bei Nacht steht er oft mitten aus dem Schlaf auf, geht in der Wohnung auf und ab, läßt seine Koffer packen und packt sie nachher wieder aus. Dabei hat er sich eine ganze Bibliothek alter Folianten kommen lassen, in denen er studiert und sucht, ohne doch das Rechte zu finden. Daneben entwickelt er selbst eine fieberhafte Arbeitstätigkeit, aber nicht in seiner gewöhnlichen Weise. Ganze Hefte und eine Anzahl von kleinen Blättchen hat er voll geschrieben. Nun, ich denke mir, er ist auch als Minister immer ein Gelehrter geblieben; aber was bedenklicher ist: er fertigt seine treuesten Beamten in rauhem Tone ab, die meisten Briefe bleiben uneröffnet, die wichtigsten Dekrete unerledigt liegen. Und wie er über die Menschen spricht, im allgemeinen wie im besondern, das darf ich gar nicht wiederholen. Sie haben ihn glücklicherweise am Morgen gefunden, da merkt man ihm wenig oder nichts an, aber des Abends und noch mehr des Nachts – o, es ist wahrhaft entsetzlich!«

Die vornehme Dame hatte sich durch diese Explikation in eine Aufregung hineingeredet, daß sie förmlich zitterte. Auch der Generalarzt war ernster geworden und sein ironisch skeptischer Zug hatte sich völlig verloren.

»Hm«, sagte er und drehte die Dose in der Hand, »das alles ist noch keine erklärte Krankheit, und es bleibt nur eine einzige Annahme übrig. Wenn es nicht ein großes politisches oder wissenschaftliches Unternehmen ist, welches Ihren Gemahl beschäftigt, so könnte man beinahe auf ein Gemütsleiden schließen.«

»Das ist es ja, was ich meine!« rief die Ministerin mit einem Tone, als wäre sie froh, daß endlich das rechte Wort getroffen sei. »Jawohl, ein Gemütsleiden, ein tiefes Gemütsleiden, das mich mit den schwärzesten Gedanken erfüllt.«

»Nur keine unnötige Sorge, Exzellenz«, sagte der alte Herr, indem er seine Hand erhob. »Sagen Sie mir ganz offen, ist dem Herrn Minister etwas Ungewöhnliches, etwas Aufregendes widerfahren? – sei es in seinem Amt oder in seinem Privatleben, zum Beispiel in seinen Vermögensverhältnissen. Die Frage könnte indiskret erscheinen, aber ich muß dies alles wissen, um mir ein richtiges Urteil bilden zu können.«

»Aufregendes – Ungewöhnliches – das könnte ich eigentlich nicht sagen«, erwiderte die Ministerin, »aber diese unselige Schwurgerichtsaffäre, dann das Todesurteil und jetzt diese insolenten Zeitungen – o, das ist an allem schuld, das habe ich von Anfang an behauptet!«

»Wenn ich bitten darf, Exzellenz«, unterbrach sie der Arzt – »wo möglich eins nach dem andern. Ich erlaube mir zu wiederholen, daß ich beinah ein halbes Jahr abwesend war, und von nichts weiß, was inzwischen vorgefallen. Bitte also, mich im allgemeinen zu informieren. Als ich abreiste, stand die Schwurgerichtssitzung noch in ferner Aussicht, so viel erinnere ich mich –«

»Und von jenem Tage an hat seine Krankheit begonnen.«

»Wie war doch der Fall?« fragte der Arzt. »Ah, jetzt fällt mir einiges wieder ein. Ich glaube, es stand ein Prozeß bevor gegen den unglücklichen Direktor Falkland wegen Fälschung –«

»Ach nein«, erwiderte die Ministerin, »das war leicht abgewickelt, aber der folgende Fall –«

»Dieser ist mir unbekannt geblieben –«

»Ich kann Ihnen auch nicht das einzelne erzählen«, sagte die Ministerin, sichtlich von dem Verhör ermüdet. »Es war eine verwickelte und doch eigentlich sehr einfache Geschichte, ein erschütterndes Drama des Gewissens, wo man so recht das Eingreifen höherer Mächte zu sehen meinte. Genug, der Angeklagte, der den besseren Ständen angehörte, wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt, und zwar einstimmig. Später kam das Urteil in die Hand des Ministers, meines Mannes, der es dem Landesherrn zur Bestätigung vorzulegen hat, bevor es vollstreckt werden kann. Aber sehen Sie, Herr Generalarzt, zu diesem Schritte ist nun mein Mann nicht zu bringen. Dreimal war das unglückselige Papier eingesiegelt, dreimal hat er es wieder geöffnet, und es liegt nun Wochen und Monate lang auf seinem Tisch, ohne daß er einen Entschluß fassen kann. Alle Mahnungen und Winke, selbst von seiten der anderen Ministerien, sind umsonst gewesen, und schon beginnen die Zeitungen, und selbst die loyalsten, über den Justizminister herzufallen und seinen Namen in den Schmutz zu ziehen. Man klagt ihn der Grausamkeit an und der Willkür, daß er den Armensünder so lange zwischen Leben und Sterben schweben lasse, ohne ihn jedoch jemals retten zu können oder auch nur retten zu wollen. O, diese heillose Geschichte wird noch sein Sturz werden!«

»Hm, erlauben Sie mir noch eine Frage, Exzellenz«, sagte der Arzt, indem er sein Kinn auf den Knopf seines Stockes stützte. »Hat der Verurteilte seine Tat eingestanden?«

»So viel ich weiß, nein; aber er leugnet sie auch nicht, er hüllt sich in Schweigen und scheint stumpfsinnig geworden zu sein.«

»Aber Ihr Herr Gemahl, der Minister, zweifelt vielleicht an der Schuld? Auch ein Schwurgericht kann sich irren. Man hat Beispiele davon, und keine menschliche Einrichtung kann sich der Unfehlbarkeit rühmen.«

»Gott behüte,« sagte die Ministerin. »Mein Mann hält den Täter unwidersprechlich für schuldig. Die Indizien sind so erdrückend, daß an einen Zweifel gar nicht zu denken ist. Noch keine einzige Stimme hat sich für ihn erhoben.«

»Nun also, weshalb in aller Welt zaudert er? Was denken Sie darüber, Exzellenz?«

»Ich kann den Grund – den einzig möglichen nur finden, daß er überhaupt ein Gegner der Todesstrafe ist und von jeher war.«

»Woraus schließen Sie das, Exzellenz?«

»Hier lesen Sie«, erwiderte die Ministerin und erhob sich. »Ich habe in den letzten Tagen und Wochen eine ganze Reihe kleiner Blätter gesammelt, die der Minister meist bei Nacht geschrieben hat, ohne sich nachher mehr darum zu kümmern. Die meisten Aufzeichnungen scheinen sogar noch aus seinen früheren Studienjahren zu stammen, denn sie haben einen ziemlich jugendlichen Ton, und Papier wie Schrift sind vergilbt. Einige aber davon sind neu und können erst jetzt entstanden sein. Wie Sie sehen, sind es eigentlich nur Aphorismen und Anfänge, aber sie lassen ahnen, wie tief sein Gemüt zerrüttet ist.«

»Bitte, geben Sie«, sagte der Arzt und nahm eine Reihe kleiner Blätter entgegen, welche die Ministerin aus ihrer Briefmappe hervorsuchte. Der Generalarzt las die Blätter einzeln und mit der größten Aufmerksamkeit durch:

... »Was tun? Das Portefeuille niederlegen und die Waffen strecken, dann kommt sofort mein Nachfolger und präsentiert das Urteil dem Landesherrn. Bestätigung und Vollstreckung muß dann unausbleiblich erfolgen. Mein Rücktritt würde also gerade das herbeiführen, wogegen sich meine ganze Natur sträubt.«

»Oder soll ich wirklich das Todesurteil an höchster Stelle präsentieren, wie es meine Pflicht ist? – Ein kalter Zug der Unterschrift, und der Scharfrichter packt sein Opfer! Das sieht alles so glatt und leicht aus, und kein anderer vermag die Schwere des Schrittes zu ermessen. Denn es ist ganz gleichbedeutend, ob ich das Urteil präsentiere, oder ob ich selbst mit kaltem Blute mein Messer wetze, damit hingehe und einen meiner Mitmenschen abschlachte. Das verlangt man von mir! Nein, das Dokument kann nicht abgehen!«

»Allerdings bin ich nicht der einzige, der die Verantwortung trägt. Die ihn verurteilten, die Geschworenen wie der Gerichtshof, ich, der das Urteil vorgelegt, wie der Regent, der es unterzeichnet: wir alle sind teilhaft Und werden zu Komplizen des Henkers, der es vollstreckt. Daß die anderen diese Gemeinschaft nicht fühlen wollen oder nicht zu fühlen scheinen, kann den nicht lossprechen, der diese Schmach aus das tiefste empfindet! ...

»Einen Menschen hinrichten. Wißt ihr, was das heißt? – Er hat in Leidenschaft, in wildem Haß gehandelt und seinem Gegner das Leben genommen. Ihr aber tut dasselbe mit kaltem Blut, mit Vorbedacht und übt legalen Mord mit legalen Zeremonien, wie sie das Harakiri der Japaner nicht minder verlangt. Und wir glauben, vor diesen Halbwilden etwas voraus zu haben und ihre grotesken Sitten belächeln zu dürfen?

»Einen Menschen zum Tode verurteilen – die ihr solches vollbringt aus Rechtsgefühl, aus Bürgerpflicht und aus Weisheit – würdet ihr denselben Wahrspruch eben so gelassen fällen, wenn das Gesetz vorschriebe: Nun gehet auch hin und vollstrecket euer Urteil selbst als Geschworene und Henker in einer Person! Warum schaudert ihr? Warum weigert ihr euch? Warum nennt ihr gleichwohl den ehrlos, der das ausführt, was ihr beschlossen habt? Ihr seid heuchlerische Ungeheuer! Die Todesstrafe wäre sofort abgeschafft, wenn das Gesetz verlangte, daß die Richter auch Henker sein müßten. Jeder würde dann sich gegen solche Verantwortung, gegen solche ehrenrührige Zumutung verwahren, und niemand würde mehr den Mut haben, ein derartiges Urteil zu fällen. Jetzt aber scheint ihr das Ungeheuerliche und Unnatürliche nicht einmal zu fühlen!

»Freilich wohl – ihr habt Recht. Unsere Zeit ist noch zu weit zurück, als daß wir die Todesstrafe entbehren könnten! Sie wird erst unnötig sein, wenn die Menschen einander nicht mehr morden. Ich aber sage, sie wird unmöglich werden, sobald sich im ganzen Volke kein Mensch mehr findet, der sich zu dem ehrlosen Handwerk hergibt, eine Hinrichtung zu vollstrecken. Die Leidenschaften der Menschen, ihre Verirrungen, Laster und Verbrechen werden ewig bleiben oder sich nur zeitweise mindern, und diese Naturphänomene ganz zu unterdrücken, wird unmöglich sein. Aber ein Volk durch Bildung und Sitte zu solcher Menschlichkeit zu erziehen, daß es keinen Ehrlosen mehr hervorbringen kann, der um Sold, oder Lohn, oder Gratifikation seinen Mitmenschen auf legale Weise schlachtet: – dies Ziel scheint mir erreichbar zu sein, und ich halte die Zeit für nicht allzu fern, wo wir lesen werden: in diesem Staat mußte die Todesstrafe aufgehoben werden, weil es unmöglich war, einen Henker zu finden.

»Wohl heißt es: Wer mit dem Schwert getötet hat, der soll durch das Schwert umkommen. Welche elende Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit! Wenn es wirklich eine himmlische Macht, einen persönlichen Gott gibt, der solche Gesetze für gut befindet, so wird er auch die Macht besitzen, sie selbst zu vollstrecken. Wenn wir wirklich an einen solchen Gott glauben, wären wir Toren und Heuchler, seine Macht bestreiten oder sie ihm abnehmen zu wollen!

»Und es ist auch so. Der ewige Richter tötet selbst, wir brauchen ihm nicht in den Arm zu fallen oder zuvorkommen. Er tötet durch das Gewissen, durch scheinbaren Zufall, durch die Folgen der Laster. Wer will behaupten, sein ganzes Arsenal kennen zu wollen? Und wer wäre so vermessen, die Weisheit des ewigen Richters durch sogenannte weltliche Gerechtigkeit ergänzen zu wollen?

»Ich weiß nicht, was sich eigentlich in mir so sträubt, dies verhaßte Urteil zu erledigen. Der Mensch ist schuldig. Sein ganzes Benehmen, der Stempel des bösen Gewissens in seinen verzerrten Mienen bezeugen es, auch wenn sein Stumpfsinn das offene Geständnis zurückhält. Er will offenbar sterben, denn er hat nicht einmal an die Gnade des Landesherrn appelliert. Er betrachtet offenbar den Tod als eine Wohltat, und dennoch vermag ich es nicht, ihm diese Wohltat zu erweisen, denn ich habe ebensowenig Recht dazu, als einem Todkranken Gift zu geben, weil er ein rasches Ende ersehnt.

»Der Soldat tötet in der Hitze des Kampfes und einen Gegner, der selbst bewaffnet ist. Er setzt sein Leben aus das Spiel und schützt mit seinem Blute das Vaterland vor dem Feinde. Deshalb ehren wir ihn. Nun, der Verbrecher ist auch ein Feind, wenn nicht des Vaterlandes, so der ganzen Menschheit. Man soll gegen ihn kämpfen, wohl! und wenn ein Volk in gerechtem Zorne Lynchjustiz geübt, so ist der Gerechtigkeit Genüge getan. Nennen wir solche Szenen aber Unordnung und Bestialität – wie kann man den Richtern zumuten, die Bestialität und Unordnung mit kaltem Blut und unter dem Deckmantel gesetzlicher Formen zu üben. Die Lynchjustiz am grünen Tische ist weit schrecklicher, als die auf offenem Markte.

»Ein Menschenleben opfern, weil es sich durch eine Untat außerhalb des Rechts und der Menschlichkeit gestellt hat – ganz gewiß haben wir das Recht dazu, um die Gerechtigkeit zu retten, ebenso wie wir Tausende braver Söhne und tüchtiger Männer im Kriege opfern, um das Vaterland zu retten. Wohl, auf das Opfer kommt es nicht an, denn nutzlos und wertlos ist das Leben eines Elenden. Wohl aber auf die Art und Weise kommt es an! Schicke man dem Deliquenten eine Schnur oder einen Becher, wie es die Griechen taten, lasse man ihm freien Willen, die Sühne selbst an sich zu vollziehen, und er wird es tun, sobald er die Qualen des Gewissens nicht mehr ertragen kann. Wenn nicht, so ist das ein Beweis, daß der Prozeß der Gewissensläuterung noch nicht zur Reife gediehen ist, oder daß die Feigheit größer ist als die Gewissensqual. Wir haben aber ebenso wenig das Recht, dem Verbrecher jenen Prozeß unmöglich zu machen, als seiner Feigheit zu Hilfe zu kommen.«

»Vor zehn Jahren habe ich absichtlich einmal einer Exekution beigewohnt, um die Wirkung zu erproben. Sie war entsetzlich, denn ich kam mir wie ein Mitschuldiger des Henkers vor und konnte Tage und Wochen lang das Bewußtsein nicht los werden, ein Verbrechen begangen zu haben. Und dieser Schauder ist durch die Zeit nicht schwächer, sondern stärker geworden.«

»Gestern war ich im Gefängnis, um mir den Verbrecher vorführen zu lassen. Wenn er um Gnade flehen wollte, könnte ich sein Gesuch befürworten und die traurige Sache wäre abgetan, aber mit dem Menschen war nichts anzufangen. So verbissen, ingrimmig und rasend habe ich noch nie einen Verbrecher gesehen. ›Ich will sterben‹, rief er – ›denn ich habe vom Leben nichts mehr, also macht vorwärts! Bluthunde und Schelme seid ihr doch alle!‹ Ich kann die Schmähungen nicht wiederholen, die der Wütende ausstieß. Hatte ich einen Rest von Mitleid, so ist es bei diesem maßlosen Benehmen geschwunden. Ich will heute noch das Urteil erreichen.

»Nachts zwölf Uhr. Trotz alledem und alledem, ich hab' es doch nicht vermocht – nicht seinetwillen, sondern meinetwillen. Ich bin krank und elend darüber, aber ich sehe keinen Weg, mir zu helfen. Gott im Himmel weiß, wie diese Sache enden mag.«

Tiefbewegt legte der Generalarzt die Blätter aus der Hand, nachdem er sie durchflogen. »Es ist erschütternd,« sagte er, »eine große und reine Seele vor eine solche Pflicht gestellt zu sehen. Wahrlich mich selbst könnten diese Ideen anstecken. Vieles darin verdankt der Minister seinen Studien des Marchese Beccaria, und einiges sind wohl auch unreife, jugendliche Schwärmereien seiner Studentenjahre, aber im ganzen spricht sich seine gegenwärtige innere Überzeugung darin aus. Ich habe von der falschen Humanität niemals viel gehalten; so kostbar ist das Menschenleben überhaupt nicht, daß man mit einem Mörder noch so viel Umstände machen müßte, aber trotz alledem ist in dieser Wärme, in diesem Sträuben vor der blutigen Erfüllung des Rechts etwas Großes und Beschämendes. Ich kann den Minister nicht beneiden, in ein so peinliches Dilemma gestellt zu sein. Aber bei Gott, einen Ausweg sehe auch ich nicht!«

Der Generalarzt war aufgestanden und gab die Blätter zurück.

»Und nun lesen Sie diese Zeitungen,« begann die Ministerin wieder erregt, »diese ehrenrührigen Angriffe und Verdächtigungen. Man hält seine Krankheit für Verstellung, bloß um die Entscheidung hinauszuzögern. Man fordert ganz offen seine Entlassung und arbeitet mit allen Mitteln an seinem Sturze.«

»Und der Fürst selbst?« fragte der Generalarzt, »wie verhält er sich in dieser peinlichen Sache? Ich sollte denken, daß bei ihm allein die Entscheidung läge.«

»Das ist eben das Leidwesen,« erwiderte die Ministerin. »Natürlich kann oder will der Fürst nicht ausdrücklich Befehl geben, ihm in dieser Sache Vortrag zu halten und ihm das Urteil vorzulegen. Dies wäre der kürzeste Weg; da aber kein erdenklicher Grund vorhanden, dann die Bestätigung zu verweigern, so würde mit solchem Befehl der Fürst selbst unmittelbar das Schwert niederfallen lassen. Diese Verantwortung will auch er offenbar nicht tragen. Und so kann es kommen, daß die ganze Sache bis zur Zusammenberufung der nächsten Kammer liegen bleibt, wo der Antrag auf Aufhebung der Todesstrafe noch einmal gestellt werden soll. Inzwischen aber leidet mein armer Mann, und die perfiden Blätter benutzen diesen Fall, um alle erdenkliche Schmach aus seinen guten Namen, auf seine Ehre zu häufen. Sie kennen ja die Taktik dieser Elenden, leider können wir nichts dagegen machen. Hier haben Sie alle Ursache seines Gemütsleidens.«

Der Generalarzt hatte nach seinem Hut gegriffen und bewegte sich der Tür zu.

»Hier ist meine Macht zu Ende, Exzellenz. Möge Gott Ihnen helfen. Krank ist Ihr Herr Gemahl nicht, aber ich gebe es zu, er kann es werden. Bitte, lassen Sie mich rufen, sobald sich bedenklichere Symptome einstellen sollten.«

Damit küßte er abermals die schöne Hand der Ministerin und empfahl sich mit einer tiefen Verbeugung. Die besorgte Frau aber blieb noch eine Weile in gebeugter Stellung nachdenkend und sinnend vor dem Schreibtische stehen, in welchem sie die Papiere und Zeitungen wieder verschlossen hatte.

»Es wird nichts übrig bleiben,« sagte sie zu sich selbst, »als das Portefeuille wieder abzugeben; aber wie das geschehen soll, ohne seiner Ehre und seinem Selbstgefühl zu nahe zu treten, ich sehe es nicht. Wären wir doch niemals hierher gekommen. Wir waren so glücklich tu der Provinz und lebten in so angenehmen Verhältnissen, da mußte uns die Versuchung nahen, und der arme Mann nahm an, weil er es dem Lande schuldig zu sein glaubte.«

In diesem Augenblick tönte die Schelle im Zimmer des Ministers, und seine Gemahlin eilte selbst, um nachzusehen, was es gebe.

Kopfschüttelnd hatte der Generalarzt Doktor Westernhagen inzwischen seinen Wagen bestiegen, der diesmal so ungewöhnlich lange Zeit vor dem schönen Palais in der Kronenstraße gewartet hatte.

Die sonderbare Audienz und eigentümlichen Aufschlüsse, welche er erhalten hatte, wollten dem alten Herrn lange nicht aus dem Kopfe, und namentlich mußte er auch während seiner ferneren Krankenbesuche auf der Hut sein, seine Zerstreutheit nicht zu verraten. Der sonderbare kriminalistische Fall, dessen Einzelheiten er noch nicht kannte, hielten unausgesetzt seine Gedanken in Bewegung. Noch selten hatte er diese Mühe gehabt, sich zu beherrschen und seiner eigenen Aufgabe gerecht zu werden, sowohl im allgemeinen Hospital, als bei der Gräfin Gorm, die an beständiger Migräne litt und ihre Ärzte förmlich Spießruten laufen ließ. Der Generalarzt mußte diesmal mehrere bittere Bemerkungen einstecken, ohne die rechte Erwiderung darauf zu finden. Nicht viel besser erging es ihm bei dem Hofrat Bärwald, einem hypochondrischen alten Junggesellen, der jedesmal gesund wurde, wenn er sich nur über sein angebliches Leberleiden gehörig aussprechen konnte.

Fortwährend verfolgte den alten Herrn während dieser Besuche das Bild seines alten Freundes, des Ministers, dessen echte Humanität und hohe Reizbarkeit er seit Jahren kannte, denn sie hatten einst auf der gleichen Universität studiert. Jedenfalls mußte der Kriminalfall, der einen gewissenhaften Mann so beschäftigen konnte, ein außerordentlicher sein, und allmählich empfand der Generalarzt – der, wie wir wissen, ein halbes Jahr abwesend gewesen war – das Verlangen, den Tatbestand genauer kennen zu lernen.

Und so sah man den alten Herrn gegen Mittag im Lesemuseum, wo er mit hastiger Geschäftigkeit in allerlei Zeitungen blätterte und vom Aufseher auch verschiedene alte, schon zurückgelegte Nummern verlangte.

Aber seine Ausbeute schien keineswegs eine befriedigende. Viele Zeitungen brachten wohl die Geschichte der Schwurgerichtsverhandlungen ziemlich vollständig, andere nur bruchstückweise oder im Auszug, aber keine einzige enthielt eine zusammenhängende Darstellung des Geschehenen.

Plötzlich sah sich der Generalarzt von einem jungen Manne angeredet, der seiner Unruhe, seinem hastigen Suchen schon seit einer Viertelstunde gefolgt war.

»Sie scheinen etwas zu suchen, Herr Generalarzt,« fragte der junge Mann, »kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Ah, Sie sind es, Herr Referendar,« erwiderte der alte Herr erfreut und begrüßte den jungen Mann, den er schon seit längerer Zeit kannte.

Mit wenigen Worten teilte ihm der Generalarzt seinen Wunsch bezüglich einer Darstellung jenes Kriminalfalles mit, der ihm wegen seiner halbjährigen Abwesenheit unbekannt geblieben war.

»Das trifft sich seltsam,« sagte Leo Heinecke. »Vielleicht niemand könnte Ihnen den Tatbestand so genau mitteilen als ich, denn ich fungierte bei jenem Schwurgericht als Protokollführer und kenne die kleinsten Einzelheiten, denn ich war auch bei der Voruntersuchung beteiligt.«

»Ah, dann bitte ich, erzählen Sie, lieber Freund. Ich würde Ihnen sehr dankbar sein.«

»Muß es sofort geschehen,« replizierte der junge Mann, »so würde ich in Verlegenheit kommen, denn meine Bureaustunde hat bereits geschlagen.«

»Nun, so schenken Sie mir heute abend die Ehre Ihres Besuches«, sagte der Generalarzt, »es liegt mir unendlich viel daran.«

Der junge Mann besann sich einen Augenblick, dann fuhr er fast schüchtern fort: »Es gäbe noch einen anderen Ausweg, Herr Generalarzt. Ich will es Ihnen gestehen, daß ich Korrespondent für juristische Fachblätter bin und ihnen über interessante Vorfälle hie und da Berichte zugehen lasse. Der Fall von Ravensbeck indes hat sich weiter ausgedehnt, als ich glaubte, und jetzt bin ich bereits schwankend geworden, ob ich die Arbeit drucken lassen darf.«

»Warum das?« fragte der Generalarzt.

»Es ist so zu sagen eine Kriminalgeschichte daraus geworden – es kommen Dinge in der Darstellung vor, die gewisse Charaktere berühren. Sehen Sie, hier ist das Manuskript, aber ich weiß kaum, ob Sie Lust haben werden, es zu lesen. Auch ist die Auffassung eine ziemlich freie und rücksichtslose. Es könnte mir schaden ...«

»Geben Sie, geben Sie nur, und seien Sie meiner strengsten Diskretion versichert,« sagte der Generalarzt. »Gerade diese Form ist mir die erwünschte, und der neue Pitaval wird Ihnen für diesen Beitrag gewiß sehr dankbar sein. Geben Sie nur, ich freue mich darauf. Hier muß ich in den Zeitungen blättern, dies Heft aber kann ich in aller Muße lesen. Wollen Sie heute abend mein Gast sein, so können Sie das Manuskript sofort zurückerhalten.«

Ohne Bedenken sagte Leo Heinecke zu, übergab das Heft und empfahl sich.

Der Generalarzt aber nahm sofort Platz in einem Winkel, brannte sich eine Zigarre an und begann zu lesen.

* * *


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