Balduin Groller
Die Tochter des Regiments und andere Novellen
Balduin Groller

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IV.

Die Gestirne ziehen ihre Bahn unberührt von dem kleinlichen Jammer auf unserer kleinen Erde, der freilich jenen, die es betrifft, groß und schmerzlich genug erscheint; und so verfliegt auch die Zeit in ewig gleichem Schwunge, ob nun tausend sehnende Herzen ihren Schwung auch beflügeln, ob – ein weit seltnerer Fall – glückliche Menschenkinder ihren Flug auch hemmen möchten.

In der Mädchen-Erziehungsanstalt der Frau Mina Braun in Dresden – sie zog es vor, wenn man ihren Namen Minnie Brown schrieb – gab es verweinte Augen. Piroska's Zeit war abgelaufen, sie hatte ausgelernt und sollte nun das Institut verlassen. Piroska Wallis sollte fort; niemand konnte sich darein finden. Sie gehörte ja zum Hause wie keine zweite unter den Schülerinnen. Alle anderen hatten doch ein Heim, hatten Verwandte, und hatten, wenn schon nicht in den Oster- oder Weihnachtsferien, so doch während der großen Vacanzen des Sommers eine Zuflucht bei lieben Angehörigen. Nicht so Piroska. In all den sechs Jahren, die vergangen waren, seitdem sie in dem Institute 78 untergebracht worden war, war sie nicht hinausgekommen aus dem Machtbereich von Frau Braun. Sie hatte ja Mitschülerinnen gehabt, die ebenfalls, selbst in den großen Ferien, nicht an eine Heimreise denken konnten, das waren jene, die aus Amerika, Indien, ja selbst Australien nach Dresden geschickt worden waren zur Vollendung ihrer Erziehung. Keine aber hatte so lange in dem Hause geweilt, wie Piroska. Sie waren meist schon älter, als sie der Obhut von Frau Braun anvertraut wurden, und nach zwei, höchstens nach drei Jahren verließen sie wieder die Anstalt, um dann in die Welt eingeführt zu werden.

Nun sollte Piroska fort, die bisher das Bleibende im Wechsel vorgestellt hatte, die unter allen Schülerinnen am längsten im Hause gewesen war. Die kleinen Mädchen weinten und die großen auch, die Lehrerinnen weinten und die Direktorin weinte auch. Die Direktorin hatte manchmal daran gedacht, daß sie sich da eigentlich eine vortreffliche Lehrerin erzogen habe, und mit Freuden hätte sie sofort die Schülerin zur Lehrerin erhoben, und Manches hatte dafür gesprochen, daß ihr Plan nicht ohne Aussicht auf Erfüllung sei. Sie hatte nicht viel 79 über Piroska's Familienverhältnisse erfahren können, aber doch genug, um zu wissen, daß sie kein rechtes Heim habe.

Im Anfange war Professor Baumann jährlich einmal von Wien gekommen, um nach dem Kinde zu sehen. Dann traf aber nach Ablauf von zwei Jahren schon die Nachricht ein, daß der alte Herr gestorben sei. Darauf vergingen wieder zwei Jahre, ohne daß eine Nachfrage, geschweige denn ein Besuch eingetroffen wäre. Das Honorar für Frau Braun langte immer zu dem Termin pünktlich ein, aber nie sonst irgend ein Zeichen persönlicher Anteilnahme. Einmal allerdings, genau zwei Jahre vor dem Abgange Piroskas von der Anstalt, hatte man sich um sie erkundigt. Graf Clemens Limay war mit seiner jungen Gemahlin bei Frau Braun erschienen und hatte den Wunsch ausgesprochen, Piroska zu sehen. Er war auf der Durchreise und wollte über Berlin und Hamburg nach Schweden und Norwegen, – es war eine Hochzeitsreise, die zur Abwechslung einmal nicht nach Italien gemacht wurde. Der Graf konnte Piroska nicht sehen. Er war am Tage vor Pfingsten gekommen, und alle jungen Damen 80 des Institutes hatten unter entsprechender Beaufsichtigung einen Ferialausflug in die sächsische Schweiz unternommen. Der Graf reiste ab, ohne seine »entfernte Verwandte« gesehen zu haben, und er ließ für sie bei Frau Braun nur ein wertvolles Brillantarmband zurück, das er ihr in verwandtschaftlicher Liebe mitgebracht hatte. Seither hatte sich wieder kein Mensch um Piroska gekümmert; Frau Braun hatte wirklich daran gedacht, sich Piroska zu erhalten, an der namentlich die kleinen Mädchen mit solcher Liebe hingen. Und nun sollte sie doch fort, endgiltig fort. Eine ältere Dame, Namens Ernestine Simbach, war aus Wien gekommen, um sie abzuholen.

Es war eine eigentümliche Begegnung, als sich Piroska und Frau Simbach zum erstenmale in Gegenwart von Frau Braun sahen. Wenn andere Mädchen die Anstalt verließen, wußten sie, daß sie in ein Heim ziehen. Piroska wußte, daß sie nun ein Heim verlassen sollte, um in die Fremde zu gerathen. Eine Frau übernahm da die Mutterstelle, die sie früher nie gesehen hatte. Piroska war nicht empfindsam, aber es überkam sie doch ein Weh und etwas wie ein Gefühl des Trotzes, 81 daß sie allein unter allen und gerade sie allein so bar jeder ihr gewidmeten Teilnahme und Zärtlichkeit sein sollte. Sie war eine Waise; das wußte sie, mehr aber nicht. Es mußte doch irgend jemanden auf der Welt geben, der verpflichtet war, sie lieb zu haben. Man hatte ihr nichts gesagt, wer ihre Angehörigen seien; ein Zeichen liebevoller Fürsorge hatte sie nie empfangen, – man hatte für sie das Schulgeld bezahlt, das war alles. Wie ein erratischer Block in der Ebene stand sie einsam da und wußte nicht, wohin sie gehöre. War sie jemandem zu Danke verpflichtet, war sie es nicht? Gewiß war sie es. So losgelöst von allen menschlichen Beziehungen ist niemand, daß sich nicht irgend eine Dankesschuld in seiner Seele sollte aufgehäuft haben, aber ihrer Pflicht standen doch auch solche anderer gegenüber. Hatte man diese erfüllt? Man hatte sie etwas lernen, und man hatte sie nicht verhungern lassen, es giebt aber noch ein anderes, neben dem alles sonst auf der Welt wie ein kärgliches Almosen erscheint, und das ist die Liebe. Diese hatte ihr noch keine menschliche Seele bekundet.

Piroska ließ sich von Frau Simbach auf die Stirne 82 küssen und that keine Frage. Sie war entschlossen, keine Frage zu thun und abzuwarten, ob man endlich die Gewogenheit haben werde, ihr wenigstens das zu sagen, wohin sie gehöre. Frau Simbach bemerkte die Zurückhaltung Piroskas nicht, und wenn sie sie auch wahrgenommen hätte, sie wäre doch nicht imstande gewesen, all die Fragen zu beantworten, die jetzt Piroskas Herz bewegten. Die alte Dame mit dem grauen, tief in die Stirne hereingescheitelten Haar und den in mildem Glanze leuchtenden braunen Augen fühlte sich vom ersten Moment an fast als Dienerin Piroskas. Frauen sind für weibliche Schönheit nicht weniger empfänglich wie Männer, und ganz gewiß ist die Wertschätzung derselben bei ihnen nicht geringer. Piroska war zu einer blendenden Erscheinung herangeblüht, und mit Entzücken ruhten die Augen Frau Simbachs auf der hohen, schlanken, wundervoll anmutigen Gestalt ihres Schützlings. Das goldrote Haar bildete eine wirksame Folie zu dem blühenden Antlitz und dem weißen Nacken und ihre großen schwarzen Augen blickten noch immer wie zur Zeit ihrer Kindheit wie mit einer stummen Frage in die Welt. Man ist eine große Dame 83 mit einer solchen Gestalt und mit einem solchen Gesichte, sagte sich Frau Simbach, und bezwungen von der Erscheinung Piroskas hatte sich die alte Dame gleich darauf eingerichtet, sich ihr zu unterwerfen und wenn schon keine Dienerin, so doch zum mindesten die Hofdame der Prinzessin zu sein.

Mit dem unfaßbaren weiblichen Instinkte erriet Piroska die Gedanken Frau Simbachs. Sie war mit dieser Wirkung zufrieden und entschlossen, die Vorteile nicht abzuweisen, die sich daraus für sie möglicherweise ergeben sollten. Unter diesem Eindruck war es ihr schon leichter, sich der Führung dieser Dame anzuvertrauen, zumal da sie im weiteren Verlauf der Dinge sehr bald herausgefunden hatte, daß Frau Simbach in der That gutmütig und mitteilsam sei, und daß, wenn sie nicht genug für die Wünsche Piroskas mitteilte, das lediglich seinen Grund darin hatte, daß auch sie nicht mehr wußte.

Piroska beschloß also, ihre Zeit abzuwarten, und verließ leichteren Herzens, als sie es selbst für möglich gehalten hätte, die Anstalt, um mit Frau Simbach die Reise nach Wien anzutreten. 84

 


 


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