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Zweiter Band

Dagoberts unfreiwillige Reise.

Andreas Grumbach, seine Gattin, Frau Violet, hatten sich gerade zu Tische gesetzt, als Dagobert eintrat. War das eine Überraschung! Seit zwei Monaten hatten sie ihn mit keinem Auge gesehen. Er war förmlich verschollen gewesen.

»Es ist schön von Ihnen, Dagobert, daß Sie wenigstens noch am Leben sind!« bewillkommnete ihn Frau Violet freudig erregt, während ihm Grumbach mit Herzlichkeit die Hand schüttelte.

»Ich gebe zu, es ist ein hübscher Zug von mir, aber es hätte wahrhaftig nicht viel gefehlt –«

Er vollendete nicht, und man fragte nicht. Man wußte von früher her schon, daß er bei Tische, solange die aufwartende Dienerschaft noch ab und zu ging, nicht zum Reden zu bringen sein werde, und so fragte man sich vorderhand nur gegenseitig das Befinden ab und erging sich sonst in allgemeinen und gleichgültigen Redensarten.

Der Bediente, der gerade die Suppe servierte, hatte gar nicht erst den Wink der Hausfrau abgewartet, sondern, wie es sich für einen gutgeschulten Diener, der den Brauch des Hauses kennt, gehört, aus freien Stücken und im eignen Wirkungskreise für den Gast ein frisches Gedeck aufgelegt.

Frau Violet war aber doch riesig neugierig, und sie hatte auch allen Grund dazu. Zwei Monate sich nicht anschauen zu lassen und gar kein Lebenszeichen von sich zu geben – so etwas war überhaupt noch nicht dagewesen! Dagoberts Antlitz wies eine Blässe wie von überstandener Krankheit auf, und sein Petruskopf erschien ihr nun noch viel interessanter als schon früher. Sie kannte die große Passion Dagoberts, sich als Amateur-Detektiv um Dinge zu kümmern, in Sachen hineinzumischen und ihnen nachzugehen, die ihn eigentlich gar nichts angingen und sich dabei gelegentlich in recht bedenkliche und gefährliche Zwischenfälle verwickeln zu lassen. Sie erinnerte sich dabei dankbaren Gemütes, welch wichtige Dienste er mit seiner merkwürdigen Gabe scharfsinniger Kombinationskunst als Gentleman-Detektiv wiederholt auch ihrem Hause schon geleistet habe.

Als der Diener auf einen Augenblick das Zinnner verließ, konnte sie sich nicht enthalten, ihm die Frage zuzuflüstern: »Sie waren verreist, Dagobert?«

»Jawohl, eine kleine Reise – eigentlich eine unfreiwillige Reise.«

»Wohin?«

»Nach Preßburg.«

»Eine Stunde von Wien – das ist doch keine Reise!«

»Es sind so gegen sechzig Kilometer.«

»Man bleibt nicht zwei Monate in Preßburg, noch dazu im Winter!«

»Sehr richtig. Für die Rückfahrt mußte ich allerdings einen kleinen Umweg machen so von ungefähr zweitausend Kilometern. Ich bin nämlich über Mentone zurückgekommen.«

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als der Diener wieder eintrat. Frau Violet, die ja wußte, daß Dagobert, wie er das immer gern getan hatte, nach Tisch beim schwarzen Kaffee im Rauchzimmer, seine Erlebnisse in der Zwischenzeit erzählen werde, war doch zu ungeduldig, einiges Nähere jetzt schon zu erfahren, um nicht eine neuerlich sich darbietende Gelegenheit zu einer Frage zu benützen.

»Sie waren natürlich wieder – in Geschäften fort, Dagobert?«

»Ich antworte wie Franz Liszt antwortete, als ihn ein Potentat fragte, ob er in Wien gute Geschäfte gemacht habe: Ich mache keine Geschäfte, ich mache Musik, Majestät.«

»Aber ich meinte ja – die Musik, Dagobert!«

Auch so wäre noch ein Mißverständnis möglich gewesen. Denn tatsächlich hatte Dagobert die große Passion auch für die Musik, die er leidenschaftlich liebte. Auch da galt er als hingebungsvoller Amateur, und dabei hätte er es sich keineswegs gefallen lassen, bloß als Dilettant angesehen zu werden. In Wahrheit hatte Frau Violet gar nicht die Musik gemeint, sondern seine andere Liebhaberei, die für die Detektivkunst. Diese Kunstliebhaberei war ihr an ihm doch noch die interessantere.

Als dann die kleine Gesellschaft das Rauchzimmer betrat, richtete Frau Violet dem Gaste, den sie der an ihm ungewohnten Blässe halber noch immer als Patienten betrachtete und daher mit einer gewissen Mütterlichkeit betraute, seinen Sitz in der Nähe ihres Lieblingsplätzchens am Kamin her. Der Hausherr selbst nahm seinen gewohnten Platz am Ranchtischchen in der Mitte des Zimmers ein. Der Kaffee war serviert, man hatte sich mit Zucker, die Herren mit Zigarren, Frau Violet mit einer Zigarette versorgt. Man war unter sich und ungestört.

»Sie haben sich sicher wieder in irgendeine verrückte Geschichte eingelassen, Dagobert,« begann Frau Violet.

»Sehr verrückt, meine Gnädigste!«

»Sie werden einmal schlecht dabei wegkommen, Dagobert. Ich habe Sie oft genug gewarnt.«

»Man schafft sich seinen Lebensinhalt, Frau Violet. Wissen Sie, was ich eigentlich am allerliebsten täte?«

»O ja, am liebsten würden Sie – Musik machen.«

»Das tue ich so wie so. Die tiefste Sehnsucht gilt immer dem Unerreichbaren, und am liebsten möchte man gewöhnlich das tun, was man nicht kann.«

»Was möchten Sie denn also am allerliebsten tun?«

»Novellen schreiben.«

»Aber – Dagobert!«

»Da ich das aber nicht kann – leider! – so trachte ich wenigstens, meine Novellen zu erleben.«

»Erlebte Novellen – das ist auch schon etwas, vielleicht mehr und Besseres als geschriebene.«

»Ob auch Besseres – das möchte ich nicht so schroff behaupten, Frau Violet! Das Leben ist kolossal fruchtbar im Dichten, aber es dichtet nicht immer kunstgemäß. Wo nach allen Regeln der Kunst eine verfolgte Unschuld not täte, da fehlt gewöhnlich die Unschuld, und wo man den geistsprühenden Baron brauchte, wie einen Bissen Brot, daß er mit seiner wundervollen Vorurteilslosigkeit zum Schlusse alles ins richtige Geleise bringe, da ist im Leben weit und breit keine Spur von ihm zu entdecken. So sind denn meine Novellen eigentlich immer recht kunstlos gefügt, und sie geraten sehr selten zu einem allseits befriedigenden Abschluß. Die Kunstform der Novelle –«

»Mein lieber Dagobert, das alles ist sicher sehr schön und gut, was Sie mir da entwickeln wollen, aber es ist nicht das, was ich von Ihnen erwarte.«

»Verzeihung, Gnädigste. Ich weiß, daß ich verpflichtet bin, Ihnen meine Beichte abzulegen. Ich beginne also meine Novelle, die eigentlich keine ist, weil –«

»Keine Philosophie mehr, Dagobert. Ich wünsche Tatsachen.«

»Gut. Eine Tatsache war es, daß mein Arzt eines schönen Tages – es war so um die Mitte Oktober herum – an mir eine leichte Leberanschwellung und gleichzeitig eine kleine Gallenaffektion feststellte.«

»Sie waren leidend, Dagobert, und haben uns keine Mitteilung gemacht!«

»Der Esel meinte, ich hätte vielleicht ein wenig zu gut gelebt. Als ob man überhaupt zu gut leben könnte. Natürlich habe ich immer darauf gehalten, so gut als möglich zu leben, aber ich bin ein Epikuräer und habe mir immer etwas zugute getan auf meine Weisheit im Genießen.«

»Nun scheint Sie Ihre Weisheit gelegentlich doch im Stiche gelassen zu haben.«

»Meine Leber hat mich im Stiche gelassen. Ich hätte Besseres von ihr erwartet. Also nun los mit der Karlsbader Kur! Es war nicht nötig, deshalb nach Karlsbad zu fahren; sie konnte auch zu Hause erledigt werden. Der Arzt hatte es gnädig gemacht mit mir. Des Morgens vor dem Frühstück einen anständigen Becher Mühlbrunn, darauf sofort eine halbe Stunde spazieren laufen – das war alles. Die Sache war mir ungewohnt und nicht eben angenehm. Gleich in aller Gottesfrühe fortrennen und so zwecklos spazieren gehen – das ist nie mein Fall gewesen, aber es mußte sein.«

»Dem Arzte muß man folgen, Dagobert!«

»Natürlich. Ich schiebe also los und hatte gleich am ersten Tage meine Novelle.«

»Sie haben immer Glück gehabt.«

»Es kommt darauf an. Wie Sie wissen, habe ich mein Junggesellenheim vor kurzem nach der Elisabeth-Promenade verlegt, die sich ja, wie Sie wissen, großartig herausgemacht hat. Früher hieß sie Roßauer Lände und unsere Stadtväter haben sie jetzt erst umgetauft. Ich finde, daß das eine recht überflüssige Wallung von Vornehmtuerei war. Roß-Au-Lände – so gut deutsche Wörter, die frische und angenehme Vorstellungen wecken. War es da unbedingt nötig –«

»Gott, Dagobert – ich warte auf Ihre Novelle!«

»Ich wollte nur sagen, das damit die Linie für meine Spaziergänge gegeben war.«

»Natürlich! Die Promenade ist sehr schön.«

»Im Gegenteil – durchaus nicht natürlich. Die Promenade – wenn Sie das kühne Bild gestatten wollen – wächst mir nämlich schon zum Halse heraus. Wenn man den Weg tagtäglich ohnedies mehrmals machen muß, dann wird man sich ihn nicht auch noch zum Spazierengehen aussuchen. Das wäre ja tödlich langweilig. Für mich war es also klar, daß ich meinen Weg über die Brigittabrücke nehmen mußte, in die Brigittenau, den zwanzigsten Bezirk, in den ich früher äußerst selten gekommen war und den ich daher fast noch gar nicht kannte. Als Grillparzer in seinem ›Armen Spielmann‹ die Brigittenau schilderte, da war sie wirklich noch eine Au, jetzt ist sie eine Großstadt für sich mit einer allerdings verhältnismäßig recht armen Bevölkerung. Da konnte ich immerhin erwarten, Neues zu sehen und mancherlei Anregung zu empfangen.«

»Ich selbst bin in meinem Leben noch nicht dort gewesen, Dagobert.«

»Gleich bei der Brücke ist dort jetzt der ›Schanzel‹ der Obstmarkt, etabliert. Ein hübsches, farbiges Bild. Da hatte ich sie nun vor mir, förmlich in Reih und Glied aufgestellt, die berühmten Schanzelweiber, berühmt ob der Kolossalität ihrer Leibesformen und nicht minder ob der Kolossalität der Derbheit ihrer Ausdrucksformen, wenn sie gereizt werden oder sonst in schlechter Laune sind. Vor ihnen auf umfänglichen Gestellen Berge von Obst, das sie feilhalten; hinter ihnen der Donaukanal, die zahlreichen Obstschiffe mit ihrem schier unerschöpflichen Inhalt. Ein prachtvolles, buntes Bild! Ich schreite die Stände langsam ab, und als ich am vierten Stand vorbeigekommen war, da wußte ich, daß meine notgedrungenen Spaziergänge nun doch über die langweilige ärztliche Vorschrift hinaus eine Art Zweck und Ziel haben würden. Ich werde da am Rückweg ebenfalls vorbeikommen und morgen wieder und überhaupt alle Tage, solange noch das Martyrium der kurgemäßen Lebensweise dauern sollte.«

»Aha – cherchez la femme«

»Sehr richtig, meine Gnädigste. Sie kennen mich. Es war aber auch ganz merkwürdig.«

»Es wird doch nicht gleich eine Gräfin unter die Obstweiber gegangen sein?«

»Das allerdings nicht. Ich glaube aber, daß so manche Gräfin sich beglückwünschen könnte –«

»So schön war sie, Dagobert?«

»Nicht einfach schön. Sie war überraschend in der Umgebung. Denken Sie sich unter den wetterharten Kolossalweibern ein zierliches Figürchen, Kubikinhalt bei weitem nicht die Hälfte von dem der übrigen Berufsgenossinnen. Die verkörperte Anmut. Nicht wesentlich eleganter gekleidet als die übrigen; ja sie trug, wie die anderen, ein weit, für meinen Geschmack zu weit ausladendes Kopftuch, so daß man förmlich Kunststücke machen mußte, um ihr ins Gesicht zu sehen, aber wie sie ihr Zeug trug, das war doch etwas ganz anderes! Und auch sonst. Die anderen hatten ihre Füße in warme Filzpatschen gesteckt der Herbst hatte schon recht rauh eingesetzt – sie trug ganz entzückende Stiefelchen, die unter dem geschürzten Kleid vortrefflich zur Geltung kanten. Ihre Hände waren auffallend klein und schön, aber fest von der Arbeit, und wie sie ihren Obstkram ordnete, bemerkte ich, daß sie einen Ehering trug.«

»Und von dem Gesicht, der Hauptsache, reden Sie nichts?«

»Das kommt zuletzt; das ist das merkwürdigste. Sie können sich das Feinste vorstellen, und Sie werden ihr nicht zurecht tun. Wie soll ich's Ihnen nur anschaulich machen? Sie erinnern sich der köstlichen typisch englischen Frauenschönheiten, die Dumourier für den ›Punch‹ zu zeichnen pflegte. Der brave Künstler ist längst tot, sonst hätte man glauben können, sie sei eines seiner beliebtesten Modelle gewesen. Wahrhaftig das Urbild eines der englischen Idealmädchen, obschon ihr Haar dunkel war. Sie trug es an der Seite gescheitelt, und so beschattete eine kunstvoll gebauschte Haarwelle die feine Stirne. Das Kinn, die Lippen, die zartgezeichnete Nase – kurz ein Gesicht, das unter den Hofdamen der Königin von England nicht überrascht hätte, das aber bei einer ›Frau Sopherl vom Naschmarkt‹ noch einigermaßen auffallen mußte.«

»Ich werde hingehen und mich überzeugen, Dagobert!«

»Und Sie werden mir dann zugeben, daß ich nicht übertrieben habe. Ich kokettierte natürlich sofort scharf hinüber, aber erfolglos. Ich wurde keines Blickes gewürdigt. Auf dem Rückweg dieselbe Geschichte: sie bemerkte mich nicht. Sie begreifen, Gnädigste, daß so etwas schmerzt. Man ist es sonst gewohnt, bemerkt zu werden. Man schmeichelt sich doch –«

»Ich bin ganz unbesorgt, mein lieber Dagobert, Sie werden sich schon bemerkbar gemacht haben!«

»Ich danke für die gute Meinung, meine Gnädigste; ich fürchte aber, daß Sie mich in diesem einen Falle überschätzen. Auch an den nächsten Tagen äugelte, liebäugelte ich hin, vergeblich. Sie besorgte ihre Sachen bei ihrem Stand und sah überhaupt niemanden an. Das gab mir zu denken.«

»Natürlich! Ihr Herren der Schöpfung steht gleich vor einem unlösbaren Problem, wenn einmal ein hübsches Frauenzimmer sich nicht geneigt zeigt, euch die gebührende Aufmerksamkeit zu erweisen!«

»Ich suchte nach einer Erklärung dieser völligen Gleichgültigkeit der Flucht der Erscheinungen gegenüber und glaubte, sie in einer starken inneren Benommenheit zu finden. Diese junge Frau mußte irgendetwas haben, was sie mit zwingender Ausschließlichkeit beschäftigte. Ich hatte sie mir immer genau, sehr genau angesehen, und da hatte ich auch zwei ganz feine Linien bemerkt, die sich vom Ansatz der zartgeschwungenen Nasenflügel zu den Mundwinkeln zogen. Von diesen beiden Linien schloß ich zunächst auf ein Leid oder auf ein Leiden. Das verminderte mein Interesse nicht. Ich nahm mir vor, wenn ich Obst kaufen werde – und ich werde Obst kaufen – es selbstverständlich nur bei ihr zu kaufen. Ich kaufte also, kaufte wiederholt. Sie füllte mir die Weintrauben in den Papiersack, wog, wechselte mit völligem Mangel irgendwelcher persönlicher Anteilnahme. Kein Lächeln, wenn ich wiederkam, nicht einmal das leiseste Anzeichen, daß sie mich überhaupt wiedererkenne. Auf meine Versuche, Gespräche anzuknüpfen, ging sie nicht ein. Sie antwortete einsilbig, teilnahmlos. Sie war die personifizierte Teilnahmlosigkeit. Da konnte ich hundert Jahre lang Weintrauben einkaufen, ohne ihr auch nur um einen Schritt näher zu rücken.«

»Für Ihr Geld hatten Sie auch auf mehr nicht Anspruch, Dagobert, als auf Weintrauben.«

»Das ist nicht ganz richtig, meine Gnädigste. Als Kundschaft hat man auch Anspruch auf ein freundliches Lächeln als Zugabe. Ich gestehe, mein Interesse begann abzuflauen. Die reizvolle Erscheinung übte zwar noch immer ihre Anziehungskraft, die Anmut war unleugbar und war entzückend, und doch das Ganze schien nicht beseelt. Ich begann meine psychologischen Erklärungen umzudeuten und jene feinen Linien, die dem Gesichtchen etwas Vergrämtes gaben, umzuwerten. Diese Linien sind einfach von der innerlichen Bösartigkeit eines ungezügelten Naturells gezogen.«

»Das ist wieder echter Dagobert! So sind die Männer. Weil sie ihn nicht anlächelt, muß sie gleich eine bösartige Katze sein!«

»Allerdings, sie schien mir nun mehr bösartig als vergrämt, verteufelt hübsch, aber bösartig. Meine ursprüngliche Begeisterung für die Prinzessin unter den Plebejerinnen mußte noch einen weiteren Stoß erleiden. Ich stand in der Nähe, als eine Dame bei ihr Weintrauben einkaufen wollte, als Anna Burgholzer – ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß ich ihre Generalien längst schon ausgekundschaftet hatte – bei meinen Beziehungen zur Polizei übrigens eine sehr einfache Sache, eine Nachfrage beim Marktkommissariat – aber halten wir uns damit nicht auf –«

»Nein, Dagobert, das dürfen Sie nicht so nebensächlich behandeln. Sie war also wirklich verheiratet?«

»Jawohl. Ihr Mann war Fischer –«

»War – ist es hoffentlich noch?«

»War Fischer in Kagran, jenseits der großen Donau. Von dort aus zog er täglich in die Lobau, übrigens ein historischer Boden, auch Aspern und Wagram liegen in der Nähe, und übte dort sein Gewerbe aus.«

»Schön, und was war es mit der Dame, die Weintrauben kaufen wollte?«

»Sie hatte sich vermessen, sich selbst die Trauben auszusuchen, und sogar den sträflichen Versuch gewagt, besonders schöne Trauben von unten weg herauszuziehen, wodurch allerdings der ganze Bau leicht ins Wanken hätte geraten können. Anna Burgholzer verwies ihr das kurz und schroff, und als die Dame daraufhin, vielleicht weil sie die Mahnung überhört oder angenommen hatte, daß die scharfe Zurückweisung unmöglich ihr gegolten haben könne, nicht sofort Order parierte, da begann Anna Burgholzer eine Standrede so urkräftiger Art, daß die Dame erschreckt und wortlos davoneilte. Der Redestrom flutete aber weiter, und die entfesselte Obstmarktfrauen-Beredsamkeit brachte in schier endloser Reihe so durchaus ordinäre Beschimpfungen hervor, daß ich selbst wie angedonnert dastand. Das also war meine englische Hofdame!«

»Geschieht Ihnen schon recht, Dagobert! Ein hübsches Lärvchen genügt Ihnen, um gleich alle erdenklichen Vorzüge damit in Verbindung zu bringen. Ihr alle seid bestochene Richter!«

»Da war allerdings auch nicht der leiseste Unterschied mehr von den übrigen Marktweibern zu entdecken. Von meiner Schwärmerei war ich nun so ziemlich geheilt, und ich beschloß, mich für die Dame nicht weiter zu interessieren. Schon am nächsten Tage aber wurde mein Interesse wieder auf das lebhafteste angeregt. Als ich wieder dort in gemessener Entfernung vorbeiging – sie selbst bemerkte mich bei meinen Promenaden niemals – sah ich einen Mann bei ihr stehen, und zwar nicht vor dem Verkaufsstand, sondern hinter demselben ganz dicht neben ihr, der sofort meine volle Aufmerksamkeit herausforderte. Ich umkreiste den Schauplatz und stellte meine Beobachtungen an. Sie wissen, gnädige Frau, ich habe etwas vom Jagdhund an mir.«

»Ich weiß, Dagobert.«

»Ich hatte eine Witterung in die Nase bekommen. Das war etwas für mich. Eine famose Figur. Eine hohe, sehr kräftige Gestalt. Starker dunkler Schnurrbart. Das derbe, blatternarbige Gesicht etwas bleich. Die Kleidung funkelnagelneu, aber von ordinärer Eleganz. Lichter, rehlederfarbiger Überzieher, neuer Zylinderhut, Lackschuhe, die phänomenal großen Hände in Glacéhandschuhen steckend, die noch das kräftige rote Handgelenk sehen ließen. Ich postierte mich hinter die beiden, lehnte mich ans Ufergeländer und tat, als sei ich ganz in Anspruch genommen von dem Treiben auf den Obstschiffen. Dabei behielt ich aber den Elegant natürlich scharf im Auge.«

»Warum hat denn der Sie nur gar so sehr interessiert, Dagobert?«

»Man hat seinen Blick, meine Gnädigste. Ich hatte gleich die Überzeugung: der Mann ist vor kurzem erst aus dem Zuchthaus herausgekommen!«

»Das kann man doch um Gottes willen einem Menschen nicht gleich von der Nase herunterlesen.«

»Vielleicht doch! Das Gesicht war an und für sich ein gediegenes Spitzbubengesicht, vielleicht nicht so im allgemeinen, aber doch für den Kenner. Und dann was mich eigentlich auf die Idee gebracht hatte – die verdächtige Blässe. Der Mann sah nicht aus wie ein Patient, der sich nun in der Rekonvaleszenz befindet – der Mann hat einfach längere Zeit im Kühlen gesessen. Die beiden sprachen sehr wenig miteinander, und ich hätte es auch nicht hören können. Dennoch waren meine Beobachtungen nicht ganz erfolglos. Während meine Schöne eine Kundschaft bediente, griff der Galan in ihre Geldlade und langte sich eine Handvoll Kleingeld heraus. Mit dieser Hand gab das schon aus!«

»Haben Sie ein Glück, Dagobert! Gleich so in flagranti«

»Nein, nein, meine Gnädigste, so einfach war die Geschichte doch nicht. Das war kein Diebstahl. Das geschah mit ihrem Einverständnis. Sie selbst rückte ihm mit der Linken die Lade zurecht, während sie mit der Rechten weiter bediente. Das Ganze wurde recht rasch und unauffällig gemacht. Das war aber noch nicht alles. Das Wichtigere kam noch. Als er das Kleingeld in der Hosentasche untergebracht hatte, griff er in die äußere Seitentasche seines Überziehers und brachte, nachdem er sich flüchtig umgesehen hatte, ob er nicht beobachtet werde, ein paar zerknüllte größere Geldnoten hervor, die er dann in die Geldlade schob.«

»Also ein Wechselgeschäft!«

»Eher eine Vorsichtsmaßregel. Für ihn war es nicht rätlich, große Geldnoten bei sich zu tragen und vielleicht gefährlich, sie wechseln lassen zu wollen. Ihm war mit Kleingeld besser gedient. Darauf grüßten sich die beiden kurz, eigentlich nur mit den Augen, und dann ging er davon.«

»Sie natürlich ihm nach, Dagobert?«

»Natürlich. Ich nahm im stillen vorläufigen Abschied von meiner verwunschenen englischen Hofdame und trug jetzt weit besseres Verlangen. Ich stieg dem eleganten Herrn nach. Mein Arzt wäre nun sehr zufrieden mit der Ausgiebigkeit meines Spazierganges gewesen. Der edle Kavalier ging die Spittelaner Lände entlang in der Richtung nach Nußdorf. Nach etwa halbstündigem Marsche kehrte er in eine sehr unansehnliche Branntweinschenke ein. Ich wartete. Er muß eine recht kräftige Stärkung zu sich genommen haben. Denn sein Gesicht war gerötet und seine Augen glänzten, als er wieder herauskam. Er ging weiter und richtig – bis Nußdorf. Dort bog er in ein Seitengäßchen ein und betrat ein niedriges, im übrigen recht weitläufiges und dabei sehr schmieriges und baufälliges Haus. Er schien zu Hause zu sein. Ich wartete wieder.« »Eine recht strapaziöse Geschichte, Dagobert.«

»Ich wartete. Es war elf Uhr, und ich dachte mir, daß er so gegen zwölf sich doch wohl um sein Mittagessen kümmern werde. Ich hatte richtig kalkuliert. Schon um halb zwölf kam er aus seinem Bau heraus und verlor sich in ein nahegelegenes Wirtshaus.

Der Kavalier hatte jetzt hohe Stiefel an und einen Lodenrock: keine Spur mehr von der früheren Eleganz, aber das grobe Zeug stand ihm viel besser und natürlicher. Er sah nun genau so aus, wie die anderen Nußdorfer Hauerbuben. Ich mußte seine Behausung sehen und ging direkt auf die Türe zu, aus welcher ich ihn hatte herauskommen sehen. Sie war unversperrt und ich sah in ein Gemach, das gar nichts Auffälliges bot. Ehrlich gestanden, ich hatte auch nichts Auffälliges erwartet. Ich fühlte nicht einmal die Versuchung, einen Blick in den Schrank oder in den Koffer zu tun, um nach etwaigen Einbruchswerkzeugen zu fahnden. War meine Vermutung richtig, daß er eine kriminalistische Vergangenheit hinter sich habe, so war nicht anzunehmen, daß er so dumm sein werde, verfängliche Dinge in seiner Behausung zu halten. War sie falsch, dann war er vielleicht überhaupt kein Verbrecher.«

»Das ist ganz schön, Dagobert, aber hatten Sie nicht damit gerechnet, daß Sie jemand stellen und fragen konnte, was Sie da eigentlich zu suchen hätten.«

»Darauf war ich allerdings vorbereitet. Ich hätte mich nach meiner Wäscherin Frau Sali Rumpolt erkundigt und steif und fest behauptet, daß sie da wohnen müsse. Ich wurde aber nicht behelligt und hielt mich auch nicht damit auf, mich um etwaige Auskünfte zu bemühen. Das wäre ihm doch zu Ohren gekommen, hätte Verdacht erregt und mir meine weiteren Nachforschungen nur erschwert. Es hätte auch keinen Zweck gehabt. War der Mann wirklich belastet, dann residierte er da wahrscheinlich unter falschem Namen. Hatte er sich aber nichts vorzuwerfen, dann hatte meine ganze Spioniererei überhaupt keinen Sinn. Ich fuhr nach der Stadt zurück und überlegte während der Fahrt, ob ich meine Untersuchungen überhaupt fortführen solle. Die Sache schien doch recht unsicher, aber ich wollte doch noch nicht locker lassen. Ich mußte zu einer Gewißheit kommen. Der erste Eindruck war doch ein zu starker gewesen. Wenn mich mein physiognomischer Blick da getäuscht hatte, dann konnte ich mein Geschäft überhaupt an den Nagel hängen und mir das Lehrgeld zurückgeben lassen.«

»Sie tun ja gerade, als müßten Sie von Ihrer Detektivkunst leben!«

»Man muß seinen Beruf haben, Frau Violet. Sie haben ganz richtig von einer Kunst gesprochen. Der Künstler hat seinen Ehrgeiz, auch wenn keine materiellen Fragen ins Spiel kommen. Ich fuhr beim neuen Polizeipalast vor und suchte mir meinen Freund den Oberkommissär Dr. Weinlich auf. Er ist die Seele der kriminalpolizeilichen Abteilung, und Sie wissen, daß wir gegenseitig schon wiederholt in der Lage waren, uns nicht unerhebliche Dienste zu leisten.«

»Ich erinnere mich sehr gut, Dagobert, daß er uns in der Affäre der schmählichen anonymen Briefe behilflich gewesen ist.«

»Ich ließ mir das Verbrecheralbum vorlegen.«

»Nun – haben Sie ihn gefunden, Dagobert?«

»Nein, meine Gnädigste. Zwei Stunden lang habe ich mich mit den Bildern beschäftigt, und das Resultat war, daß ich schließlich ganz dumm im Kopfe wurde. So ging's nicht. Ich mußte seinen Daumenabdruck haben. Ich ging also am nächsten Tage hin und holte mir seinen Daumenabdruck.«

»Das geben Sie großartig, Dagobert! Ich holte mir seinen Daumenabdruck! Wie haben Sie denn das angestellt?«

»Das war weiter kein schwieriges Unternehmen. Ich war um die Zeit, da er zum Mittagessen gehen sollte, zur Stelle und verlegte ihm den Ausgang aus dem Haustor durch ein breitspuriges und wackliges Stativ, das ich als Pseudophotograph dort ausgestellt hatte. Ich war natürlich dazu entsprechend schäbig gekleidet.«

»Was Sie für Einfälle haben, Dagobert! Und das Stativ und den Apparat hatten Sie sich bis Nußdorf hinausgeschleppt?!«

»Ach nein, meine Gnädigste. Der erste Tag hatte mich schon gewitzigt. Von nun an hatte auf meinen Exkursionen mir mein Wagen nachzufahren, und was ich fahren konnte, wurde gefahren. Er konnte also aus dem Haustor nicht heraus. Ich bat, ohne mich in meiner Geschäftigkeit auch nur nach ihm umzuwenden, um einen Augenblick Geduld. Auf seine Frage, was ich da vorhabe, antwortete ich, daß ich eine Ansichtskartenaufnahme vom Kahlenberg machen wolle. Er könnte mir übrigens einen Freundschaftsdienst leisten und das Stativ, das so verflucht wacklig sei, zwei Sekunden halten; länger werde es nicht dauern. Er erklärte sich bereit und streifte den Rucksack ab, den er umgehängt trug. Als er ihn niederstellte, gab es einen harten Klang und einen klirrenden Ton, der, so leise er war, von mir nicht unbemerkt blieb. Ich wirtschaftete weiter mit riesigem Eifer an meinem Apparate und demonstrierte, wie er das Stativ zu halten habe. Die Hauptsache sei, daß das Stativ nicht wackle. Ich zeigte ihm genau, wie er die Daumen an der oberen schmalen Leiste anzusetzen und dann recht kräftig nach abwärts zu drücken habe.«

»Ja aber, Dagobert, das Holz nimmt doch nicht gleich einen Daumenabdruck auf?«

»Gewiß nicht, Frau Violet, aber ich hatte auf die schmale Holzleiste erst einen Streifen amerikanischen Heftpflasters aufgeklebt und diesen dann wieder abgezogen, bevor er kam.«

»Ach so!«

»Er griff fest zu, ganz nach der Vorschrift. Ich zog die Klappe, und in wenigen Sekunden war das Werk getan. Er nahm seinen Rucksack aus – wieder ein Klang, der mir nicht entging – und zog seines Weges. Ich stäubte ein wenig Federweiß auf die mir nun wichtig gewordene Holzleiste und brachte das Stativ mit aller gebotenen Behutsamkeit zu meinem Wagen. Ich fuhr aber nicht gleich davon, sondern blieb noch auf der Lauer. Ich wollte wissen, wohin er nach seinem im Wirtshaus eingenommenen Mahle seine Schritte lenken werde. Nicht länger als eine halbe Stunde hatte ich zu warten, dann sah ich ihn wieder mit seinem Rucksack auftauchen. Er stieg zum Donaustrom hinunter. Einige Minuten war er meinen Blicken entzogen, dann sah ich ihn wieder im Boote des Fährmanns. Ich blickte ihm nach, bis er am jenseitigen Ufer ausstieg. Es war mir wichtig, die Richtung zu kennen, welche er einschlagen würde. Er hielt sich rechts, und ich konnte ihn ziemlich lange verfolgen, bis er sich in dem Weidengestrüpp der Auen verlor.« »Hören Sie, Dagobert, eine solche Geduld brächte ich in meinem Leben nicht auf!«

»Mir war das wichtig für etwaige spätere Nachforschungen. Eines wichtigen Vorteils über ihn hatte ich mich ja schon begeben: er hatte mich bereits gesehen! Weitere Begegnungen hatte ich also zu vermeiden. Ich orientierte mich für den Fall, daß ich ihn auf diesem Wege noch einmal sollte beobachten müssen. Das war klar, daß ich ihm in einem Boote nicht nachfahren konnte. Ich konnte aber mit meinem Wagen – Sie wissen, Gnädigste, daß ich zwei gute Amerikaner, flinke Sekundentraber, vorgespannt habe, darauf halte ich! – über die nächste Brücke stromabwärts ein Umgehungsmanöver vollführen und ihm dann den Weg kreuzen.«

»Sagen Sie mal, Dagobert, fürchten Sie sich denn gar nicht?«

»Vorläufig war ja noch nichts riskiert. Ich fuhr nun nach Hause und machte bei Blitzlicht eine scharfe photographische Aufnahme der Daumenabdrücke. Am nächsten Vormittage arbeitete ich auf der daktyloskopischen Abteilung meines Freundes Dr. Weinlich. Mit der Daktyloskopie ist das doch etwas anderes, meine Gnädigste, als mit der Photographie! Das Verbrecheralbum hatte mich nur konfus gemacht. Bei den Fingerabdrücken spielt weder die Barttracht, noch der erzwungene Ausdruck eine verwirrende Rolle. Es ist ganz erstaunlich, welche klare Sprache diese Abdrücke führen und noch erstaunlicher die unendlichen Variationen, die die Natur aus einer so kleinen Fläche zu spielen vermag. Man wird unter Tausenden und Tausenden von Abdrücken auch nicht zwei finden, die gleich oder sich auch nur ähnlich wären. Die Unterschiede sind immer so markant, daß jeder Irrtum geradezu ausgeschlossen ist. Ich hatte kaum eine Stunde gesucht und hatte meinen Mann gefunden. Mit untrüglicher Sicherheit. Denn nun bot auch die zu der gefundenen Nummer gehörige Photographie die Bestätigung. Da erst erkannte ich ihn auch im Bilde wieder, trotz der seitherigen nicht unwesentlichen Veränderungen.«

»Also doch ein bereits bestrafter Verbrecher?« fragte Herr Grumbach dazwischen.

»Ich hatte keinen Augenblick ernsthaft daran gezweifelt. Max Glan, vulgo ›der g'flickte »G'flickt« vulgär wienerisch – blatternarbig. Die mildere wienerische Form: blattersteppig. Maxl‹, wiederholt vorbestraft, das letztemal mit fünf Jahren schweren Kerkers; Spezialität: Einbruch, dabei aber auch zu schwerer Körperverletzung geneigt und bereit, wenn das Geschäft es erforderte. Dr. Weinlich interessierte sich lebhaft für meine Arbeiten, aber ich war mit meinen Mitteilungen zurückhaltend. Man hat seinen Künstlerehrgeiz. Ich wollte meine Sache allein fertig machen. Er weiß übrigens, daß er sich auf mich verlassen kann und daß schließlich ein etwaiger Erfolg auf sein Konto gebucht werden wird. Ich bin ein Jäger von Passion, aber ich bin nicht schußneidig. Es machte mich nicht redseliger, erhöhte aber meine Passion noch ganz beträchtlich, als er mir eröffnete, daß er sich wieder einmal ganz besonders gerade für den ›g'flickten Maxl‹ interessiere. Es sei noch keine vierzehn Tage her, daß in der Hietzinger Villa Seiner Exzellenz des Feldmarschall-Leutnants v. Jung eingebrochen und eine Kassette geraubt worden sei, und wenn vom Täter auch noch keine Spur gefunden werden konnte, so deute doch die Arbeit auf die kundige Hand des g'flickten Maxl.«

»Was enthielt die Kassette?« fragte ich.

»Sehr viel,« erwiderte der Oberkommissär. »Achtzehntausend Kronen in Barem und fast das Doppelte in Wertpapieren, die für den Einbrecher allerdings wertlos sind, dann eine Anzahl wichtiger Dokumente und endlich sämtliche Orden Seiner Exzellenz, eine recht stattliche Anzahl.«

»Diese Mitteilungen regten mich auf. Vor meinem Geiste tauchte die Gestalt mit dem Rucksack auf, wie ich sie aus weiter Ferne durch die Donau-Auen schreiten sah. Das waren so ziemlich die einsamsten Strecken im weiten Bereich der Großstadt. Was hatte der Mann dort zu suchen? Warte, Bürschchen, dir werden wir jetzt erst recht auf die Kappen gehen!«

»Meine Absichten waren die besten, aber leider mußte ich schon am nächsten Tage erleben, daß der Vogel ausgeflogen war. Maxl war ausgezogen, unbekannt – wohin? Ein gewitzter Bursche, der sich auskennt! Für Leute seines Schlages ist häufiger Domizilwechsel äußerst empfehlenswert als das allerbeste und sicherste Schutzmittel. Also entwischt. Nun konnte ich mir ihn suchen in der Millionenstadt!«

»Was haben Sie da getan, Sie armer Dagobert?« fragte Frau Violet teilnahmvoll.

»Geärgert habe ich mich, meine Gnädigste.«

»Und dann als Sie sich ausgeärgert hatten?«

»Da habe ich von vorn angefangen. Ich habe meine Spaziergänge zum Schanzel wieder aufgenommen und ich kann versichern, daß ich auch nun nicht umhin konnte, Frau Anna Burgholzer für ganz außerordentlich hübsch zu finden. Allerdings – meine Gänge hatten wenig Zweck. Der Mann, den ich erwartete, kam nicht, oder er kam vielleicht gerade, da ich nicht zur Stelle war. Sie selbst konnte ich nicht ausfragen, und wenn ich's versucht hätte, wäre es eine große Dummheit gewesen.«

»Ich hätte die Sache da schon längst entmutigt aufgegeben, Dagobert.«

»Zur Entmutigung lag gar kein Grund vor. Im Gegenteil, ich hatte trotz alledem das Gefühl, daß ich meinen Mann sicher hatte.«

»Eine schöne Sicherheit!«

»Vergessen Sie nicht, daß ich schon eine ganze Reihe von Anhaltspunkten hatte. Soll ich rekapitulieren?«

»Nein, Dagobert, ich weiß alles. Nur weiß ich nicht, was ich nun an Ihrer Stelle angefangen hätte.«

»Die Linien waren mir klar vorgezeichnet. Sie müssen sich erinnern, Frau Violet, daß die Anna Burgholzer nicht als ein Ding an sich in der Welt stand, losgelöst von allen sozialen Beziehungen. Sie war verehelicht; sie hatte einen Mann. Den Mann mußte ich kennen lernen. Ward er einfach betrogen oder gehört er mit zum Klüngel? Ich traf meine Vorkehrungen und fuhr nach Kagran hinaus, mir einmal den Burgholzer aufzusuchen. Ich traf ihn nicht zu Hause; er war schon seiner Beschäftigung nachgegangen. Ich ließ mir genau seinen Stand am Ufer in der Lobau beschreiben und habe ihn dann auch richtig gefunden. Ein junger Mann, wohl kaum viel über die dreißig, aber sichtlich der Typus eines Alkoholikers und darum etwas älter aussehend. Kurzer blonder Vollbart, dichtes kurzes Haupthaar, das Gesicht gerötet und ein wenig gedunsen, die Augen schwimmend. Er stand am Ufer an der Arbeit. Etwa fünfzig Schritte landeinwärts stand seine Hütte, die ganz gut auch für die Nacht eine Unterkunft bieten konnte. Ich wurde bald einig mit ihm. Ich sei ein passionierter Fischer und an ihn empfohlen. Ob ich in seiner Nähe fischen dürfe. Was ich fangen sollte, würde ich natürlich ihm abliefern. Mir sei es nur um den Sport zu tun. Als ich mich dann auf seine Frage mit der amtlich ausgestellten Lizenz auswies, war er einverstanden. Ich bezog in seiner Nähe meinen Stand und dann fischte ich sofort drauf los.«

»Nun ist Dagobert gar ein Fischer worden!«

»Fischer müssen schweigsam sein. Ich habe also keine Silbe geredet und zeigte ein unerschütterliches Phlegma und eine ungeheure Wurstigkeit der ganzen Außenwelt gegenüber. Das hinderte mich natürlich nicht, ihn unauffällig im Auge zu behalten. Es war nichts Besonderes zu sehen, höchstens daß er gelegentlich bei der Arbeit der geliebten Flasche zusprach. Das hätte ich nicht erst zu sehen gebraucht. So gegen zehn Uhr vormittags machte er eine Frühstückspause und lud mich ein. Er war in guter Stimmung. Ich hatte ihm doch schon acht bis zehn Pfund gefangen, und das war ja der bare Reinprofit. Ich aß von seinem Speck und trank von seinem Fusel und redete noch immer nichts. Er sollte nur selber 'rankommen, aber ich nahm mir vor, am nächsten Tage selber ein Frühstück und meinen eignen Kognak mitzubringen und ihn einzuladen. Denn schließlich hat alles seine Grenzen. So wurden wir nach und nach gute Freunde und mein Kognak, vor dem er eine ungeheure Hochachtung bekundete – er war offenbar Kenner – machte ihn redselig. Ich behielt mein Phlegma bei und tat als hätte ich für nichts auf der Welt Interesse als höchstens fürs Fischen.«

»Und Sie gingen nun wirklich jeden Tag dahinaus fischen, Dagobert?«

»Jawohl, meine Gnädigste. Fischen ist ein sehr anregender Sport.«

»Aber das war doch nicht Ihr Zweck, und mit Ihren sonstigen Absichten, scheint es, kamen Sie nicht weiter!«

»Nur Geduld, Gnädigste! Auch ich mußte Geduld haben, viel Geduld. Ich wußte, daß ich ein Dreieck vor mir hatte, und die drei Punkte waren gegeben. Mein guter Fischer, seine geschätzte Gemahlin und der sehr ehrenwerte Maxl, und doch konnte ich mir die Linien noch nicht ziehen. Das Leben richtet sich nämlich nicht immer genau nach den geometrischen Lehrsätzen. Einmal als ich Meister Burgholzer wieder in recht redseliger Stimmung hatte, ließ ich die Bemerkung fallen, daß ein Mann, wie er, doch sehr gut daran täte zu heiraten. Er blinzelte mich schlau an und lachte.«

»Ich bin ja so schon verheiratet!« sagte er dann.

»Was Sie nicht sagen, Meister Burgholzer! Wie kommt es, daß ich Ihre Frau noch nicht gesehen habe? Sie könnte Ihnen ja ganz gut das Essen da herausbringen.«

»Das geht nicht; sie hat ihr eignes G'schäft in der Stadt.«

Ich ließ mir nun berichten, was ich ohnedies schon wußte, und warf ihm weiter das Hölzel, um ihn zum Reden zu bringen. Also – er war schon drei Jahre verheiratet und hatte keine Kinder.

»Hoffentlich haben Sie sich aber eine fesche Frau ausgesucht, Meister Burgholzer!«

»O, Herr von Trostler – (ich hatte es nicht für notwendig erachtet, hier inkognito aufzutreten. Es wäre auch wegen der Fischkarte nicht gegangen, die ich doch nicht auf einen falschen Namen ausstellen lassen konnte) – wenn Sie die erst sehen werden! In der ganzen Wienerstadt gibt's keine zweite wie sie!«

»Sapperment, Sapperment, so ein Ausbund also! Schön und – schwer, Meister?«

»Nicht wie Sie glauben, Herr von Trostler. Sie ist a wengerl z'niftig, g'ring im Gewicht, aber wie a Stadtfräuln, und wenn man s' richtig anziehget, dann kunnten Sie s' für a Prinzessin ausgeben!«

»So, so – dann sind Sie ja wirklich zu beneiden. Denn sicherlich ist sie auch eine kluge Frau.«

»G'scheit! davon machen Sie sich gar keine Vorstellung!«

»Und ganz selbstverständlich – auch brav!«

»Brav ist sie auch – da gibt's nichts!«

Ich war berechtigt, weiter zu fragen. Denn eine Wolke von Sorge und Kummer war über sein Gesicht geflogen, als er ihre Bravheit bestätigte, und er hatte sich keine Mühe gegeben, seine gedrückte Stimmung vor mir zu verbergen.

»Und Sie sind noch immer nicht zufrieden?« fragte ich unschuldig.

»Ja, wissen S', gnä' Herr, das ist so eine eigene Sach'! Sie tragen's ja nicht hinaus, und es ist nur, daß man davon redet, helfen tut's ja so nichts, und helfen kann mir überhaupt niemand.«

»Wo fehlt es denn, Burgholzer?«

»Wenn ich's nur so sagen könnt'! Sehen Sie, gnä' Herr, darum trinke ich. Nicht nur um zu vergessen; das geht ja doch nicht, sondern um a bisserl mehr Kurasch zu kriegen. Dazu hilft's. Ich fürchte mich und komme aus der Todesangst gar nicht mehr heraus, und da soll es doch wenigstens einen Menschen geben, der weiß, wie es war, wenn ich einmal nicht mehr bin, und das wird bald sein.«

»Lieber Burgholzer, Sie müssen doch schon deutlicher reden, wenn ich Sie verstehen soll.«

»Ihnen will ich's sagen, Herr von Trostler, Sie sollen es wissen. Es wird nicht mehr lang dauern und ich werde da in der großen Donau verschwunden sein.«

»Sie werden doch die Verrücktheit nicht begehen, sich etwas anzutun?«

»Ich nicht, aber ein anderer wird mir etwas antun. Sie sollen es wissen – der g'flickte Maxl wird es getan haben.«

»Wer ist der g'flickte Maxl?«

»Das ist ein Schlosserg'hilf', eine alte Bekanntschaft von der Anna. Er hätte sie auch geheiratet, ist aber dann auf a paar Jahrl eing'naht worden. Jetzt haben sie ihn wieder herausgelassen, und mein Unglück ist fertig.«

»Sagen Sie, Burgholzer – Ihre Frau hält es mit dem Manne?«

»Ob sie es mit ihm halt! Ich weiß, daß sie ihn gern hat, immer gern g'habt hat, und er is rein wie a Narr auf sie!«

»Na – wenn das die berühmte Bravheit ist –!«

»Sie ist brav! Was glauben Sie denn, Herr von Trostler?! Haben Sie wirklich geglaubt? Ah, da muß ich bitten! Da kennen Sie meine Annerl schlecht! Die hält auf ihre Ehr', wie nur irgendeine Frau in der Wienerstadt. Die – und ein Ehebruch! Aber – Herr!! Eher fallt der Himmel ein und die Welt geht zugrund. Das gibt's bei ihr nicht, und das ist mein Unglück.«

»Sie können doch nicht wünschen, daß es anders wär'!«

»Das wäre grad' so ein Unglück – g'hupft wie g'sprungen. Dann bringet ich mich selber um, und so wird er es tun.«

»Ja, warum denn, um Gottes willen?!«

»Weil er ihr sonst nicht zukann. Er weiß das. Sie hält auf ihre Frauenehr', und solang ich lebe, kann er sich abzappeln wie er will, es wird ihm doch nichts nützen. Freilich, wenn ich einmal tot bin, dann weiß ich nicht, was geschieht – oder besser, ich weiß es ganz genau: sie wird mit ihm gehen.«

»Sie können sich denken, Frau Violet, daß diese Mitteilungen mein ursprüngliches Interesse für das Persönchen der Frau Anna Burgholzer nicht abschwächten. Ich mußte mich erst mit ihren starren Ehrbegriffen abfinden. Die Frauenehre über alles! Das ist groß und das imponiert mir. Im übrigen aber gestattet diese Ehre ohne weiteres, mit einem notorischen Gauner und Einbrecher gemeinsame Sache zu machen.«

»Ich finde das nicht so unbegreiflich, Dagobert,« sagte Frau Violet.

»Weil Sie eine Frau sind. Das ist so ein Problem der weiblichen Psyche, mit dem unsereins, wenn es gerade kein großer Psychologe ist, nichts anzufangen weiß, das sich aber der weiblichen Auffassung ohne sonderliche Schwierigkeit zu lösen scheint.«

»Was taten Sie nun, Dagobert?«

»Ah, nun war ich doch um ein gewaltiges Stück vorwärts gekommen! Ich hatte wieder alle Fäden in der Hand. Aus Burgholzer hatte ich herausgeholt, daß Maxl in seinem Hause häufiger Gast sei, und weiteres auch die Zeit, wann er gewöhnlich zu erscheinen pflegte. Ich legte mich also wieder auf die Lauer und folgte ihm dann auf seinem Heimwege. So brachte ich auch seine neue Unterkunft in Erfahrung, draußen in Hernals, im schwarzen Viertel.

Nun ging es leicht. Ich folgte ihm tagelang auf seinen Gängen. Einmal drang ich sogar wie seinerzeit in Nußdorf in seine Wohnung, in seiner Abwesenheit natürlich. Dazu nahm ich nur Flora, meine famose englische Vorstehhündin mit. Sie hat mich zwölfhundert Gulden gekostet, aber sie ist ihr Geld wert. Ich weiß nicht, ob es auf dem Kontinent eine bessere Nase gibt, und Sie wissen, Frau Violet, auf gute Hunde halte ich. Ein guter Hund –«

»Schon gut, Dagobert. Wenn ich Sie jetzt über Ihre Flora reden lasse, dann erfahre ich nichts mehr von Ihrem Maxl.«

»Sein Zimmer bot wieder nichts Bemerkenswertes. An einem Nagel hing ein völlig zerrissener Rock. Ich ließ Flora daran riechen, überhaupt im Zimmer herumschnuppern; dann riß ich einen Fetzen vom Rock, hielt ihn Flora an die Nase und nahm ihn mit, und ließ dann im Laufe des Tages Flora wiederholt daran riechen. Sie sollte mit diesem Geruch vertraut werden. Das konnte doch irgendwie nützlich werden. Schon am nächsten Tage machte ich die Probe auf das Exempel. Ich ging Maxl wieder nach. Er zündete sich auf der Straße eine Zigarre an. Rasch gab ich meinem Kutscher, der mir, wie nun immer, nachzufahren hatte, ebenfalls eine Zigarre, er solle sich von dem Manne Feuer geben lassen und dazu Flora mitnehmen. Die Zügel sollte einstweilen mein Diener halten.«

»Warum haben Sie nicht gleich den Diener geschickt, Dagobert?«

»Das hervorragend dumme Gesicht meines Kutschers schien mir vertrauenswürdiger. Er lief also, und ich paßte auf, vornehmlich auf Flora. Ganz wie ich erwartet hatte. Die raschen Schwingungen des Schweifes drückten lebhafte Gemütsbewegungen aus. Flora schnupperte und schnupperte, und ihre Miene und ihr Gehaben ließen erkennen, daß sie sich erinnere, schon einmal irgendwie und irgendwo das Vergnügen gehabt zu haben. Mein Zweck war erreicht. Da ich dem Manne doch nicht mehr selber unter die Augen treten konnte, ohne Verdacht zu erwecken, hatte ich beschlossen, bei meinen weiteren Forschungsreisen Flora mitzunehmen. Da konnte ich doch in entsprechendem Abstand folgen, ohne befürchten zu müssen, die Spur auf einmal ganz zu verlieren.«

»Nun sagen Sie nur eins, Dagobert: hielten Sie die Befürchtungen Burgholzers wirklich für begründet?«

»Für nur allzu begründet!«

»Sie trauten Ihrem Maxl auch ein solches Verbrechen zu?«

»Ohne weiteres. Vergessen Sie nicht, Frau Violet, daß da die Leidenschaft für ein Weib ins Spiel kam. Im Banne einer solchen Leidenschaft halte ich den anständigsten Menschen eines Verbrechens fähig und nun erst meinen Maxl!«

»Mich wundert's aber dann, daß Sie sich mit dieser Sorge weiter nicht aufgehalten haben!«

»Wer sagt denn das? Ich hatte es sofort für eine Gewissenssache gehalten, die Angelegenheit mit meinem Freunde Dr. Weinlich zu besprechen. Wir kamen aber zu keinem rechten Ergebnis. Auch die sorgfältigste polizeiliche Überwachung hätte einen meuchlerischen Überfall nicht verhindern können, und die Überwachung besorgte ich nun selbst. Besser hätte es die Polizei auch nicht können; sie wäre mir höchstens in die Quere gekommen. Das einzig sichere Mittel wäre gewesen, ihn für längere Zeit wieder festzusetzen. Dazu fehlten vorläufig der Anlaß und die gesetzliche Handhabe. Nun hatte ich allerdings die stille Hoffnung, in kurzer Zeit eine solche Handhabe zu finden, aber es mußte gewartet werden, bis sie gegeben war.«

»Das war doch eine recht vage Hoffnung, Dagobert. Worauf konnten Sie sich denn bei dieser Annahme stützen?«

»Ich erinnere Sie daran, meine Gnädigste, daß einige Anhaltspunkte für diese Annahme doch schon gegeben waren. Maxl hat seiner geliebten Anna einige größere Geldnoten zugesteckt. Wie war er zu diesen Noten gekommen? Das mußte herausgebracht werden und war herauszubringen. Weiter – der Einbruch bei dem Feldmarschall-Leutnant. Eine genauere Prüfung des Tatbestandes und der Vorakten brachte mich zu der Überzeugung, daß die Annahme Dr. Weinlichs wohl etwas für sich habe. Der Einbruch war offenbar ein ›echter Maxl‹. Ich war im Zuge und fühlte mich sehr sicher auf meiner Spur. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß es mir sehr bald gelingen werde, die so notwendige gesetzliche Handhabe zu schaffen.«

»Ich bewundere Ihre Zuversicht, Dagobert!«

»Das macht die Praxis, Gnädigste. Man kriegt mit der Zeit schon das Gefühl dafür, ob man auf richtiger Fährte ist oder auf falscher. Schon die nächsten Ereignisse gaben mir recht. Es war gegen drei Uhr nachmittags, als Maxl mit dem umgehängten Rucksack seine Schritte wieder nach Nußdorf lenkte. Ich konnte ruhig im Wagen bleiben und langsam nachfahren. Meine Berechnung war eine richtige gewesen. Er wandte sich zur Überfahrtstelle. Nun galt es, rasch zu handeln. Ich befahl meinem Kutscher zu laufen, was er konnte, um die Überfuhr ebenfalls noch zu erreichen. Flora mußte mit ihm; die Sache war ein bißchen gewagt. Denn eine Begegnung hatte ja schon stattgefunden, aber jetzt gab es keine Zeit, lange zu überlegen, und es war mir von ganz besonderer Wichtigkeit, daß nun Flora so eine halbe Stunde mit dem Manne in einem Boote sein sollte. Von meinem Kutscher hatte ich nichts zu befürchten. Er ist glücklicherweise so dumm, daß er bei den Exkursionen, bei welchen er mir fast täglich zu folgen hat, niemals auch nur die leiseste Ahnung hat, um was es sich eigentlich handelt. Der konnte also nichts verderben. Er kam noch zurecht, und ich sah das Boot abfahren. Dann setzte ich mich auf den Bock, nahm die Zügel selber in die Hand und ließ meine Pferde ausgreifen. Es war eine feine Fahrt, rechts hinunter stromabwärts, dann über die Brücke und dann links hinauf durch die mit Bäumen und Gestrüpp bestandenen Auen bis in die Nähe der Stelle, wo das Boot landen mußte. Ich stellte den Wagen so auf, daß er den Blicken Maxls entzogen bleiben mußte. Er nahm seinen Weg, wie ich erwartet hatte, stromabwärts. Der Kutscher und der Hund waren bei der Landungsstelle zurückgeblieben. Ich wartete eine Weile, bis Maxl außer Gesichtsweite war, und ließ dann einen leisen Pfiff ertönen. Flora war nach wenigen Sekunden bei mir und bald darauf auch mein braver Kutscher, der natürlich noch immer nicht wußte, was vorging.

Ich befahl ihm, mit dem Wagen zurückzubleiben und zu warten, bis ich wiederkäme, und sollte es darüber auch Nacht werden. Dann machte ich mich auf und nahm Flora mit. Ich hielt ihr noch einmal den bewußten Tuchfetzen unter die Nase, damit kein Mißverständnis zwischen uns aufkomme, und sagte leise: ›Such', Flora, such'!‹ Und nun ging's wie auf der Streifjagd, lautlos, vorsichtig, mit gespannter Aufmerksamkeit, von meiner Seite auch mit gespanntem Revolver. Ich hatte ihn aus dem Futteral genommen und handlich in der Seitentasche meines Überziehers untergebracht. Die Gegend war außerordentlich einsam, und schließlich – wenn man auf Räuberfang ausgeht, muß man auf manches gefaßt sein.

Flora hielt sich hart an mich und drückte im Gehen ihren Kopf an mein linkes Bein. Ein prachtvolles Tier! Ich bin überzeugt, sie hätte sich erschlagen lassen, bevor sie einen Laut gegeben hätte. Sie hatte die Spur mit voller Sicherheit, und wo mein Schritt abirren wollte, drängte sie auf die richtige Fährte zurück.

So ging es etwa eine halbe Stunde; dann wurde die Situation kritisch. Die Spur führte in ein dichtes Dickicht von Gebüsch und Unterholz. Es war schwer, da noch geräuschlos vorwärts zu kommen, und ein Ausblick war unmöglich. Das war nun um so bedenklicher, als man, ohne selbst zu sehen, doch gesehen werden konnte, wenn der Kopf gelegentlich über einen Busch emporragte.

Ich legte mich auf den Boden und horchte. Es war nichts zu hören. Ich wollte mich dennoch nicht wieder aufrichten und kroch behutsam auf allen vieren weiter. Die Dämmerung brach herein. Das war mir nicht unlieb, zumal ich ja selber in meiner Lage nichts sehen konnte. Das Wild konnte nicht mehr weit von uns sein. Denn Flora zitterte an meiner Seite vor Erregung. Das ist die große Passion der Jagd auf dem Kulminationspunkt. Ich kenne das an ihr. Richtig – da klingt ein leichtes Geräusch an mein Ohr. Ich schiebe mich mit aller Behutsamkeit noch weiter vor, und das Geräusch wird immer deutlicher. Ein feiner Klang. Es knirscht und klingt. Ein guter Stahl wühlt in der Erde, fährt durch Sand und Kies. Maxl arbeitet fleißig mit dem Gerät, das er sich im Rucksack mitgebracht. Dann wird's eine Weile still, und dann wieder ein Geräusch. Sehr deutlich. Erst war ausgeschaufelt worden, und jetzt schaufelte er zu.

Ich überlegte. Mit meinem verläßlichen Revolver in meiner verläßlichen Hand fühlte ich mich sicher genug, den Mann zu überrumpeln und zu stellen. Es wäre aber nicht klug gewesen, es zu versuchen. Dazu war es vor allen Dingen auch schon zu finster. Ein Fluchtversuch hatte viel Aussicht auf Gelingen. Ohne Not schießt man auch auf einen Einbrecher nicht gern. Ich hätte ihn nur verscheucht, und das hätte keinen Sinn gehabt.

Ich blieb also im Hinterhalt, bis die Luft rein war. Darüber war es glücklich vollständig finster geworden. Für mich gab's da nichts mehr zu tun. Es ließ sich in der Dunkelheit einfach nichts machen. Ich suchte meinen Wagen wieder auf und dachte während der Heimfahrt darüber nach, ob ich zu Hause angelangt mich mit einer Blendlaterne versehen und sofort umkehren oder bis zum nächsten Morgen warten solle. Ich entschloß mich für das letztere. Das Tageslicht war zwar nicht günstig für mein Unternehmen. Störungen waren nicht ausgeschlossen und leicht möglich, aber die Wirtschaft mit der Laterne schien mir doch nicht rätlich. Ihr Schein hätte aus größerer Entfernung schon gesehen werden können, während ich selbst nicht die Möglichkeit eines weiteren Ausblicks hatte. Das hätte mich zu sehr in Nachteil gesetzt.

Am nächsten Morgen war ich schon vor Tagesanbruch zur Stelle –

»Dagobert als Frühaufsteher!«

»Ich bin nicht bequem, Gnädigste, wenn ich bei der Arbeit bin. Ich hatte Flora mitgenommen und ein handliches Grabscheit. Die Stelle hätte ich nun auch ohne Floras Mitwirkung gefunden. Wer es nicht schon gewußt hätte, daß da am Abend vorher die Erde frisch aufgeschaufelt worden sei, hätte natürlich kaum etwas bemerkt und Verdacht geschöpft, ich wußte es aber. Nach einer viertelstündigen Arbeit, war ich im Besitz der gesuchten Kassette.«

»Wirklich, Dagobert?!«

»Ich fuhr mit ihr geradewegs zu Dr. Weinlich ins Amt, wo ich allerdings noch eine gute Stunde auf ihn zu warten hatte. Wir öffneten die Kassette. Es war in der Tat die des bestohlenen Feldmarschall-Leutnants. Die Wertpapiere und die Orden waren noch vollständig zur Stelle. Von dem baren Geld fehlten gegen dreitausend Kronen. Maxl scheint in der Zeit nicht schlecht gelebt zu haben!«

»Dr. Weinlich wird Augen gemacht haben!«

»Damit war für mich die Sache erledigt; mein Werk war getan. Ich bezeichnete noch genau das Nest; die Polizei brauchte es nur auszuheben. Bequemer konnte man es ihr schon gar nicht machen. Dr. Weinlich dankte und versprach, sich den Vogel sofort herauszulangen. Für mich gab's also nichts mehr zu tun.«

»Aber erlauben Sie, Dagobert, Sie sagten doch, Sie hätten in dieser Angelegenheit sogar Reisen machen müssen?«

»Leider war das noch nötig. Ich bin unschuldig daran. Die Ungeschicklichkeit der Polizei hatte mir die Suppe eingebrockt. Drei Tage später ließ mich Dr. Weinlich holen und teilte mir ziemlich bestürzt mit, daß der Vogel vorzeitig ausgeflogen sei. Er sagte es nicht ausdrücklich, aber ich erkannte es aus allen Umständen, daß da Ungeschicklichkeit und Übereifer seiner Agenten alles verdorben hatten. Es gibt ja einige tüchtige Leute unter den Berufsdetektivs, aber im allgemeinen ist ihre Intelligenz eine unzureichende. Man kann übrigens für die Entlohnung, die sie erhalten, auch kaum mehr verlangen. Sie hatten Maxls Haus in seiner Abwesenheit förmlich belagert, um ihn sofort hopp zu nehmen, wenn er heimkehrte. Maxl tat ihnen den Gefallen nicht und kehrte überhaupt nicht heim. Er ist ein geriebener Gauner und wird die Belagerungsmannschaft rechtzeitig gesehen und mit Gemütsruhe gemustert haben. Dann, als er den Braten gerochen hatte, ist er selber verduftet.

Die Sache beunruhigte mich sehr. Es war ja ein Weib im Spiele, und ich glaubte es Burgholzer aufs Wort, daß er seines Lebens nicht sicher sei. Mit Dr. Weinlich sprach ich sehr kühl und meinte, daß er nun doch nichts anderes tun könne, als seine Bemühungen fortzusetzen und alles aufzubieten, um des Ausreißers habhaft zu werden. Die Polizei sollte nur ein möglichst großes Aufgebot entfalten. Das gönnte ich ihr. Ich aber beschloß im stillen sofort, die Nachforschungen für meine Person selbst wieder aufzunehmen.

Über mein Programm war ich keinen Augenblick im Zweifel. Meine Vormittage gehörten Frau Burgholzer, ohne daß sie es geahnt hätte, und an den Nachmittagen spionierte ich bei ihrem Herrn Gemahl herum. Es war eine schlimme, beschwerliche Zeit, und ich möchte sie nicht wieder durchleben diese abspannenden, erfolg- und ereignislosen Tage.

Meine Ausdauer wurde aber schließlich doch belohnt, wenn man das gerade ›belohnt‹ nennen kann. Eines Tages – es begann schon zu dämmern – bekam ich Maxl doch wieder zu Gesicht. Er schritt mit Meister Burgholzer durch die Au zum Donauufer. Sie gingen Arm in Arm, und es schien, als werde Burgholzer von Maxl gestützt. Es schien als habe jener es auch nötig; denn sein Schritt war ein bedenklich schwankender.

Ich schlich mich von Flora begleitet vorsichtig heran, konnte aber doch nicht nahe genug kommen, um bei der herrschenden Dämmerung alles genau sehen zu können. Da – mir stockte förmlich der Herzschlag – höre ich ein lautes Geräusch, ich sehe noch das Wasser weiß aufspritzen – und dann ragt nur noch eine Gestalt auf und hebt sich ab gegen den Horizont. Ich laufe vorwärts, was ich kann. Maxl wendet sich mir zu.

›Steh' und gib dich oder ich schieße!‹ schreie ich ihn an.

Maxl überlegt eine Sekunde, dann wendet er sich und springt ins Wasser.

Ob das nun Selbstmord – oder Fluchtversuch war, ich mußte ihm nach. Ich hake Burgholzers Fischerzille, ein geräumiges Flachboot los und bin mit drei Ruderschlägen bei Maxl. Ich neige mich vor, um ihn zu fassen. Da sehe ich in seiner Hand etwas schimmern, fühle einen wuchtigen Stoß gegen die Brust und habe noch das klare Gefühl, daß der Mann mit einem Messer zugestoßen hat. Ich reiße den Revolver aus der Tasche, sehe auf Schrittweite seine bleiche Stirne und die dunklen Augen vor mir; ich drücke los – und dann ward es Nacht.«

»Um des Himmels willen, Dagobert, wie kann man sich in so entsetzliche Sachen einlassen!«

»Es war Nacht geworden, das heißt, ich war in Ohnmacht gefallen, zusammengeklappt wie ein leeres Futteral. Als ich wieder zu mir kam, brauchte es eine Weile, bis ich mich im Geiste halbwegs zurecht finden konnte. Stockfinstere Nacht um mich her; ich auf dem Grunde eines Bootes auf der großen Donau schwimmend. Meine Lage mit dem Kopf abwärts war eine äußerst unbequeme. Ich versuche es, mich aufzurichten und falle darauf prompt wieder in Ohnmacht. Das wiederholt sich im Laufe der Nacht mehrmals, so daß ich schließlich den Versuch aufgebe, meine Lage zu ändern, um wenigstens bei Bewußtsein zu bleiben. Ich hatte in diesen Stunden reichlich Gelegenheit, Studien zu machen über das Wesen der Ohnmachten. Der Übergang vom Bewußtsein zur Bewußtlosigkeit ist ein unvermittelter, blitzartiger. Anders beim wiederkehrenden Bewußtsein. Das steigt allmählich an und ist ein wunderbares Gefühl. Erst leise unklare Dämmerung, dann eine äußerst rasche und lebhafte Rotation von Vorstellungen und Gedanken. Es ist, als würde in unserem Kopfe ein Kaleidoskop mit wahnsinniger Geschwindigkeit gedreht. Wenn man dann ganz bei sich ist, hat man zunächst kein Interesse für die momentane Lage, sondern bemüht sich, sich ins Gedächtnis zu rufen, woran man bei jener rotierenden Hast gedacht habe. Als wenn das überhaupt möglich wäre! Übrigens – wenn die Ohnmacht ein Abbild des Todes wäre – ich wäre es zufrieden.«

»Gott, Dagobert, jetzt philosophieren Sie schon wieder und spannen mich dabei auf die Folter!«

»Also tiefe Nacht; ich auf der Donau schwimmend, in einem führerlosen Boote verwundet und unfähig, auch nur die geringste Bewegung zu machen. Wie sollte das enden? Aus der Geographiestunde erinnerte ich mich, daß die Donau ins Schwarze Meer münde. Es lag nicht in meiner Absicht, auf dem Schwarzen Meere herumzugondeln. Zerbrechen wir uns den Kopf nicht darüber! Lebend würde ich ja doch nicht hinkommen. Das war überhaupt so eine Sache. Ich hatte nähere Aussichten. In der Stockfinsternis konnte mein Boot durch irgendeinen Schleppdampfer über den Haufen gerannt werden, oder es konnte sich in einer menschenleeren Gegend an einer seichten Uferstelle festsetzen. Ich sah nichts als die Sterne über mir und hörte nichts als das gurgelnde Spiel der Wellen, die mit dem Boote machten, was sie wollten.

Als der Tag graute, ließ ich von Zeit zu Zeit Rufe ertönen, um mich womöglich bemerkbar zu machen. Dabei nahm ich mit Mißvergnügen wahr, wie kraftlos und wenig ausgiebig meine Stimme geworden war. Nach einstündiger Bemühung hatte ich aber doch Erfolg. Zwei Köpfe wurden über meinem Bootrand sichtbar. Ein Fischer und sein Weib hatten meine Rufe gehört und sich dann beeilt, dem geheimnisvollen Boote nachzukommen.

Die Frau stieß einen Schreckensruf aus, als sie meiner ansichtig wurde. Ich lag ja in einer mächtigen Blutlache da, wovon ich freilich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Sie stieg in mein Boot herüber, um mir Beistand zu leisten. Zum Glück verstanden die Leute deutsch. Ich bat sie, mich vorläufig nicht anzurühren und mich zu lassen, wie ich sei. Ich fühlte mich sehr schwach und traute mir nicht recht. Eine neuerliche Ohnmacht wäre mir jetzt durchaus ungelegen gekommen. Vor allen Dingen wollte ich mich erst orientieren können, um dann die nötigen Maßregeln anzuordnen. Ich erkundigte mich zunächst, wo ungefähr ich sei, und war sehr erfreut zu vernehmen, daß wir uns ganz in der Nähe von Preßburg befänden. Preßburg kannte ich ja von zahlreichen Ausflügen her ganz genau, und im Hotel Palugyay, das gute Weine führt und eine feine Küche, hatte ich so manches Mal fröhlich bankettiert. Ich bat also, mich ans Ufer zu lotsen, wo das Maria Theresia-Denkmal steht, nebenbei eine recht effektvolle Arbeit des ungarischen Bildhauers Fadruß. Von dort seien es nur ein paar Schritte zum Hotel Palugyay, und dahin sollten sie mich dann vorsichtig schaffen lassen.

So geschah es. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich, als sie mich aus dem Boote hoben, wieder schmählich in Ohnmacht fiel. Erst als ich im Bette lag und der Arzt vor mir stand, erhielt ich die wünschenswerten Aufklärungen. Maxls Messer war mir knapp unter dem linken Schlüsselbein in die Brust gefahren, und die Klinge war dann kurzweg abgebrochen und stecken geblieben. Ja, dann allerdings! Nun begriff ich meine kläglichen Ohnmachten – ich bin doch sonst nicht so. Da allerdings mußte jeder Versuch, mich zu bewegen, ein solches Ende nehmen.

Es war keine große Sache, die Klinge wieder herauszuziehen, die ich übrigens meinem Museum einverleibt habe. Da die ganze Geschichte nun einen zweifellos kriminellen Anstrich hatte, war der Arzt verpflichtet, die Anzeige zu machen, worauf sich die Behörde ins Mittel legte und ich unverzüglich weitläufigen Verhören unterzogen werden sollte. Ich kürzte aber das Verfahren wesentlich ab, indem ich mir den Dr. Weinlich herantelegraphieren ließ, dem ich die nötigen Aufklärungen gab, der dann alles übrige im Amtswege erledigte.«

»Hatten Sie daran noch lange zu leiden, Dagobert?«

»Mehr als mir lieb war. Ich bin überhaupt kein geduldiger Patient. Es stellte sich starkes Wundfieber ein, und dann gesellte sich noch eine höchst überflüssige Lungenentzündung dazu, die mich doch so herunterbrachte, daß ich dann zu meiner Rekonvaleszenz einen Abstecher nach Mentone machen mußte; und nun nach Mentone war mein erster Weg zu Freund Grumbach und zu Ihnen, meine Gnädigste. J'y suis, j'y reste!«

»Ich danke Gott, daß Ihr Abenteuer so ausgegangen ist, Dagobert, und auch Sie haben alle Ursache, Gott zu danken. Es hätte leicht viel schlimmer kommen können. Hoffentlich haben Sie nun aber auch die entsprechenden Lehren gezogen aus dem, was Sie erlebt und glücklicherweise überlebt haben!«

»Ich möchte nichts verschwören, Frau Violet. Ich habe mich darüber nie einer Täuschung hingegeben, daß mein ›Sport‹ – Sie belieben den Ausdruck gelegentlich zu gebrauchen, wenn Sie gnädigst nicht geradezu ›Verrücktheit‹ sagen wollen – allerdings manchmal mit Gefahren verbunden ist. Sonst wäre er wohl auch nicht so verlockend und so interessant. Ich habe mich aber auch damit abgefunden: wo Holz gemacht wird, fliegen Späne. Ich gedenke also auch noch weiterhin ›Holz zu machen‹, und halte das noch immer für besser, als daß ich Steeple chase ritte.«

»Sie sind unverbesserlich, Dagobert! Jetzt sagen Sie noch: haben Sie Gewisses über das Schicksal Burgholzers und Maxls erfahren?«

»Ich habe mich bei Dr. Weinlich erkundigt. Zwei Männer sind in Wien verschwunden, und nicht die leiseste Spur mehr war von ihnen zu entdecken, weder zu Wasser noch zu Lande. Was Meister Burgholzer betrifft, so glaube ich, leider keinen Zweifel mehr hegen zu dürfen.«

»Und Maxl? Glauben Sie, daß Sie ihn in die Stirne getroffen haben?«

»Ich weiß es nicht und will es nicht wissen, will darüber nicht nachdenken. Gesehen habe ich es nicht mehr. Dabei beruhige ich mich. Sollte er noch am Leben sein, so wird er sich doch auf Wiener Boden schwerlich mehr blicken lassen; sollte er's nicht mehr sein, dann ist ihm nur sein Recht geschehen. Es nützt nichts, darüber noch weiter nachzudenken.«

»Haben Sie die schöne Anna wiedergesehen?«

»Gewiß. Sie waltet an ihrem Stande wie eh. Sie ist nur ein wenig blässer geworden, und die beiden feinen Furchen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln ein wenig tiefer, aber trotzdem – noch immer würde sie als englische Hofdame eine gute Figur machen.« »Sie können wirklich von Glück sagen, Dagobert, daß Sie noch so weggekommen sind.«

»Einen schmerzlichen Verlust habe ich dabei doch erlitten. Meine arme Flora ist bei der Affäre zugrunde gegangen, ohne daß ich recht wüßte – wie? Als ich in höchster Erregung ins Boot sprang, dachte ich nicht an sie, und ich kann nur kombinieren, was dann geschehen sein mag. Ich denke, daß sie, als ich abruderte, ins Wasser sprang, um mir nachzuschwimmen. Dabei ist sie nun entweder im Strome verunglückt, oder wenn sie doch noch ans Land gekommen ist, dort elend zugrunde gegangen, sonst wäre sie sicher zurückgekommen. Ich habe nie einen Hund so lieb gehabt wie Flora. Ich werde ihr ein Denkmal setzen lassen.«


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